Klassismus im Bildungsystem - Tanja Abou - E-Book

Klassismus im Bildungsystem E-Book

Tanja Abou

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Beschreibung

Alle wissen, dass das bundesdeutsche Bildungssystem nicht gerecht ist und dass der Zugang zu formeller Bildung von der sozialen Herkunft abhängt. Trotzdem hält sich hartnäckig der Mythos, dass jede*r ›es‹ schaffen könne, wenn er*sie nur wolle. Dabei ist strukturell verhinderte Bildungsmobilität durch Klassismus kein neues Phänomen, sondern seit den ersten Sozialerhebungen bekannt. Die queere Poverty-Class-Akademikerin Tanja Abou hinterfragt in ihrer systemkritischen Betrachtung von Klassismus im Bildungssystem sowohl ›Aufstiegserzählungen‹ als auch ›Glücksgeschichten‹. Sie legt strukturelle Vernachlässigungen frei, die Bildungsmobilität massiv einschränken: Stigmatisierung von Armutsbetroffenen, individualisierende Schuldzuweisungen und nicht zuletzt eine eklatant mangelhafte Ausstattung von Schulen und dem Bildungswesen allgemein. Doch die Autorin erinnert auch an die solidarischen Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten, die uns im – längst überfälligen – Kampf gegen Klassismus im Bildungssystem zur Verfügung stehen.

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Seitenzahl: 88

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Tanja Abou

Klassismus im Bildungsystem

unrast transparentsoziale krise

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Tanja Abou:

Klassismus im Bildungsystem

unrast transparent – soziale krise, Band 7

1. Auflage, März 2024

eBook UNRAST Verlag, April 2024

ISBN 978-3-95405-194-6

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

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Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST Verlag, Münster

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

Einführung

Ein Skandal, von dem alle wissen

Sprache in diesem Buch, oder: Dies ist keine Anleitung!

Was ist Klassismus?

Wie wirkt sich Klassismus konkret auf die Betroffenen aus?

Eine kritische Betrachtung des Bildungssystems

Exkludierende Kreisläufe

Welche Faktoren beeinflussen Bildungschancen?

Auswirkungen von Klassismus

Ent-Powerment

Intelligenzmythen, Leistungsnarrative und ›Imposter-Syndrom‹

Alles schon gesagt und noch viel zu tun!

Chancengleichheit, Teilhabe – und Diskriminierungsfreiheit

Ressourcen gerecht verteilen

Bildunsgpolitik verändern

Beispiele guter Praxis

Fazit

Danke!

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Einführung

Ein Skandal, von dem alle wissen

Ich bin ein Kind der Bildungsreform der 1960er/1970er Jahre, sage ich immer. Jener öffentlichen Sensibilisierungskampagne, die den Zugang zu formeller akademischer Bildung öffnen sollte. Meine in dieser Zeit ausgebildeten Grundschullehrer*innen stelle ich mir als junge, enthusiastische Pädagog*innen vor, mit dem festen Willen, wenn nicht die Welt, dann zumindest die Gesellschaft, in der sie leben, verändern zu wollen – auf der Suche nach dem ›katholischen Arbeitermädchen vom Lande‹ (vgl. Dahrendorf 1965: 48), dem sie formelle Bildung nahebringen könnten. Ich war zwar weder katholisch noch wirklich vom Lande, aber lebte immerhin in einer Arbeiter*innensiedlung in einem kleinen Dorf, wo wir Kinder uns nicht nur gegenseitig verschiedene Sprachen beibrachten, sondern auch von größeren Geschwistern aufschnappten, was sie bereits in der Schule gelernt hatten. Mit dem Schuleintritt konnte ich daher bereits lesen und ein wenig schreiben. Das war offenbar ausreichend, um mich für das Projekt ›Bildungsexpansion‹ in den Fokus meiner Lehrer*innen zu rücken.

Ich habe massiv von dem Zuspruch und der Förderung durch Lehrende profitiert – und ich weiß heute, dass das eine Ausnahme ist. Es hätte genauso gut sein können, dass meine Lehrenden aufgrund meiner sozialen Herkunft angenommen hätten, dass ich aus meinem damaligen Zuhause keinen Bildungssupport erhalten würde, womit ihr Engagement für mich wahrscheinlich zurückhaltender ausgefallen wäre. Denn obwohl Zugang zu formeller Bildung ein grundlegendes Menschenrecht und ein entscheidender Faktor gesellschaftlicher Teilhabe ist, ist der Anspruch auf Chancengleichheit im Bildungssystem weit davon entfernt, in die Realität umgesetzt zu werden.

Der Enthusiasmus dieser Bildungsreform scheint mittlerweile verflogen. Ich behaupte: Jede*r weiß um die skandalöse Bildungsungleichheit, die durch verschiedene Studien belegt ist. Dennoch werden diese Studienergebnisse dann wahlweise als ›Schock‹ bezeichnet oder die öffentliche Debatte verfällt in eine – meist performative – Suche nach den Verantwortlichen, ohne dass es zu nennenswerten Veränderungen im System kommen würde.

In diesem Buch werden nicht einzelne Verantwortliche gesucht, sondern der Fokus wird auf klassistische Strukturen, Selektionsmechanismen, Vorurteile, Zuschreibungen und Machtverhältnisse im formellen Bildungssystem gelegt. Ich werde mich der Frage nach Klassismus im Bildungssystem also zunächst aus einer strukturellen Perspektive annähern. Damit möchte ich zum einen aufzeigen, dass der meritokratische Grundgedanke, also die Annahme, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben, nicht aufgeht und die Möglichkeit, Zugang zu sogenannter ›höherer Bildung‹ zu bekommen – und auch dort zu bleiben – durch die soziale Herkunft (oder auch die vermutete soziale Herkunft) bestimmt wird. Zum anderen möchte ich mich einer Spurensuche entgegenstellen, die die Verantwortung für ein Bestehen oder Nicht-Bestehen im formellen Bildungssystem in den Lebensweisen von materiell armen Menschen sucht.

In dieser Debatte werden immer wieder Erklärungsversuche herangezogen, die in sich schon klassistisch sind. Es wird etwa von ›mangelnder Bildungsstimulation‹ in nicht-akademischen Haushalten gesprochen. Der Maßstab ist hier ein Bildungskanon, mit dem Freizeitaktivitäten von oben herab abgewertet werden, allen voran das Fernsehen. Gern auch die (zu geringe) Zahl der gelesenen Bücher. Auch wer nicht ausreichend (teure) Dinge als Familie unternimmt, um den eigenen Nachwuchs zu fördern, wird naserümpfend verurteilt. Dabei werden die Familien, auf die herabgeschaut wird, selten gefragt, was sie brauchen. In einer quantitativen Studie aus Nürnberg, die sich mit der Situation von Familien mit Nürnberg-Pass befasste, wird in den Äußerungen in den Freifeldern deutlich, dass materiell arme Eltern sich Unterstützung, kostenfreie Nachhilfe und Bildungsförderung für ihre Kinder wünschen, dass die knappen materiellen Mittel aber oft nicht einmal für die Lebensmittel bis zum Ende des Monats reichen. Oder für saisonale Kleidung, Urlaube, große oder kleine Wünsche. Die Eltern wünschen sich auch mehr Geld für Freizeitaktivitäten, Vereine und Mobilität (vgl. Wüstendörfer 2008).

Auf diese Weise beginnt eine klassistische Selektion im immer noch segregierten [geteilten] Bildungssystem schon früh, indem junge Menschen entsprechend der (angenommenen) Bildung der Eltern gefiltert werden und bei gleicher Leistung dieser äußeren Zuschreibungen entsprechend unterschiedlich bewertet werden. Mein Fokus liegt also auf Gatekeeping [Zugangskontrolle] und Machtausübung – auf ungerechten Strukturen in einem Nadelöhrsystem, das ›Ausnahmen von der Regel‹, sogenannte ›Bildungsaufsteiger*innen‹, als Beweis dafür instrumentalisiert, dass »jede*r es schaffen kann«. Dabei sollte die Frage sein, warum wir als Gesellschaft hinnehmen, dass es eine Vokabel wie ›Bildungsaufsteiger*innen‹ überhaupt gibt, wenn doch eigentlich alle den gleichen Zugang zu formeller Bildung haben sollten.

Sprache in diesem Buch, oder: Dies ist keine Anleitung!

Ich verwende in diesem Buch Begrifflichkeiten, die ich in über einer Dekade politischer Bildungsarbeit ›eingesammelt‹ habe. Ich erhebe hier keinen Anspruch auf Vollständigkeit und schon gar nicht auf eine (moralische) Endgültigkeit. Um aber deutlich zu machen, welche Begriffe ich wie verwende – und welche nicht –, möchte ich einige kurz erklären.

›Arbeiter*innen-‹ und ›Armutsklasse‹ verwende ich in Anlehnung an die Working Class / Poverty Class Academics, die sich 1993 in den USA zusammengeschlossen hatten, um sich über ihre Erfahrungen an Hochschulen auszutauschen. Die Gruppe war zunächst als ›Working Class Academics‹ gegründet worden, erweiterte diese Selbstbezeichnung jedoch um die ›Poverty Class‹ auf den Einwand hin, dass bei der ›Arbeiter*innenklasse‹ diejenigen nicht miteingeschlossen seien, die aus unterschiedlichen Gründen außerhalb von Erwerbsarbeitsverhältnissen stehen und von materieller Armut betroffen sind. In Anlehnung daran verwende ich den Begriff der ›Armutsklasse‹, wenn andere von ›Unterschicht‹ sprechen.

Ich spreche zudem von ›materieller Armut‹, wenn ich diese meine, und nicht einfach nur von ›Armut‹. Verschiedene Aktivist*innen, mit denen ich über die Jahre zu tun hatte, wandten immer wieder ein, dass ›Armut‹ oft gleichgesetzt wird mit einem Mangel an Kultur, an Wissen, an Solidarität. Dabei fehlt es allzu oft ›nur‹ am Geld.

Orte, die als ›sozialer Brennpunkt‹ oder ›Problemviertel‹ abgewertet werden, benenne ich als das, was sie sind: strukturell vernachlässigte Stadtteile oder Kieze. Niemand würde auf die Idee kommen, das Villenviertel einer Stadt, in dem sich materiell reiche Menschen auf viel Raum abschotten und nichts von ihrem Platz und ihren Ressourcen abgeben, als ›Problemkiez‹ zu labeln. Dabei ist das Horten von Reichtum ein riesiges gesellschaftliches Problem.

›Bildungsfern‹ fand ich schon immer eine fürchterliche Vokabel. Mir sind unterschiedliche Variationen begegnet, um dieser stigmatisierenden Bezeichnung etwas entgegenzusetzen. Eine davon ist ›universitätsfern‹, aber hier wird die Universität als das Nonplusultra der formellen Bildung gesetzt. ›Bildungsbürgertumsfern‹ mag ich weiterhin sehr gern, es ist aber eher ein zynischer Seitenhieb. Ich schreibe ›formell‹, wenn ich Abschlüsse meine, die mit Zertifikaten belegt sind. Ich habe hier insgesamt noch keine gute Lösung gefunden, versuche aber, die Zentrierung von formeller akademischer Bildung zu vermeiden. Es sind alles Suchbewegungen gegen ein Wort, das aus meiner Sicht eine Beleidigung und keine Tatsachenbeschreibung darstellt.

Ich schreibe in diesem Buch von einem ›mehrgliedrigen Schulsystem‹, weil von einer ›Dreiteilung‹ zu sprechen zum einen ignoriert, dass durch die Abschaffung der Hauptschulen in vielen Bundesländern die oft genutzte Einteilung Hauptschule–Realschule–Gymnasium nicht länger gegeben ist, zum anderen werden damit die unterschiedlichen Förderschulen außen vor gelassen. Die Auseinandersetzung um Klassismus ist nicht mehr so jung, dass es Auseinandersetzungen zu klassistischer Sprache nicht schon gegeben hätte, aber besonders in den letzten Jahren wird wieder verstärkt über Klassismussensibilisierung diskutiert. Deshalb sind meine Überlegungen eine Momentaufnahme und sie können gern überworfen werden. Die Initiative für einen Gedenkort für das ehemalige KZ Uckermark hat schon vor einigen Jahren einen Flyer zu klassistischer Sprache in linken Kontexten herausgebracht, in dem voraussetzungsvolle Sprache und auch vorausgesetztes akademisches Wissen kritisiert werden. Auch die Prololesben, die in den 1980er/1990er Jahren aktiv waren, kritisierten den Sprachduktus[1] in der Bewegung sowie die Art und Weise, wie vorgetragen wurde. Sie hoben hervor, dass sie nicht ernst genommen würden, wenn sie etwas sagten, und kritisierten, dass sich dadurch die ›Bürgerlichen‹ mit ihren Inhalten und ihrer Sprache durchsetzten.

Diskussionen um Sprache sind politisch wichtig, können aber auch performative und moralische Räume schaffen, in denen dann plötzlich Betroffenen gesagt wird, wie sie reden sollen und was gesagt werden kann. Ich möchte meine Überlegungen zu Sprache daher als offene Überlegungen sehen, die zur Diskussion stehen. In einer der vielen Social-Media-Diskussionen der letzten Jahre wurde mir von anderen Armutsbetroffenen schon entgegengesetzt, bestimmte Sprachhandlungen bedeuteten einfach nur, »Scheiße gold anzumalen«. Das kann ich genauso gut stehen lassen wie meine Bemühungen, eine diskriminierungssensible Sprache zu finden. Meine Überlegungen sind hier also als Vorschläge, nicht als Anleitung zu verstehen. Bewegung ist vielschichtig und für mich ist es wichtig, verschiedene Perspektiven zu verstehen, anstatt meinen moralischen Kompass nach einem einzelnen Wort auszurichten – solange ich davon ausgehen kann, dass es sich nicht um Worte handelt, die schlichtweg indiskutabel sind und zu denen bereits eine lang geführte Debatte vorliegt.

Ein solcher Begriff, von dem ich mir wünschen würde, dass er aus dem Sprachgebrauch verschwindet und er so aufgearbeitet wird, dass Menschen wissen, was sie damit sagen, ist der Begriff ›asozial‹. Menschen, die im Nationalsozialismus als ›asozial‹ verfolgt wurden, wurden mit dem schwarzen Winkel gekennzeichnet. Willkürlich wurden Wohnungslose, Sexarbeiter*innen, Sinti*ze und Rom*nija, Erwerbslose, Menschen, denen eine sogenannte ›Promiskuitivität‹ nachgesagt wurde, und andere Personengruppen, die als ›Fremdkörper‹ gesehen wurden, stigmatisiert und inhaftiert (vgl. Stegemann 2013). Eine Anerkennung als im Nationalsozialismus verfolgte Gruppe wurde erst 2020 formell beschlossen. Die Verfolgungsgeschichte und die Kontinuität der Verfolgung dieser Personengruppen nach Kriegsende wird von der oben bereits erwähnten Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e.V.[2] herausgestellt, die seit 1998 kontinuierlich an der Aufarbeitung dieser Geschichte arbeitet. In Anerkennung dieser Geschichte und im Respekt vor den von dieser Verfolgung Betroffenen sollte das Wort ›asozial‹ meines Erachtens jenseits eines historischen Sprachgebrauchs, also zur Auseinandersetzung mit der Geschichte des Begriffs im Kontext der Verfolgung im Nationalsozialismus, in unserer Sprache keinen Platz mehr haben. Daran, dass der Hass auf die als ›asozial‹ Verfolgten jedoch bis heute anhält, lässt sich meines Erachtens auch nachzeichnen, wie sehr unsere Gesellschaft von Klassismus durchsetzt ist.

Was ist Klassismus?

»Class is the elephant in the room«[3]