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Philipp Worovsky ist der Held in Arno Geigers frech-witzigem Debütroman. Ein Taugenichts in den neunziger Jahren, der der abgründigen Leere seiner Generation mit Ironie, Phantasie und »Notlügen« begegnet. Doch Verwirrung kommt mit dem Mädchen Lila und ihrer Vorliebe für klirrende Fensterscheiben. Sie erweist sich als Virtuosin in der Kunst, mit diesem ordentlichen, allzu vorgezeichneten Leben einmal gründlich Karussell zu fahren. Ein moderner Schelmenroman, von einem, der nichts vom Leben erwartet und doch alles will.
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Seitenzahl: 314
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Philipp Worovsky ist der Held in Arno Geigers frech-witzigem Debütroman. Ein Taugenichts in den neunziger Jahren, der der abgründigen Leere seiner Generation mit Ironie, Phantasie und »Notlügen« begegnet. Doch Verwirrung kommt mit dem Mädchen Lila und ihrer Vorliebe für klirrende Fensterscheiben. Sie erweist sich als Virtuosin in der Kunst, mit diesem ordentlichen, allzu vorgezeichneten Leben einmal gründlich Karussell zu fahren. Ein moderner Schelmenroman, von einem, der nichts vom Leben erwartet und doch alles will.
Arno Geiger
Kleine Schule des Karussellfahrens
Roman
Carl Hanser Verlag
Namen gäbs für dich — viele, viele!(Wladimir Majakowski, Ode an die Revolution)
Klarstellung an den Leser, kurz bevor Philipp Worovsky seinen Roman betritt und wenig später nach links geht statt wie beabsichtigt nach rechts.Lieber Leser, heutzutage ziemt es sich nicht, daß es im ersten Satz regnet, doch sollte der Hinweis, daß der Regen kein beliebiger Regen ist, als Rechtfertigung genügen:
In schöner Verbindung prasseln Schusterbuben und Kröten aus Gewitterwolken, die kaum eine Handbreit über den Dächern liegen. Die Wolken sind sehr dunkel, nahezu schwarz, aber manchmal, wenn sich das Streulicht in einer Bauchfalte sammelt, schimmern sie verräterisch grau, daß du auf den Schwindel mit dem Cinemascopeformat nicht hereinfällst. So leicht läßt du dich nicht täuschen und schon gar nicht mit Wirklichkeit, die sich den Anschein von Fiktion gibt. Da kann sie nicht mit. Nicht die Wirklichkeit.
Oder doch? Vielleicht gerade sie?
Du kommst aus Dantons Tod, einem dramatischen Streifen über diesen Revolutionär, der mit Entsetzen Scherz trieb, für den du ungeachtet seiner korrupten Wohlfahrtstätigkeit reges Interesse hegst: Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüber zu ziehen! Aber da kann man genauso gut sagen, daß es sehr langweilig ist, einen Roman mit dem ersten Kapitel zu beginnen. Dabei: Hat es einen vernünftigen Sinn, dem natürlichen Lauf der Dinge in die Speichen zu greifen, sich die Finger zu quetschen und doch nicht umhin zu können, an ein bestimmtes Ende zu gelangen?
Also schlägst du den Kragen hoch, schlägst zunächst auch den richtigen Weg ein, nämlich rechts die Barthstraße hinunter, schlägst überdies den Bogen von Dantons Hemd zu den Mädchen mit den geschmeidigen Hüften, zu den Mädchen mit den Spitälern im Leib, die nichts daran ändern können, daß der beste Arzt die Guillotine sein wird, biegst von der Barthstraße in die Reischekgasse, denkst dabei nichts Böses, weil du überhaupt nie etwas Böses denkst, fragst dich vielleicht, wer von den Leuten, die dir begegnen, ein Revolutionär ist oder ein wenig verrückt, als du linkerhand auf dem Vorplatz der alten Brauerei dieses Mädchen siehst, von dem du mit dem ersten Blick weißt, daß es zu der Sorte gehört, die es nur in Romanen oder Filmen mit schlechtem Ausgang gibt.
Aber dort steht sie einmal, mit dem Rücken zu dir, und wirft mit wenig Glück einen faustgroßen Stein nach der offensichtlich letzten Fensterscheibe, die an dem auf Abbruch stehenden Hauptgebäude ganz geblieben ist. Argwöhnend schaust du in die Runde, ob alles mit rechten Dingen zugeht, ob nirgends ein Haken ist. Aber trotz deines redlichen Bemühens kannst du keine diesbezüglichen Anzeichen ausmachen. Alles wirkt sehr überzeugend. Du schaust wieder das Mädchen an, das barfuß ist, das ist dir zuvor nicht aufgefallen, die Schuhe hält sie in der Linken, schaust vielleicht zwei oder nur eine lange Sekunde, spürst sogar nichts Außergewöhnliches, nur dieses Kribbeln von Dantons Tod in der Magengrube, ein wenig verstärkt, obwohl damit zu rechnen ist, daß der kurze Blick schon bald von einer neuen Wahrnehmung überlagert sein wird. Du gehst vorbei, geschenkt, sagst du mit einer großzügigen Geste und hast den Eindruck von dem, was nicht sein wird, bis auf periphere Reste, die in einem nächtlichen Traum wiederzukehren geeignet gewesen wären, mit bewundernswertem Gleichmut weggesteckt, als dich das Mädchen auffordert, ihr den Gefallen zu tun, die Scheibe einzuschmeißen: Schau, dort oben ist noch eine ganz.
Zwar stimmt, was sie sagt, dessen hast du dich bereits versichert, an den Falschen ist sie trotzdem geraten, denn in solchen Dingen drängst du dich nicht vor. Du drängst dich überhaupt nie und nirgends vor, das gehört zu deiner Strategie, weil du der Auffassung bist, überall in der ersten Reihe zu stehen, trage einem nichts als Ärger ein. Zu versäumen gebe es nichts (für dich der älteste Hut, der einem bei diesem Wetter vom Kopf fliegt), keinen Kometen, der nur alle hundert Jahre für drei Sekunden mit einem glühenden Schweif im Schlepptau auftaucht, keine Sprengung eines Tresors, ob von der Titanic oder aus den unterirdischen Schlupfwinkeln des Al Capone. Ganz zu schweigen von dem faulen Zauber, über den man an jeder Straßenecke stolpern kann.
So sieht sie aus, deine Welt. Besondere Absichten verfolgst du keine, erwartest weder vom Leben viel und schon gar nicht, daß es etwas von dir erwartet. Acht Stunden Schlaf, zum Frühstück eine Tasse Kaffee, und bis zum Abend fällst du nicht aus der Rolle. Da müßte dir, das wäre das mindeste, schon einer dieser Kometen durchs Dach schlagen.
Nach deinen Berechnungen nähert sich der Halleysche der Erde wieder um das Jahr 2060, das wäre die Gelegenheit, für die berüchtigten fünfzehn Minuten ein Star zu sein, die jedem, gefällt er sich in seiner Bedeutungslosigkeit auch noch so sehr, wärmstens anempfohlen sind. Immerhin, dies nur, um etwaigen Zweiflern an der bloßen Möglichkeit eines solchen Zwischenfalls von vornherein das Wasser abzugraben, ein italienischer Mönch des 17. Jahrhunderts wurde von einem herabstürzenden Meteor glattweg erschlagen.
1989 — ein unerhebliches Jahr. Und von diesem Standpunkt aus entbehrt es nicht einer gewissen Pikanterie, daß deine ruhigen Tage gezählt sind, als du der Aufforderung des Mädchens, näherzutreten, damit sie dir ins Gesicht sehen könne, aus Höflichkeit nachkommst und drei Schritt in ihre Richtung machst.
Dort gerätst du zunächst in eine knöcheltiefe Lache, was schon mal unerfreulich ist — aber nicht, weil die Erde eine dünne Kruste ist und du befürchten mußt, in der Pfütze durchzubrechen, sondern wegen der nassen Socken, die du kriegst, denn Blücherstiefel trägst du ebensowenig wie Wellingtons. Voilà la pluie de Waterloo! Und natürlich sind deine Socken von der billigsten, nur im Supermarkt erhältlichen Sorte, so daß dich ein unter beträchtlichem Ärger gewonnener Erfahrungswert ungesäumt darauf hinweist, daß sie bei Regen nichts lieber tun, als deine Zehen anzuschwärzen — gemeinhin ein ausreichender Grund, mit Vorsicht aufzutreten.
Und hier — beginnt der betrübliche Teil der Geschichte: denn während du fluchend und stampfend über deiner Misere knirschst, erzählt das Mädchen mehr von sich, als dir lieb ist. Sie heiße Lila, Lila wie die Farbe, sei vernarrt in das Klirren von Glas, sie finde es erotisch und besser schlafen lasse es sie auch. Sie habe es schon hundertmal probiert, aber sie: schaffe — es — einfach — nicht.
Du begutachtest das Fenster erneut. Was das bringen soll. Und darauf sie: Grundgütiger Gott, ich mag es halt, wenn es klirrt. Ist das so schwer zu kapieren?
— Eigentlich nicht.
—Na eben. Du mußt wissen, ich wohne im Turm von der Brauerei, da drüben im zweiten Stock, im dritten der Sohn eines Stadtrats, weshalb wir erst Ende nächsten Monat delogiert werden, obwohl der Komplex im Sommer abgerissen wird. Seit Wochen habe ich Angst, daß jemand die Scheibe einschmeißt, während ich nicht zu Hause bin. Und deswegen sollst du die Sache in die Hand nehmen. Immerhin ist es besser, auf dem Karussell schwarz zu fahren als ewig anzustehen. Zuletzt kommt dann wer, beehren Sie uns wieder, meine Damen, meine Herren, für heute empfehlen wir uns. Man springt auf, setzt sich hin, wo’s einem gefällt. Und springt rechtzeitig ab. So einfach geht das. Manchmal. Eigentlich wollte ich sagen, daß das Karussell nur fährt, wenn man anschiebt. Es fliegt nicht, es läuft nicht. Es geht.
Sie radiert mit den nackten Fußballen an den Schatten einer eichenblättrigen Buche, durch deren Geäst ein Hoflicht fällt. Bückt sich nach einem faustgroßen Stein, wie sie im Dutzend herumliegen. Vor dem Kasten türmt sich jede Menge Schutt, sie braucht bloß hinzulangen.
— Also sei so nett und schmeiß die Scheibe ein.
Während dich Lila erwartungsvoll anschaut, überlegst du, wann du zuletzt mit einem Karussell gefahren bist, überlegst sehr lange und weißt es trotzdem nicht. Irgendwie findest du das bedauerlich, weil du eine Ahnung hast, daß es ein Lachen gibt, das man nur auf einem Karussell zustande kriegt. Auf dieses Lachen bist du neugierig. Aber der Zusammenhang zwischen einem Karussell und dem Stein, den dir Lila entgegenhält, ist dir schleierhaft.
Zumal: Ein wenig groß ist er schon.
— Ach Quatsch. Der ist genau richtig, wie geschaffen für den Zweck. Ich kenn’ mich da aus. Im ersten Stock die zwei halbrechts, im zweiten das Fenster in der Mitte, das, in dem noch die Scherben hängen. Und dann noch ein halbes Hundert hinten im Hof. Das hier ist nur die Schmalseite.
Du schaust in alle Richtungen. Dir ist klar, schonungslos klar, daß Lila mit dir rechnet. Du hintersinnst einen Augenblick, daß du auf dem Weg in den Revolver bist, wo du nichts weiter tun willst, als das eine oder andere Glas trinken, eine Münze in die Jukebox werfen und die skurrilen Formen der hauchdünnen Rauchgirlanden deiner Gitanes auf ihrer abenteuerlichen Reise zur Decke beobachten. Und diesen Augenblick fühlst du dich trostlos, weil das die einzigen Abenteuer sind, denen du vertraust. Trotzdem nickst du, wenn auch nur andeutungsweise, aber das genügt.
Der Ritter überreicht der Dame sein Herz, die Dame dem Ritter einen Stein.
Kaum anzunehmen, daß der Handel auf deiner Seite halbwegs solide anschlägt — wieder ein trostloser Moment. Aber, wie stets in heiklen Situationen, sagst du bei dir, was in einer heiklen Situation Sieyès gesagt hat: Wenn es um eine große Sache geht, ist man immer gezwungen, etwas dem Ungefähr zu überlassen. Also wiegst du den anorganischen Bestandteil der Transaktion beschwörend in der Hand, legst auch gleich den Schirm beiseite, was zur unmittelbaren Folge hat, daß sich deine Jacke, ein ausgetragenes Erbstück von deinem Vater mit überdimensionalen Schulterpolstern, die dich ecken, sofort bedenklich zu sprenkeln beginnt. Und überhaupt: am Ende des Satzes ist die Jacke wieder monochrom, als Ganzes dunkelgrau.
Aber zu dem Zeitpunkt bist du längst entschlossen, dir das Fenster vorzuknöpfen, trotz allem, obwohl eure Ähnlichkeit frappierend ist — — von sprödem Kitt in einer baufälligen Welt gehalten und ohne rechten Durchblick.
Aufklärung tut offensichtlich not.
Du nimmst dein Ziel ins Visier, während Lila ungeduldig auf den Zehen wippt, holst aus, was Lila veranlaßt, auf den Zehenspitzen zu verharren, hebst das Spielbein. Doch beim zweiten Mal geht’s besser. Als es klirrt, hüpft Lila hoch, stößt einen Schrei aus, ein geschossenes Jeps! knallt applaudierend die Sohlen der Pumps aneinander. Vereinzelt klimpern Scherben die Hauswand herunter. Mit einem Geräusch, das wirklich nicht zu verachten ist und dich verleitet, einigermaßen zufrieden die Hände an den Hosen abzuwischen. Denn die Nacht ist plötzlich transparent, und ringsum sieht man Auswege aus der Langeweile, von denen nur ihr zwei wißt, Lila und du. Du denkst allen Ernstes, das also ist das Leben.
Eine Gebrauchsanweisung.
Der Regen fällt jetzt dicht und schräg in Strichelform, als setzte er die nötigen Gänsefüßchen an Lila und an dich. Naß seid ihr ja beide schon reichlich. Sie lacht: Jetzt hast du was gut bei mir, sie nickt, nickt nochmals: Willst du die Schuhe? Du kannst sie geschenkt haben. Ich habe mir an ihnen eine Blase gelaufen. Das kommt davon, wenn man von früh bis spät über den Globus tingelt, nur so dahin wie die vom Regen aufgeworfenen Blasen, die über ihr Pfützenmeer Richtung Gully gondeln, was übrigens ein sehr anschauliches Bild meiner derzeitigen Situation ist.
In diesem Zimmer hier nur Seitenstiche / und von draußen ungefährliche Geräusche.(Nicolas Born)
Als Lila an ihrem Türschloß herummurxt und verschiedene Stimmen in deinem Innern lautwerden, die sich bemüßigt fühlen, dir eine Kehrtwendung am Absatz schmackhaft zu machen, wäre es höchste Zeit für dich, einzusehen, daß du dich in eine Unternehmung begibst, die dir nicht bekommen wird. Denn den Anregungen, die dir auf diesem Weg zukommen, fehlt es nicht im mindesten an Plausibilität.
Charles Maurice Talleyrand=Périgord, Bischof von Autun und Hinkefuß: Hütet Euch vor zu ungestümer Lebhaftigkeit, denn jegliche UnOrdnung kann für die Freiheit un=heilvoll sein.
Napoleon Bonaparte: Die Liebe zu schönen Frauen stiftet mehr UnHeil, als sie Gutes wirkt.
Philipp Worovsky: Sie ist einige Nummern zu groß für dich. Bestimmt wird sie dich am Ende der zweiten Runde mit Kinderreimen auszählen. Bestimmt schlägst du noch in dieser Nacht dreizehn.
Schlag eins.
Das Stoppschild. Die Verzettelung.
Sowie die Tür ihrem Fluchen nachgegeben hat, dirigiert dich Lila dorthin, wohin du vorerst nicht gewollt hast — an einem Stoppschild vorbei, das in Kopfhöhe den mannshohen Garderobenspiegel ausfüllt und das sie geklaut habe, am Piccadilly Circus oder irgendwo, geradewegs ins Schlafzimmer.
Und da stehst du dann mit zwei so Dingern, schwarzen Damenschuhen von der feineren Sorte, steif und zierlos mit Stöckeln, und überlegst, ob diese Stöckel fünfundfünfzig oder sechzig Millimeter hoch sind.
Neben schwarz und rot lackierten High=tech=Möbeln leuchtet dort ein knallig gelbes, übergroßes Bett.
— Das ist mein Wohnzimmer, sagt sie, sagt es auf eine Art, daß es eine Belehrung sein kann, hält gleichzeitig auf den niedrigen Rundtisch zu, schiebt Briefe, Zettel, Postkarten ineinander, die zuvor die ganze Tischfläche einnahmen. Sie niest, zieht die Schultern hoch und dämpft ein zweites Niesen mit der Armbeuge ab. Wie man sein Leben nur so verzetteln kann, sagt sie zu sich und fegt das Papierwerk mit einer plötzlichen Armbewegung vom Tisch, streckt fragend die Arme aus, hört auf das Knistern und Rascheln des Papiers, das am Boden noch eine Weile Leben behält.
Schlag zwei.
Das Foto.
Als das Papier in einen stabilen Zustand zurückgetreten ist, hast du dir bereits den Mut genommen, dich nach einem Foto zu bücken, das auf dem Gesicht zu deinen Füßen lag. Ohne Zweifel Lila, zwischen Sperrmüll auf einem ausgedienten Fernsehgehäuse ohne Bildröhre sitzend, mit ausgewachsenen Dauerwellen und achtzehnjährig, älter, jünger, vom Foto herunter kannst du das, obwohl du, um die beiden zu vergleichen, ein verstohlenes Auge auf die gegenwärtige Weltgestalt des Mädchens wirfst, nicht so genau beurteilen. Sie gefallen dir, jede für sich, sehr=sehr=sehr.
Das Foto steckst du in die Tasche. Das vermagst du. Aber Lila schenkt großzügig Rum ein, da muß man noch abwarten. Was weiter geschieht? Ihr trinkt euch zu.
Schlag drei.
Der Mond und der Lippenstift.
— Kannst du mir eigentlich sagen, sagt sie, warum der Mond keinen Namen hat? Ich finde das ungerecht.
— Er hat sehr wohl einen Namen: Mond.
— Mond heißen viele. Neptun hat zwanzig, Saturn hundert. Mond, das ist nur der Sippenname. Wenn unserer, der ja der beste von allen ist, der Gönner der Diebe und Liebenden, heute nicht verhindert wäre, könnten wir ihn mit der Flasche Schampus, die bei mir im Kühlschrank steht, taufen. Du würdest ihm die Flasche bestimmt an den Kopf schmeißen.
— Mit Leichtigkeit.
— Na siehst du. Vielleicht zeigt er sich im Lauf der Nacht. Wir warten. Ich für mein Teil habe Zeit.
— Und einen Namen?
— Einen Namen? Lila.
— Für den Mond, meine ich.
— Für den Mond? Nein. Und du?
— Mond. Mond ist okay.
— Komiker. Dich meine ich, ob du für dich einen Namen hast, denn Mond wirst du ja nicht heißen.
Corse with no name.
Sie wartet, gibt dir irgendwann wortlos ihr Glas zu halten, und wie du danach greifst, gleitet ihre Linke mit taschendiebischer Leichtigkeit in deine Hosentasche, wenigstens müsse sie so wald=und=wiesen=schön wissen, wer du seist.
Sie zieht die Hand geballt wieder heraus, präsentiert einen Labello und einen Fünfer.
— Dann kennst du mich jetzt auswendig?
— Aber sicher doch.
Sie dreht den Labello aus, schreibt in Großbuchstaben Lila in das mondlose Fenster, vermurxt den Stift, der von deiner Körperwärme weich und pampig ist, zerdepscht ihn vollkommen, wie auch anders, lächelt dich dabei an, macht Plüschaugen, sie hat wirklich hübsche Krähenfüße, und mit einem hochgezogenen Du=u will sie den Fünfer geschenkt. Geschenkt, sagst du, worauf sie das Fenster öffnet und die Münze in den finsteren Hof wirft. Sie möge dieses Geräusch, alle hellen Geräusche. Im Traum mache sie manchmal Gläsern Anträge. Aber die lachten dann bloß.
Schlag vier.
Die Datumsgrenze. Dann Jerry Cotton.
Lila leert ihr Glas und kurvt zur Bar, um nachzuschenken. Hinterher geht sie sich umziehen, wie sie sagt, das volle Glas läßt sie ebenso stehen wie dich, der du ihre Abwesenheit oder vielmehr die Ungewißheit, was kommen wird, mit der Erkundung des Zimmers überbrückst.
Am Rum nippend, entdeckst du zuallererst Interesse für eine Karte Ozeaniens, die über dem Bett hängt. Ihr Alter muß beachtlich sein, das ersiehst du an den Landstrichen, die den Vermerk ›unvermessen‹ tragen und die du des weiteren auch unvermessen beläßt. Um so sorgfältiger kundschaftest du die rotgestrichelte Datumsgrenze aus, die keine Verfechterin der Maxime ist, daß der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten (oder zwei Zeiten?) die Gerade ist, denn von ihr wird die Karte auf einer Mäander halbiert: Hier noch heute, dort schon morgen.
Ganz im Süden beginnend, segelst du entlang so schöner Namen wie Antipoden Inseln, Bougainville und Choiseul, zwischen Duff und Espiritu Santo zu den Fidschis, von dort westlich zu den Gesellschaftsinseln, vorbei an Hereheretue und den Îles Duc de Gloucester zu Lilas Bücherregal irgendwo im östlichen Pazifik, wo du dir aufs Geratewohl Jerry Cotton No. 87: Die bitteren Träume von Harlem langst (Schon seltsam, daß Lilas Rechnung darin aufgehen soll.) Aber du liest: Sehr schön, verständlich, ohne jedwede Schnörkel. Deine Moral richtet sich an dem wortkargen Helden, der allerhöchstens einen Mundwinkel verzieht, wenn irgendwo ein blondes Mädchen in einer Blutlache aufgefunden wird (in einer Lache, in der man unendlich leichter durchbrechen kann), zusehends auf.
Schlag fünf.
Das Monster, der Kuß und die Liebe.
Als Lila zurückkommt, eine gepunktete, dampfende Tasse in der Linken, blätterst du noch immer gelöst, versunken, mit von Faszination glänzendem Gesicht in No. 87: Die bitteren Träume von Harlem. Mittlerweile trägt Lila rote Sokken und Bluejeans, ihr Haar hat sie hinten zusammengebunden, was sie älter und abgeklärter aussehen läßt. Sie summt My Baby Just Cares for Me. Schenkt dir keine Beachtung. Sagt nur, kurz innehaltend, leg Musik auf, und daß du mir ja die richtige Platte erwischst.
Du steckst Frank N. und seine Transsexuellen, die am Teller gelegen haben, in ihr Cover, Then Something Went Wrong for Fay Wray and King Kong, stöberst durch den Reiter, du solltest dich weiter links halten, sagt Lila, dann verschwindet sie nochmals, lediglich für zwei Minuten, aber lange genug, daß du dir mit einem Livealbum von Lady Day, New York, 50er Jahre, einig wirst. Du legst die Scheibe mit der B=Seite auf, weil sich dort ein passender Titel ankündigt: For Heavens Sake.
Im Takt dazu hüpft Lila von Zettel zu Zettel wie von einer Eisscholle zur andern: Bin ich böse? Sag, daß ich ein Monster bin.
Du tust ihr den Gefallen, bereitwillig: Natürlich bist du ein Monster.
Draußen, am Fensterbrett, läuft ein Vogel über Blech. Das unangenehme Geräusch, das die Krallen dabei erzeugen, steht ganz für sich allein. Lila horcht, mit einem Gesichtsausdruck, als hätte sie soeben etwas Wissenswertes erfahren, setzt dann zögernd, mit einem Minimum an Bewegung, das Hüpfen zwischen den Zetteln fort, ohne von deinem weiteren Treiben Notiz zu nehmen. Du lehnst noch immer am Kasten, in Billies Cover vertieft, denkst an Billie the Kid, The Sundance Kid und Butch Cassidy, an Raindrops Keep Falling on My Head und an das Mädchen, das bei Paul Newman lauthals lachend auf der Lenkstange gesessen hat.
Irgendwann tanzt Lila zu dir her, erreicht dich, ohne das Parkett berührt zu haben, tätschelt an deinem Rücken herum mit der Frage im Anschlag, ob du sie liebst: Liebst du mich? Sag, daß du mich liebst. Du liebst mich doch? Etwa nicht? — — Sicher liebst du mich.
Der Monolog gefällt dir oder es ist so, daß du nicht annimmst, daß deine Antwort einen Unterschied machte. Also wartest du, was Lila sonst noch zu erzählen hat. Doch als sie dich auf diese Mädchentour kullrig anschaut, ihre Krähenfüße sind wirklich sehr einnehmend (und erst ihre Augen: als würde man in einen starken Kaffee fallen, platsch!), nutzt alles nichts, du mußt Farbe bekennen, wir wollen recht viel Rot anrühren, stammelst du, hoffend, in der Einfalt deines Herzens, daß es vieles sagen kann.
Deine Hoffnung währt kurz, so lange, bis dich Lila in die Seite knufft: Hab ich’s ja gewußt, du liebst mich.
Na eben.
Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und küßt dich. Und du küßt sie zurück. Nicht bloß aus zärtlicher Neigung, sondern auch aus Hohn gegen deine alten Grundsätze. Und in dem Augenblick lodern in dir gewaltige Flammen jener zwei Passionen auf, welchen dein Leben künftighin gewidmet sein wird: der Liebe für schöne Frauen und der Liebe für die Revolution.
Du trinkst dein zweites Glas leer.
— War das gut? Man muß es immer tun, sagt sie, als wär’s das letzte Mal.
Schlag sechs.
So durchwandre die Weltannalen.
Die zweite Seite von Billie Holiday ist zu Ende, die erste hört ihr euch, du auf einem Drehsessel bei der Stereoanlage, Lila in einem der Stühle, die aussehen, als ob man sie ohne besonderen Bedacht auf den praktischen Nutzen gestaltet hätte, schweigend an. Es ist eine große Erleichterung, sie ruhig zu wissen, wiewohl dir klar ist, daß sie von der Sorte ist, die man im Auge behalten muß, vor allem dann, wenn sie sich tot stellt. Trotzdem dürfen deine Gehirnzellen rühren. Du schaust mit geweiteten Augen zur Decke und spürst am Vibrieren der Sinne, die wie unter einer Haartrockenhaube etwas Fließendes und Quirliges haben, daß du einigermaßen betrunken bist.
Kurz vor Ende des letzten Cuts prophezeit dir Lila, daß du sie niemals vergessen wirst, ganz bestimmt, sagt sie, damit du’s weißt, du nickst, o ja, so durchwandre die Weltannalen und finde etwas darin, das ihr ferne nur gleicht, wenn du kannst. Dann legst du Sade auf, viel Besseres hast du nicht zu tun, und beginnst, dich in einem Anfall von Gegenwärtigkeit in ihre Verzettelung einzulesen, wozu du zwanglos aufs Parkett hockst und wie die Glücksfee einer Lotterie den nächstbesten Zettel aus dem Durcheinander angelst.
Schlag sieben.
Die Bombe. An einem Abend verfallen.
Sonst nicht deine Art, in Fremder Leben herumzustochern. Und dennoch, vielleicht um den Beweis deiner Ungezwungenheit anzutreten, hüpfst du kurzerhand mit deinem Schatten Seil, eine überraschend aufschlußreiche Tätigkeit — das dämmert dir vage —, die sich jeder regelmäßig gönnen sollte (wie den Besuch beim Zahnarzt). Du langst dir dieses und jenes, es sind meterlange Briefe darunter, auch Liebesbriefe, aber du ziehst die kürzeren Sachen, Notizen auf abgegriffenen Kalenderblättern, das Schlagartige, das zum Augenblick synchron ist, den Romanen vor. Anhand einer mit ›Lila‹ unterschriebenen Vorlage filterst du von ihr Verfaßtes heraus, das dich verständlicherweise am meisten interessiert und dir manch unverständiges Stirnrunzeln entlockt, bis du den Eigenarten ihrer Handschrift auf die Schliche kommst. Konkret kriegst du es mit einer weitgestreuten Klaue zu tun, die kaum vier durchschnittliche Wörter in eine Zeile bringt. Das Schriftbild entspricht Lilas Augenpartie: Vollbeschriebene Blätter sehen aus, als wäre ein Schwarm betrunkener Krähen mit tintigen Füßen darübergetorkelt.
Ich habe eine Bombe im Kopf. Willst du sie hochgehen lassen?
Rumms! Die paar Wörter schaffen, was oft kiloschweren Büchern nicht gelingt, dir das Gefühl zu vermitteln, etwas erlebt zu haben. Für Sekunden gerätst du in einen Taumel, die ganze Welt erscheint dir mit einmal logisch, du fragst dich, was passiert ist, der Raum wirkt mindestens doppelt so groß wie Augenblicke zuvor, die Stühle ähneln Seilbahnstationen, und auf leisen Sohlen ertastet sich die Bombe einen Weg in deinen Kopf.
Ticketacke. Ticketacke.
Es ist, als würde die Bombe mit dir reden, es ist der Moment, in dem du erahnst, was es heißt, die Bombe zu lieben.
Nach einer Weile läßt du den Zettel wegsegeln. Dich wundert nicht, wie leicht er fällt. Du glaubst allen Ernstes (derweil dein Herz ganz leicht und weit wird), daß das Gewicht der Bombe in deinem Kopf zurückgeblieben ist.
Anderswo, auf einem Kalenderblatt vom 18. Februar irgendeines Jahres, entzifferst du mit einiger Mühe: Ich bin dir — wie eine Eintrittskarte — im Verlauf eines Abends verfallen. Verfallene Mädchen, sehr gefällig, wenn sie fallen (wie Königreiche). Das beschäftigt dich, eine Zeitlang, bis Lila wissen will, was du vorschlägst zu tun. Du hättest ja Zeit gehabt, dir was auszudenken.
Schlag acht.
Das Bonmot.
Jetzt fühlst du dich wahrhaft trostlos. Denn du weißt nichts und mußt an die Comtes der Revolution denken, die versucht haben, dem Leben Aug in Aug mit der Guillotine ein Bonmot abzugewinnen, einen dieser eindringlichen Sätze, den Schriftsteller als Motto für ihre Bücher verwenden: Beeilt euch, die Stiefel könnt ihr mir leichter ausziehen, wenn ich tot bin! / Und ich, der ich noch soviel in meinem Kopf hatte!
Du denkst an die Comtes, denen nichts eingefallen ist.
— Weiß nicht, hab mir keine Gedanken gemacht, sagst du und findest dich über die Maßen langweilig.
Und die Comtes, denen nichts eingefallen ist, tun dir überhaupt nicht leid, keine Spur.
— Jetzt sag, sagt Lila mit einer Spur Erstaunen, ihr Gesicht, offen, wieder jünger für einen Moment: Bin ich zuletzt tatsächlich ein Monster?
Ein Lächeln verirrt sich in ihre Mundwinkel. Du gähnst verlegen, beschämt. Sie greift nach hinten, löst den Gummi aus ihrem Haar, schüttelt es nach vor und streicht sich einmal mit der Rechten den Scheitel entlang. Den Gummi spannt sie zwischen den Fingern, einen normalen Haushaltsgummi, den sie später nach einem der Punktstrahler spickt, ohne zu treffen. Du hast den Eindruck, daß sie das ärgert. Sie verzieht das Gesicht, klopft sich gleichzeitig mit der flachen Hand ans Schienbein.
Schlag neun.
Strange days have found us. Kirsch oder Zitrone?
— Macht nichts, was soll dir auch einfallen. Es gibt nichts. Du kannst mir grade so gut etwas mit den Ohren vorwackeln. Du kannst doch mit den Ohren wackeln?
Ächzend rappelst du dich hoch. Es kommt dir vor, als ob in allen Rücken Wände stünden. Dein linkes Bein ist zudem am Einschlafen. Heftig trittst du auf dem linken Fuß, bis das Kribbeln mit Nachfließen des Blutes in ein angenehmes Rieseln übergeht, das bald verschwindet. Weiß der Teufel, was Lila jetzt denkt. Sie schaut dieses Strange=days=have= found=us (der Kaffee in ihren Augen ist jetzt dünn und kalt), beißt eine Weile, während du eine Runde im Zimmer drehst, auf ihrer Halskette herum, als gelte es von einer Strafkolonie zu fliehen. Surinam. Der Rum zeigt sich von der gewohnten Seite, zumal in deinem Kopf, wo das Hundertste mit dem Tausendsten Menuett tanzt. Und in diesem Zuge taucht auch die Frage auf, dreht sich in dir, drehtunddreht sich, ob alle Komiker verschlossene Menschen sind, die keine Ahnung haben, wie man mit den Ohren wackelt, denen es Schwierigkeiten bereitet, aus sich herauszugehen, und die sich ihr Lachen wie teure Zigarren, die man zu besonderen Anlässen raucht, aufsparen.
Sade liegt seit einiger Zeit reglos am Teller, und Lila nutzt die Gelegenheit, My Baby Just Cares for Me zu summen. Später erzählt sie mit ihrer vom Schnupfen dumpfen Stimme irgendwelchen Salat über sich. Sie gibt dir einiges aufzulösen. Es geht um Galileo, die andere Seite der Welt, um Bewegungen, die vom Kopf ausgehen, um Gedankenstriche, die nicht mehr aufhören und sich im Unendlichen verlaufen. Sie bringt das alles problemlos in fünf Sätzen unter, und du weißt, daß bei der Schnitzeljagd die Rollen so verteilt sind, daß du kaum Chancen hast, sie einzuholen oder mit ihren Gedanken Schritt zu halten.
Was soll’s, du hast es aufgegeben, alles begreifen zu wollen. Sie hat eine angenehme Stimme, du läßt sie reden, konzentrierst dich einfach auf diesen Schuß Erotik in den hinteren Lauten, der die Wörter wie in buntes Cellophan verpackt. Des weiteren bist du froh, unbehelligt zu bleiben, und wickelst die Wörter zeitweilig nicht aus. Kirsch oder Zitrone? Wer fragt? Manchmal nickst du, manchmal starrst du Löcher ins Zimmer, auf den Schriftzug am Kniefleck auf ihren Bluejeans, den du nicht entziffern kannst.
Schlag zehn.
Neuseeland. UnGlücksvögel.
Lila schneuzt sich und wirft ein Oh!=it’s=a=feh ins Durcheinander. Früher einmal habe sie nach Neuseeland auswandern wollen, gemeinsam mit einer Freundin. Neuseeland. Obwohl sie nicht die geringste Ahnung gehabt hätten, was sie dort wollten. Aber Hauptsache, möglichst weit weg, überm Meer, auf der andern Seite der Welt. Aber daraus sei nichts geworden.
Sie deutet auf die stockfleckige Karte von Ozeanien. Schon seltsam, daß es ausgerechnet in Neuseeland diese vielen Vögel gebe, die nicht fliegen könnten. Das liege wohl daran, daß sie schon in Neuseeland seien und deshalb gut Gefallen daran fänden, faul zu sein.
Während Lila redet, dich durch einen Tumult von ausgestorbenen Riesenmoas und UnGlücksvögeln schleift, zupfst du Stoffusel von deinem Hemd. Alles ist plötzlich weit weg, du bist schläfrig, es kommt dir vor, als ob du dich bei leichtem Seegang auf einem Schiff befändest, mehrere Tagesreisen vom Festland entfernt. Was Lila sagt, entwickelt nach und nach ein Echo, es bleibt immer ein wenig länger im Ohr und überschneidet sich mit dem Nachfolgenden.
Als sie sich hochrappelt, schummelst du dich zu deiner Jacke. Du spürst dieses warme Vibrieren im Kopf und mußt nachtreten, um nicht hinzufallen.
Schlag elf.
Der Ludergeruch der Revolution.
— Schätze, ich gehe jetzt, murmelst du. Aber Lila hört nicht hin. Ob du Lust auf Popcorn hast, will sie wissen, sie esse für ihr Leben gerne Popcorn, vor allem im Bett.
Die Frage ist verlockend. Und dennoch, du siehst den Himmel nicht offen und voller Geigen, ganz und gar nicht. Mit dem Glückslos in der Hand fragst du dich, ob es dir den Charakter verdirbt oder nach der Ruhe trachtet. Wie aus dem Mond gefallen starrst du Lila an, suchst, ob sich in ihrem Gesicht eine Regung zeigt, die ihre Absicht verrät, suchst nach der Feile im Kuchen. Aber ohne Erfolg. Sie sagt kühl, daß sie’s meine, wie sie’s sage, öffnet den Gürtel ihrer Jeans, scheuert aus den Hosenröhren, Lila, diese wunderbare Sansculotte — sie zieht auch den Pullover aus, unter dem sie durchaus nichts trägt, streicht mit den Händen über die Klaviatur ihrer Rippen: Jetzt sag doch was!
Dein Herz flattert, das Blut macht eine Kehrtwendung am Absatz, andersherum, du zögerst: Sie sind — — wie aus dem Louvre gestohlen.
— Sie gefallen dir?
— Du hast die schönsten geklaut. Ich glaube, auch im Badezimmer würden sie sich sehr gut machen.
— Und im Bett erst. Sie lächelt. Und wie sie lächelt: Du magst ihn doch sicher, diesen — — Ludergeruch? Im Kino, wenn jetzt ein Schnitt kommt, wissen die Leute, daß es passiert ist.
Schlag zwölf.
Der letzte Schnitt zur Dunkelheit.
Lila geht rückwärts zum Bett und löscht von dort das Licht.
Auf diese Weise beginnt mein Tag, und der weitere Verlauf ist nicht besser.(Anton P. Tschechow)
Den Lärm vom Glascontainer auf der anderen Straßenseite hörst du bis in den Traum, so tief hinein, daß du davon aufwachst. Daß du deswegen aufwachst, entscheidet letztlich den Tag. Vielleicht hing kurz davor alles am seidenen Faden, vielleicht hattest du Chancen, dir Lila vom Leib zu halten. Aber jetzt, unter den gegebenen Umständen, sind alle Auswege dahin. Denn nicht nur zwei oder drei Gläser landen in dem Container, an die hundert müssen es sein. Und der Container, das hört man, ist obendrein beinahe leer. Jedes einzelne zerbirst mit einem satten Tschirrrr!
Natürlich weißt du, wieviel Spaß es macht, der Urheber dieses Geräuschs zu sein, und natürlich denkst du augenblicklich an Lila. Lila. Klirr … Lila … klirr … An die Romanze, die du mit ihrem Fenster verlebt hast … Klirr … Ein wirklich schönes Geräusch — das Auffliegen gläserner Vögel. Eine große und allgemeine Wohltat.
Das klimaktische Platzen der Gläser, dieser Sinnbilder der gebrechlichen Einrichtung der Welt, scheint in alle Ewigkeit fortzudauern.
In den Pausen hörst du aus der Küche Geklapper, das deine Mutter beim Zubereiten ihres Frühstücks veranstaltet. Nebenher trällert sie ein Lied. La pulce d’acqua. Du hörst ihr zu, hörst auf dieses Trällern, auf das Klirren vom Container, bis es abbricht. Irgendwo in den Puppen verschaltet sich ein Motorrad.
Um Viertel vor acht, wie immer unter der Woche, geht deine Mutter zur Arbeit. Das Haus rührt sich, die Treppe wacht auf, Türen gehen, Radios bringen Weltnachrichten, scheppern, dudeln, schmettern irgendwelche Musik. Und weil dich das trübselig macht, diese Songs, Friday on My Mind, krabbelst du aus den Federn, streichst dir, wie um ein vorübergehendes Vergessen wegzuwischen, mit der flachen Hand über die Augen und trollst dich in die Küche, wo du in der Absicht, deine in den letzten Zügen befindlichen Lebensgeister aufzupäppeln, den Kühlschrank öffnest. Du hast Hunger. Aber egal, was dir zwischen die Finger gerät, nichts macht dir Appetit, im Gegenteil, alleine der Gedanke an Essen erregt dir Übelkeit.
So ist das einmal: Am Abend gestiefelt, am morgen gekatert.
Und dann klopft es zu allem auch noch an der Wohnungstür. Du kennst das: die Tante von nebenan braucht immer einen Fingerhut voll Milch, einen Kaffeefilter oder die Zeitung von gestern, die sie bereits weggeschmissen hat. Aber das letzte, was dir momentan fehlt, sind lästige Fragen wegen des lautstarken Streits gestern nacht. Der Anlaß? Deine Mutter hatte dich vor deiner Zimmertür abgefangen. Du — mit Lilas Schuhen (deren Stöckel garantiert sechzig Millimeter hoch sind). Jetzt sehe sie klar: Eine Frau. Und was für eine! Man könne unschwer vom Drunter auf das Drüber schließen. Du lügtest ihr in die Augen, der Anschein sei irreführend, du seist um die Wette gelaufen und gestürzt, die Schuhe seien der Trostpreis, wegen dieses Spottverses: Steigt auf hohe Absätze, wenn ihr zum Ball geht, es ist heute Mode zu torkeln und zu fallen! — aber da hörte deine Mutter gar nicht mehr hin.
Die Nachbarin probiert es nochmals, allerdings kräftiger, doch umstimmen läßt du dich dadurch nicht.
In etwa einer halben Stunde wird sie es neuerlich versuchen, aber bis dahin bist du nicht mehr zu Hause.
Die Sache ist nämlich die: Als du dich an den Tisch setzt, um deinen brummenden Kopf zärtlich zwischen die Hände zu nehmen, fällt dir der von einer mit Tulpen bestellten Vase am Einkringeln gehinderte Einkaufszettel ins Auge, den dir deine Mutter nebst einem Batzen Geld zurechtgelegt hat. Du sollst den stummen Diener ersetzen, dem vergangene Nacht dieses bedauerliche Unglück zugestoßen ist. Endgültig entnervt, hast du ihm beim Aufhängen der Jacke einen Arm abgebrochen. Deine Mutter stellt dir frei, den schwindligen Abgründen deines Geschmacks nachzugeben, ihretwegen könnest du eine kurzsichtige Mildred in den Haushalt holen, die Gute müsse lediglich in der Lage sein, jeden Morgen verläßlich die Zeitung zu bügeln. Der Rest sei weniger wichtig.
Diese Order, in der du eine Chance auf Zerstreuung gewahrst, kommt dir nicht ungelegen. Also kehrst du in dein Zimmer zurück, stellst dich zwischen die offenen Flügel des Kleiderschranks und entscheidest dich nach einigem Blinzeln für Kleider, die du seit Jahren nicht mehr getragen hast, schnappst dir bei der Gelegenheit auch gleich den Fotoapparat, als dir einfällt, daß Fotografieren früher, bis du’s irgendwie vergessen hast, dein Steckenpferd war. Vielleicht, wenn du darauf achtest, dich auf Belanglosigkeiten zu konzentrieren, hilft dir die Kamera, an vorgestern anzuschließen oder — noch besser — den philosophischen Gleichmut zu finden, der notwendig ist, um das Glas, das du im Revolver versäumt hast, ohne bitteren Beigeschmack nachzuholen. Auf einen Versuch willst du’s ankommen lassen. Doch kurz darauf ertappst du dich dabei, wie du das Foto mit der Dauerwellenversion von Lila andächtig in die frische Bluejeans transferierst.
Jetzt schaust du schlecht aus: Bestimmt wird dein Un-Glück ganz fänomenal!
Und mit dieser Aussicht, während vom Grund deiner Seele ein enzyklopädisches Gefühl der Erwartung aufsteigt, schlenderst du in einen Allerweltsmorgen, der von der lausigen Sorte ist, mit frischer Luft, die etwas UnStädtisches hat und obendrein kalt ist wie üblich in Allerherrgottsfrüh, wo du doch etwas Wärme gut vertragen könntest.
Ein Blick nach oben. — Aber was kann man in solchen Zeiten schon voraussagen? Alles aprilliert brillant. Auch im Wetterhäuschen herrscht Turbulenz, einer schickt den andern vor die Tür, was einmal Regen, dann Nebel, zwischendurch Sonnenschein zur Folge hat, und jetzt, Freitag, acht Uhr dreißig, steckt das Mädchen mit dem Margeritenstrauß in der Hand die Nase durch den Türspalt. Achtzehn Grad malst du dir aus, vielleicht neunzehn und ein halbes, wenn nur das Geschliere vor der Sonne verschwindet. Denn dahinter tauchen blaue Flecken auf.
Mal sehen.
Du setzt dich in Bewegung, kämpfst im Gehen mit einem Kloß zwischen Nase und Hals, den du sogleich verschluckst, als er sich löst. Aber was nützt das noch? Sieht so aus, als ob du dich verkühlt hast, als ob dir Lila nebenher ihre Erkältung vermacht hat.
Was heißt hier nebenher?
Ein grandioses Erbe!
Normalerweise gehen dir Erkältungen schrecklich auf die Nerven, aber ›normalerweise‹ ist eine Kategorie, die für dich im Moment keine Gültigkeit hat. Gänzlich aus der Gnade des Alltags gefallen und dabei fassungslos, wie sich in wenigen Stunden das Gesicht der Dinge verändern kann, siehst du etwas wie eine Notwendigkeit darin, verkühlt zu sein, weshalb du auch ergeben die Achseln zuckst. N’en parlons plus. So hat alles seine Ordnung. Dort gestern, hier heute. Und heute und jetzt ein angefangener Film in der Kamera und — tschitschik — ein Stoppschild am Celluloid.
Na gut, halte ich mich eben links Richtung Zentrum die Payerstraße entlang, die dem Weg zu Lilas Turm entgegengesetzt verläuft, ziehe ehrerbietig die Nase hoch und knipse, was mir der Zufall vor die Linse scheucht: weggeworfene Taschentücher und Regenpfützen (ja Waterloo, dort hätte ich sterben sollen!). Ein schwarzes Graffiti auf einer isabellefarbenen Hauswand: Indessen wandelt droben harmlos das Gestirn. Worovsky in Rückansicht, mit Zeitauslöser. Dann zwei Mülltonnen und eine in einem Vorgarten aufgebockte Ente ohne Reifen (die ja auch ein Vogel ist, der nicht fliegen kann). Und denke dabei vordergründig an Lila, was ein Fehler ist, aber verständlich, an ihren großen Mund, an das gerippelte Zahnfleisch, das mit jedem Lachen aufschimmert. An ihre Krähenfüße, die kleinen bläulich/violetten Falten rings um ihre Augen. Ob ich irgendwo einen Kaffee trinken soll? Einen besonders starken, um Lila besser verstehen zu können? Vor allem ihre Augen, wenn sie für mich glänzten?
Man muss es immer tun, als wär’s das letztemal.
Das hat sie nach dem Kuß gesagt.
Und später, als du das von ihr ausgeknipste Licht sofort wieder angemacht hattest: Ich hätte es dir schon beigebracht.