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Die 29-jährige Mona hat scheinbar alles, was man zum Leben braucht: einen gutbezahlten Job in einer Werbeagentur, ihren liebevollen Freund Dennis, der auch noch backen kann, eine etwas anstrengende, aber sehr fürsorgliche Familie und nicht zuletzt ihre besten Freundinnen Sophia und Clara, mit denen sie Freud und Leid teilt. Dann kommt der Tag, der alles verändert: Mona erhält die Diagnose Unfruchtbarkeit. Sie beginnt, ihr gesamtes Leben in Frage zu stellen, und begibt sich auf die Suche nach ihrem eigenen Weg. Mit lakonischer Knappheit und pointiertem Witz erzählt Anne Mairo in ihrem Debütroman von der Neuorientierung und Sinnsuche einer jungen Frau. Dabei liefert sie eine treffende Analyse der 30er-Generation und ihrer Lebenswelt.
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Ein architektonisch ausgeklügeltes Bürogebäude in Mitte mit Blick auf kleine Designerläden und weitere architektonisch ausgeklügelte Bürogebäude. Durch mein Fenster kann ich das grüne Licht der Leuchtbuchstaben sehen. Das "E" flimmert ein wenig. Colourful Image steht dort in hipper Helvetica-Schrift. Ich kritzele. Mein Handgelenk macht die schwungvollen Bewegungen wie von selbst. S. Rosenbaum schreibt es in den kleinen Zwischenraum über der gedruckten Zeile i.A. Simona Rosenbaum. In Angst heißt das, sagt mein Chef immer und lacht dann so komisch, als müsse ich mich darüber freuen, dass ich seiner Ansicht nach Angst haben sollte. Dabei heißt dieses i.A. eigentlich eher, dass man gar keine Angst zu haben braucht. Man handelt ja im Auftrag eines anderen. Keine größeren Konsequenzen für das eigene Tun sind zu befürchten. Außer vielleicht dem beruflichen Abstieg und der erscheint mir weniger und weniger furchteinflößend zu sein. Im Gegenteil, dieses i.A. heißt für mich manchmal in Ablehnung oder ihr Armen oder in Anwesenheit (körperlicher) oder im Aquarium (gedanklich). Was mir gerade so einfällt. Auf jeden Fall nicht in Angst. Es sind Serienbriefe, die ich unterschreibe und sie werden in Serien gedruckt. Es ist die gefühlte Folge 15, der Serie Jeder braucht eine Werbeagentur und wir sind genau das, was Sie suchen, die da geräuschintensiv aus meinem Drucker hervorgestoßen wird. Krzkrzkrzkrzkrz. Mein Postfach quillt über, aber ich kann es nicht öffnen. Wenn ich es öffne, werde ich vom schwarzen Loch eingesogen und muss handeln, um mich wieder herauszukämpfen. Kunden beruhigen, Anfragen bearbeiten, Daten einholen, die Welt retten. Und mit Sicherheit komme ich dann zu spät zu meiner Verabredung mit Dennis. Ich habe den Moment, in dem für nur eine Sekunde alles abgearbeitet war, gut abgepasst und einfach mein Mailprogramm geschlossen. Jede E-Mail, die danach kam, landete im Nichts. Um halb sieben im Restaurant sein, das ist wichtig. Deshalb kritzle ich. Ich wünschte nur, das kleine unbeleuchtete Briefsymbol würde aufhören, mich so anzustarren. Kritzelkritzelkritzel. Die Ansprachebriefe, in denen steht, dass Colourful Image die beste Agentur der Welt ist, und die dem Leser nahelegen, eine Werbeagentur zu brauchen, stopfe ich in Umschläge. Zwischen die vormarkierten Falten der Briefe stecke ich eine bunte Broschüre mit Bildern von zielstrebigen Menschen in schicken Anzügen, die in die Gegend starren oder an einem Bleistift kauen oder eine Tasse Kaffee umklammern. Diese Bilder sollen dann Überzeugungskraft und Kreativität symbolisieren. Alles gut geplant. Der Mann trinkt nicht zufällig Kaffee, er trinkt bewusst Kaffee. Er trinkt mit Überzeugung Kaffee, weil er ein hart arbeitendes Individuum ist. Er arbeitet so hart, dass er Kaffee braucht, um durchzuhalten. Auf den kann man sich verlassen. Der schläft nicht, der hält durch.
Kaffee schwächt die Nerven, sagt ein Kinderlied, das ich noch im Kindergarten gelernt habe, bevor es verboten wurde. Warum habe ich es mir eigentlich so lange gemerkt, frage ich mich, dieses Lied, das nach meiner Grundschulzeit niemand mehr gesungen hat? C-A-F-F-E-E trink nicht zu viel Caffee, nicht für Kinder ist der Türkentrank, schwächt die Nerven, macht dich blass und krank. Sei doch kein Muselmann, der das nicht lassen kann. So etwas wurde Kindern wirklich mal beigebracht. Irre. So gar nicht PC. In der Türkei ist heute schwarzer Tee das am weitesten verbreitete Heißgetränk. Die haben den Absprung vom nervenschwächenden Kaffee geschafft. Und wir? Vielleicht singen heute Kinder in der Türkei Sei doch keine Kartoffel, die das nicht lassen kann. Ich klebe die Umschläge zu. Sie sind selbstklebend. Hier muss keiner mehr was anlecken. Dann schiebe ich sie durch die Frankiermaschine. Dadengdadengdadeng.
An meiner Bürowand flimmert das grüne Licht des „E“s und wirft langgezogene Schatten, die meine Schreibtischlampe und meinen Desktop wie schrille Monster wirken lassen. Ich sehe hinüber zu Sophias Büro. Sie hackt auf ihrer Tastatur herum. Leidenschaft spricht aus ihrer Körperhaltung.
Sie tanzt Tango mit der Tastatur. Sie sieht auch aus wie eine Tangotänzerin mit ihren streng zurück gebundenen Haaren, diese Sophia. Mit Körperspannung und Eleganz passt sie sich dem Tanzpartner an und lässt sich herumwirbeln. Mit ihren geschmeidigen Bewegungen beeindrucken sie das Publikum. Strenge Perfektion. Absolute Kontrolle. Tolle Schuhe. Sophia findet Werbeagenturen wichtig. So richtig wichtig. So ohne-uns-kennt-euch-keiner-wichtig. Es scheint ja ein menschliches Bedürfnis zu sein, seine Arbeit als sinnvoll zu empfinden. Jetzt klingelt Sophias Telefon und sie geht ran. Sie ist jetzt noch angespannter und starrt etwas traurig auf ihren Bildschirm, den alleingelassenen Tanzpartner, der schreit: Leg auf und komm zurück, ich bin gerade in Fahrt gekommen! Kunden sind ein wenig wie Kinder. Wenn man gerade eine besonders produktive Phase hat, kommen sie und wollen, dass man ihnen etwas vorliest, oder fragen, wo sie ihr Malbuch hingelegt haben und ob man ihnen beim Suchen helfen kann. Die Konvention gebietet es dann, ihre Bedürfnisse über die eigenen zu stellen. An ihnen hängt ja schließlich der gesellschaftliche Erfolg. Aber Tango tanzen sie nicht.
Ich sitze auf meinem Bürostuhl, stoße mich vom Schreibtisch ab und drehe mich ein paar Mal um mich selbst. Hui! Die Uhr zeigt kurz vor sechs. Um halb sieben sind wir verabredet. Draußen scheint die Sonne. Vögel fliegen am Fenster vorbei. Sie fliegen in irgendeiner Formation, die ich nicht genau erkennen kann, weil ich mich ja drehe. Krzkrzkrzkrz macht der Drucker.
Mir ist schwindelig und ich stehe wieder auf und kritzel weiter. Es sind nur noch ein paar Briefe. Schnell in Umschläge gestopft, durch die Maschine gejagt, in den Postkorb geworfen, Jacke an. Mir ist immer noch ein bisschen übel vom Drehen, aber ich finde das schön. Das ist meine Übelkeit, die mir gehört, weil ich mir ausgesucht habe, mich bescheuert mit dem Stuhl zu drehen. Die gehört mir und keiner kann sie mir wegnehmen. Ich klopfe im Vorbeigehen kurz an Sophias Büroscheibe und winke. Sophia winkt kurz genervt zurück. Sie will beim Tanzen nicht gestört werden. Ich nehme das nicht persönlich.
* * *
Wir treffen uns auf der Sonnenterrasse im Gianna’s. Das ist unser Restaurant. Na ja, mein Restaurant, zu dem Dennis immer Klar, du magst es doch so sagt und sich dann Pizza della Casa customized mit weniger scharfer Sauce und Anchovi-Upgrade, aber ohne Oliven und Zwiebeln bestellt. Dann beklagt er sich meistens über den mangelnden Vitamingehalt der Pizza oder darüber, dass der Käse heiß ist, oder über prozentual zu viel Brot. Vier Jahre sind wir zusammen und er traut sich immer noch nicht, mir zu gestehen, dass er italienisches Essen nicht besonders mag. Ich meine, klar mag er es, jeder mag ja italienisches Essen, weil wir so daran gewöhnt sind, dass es uns beinah schon wie deutsches Essen vorkommt, aber manchen hängen Pizza und Nudeln eben schneller zum Hals raus als anderen und Dennis ist so jemand. Er erträgt meinen Mainstream-Wunsch, weil er glaubt, dass er selbst der Komische ist, weil er am liebsten asiatisch isst. So als gäbe es eine Art Lieblingsessen-Knigge, der italienisches Essen als universalkompatibel beschreibt. Ich frage mich, ob Nazis eigentlich Nudeln essen oder ob sie nur Kartoffeln und Knödel essen dürfen, weil das am deutschesten ist? Oder gibt es so eine alternativhistorische Erklärung unter den Hardcore-Nazis, die besagt, dass schon die Germanenfrauen mit Keulen auf Tierfellen Nudelteig geknetet haben? Und die Römer haben das dann nur geklaut und sich die geniale Erfindung propagandistisch einverleibt. Für die Mormonen ist Jesus schließlich auch in den USA wiedergeboren worden, also wer weiß.
Vielleicht erträgt es Dennis auch ein bisschen, weil ich ja Halb-Italienerin bin und weil er denkt, dass italienisches Essen daher einen ganz essentiellen Teil meiner Identität bildet, was natürlich Quatsch ist, weil ich es einfach mag, weil es schmeckt, und nicht, weil es italienisch ist. Jedenfalls bestrafe ich ihn dafür, dass er seine Interessen nicht ausreichend vertritt, indem ich mir immer wieder eine Verabredung im Gianna’s wünsche.
Während ich warte, zerpflücke ich den Bierdeckel unter meinem Gespritzten in einzelne Schichten. Zuerst ziehe ich die bedruckte oberste Schicht stückchenweise ab und dann ist die ebenfalls bedruckte Unterschicht dran. Die kleinen Papierfetzen ordne ich liebevoll auf einem kleinen Haufen an, den ich immer wieder mit zwei Fingern zusammenschiebe, damit die Kellnerin meine Kreation nicht schon von weitem sieht. Ich sehe auf die Uhr und rümpfe die Nase. 18.35 Uhr. Meine gerümpfte Nase nimmt den unverkennbaren Geruch von Buttersäure und Zucker wahr, mit einem Hauch von Obst. Vielleicht Zwetschgen oder Kirschen. Kuchen. Kekse. Der Geruch zieht vom Bäcker gegenüber zu mir herüber und gibt mir dieses komische pawlowsche warme Gefühl, weil Dennis auch immer nach Keksen riecht, wenn er nach Hause kommt.
Mich ereilt ein kitschiger Liebesfilm-Flashback. Wäre dies ein Film, dann würde die Kamera jetzt von meiner Nase zum Bäcker fahren und ein Close-Up von der Auslage voller Kekse zeigen. Von dort würde sie wieder weiter wegzoomen und ein vier Jahre jüngerer Dennis würde hinter der Theke stehend zum Vorschein kommen und sich einer vier Jahre jüngeren Mona widmen, die nicht genau weiß, was sie kaufen möchte.
„Empfiehlst du mir etwas?“, fragt diese jüngere Version von mir und der jüngere Dennis lacht und antwortet, es komme ganz darauf an, was ich ausdrücken wolle.
„Ach ja?“, frage ich zurück und flirte dabei ein ganz kleines bisschen. Wir sind ja in einem Liebesfilm. Vielleicht bei Chocolat, nur mit Keksen. Dennis nickt bestimmt und flirtet ein wenig zurück.
„Schwarzweißgebäck, Spritzgebäck und Butterkekse mag jeder“, sagt er dann, „alle von Kindern bis Großeltern. Sie schmecken gut, machen sich hervorragend zum Kaffee, Tee und zur heißen Schokolade, tragen zur Atmosphäre bei, aber sie hinterlassen keinen bleibenden Eindruck. Schokotropfen sind ein Highlight, eine Geschmacksexplosion. Sie sagen: Ich lebe im Hier und Jetzt und denke nicht an morgen, ich begrüße die Sünde mit offenen Armen!“ Jedes Mal, wenn er von einem Keks spricht, präsentiert er ihn mit einer theatralischen Geste, als würde er gleich durch einen brennenden Reifen springen. „Mandelplätzchen sagen: Ich habe Stil, ich möchte meinen Gästen etwas Besonderes bieten, aber mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Sie tragen nicht so dick auf wie Schokotropfen. Sie sind eine sichere Nummer und absolut phantastisch.“ Er sieht mir direkt in die Augen, dieser Dennis mit seinen tollen blonden Haaren und seinen unglaublich weißen Zähnen, und ich lehne mich mit den Unterarmen auf den Tresen und warte ab.
„Ich glaube, du bist ein Typ für Kokosmakronen“, sagt er und reicht mir eine über den Glastresen hinweg. „Die mag nicht jeder, aber wer sie mag, der liebt sie auch. Sie sind exotisch, sommerlich, sie wären im Dezember schon fast ein rebellischer Kauf, in jedem Fall antizyklisch, sie sind elegant und selbstbewusst und sagen: Wenn du mich nicht magst, dann tut es mir leid, aber du verpasst etwas!“ Er mustert mich, während er das sagt, und sieht dabei zu, wie ich einen Bissen von der Makrone verspeise.
„Ist das so?“, frage ich. „Ich assoziiere mit Kokos nämlich immer weiß gekleidete Damen mit Föhnwelle aus einem nicht näher benannten Adelsgeschlecht mit großen weißen Hüten, die auf einer weißen Yacht Raffaello futtern und nach Chanel Nr. 5 riechen. Rebellisch und exotisch ist an diesem Bild nicht allzu viel.“
Dennis seufzt und antwortet, wenn mein erster Gedanke bei einer Kokosmakrone die Raffaello-Werbung sei, hätte ich in Sachen Süßigkeiten wohl noch einiges zu lernen. Ob ich mit ihm einen Kaffee trinken würde, er habe jetzt ohnehin gerade Pause. Wer’s glaubt, denke ich, damals und in dem Film, der gerade vor meinem inneren Auge abläuft, aber ich sage ja, weil er eben er ist und weil ich die Gelegenheit, von einem Mann mit perfekten Zähnen über Süßigkeiten belehrt zu werden, auf keinen Fall missen möchte.
Wir sitzen im Cafébereich von Oma Berta und er erzählt mir die ganze Berta-Geschichte. Dass Oma Berta die Mutter seiner Mutter war, die damals nach dem Krieg aus Zutaten, die sie auftreiben konnte, Keksrezepte entwickelt hat und dann irgendwann anfing, imaginäre Rezepte zu entwickeln, aus Zutaten, die sie nicht hatte (wie Kokos), für Kekse, die sie irgendwann einmal backen würde, später. Und Dennis’ Mutter hat dieses Traumrezeptbuch seiner Großmutter schließlich irgendwann geerbt und die Kekse tatsächlich gebacken und die Rezepte modifiziert und ergänzt. Nach diesen Mischrezepten aus Utopiekeksen und Nachkriegskeksen werden die Oma Berta-Kekse heute gebacken, sagt Dennis. Dabei verspeist er innerhalb weniger Minuten eine Erdbeerschnitte, die einfach so in diesem perfekten, sportlichen Körper verschwindet, und ich denke: Was für unglaubliche Gene der Mann haben muss! Er hat diesen romantisch verklärten Blick, wenn er von Keksen spricht, als wären sie etwas Heiliges, etwas ganz Unschuldiges. Dabei strotzen sie vor Fett und Zucker und machen dick, wenn auch nicht ihn, aber das sage ich ihm an dem Tag noch nicht. Seine Haare sind so wuschelig, dass ich gern hineinfassen möchte. Er hat einen Witz gemacht und ich lache. An den Witz erinnere ich mich nicht mehr, aber er lacht auch. Ich glaube, der Witz hat auch etwas mit Keksen zu tun. Wir lachen zusammen.
Eltern, die wollen, dass man in ihre Fußstapfen tritt, sind heute selten, glaube ich. Heute gibt es ja auch diese ganzen Berufe, die es damals noch gar nicht gab. Projektmanager, Data Warehouse Specialist, Business Specialist, Senior Oracle Administrator, SAP Berater, Junior Credit Analyst. Ich stelle mir vor, wie in 20 Jahren jemand zu seinem Kind sagen wird: Ich möchte, dass du ein Data Warehouse Specialist wirst wie ich, führe die Familientradition fort! So spezialisiert kann ja keine Familie sein. Aber Keks-Geschäftsführer muss es immer noch geben. Nur, dass sie jetzt CEO heißen und Leute anstellen müssen, die das Internet überwachen. Dennis wurde also Keks-CEO und ich habe auf der neuen Oma-Berta-Facebook-Seite pflichtbewusst auf gefällt mir geklickt und bin den Tweets gefolgt, die sich seine Social Media Specialists ausgedacht haben. Heute schon Walnuss-Cantuccini zum Kaffee gehabt? Jetzt wieder zur Winterzeit: Zimtgebäck und Lebkuchen von Oma Berta!
Ich atme noch einmal tief durch die Nase ein und sehe wieder auf die Uhr. 18.45. Mein Bierdeckel hat sich inzwischen vollständig in einen Haufen Schnipsel verwandelt. Wo bleibt er denn? Ich überlege, einen weiteren Bierdeckel zu malträtieren, und kann das Opfer im Bierdeckelständer schon förmlich zittern sehen, als er dann doch kommt. Sofort hat mein dämonischer Blick ein neues Opfer gefunden und der Keksgeruch nervt mich auch. Dennis wurde bei der Arbeit aufgehalten und ich werfe ihm gedanklich vor, sein E-Mail-Postfach nicht wie ich überpünktlich geschlossen zu haben.
„Denkst du, für mich ist es leicht, pünktlich wegzukommen? Man muss eben Prioritäten setzen!“, schimpfe ich.
„Glücklicherweise sitzt du in Sachen Prioritäten setzen nie im Glashaus, nicht wahr?“, schimpft er zurück und ich sehe ihn finster an.
„Ich bin Geschäftsführer, Momo, ich bin manchmal fremdgesteuert und kann einfach nicht weg, wann ich möchte“, sagt er etwas sanfter.
„Und ich etwa nicht? Ich bin genauso fremdgesteuert und war trotzdem pünktlich hier“, erwidere ich gekränkt. Er denkt, er sei fremdgesteuerter als ich, was überhaupt nicht sein kann. Er atmet tief ein und aus.
„Stehen in deinem Büro aufgebrachte Mitarbeiterinnen, die sich darüber streiten, wer in den Osterferien mit seinen Kindern in den Urlaub fahren darf und wer nicht?“, fragt er und blättert wütend in der Karte herum.
Ich schweige und starre auf die Reste des Bierdeckels, weil in meinem Büro natürlich keine Mitarbeiterinnen stehen, die sich über Urlaubszeiten streiten. Geschweige denn welche mit Kindern.
Er seufzt. „Reset“, sagt er schließlich, „Feierabendmodus. Alles Gute zum Jahrestag.“ Ich lächle ein wenig gezwungen.
„Darf es bei Ihnen schon etwas sein?“, fragt der Kellner und wir bestellen dankbar je eine Pizza und eine Flasche Wein mit zwei Gläsern. Dann schweigen wir, bis der Wein kommt, und stürzen je ein Glas davon herunter, bevor wir anfangen können, das zweite ein wenig zu genießen.
„Was macht das Propagandaministerium?“, fragt er und ich sage: „Bio ist beliebt, Geiz ist geil und die Verkaufszahlen meines Billigbio-Kunden zeigen das auch. Das ist gut. Sonst gibt es nicht viel Neues.“
Er nickt.
„Und das Keksimperium?“, frage ich und er seufzt wieder.
„Gut“, sagt er. „Eigentlich gut.“
„Und uneigentlich?“
„Zwei meiner Sales-Mitarbeiter hassen einander wie die Pest. Wir haben eine Hotelkette als neuen Großkunden gewonnen und irgendwie müssen beide auf irgendeine Art daran beteiligt gewesen sein. Jetzt streiten sie sich um die Provision. Der eine hat mir vorhin mit seiner Kündigung gedroht, falls ich sie nicht ihm zusprechen sollte. Aber wenn ich einen von ihnen verliere, muss ich jemand Neuen einstellen und einarbeiten und das kostet alles Zeit und Ressourcen.“ Er dreht seine Serviette in der Hand.
„Besser, als wenn sie sich die ganze Zeit die Köpfe einschlagen, oder?“, murmle ich.
Er zuckt mit den Schultern und wir essen eine Weile schweigend unsere Pizza. „Vielleicht stecke ich sie zusammen auf einen dieser Spreedampfer und lasse sie ihre Differenzen ausdiskutieren. Da können sie wenigstens nicht weglaufen.“
Kaffeefahrt für den Keksfrieden. Ich lache und stelle mir zwei anzugtragende Sales-Mitarbeiter mit verschränkten Armen zwischen einem Haufen knipsender Touristen und älteren Damen auf einem Dampfer vor. Das könnte wenigstens eine abschreckende Wirkung haben. Pädagogisch wertvoll.
Dennis gießt uns beiden Wein nach und hält sein Glas in meine Richtung. „Vier Jahre“, sagt er, „nicht schlecht.“
„Wieso?“, frage ich spielerisch. „Bist du überrascht, dass du es so lange mit mir ausgehalten hast?“
„Ehrlich gesagt, danach zu urteilen, wie unser Essen heute angefangen hat, bin ich überrascht, dass wir beide es so lange miteinander ausgehalten haben.“ Er lacht.
„Auf unsere Willensstärke und Konfliktlösungskompetenz“, sage ich und er lächelt, sieht aus dem Fenster und nickt sehr langsam und in Gedanken.
Irgendwann ist dann der Wein leer und wir entscheiden, dass wir noch Schnaps möchten, und fahren mit vollen Bäuchen nach Hause und entkorken eine Flasche Williams Birne. Wir trinken das Zeug wie Fruchtsaft, während die Super Nanny im Fernsehen eine Wuthöhle baut. Wir kommentieren ihre Erziehungsmethoden, obwohl wir gar keine Ahnung haben, und irgendwann merke ich, dass Dennis eingeschlafen ist. Ich rüttele ein wenig an ihm herum, damit er mit mir ins Schlafzimmer umzieht. Er grummelt etwas Unverständliches und kriecht wie in Trance unter die Bettdecke. Ich taumle ins Badezimmer und übergebe mich in die Toilette. Dann wasche ich mir das verschmierte Make-up aus dem Gesicht, damit ich keine Pickel bekomme, sehe in den Spiegel und finde mich für einen Moment abgrundtief hässlich. Ohne Vorfreude denke ich an den kommenden Arbeitstag, als ich dann endlich ins Bett falle.
* * *
Ich bin bei Colourful Image. Mein Kunde heißt Rimbauld und verkauft Autos. Modell Kleopatra werden wir in der Girlfriend, der Für die Frau und der PromiNews bewerben, haben wir uns demokratisch überlegt. Es ist schließlich ein Frauenauto, klein und süß, auf Sicherheit bedacht, mit Stauraum für die Einkäufe. Nicht gerade eine Königin, die in Milch gebadet hat. Kleopatra hat zwei ihrer Geschwister ermorden lassen, um ihre Macht zu sichern. Das vielleicht besser nicht erzählen. Ich frage mich, wer bei der Machtergreifung dieser Kleopatra wohl den Kürzeren gezogen hat.
„Kleopatra — in den Armen einer Kriegerin kann Ihnen nichts passieren“, textet Veit, 24 Jahre, Stürmer bei Germania Berlin, Werbetexter.
Hm, denke ich, ob er wohl wenigstens den Wikipedia-Artikel zu Kleopatra gelesen hat? War Kleopatra eine Kriegerin? Also so in echt? Hat sie persönlich einmal eine Waffe in den Händen gehalten? Oder was macht jemanden zur Kriegerin? Ich nicke Veit zu und warte ab, was da noch kommt.
„Kleopatra – einer Königin würdig“, textet Simon, 27 Jahre, gescheiterter Bauingenieur, Langzeitpraktikant. So platt wie ein Kaugummi auf der B96, denke ich und nicke wieder.
„Kleopatra – starke Verführung“, sagt wieder Veit, der sich profilieren will.
„Gut, alles klar“, sage ich, „wir feilen alle noch ein bisschen bis morgen früh. Wie sieht es mit der Grafik aus?“
Julien, der Grafiker, hat eine Powerpoint-Präsentation vorbereitet. Verschiedene Entwürfe flackern auf die weiße Konferenzraum-Wand. Königin Kleopatra schaut aus dem knubbeligen Auto heraus und winkt wie Queen Elizabeth. Kleopatra steht in einem sexy Beyoncé-Kleid vor dem Auto und zwinkert Marcus Antonius zu. Kleopatra lässt sich von Marcus Antonius aus dem Autochen heraushelfen. Er hält ihr dabei die Hand hin, die sie elegant ergreift, als wolle man sie auf den roten Teppich geleiten.
Ich nicke weiter, sage ein paar Mal „Ja“ und ein paar Mal „Hm“ und gebe allen die Aufgabe, die bejahten Entwürfe zu verfeinern und Logo, Details zum Auto und Slogan einzuplanen. Bis morgen haben wir ein bis zwei Entwürfe gefunden, die wir präsentieren können, schätze ich optimistisch.
* * *
Der Kunde ruft an. Er findet den Anzeigenpreis für die Girlfriend zu hoch. Er fragt, wie viel Rabatt er kriegt. Ich frage, wie viele Anzeigen er denn schalten möchte. Er sagt, das hänge vom Preis ab. Ich sage, der Preis hänge vom Volumen ab. Wir stagnieren.
„Sagen wir fünf“, sagt er.
„Ich melde mich wieder“, sage ich und lege auf. Dann rufe ich bei der Girlfriend an und frage nach Rabatt für meinen Kunden. Er wolle fünfAnzeigen schalten. Man schweigt und grämt.
„Sagen Sie dem Kunden, zehn Prozent“, sagt der Mann am anderen Ende der Leitung.
Ich frage mich kurz, ob es ihm unangenehm sein wird, vor neuen Bekanntschaften zuzugeben, dass er für die Girlfriend arbeitet. Und wie hoch wohl der Prozentsatz von Männern ist, die in den Marketing-Abteilungen und Redaktionsleitungen dieser Frauenzeitschriften arbeiten und entscheiden, welche Diät der Frauenwelt diese Woche wieder vorgeschlagen werden sollte (Kohlsuppe!) und welche die neue „Farbe der Saison“ ist (Altrosa!). Ich glaube ja, dass diese Selbstgeißelungsblättchen für Frauen, die Frau liest, um sich Tipps zu holen, wie man mehr Frau sein kann, als man ist, nur von Frauen geschrieben sein können. Ein klassischer Fall von weiblichem Masochismus. Ein Mann in der Redaktionsleitung hingegen wäre ganz klar ein Fall von Sadismus, gegen den man sich immerhin wehren könnte. Man stelle sich vor, es würde bekannt, dass die gesamte Redaktion der Girlfriend aus Männern bestünde! Was das für eine wütende Genderdiskussion auslösen würde! Aber solange uns Frauen die Kohlsuppe verordnen und Pilates und die Tests entwerfen, wie man „ihn“ am besten bei der Stange hält, ist ja alles ok. Aber ein Anzeigenverkäufer verordnet ja keine Kohlsuppe. Er verkauft nur Anzeigen. Eigentlich ist es auch egal, wo. Vermutlich sagt er ohnehin immer nur, er arbeite als Anzeigenverkäufer. Hallo, ich bin Jott Punkt Siegfried, Anzeigenverkäufer. Jott Punkt Siegfried legt auf.
Ich rufe den Kunden zurück und sage: „Nach Rücksprache können wir Ihnen zehn Prozent Rabatt auf die Mediakosten gewähren, wenn Sie fünf Anzeigen in der Girlfriend schalten.“ Der Kunde sagt, er hätte schon selbst bei der Girlfriend angerufen. Dort habe man ihm zehn Prozent Volumenrabatt zuzüglich 15 Prozent Rabatt bei Direktbuchung angeboten. Ich schweige und stopfe Jott Punkt Siegfried gedanklich einige zusammengeknüllte Seiten seines Schmierblattes in den Mund.
„Können Sie uns das Angebot auch machen“, fragt der Kunde, „sonst würden wir bei der Girlfriend direkt einbuchen“.
Ich sage, ich müsse Rücksprache mit meinem Projektleiter halten, und schreddere vor Wut ein paar Zettel. Der Projektleiter bin natürlich ich, aber das verrate ich nur in Notfällen. Ich rufe Jott Punkt an und versuche, meine Wut zu unterdrücken.
„Herr Siegfried“, sage ich, „soeben erzählt mir mein Kunde, er würde bei Direktbuchung von Ihnen den Agenturnachlass erhalten.“
„Hm“, grummelt Jott Punkt, „und?“.
„Sehen Sie“, sage ich so freundlich wie möglich, „das geht nicht. So schmeißen Sie uns als Agentur ja aus dem Rennen. Wir stellen einen Mediaplan auf, in dem wir Ihre Zeitschrift empfehlen, und Sie versuchen, den Kunden zu einer Direktbuchung zu überreden. Das kommt bei uns nicht als besonders kooperativ rüber und wir sehen uns dann motiviert, in zukünftigen Mediaplänen auf Ihre Konkurrenz zurückzugreifen.“
Jott Punkt scheint das Problem langsam zu begreifen. „Okay, Frau Rosenbaum, habe ich verstanden. Kommt nicht wieder vor“, sagt er, was natürlich Blödsinn ist, denn was ein Kunde einmal bekommen hat, bekommt er immer wieder.
„Tja, und was unternehmen wir jetzt in diesem Fall?“, frage ich. „Ich werde dem Kunden gegenüber Ihr Angebot aufrecht erhalten müssen und gleichzeitig bekommen wir von Ihnen hoffentlich die Agenturprovision.“
„Nee, geht nicht“, sagt Jott Punkt. „So viel Rabatt kann ich nicht geben. Ich kann Ihnen bei pünktlicher Zahlung allerdings drei Prozent Skonto einräumen.“
Ich gebe seinen Namen bei Xing ein, um zu sehen, ob er auch so idiotisch aussieht, wie er sich anhört. Er ist Ende 40, dicklich und trägt ein kariertes Hemd. Er grinst in die Kamera. „Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Herr Siegfried", sage ich. „Sie haben das schließlich verbockt, nicht wir!“
„Dann lassen Sie den Kunden doch diesmal direkt buchen und beim nächsten Mal bekommt er die 15 Prozent nicht mehr.“
Jott Punkt und ich streiten noch eine Weile, dann nehme ich die drei Prozent Skonto, greife mir Praktikantin Julia und zerre sie zum Kicker, wo ich meine Aggressionen an dem kleinen weißen Ball auslasse. Praktikantin Julia hat aus Mangel an täglichem Training natürlich keine Chance. Anschließend hole ich mir einen Kaffee, vollführe eine Runde Büroyoga auf meinem Gymnastikball und überbringe dem Kunden die freudige Botschaft.
* * *
Als ich nach Hause komme, riecht es lecker nach Curry. Dennis hat gekocht. Ich bin übel gelaunt, weil ich natürlich den Ärger meines Abteilungsleiters über die vermasselte Mediabuchung abbekommen habe. Wir essen das Curry vor dem Fernseher, wo gerade ein Haufen in ihrem Sozialverhalten gestörter Intellektueller (=Nerds) Klingonenscrabble spielt.
Dennis fragt mich wohlweislich nicht, wie mein Tag war, sondern erzählt von sich. „Rate mal“, sagt er.
Ich rate aber nicht. Ich wüsste ja gar nicht, wo ich anfangen sollte. „Was?“, frage ich stattdessen platt.
„Wir beliefern ab März die Immanuel Privatschule zum Nachtisch für die Kids“, freut er sich.
„Schön“, sage ich. Da ich nicht so recht weiß, was ich noch sagen soll, entscheide ich mich für Redundanz: „Das ist ja toll!“
Ja, das sei ein großer Auftrag, erzählt Dennis strahlend weiter, während ich mein Curry in mich hineinstopfe und ihm halbherzig zuhöre. Die Nerds sehen sich eine Castingshow für Models im Fernsehen an. Wir beobachten Schauspieler beim Fernsehen.
Die Matrix in der Matrix in der Matrix. Dennis erzählt irgendetwas von dieser Privatschule. Ich glaube, es geht um eine Keksverkostung mit Kindern. Im Fernseher wird ferngesehen. Das lässt so viel Identifikation zu. Ich kann mich ohne Umwege in diese Situation hineinversetzen. Kekse, Kekse, Kekse, höre ich Dennis erzählen. Schwarzweiß-Gebäck besonders beliebt, Kokos zu polarisierend, Allergierisiko bei Erdnüssen, Kekse, Kekse.
Nänänänänänänänä Batman!, macht mein Handy.