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Literatur verstehen und interpretieren "Konnte man ohne einen Auftrag leben?", lautet die zentrale Frage von Alfred Anderschs zeitkritischem Roman Sansibar oder der letzte Grund (1957). Ende der 1930er-Jahre treffen fünf Personen in einer Stadt an der Ostseeküste zufällig zusammen. Sie wollen vor dem Terror des totalitären Regimes in Deutschland fliehen und suchen - jeder für sich allein und gemeinsam für die bedrohte Skulptur "Der lesende Klosterschüler" von Ernst Barlach - einen neuen Auftrag in ihrem Leben. Die Insel Sansibar fungiert dabei als symbolischer Sehnsuchtsort. Mit Klett-Lektürehilfen - wissen, was wann passiert: dank ausführlicher Inhaltsangabe mit Interpretation - wissen, welche Themen wichtig sind: anhand thematischer Kapitel - auf wichtige Fragen die richtigen Antworten wissen: gut vorbereitet mit den häufigsten Fragen zur Lektüre plus Lösungen
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Seitenzahl: 150
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Klett Lektürehilfen
Alfred Andersch
von Thomas Gräff
Thomas Gräff ist Gymnasiallehrer für Deutsch und Musik an einem Gymnasium in Saarbrücken.
Die Textzitate folgen der Ausgabe: Alfred Andersch, Sansibar oder der letzte Grund. Zürich: Diogenes, 2006. ISBN 978-3-257-23601-9
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar
Auflage 4 3 2 1 | 20 18 2017 2016 2015
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Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages
© Klett Lerntraining, c/o PONS GmbH, Stuttgart 2015
Alle Rechte vorbehalten.
www.klett-lerntraining.de
Redaktion: Günter Maier
Umschlagfoto: Ullstein Bild (Brigitte Friedrich), Berlin
Satz: DOPPELPUNKT, Stuttgart
ISBN: 978-3-12-923983-4
Vorbemerkung
Handlung
Der Plot
Erster Teil: Hoffnungen
Zweiter Teil: Prüfung
Dritter Teil: Netz von Beziehungen
Vierter Teil: Vorbereitungen
Fünfter Teil: Flucht
Erzähltechniken
Das Erzählverhalten
Darstellung der Außenwelt
Verknüpfung der Abschnitte
Darstellung der Zeit
Intention
Die Personen
Gregor
Knudsen
Helander
Judith
Der Junge
Kompositionsprinzipien
Motive und Symbole
Der „Lesende Klosterschüler“ als Dingsymbol
Gattungsfragen
Historische Bezüge
Deutschland 1937: Der Terror des Nationalsozialismus
Deutschland 1957: Existenzialismus – Ethik der Verantwortung
Biografisches
Literaturhinweise
Prüfungsaufgaben und Lösungen
1 Der Titel des Romans
2 Die Bedeutung des „Lesenden Klosterschülers“
3 Besonderheiten der Erzähltechnik
4 Der Anfang des Romans
5 Szene am Hafen
6 Charakteristik Gregors
7 Helanders Entscheidung
8 Auseinandersetzung mit einer literaturkritischen These
„Die Literatur ist Arbeit an den Fragen der Epoche.“
(Alfred Andersch)
Welchen Bruch der Nationalsozialismus und die Katastrophe des von ihm herbeigeführten Zweiten Weltkriegs auch für das Kulturleben in Deutschland bedeutet, kann kaum überschätzt werden. Die in der anschließenden Zeit in der gesamten deutschen Gesellschaft wirkende Suche nach Orientierung zwischen Restauration und Neubeginn und die damit verbundenen Erschütterungen registrieren die Schriftsteller wie Seismografen. Die Romane wurden zum literarischen Mittel, um sich im Spannungsfeld zwischen Vergangenheitsbewältigung und Erleben der gesellschaftlichen Entwicklung in der Gegenwart zu orientieren. Dabei gerieten sie häufig in Opposition zu den allgemeinen Entwicklungsprozessen hin zu einer Wohlstandsgesellschaft, die zum Teil auf der Basis einer nicht hinterfragten und nicht bewältigten Vergangenheit aufbaute.
Vor allem die Romane von Wolfgang Koeppen, Heinrich Böll, Günter Grass, Max Frisch und Uwe Johnson kommentierten diese Entwicklungen kritisch. Auch Alfred Andersch gehört zu diesen wichtigen kritischen Stimmen. Die genannten Autoren haben den Nationalsozialismus am eigenen Leib erfahren und stellen die Frage, ob die beiden neuen deutschen Staaten (Bundesrepublik und DDR) den Anspruch, eine freiheitliche und humane Ordnung zu verwirklichen, tatsächlich einlösen. Gemeinsam ist ihnen eine skeptische, zum Teil pessimistische Haltung.
Andersch lässt seinen Roman Sansibar oder der letzte Grund im Deutschland des Nationalsozialismus spielen. Er führt fünf Personen, die sich in bedrängter Situation befinden, zu einer gemeinsamen Aktion zusammen. Aus dieser lebensgefährlichen Aktion gehen alle als veränderte Menschen hervor, die ihre individuelle Freiheit neu definieren. Die Schicksale der fünf unterschiedlichen Charaktere zeigen Handlungsmöglichkeiten hin zu einem selbstbestimmten und verantwortlichen Leben auf.
Der Suche nach neuen moralischen Orientierungen entsprach auch die Suche der Autoren nach einer neuen literarischen Sprache. Andersch findet mit seinem Roman ein radikales Gegenmodell zum traditionellen Roman. Die eigentliche Handlung wird zusammengewoben aus fünf simultanen Erzählfäden, die sich gegenseitig brechen, beleuchten und ergänzen. Auch die Darstellungsweise der inneren und äußeren Vorgänge der jeweiligen Handlungsstränge greift Erzähltechniken der modernen Literatur des 20. Jahrhunderts auf. Daher stellt Sansibar oder der letzte Grund einen progressiven Versuch dar, die deutsche Literatur, die durch den Nationalsozialismus so lange von zeitgenössischen Entwicklungen abgeschnitten war, durch Elemente aus der Weltliteratur zu bereichern.
Der Roman ist keine leichte Lektüre. Der komplexen Erzählstruktur zu folgen, stellt erhöhte Anforderungen an den Leser. Die Bedeutung der Handlung erschließt sich in ihrer Gänze nur, wenn man die historischen Hintergründe sowohl der erzählten Zeit als auch der Entstehungszeit des Romans bedenkt. Belohnt wird der Leser durch einen ungewöhnlichen, facettenreichen und auch spannenden Roman der Moderne, dessen Modell für erfülltes Leben über die Zeit Anderschs hinaus bis heute gültig bleibt.
Anderschs Roman unterscheidet sich in der Erzählweise deutlich von anderen. Statt eines kontinuierlich fortlaufenden Textes bietet er einzelne Abschnitte von unterschiedlicher Länge, insgesamt 37 an der Zahl. Jeder Abschnitt trägt als Überschrift einen oder mehrere Namen der Romanfiguren. Diese Überschriften geben an, welche Person(en) im jeweiligen Abschnitt im Vordergrund steht/stehen und aus welcher Perspektive der jeweilige Handlungsabschnitt berichtet wird. Die Erzählperspektive wechselt jedoch nicht nur zwischen den verschiedenen Abschnitten, sondern meist auch innerhalb jener Abschnitte, die mit mehreren Namen überschrieben sind. Die betreffenden Personen geben die äußeren Ereignisse aus ihrer Sicht wieder und schildern dabei gleichzeitig ihre Gefühle und Gedanken, Erinnerungen und Ahnungen. Der erste und danach jeder zweite Abschnitt trägt die Überschrift „Der Junge“ und ist in Kursivschrift gedruckt.
Die Handlung wird also nicht in einer kontinuierlichen, chronologischen Abfolge erzählt, sondern es entstehen sowohl Zeitsprünge als auch Überschneidungen. Darüber hinaus werden gleiche Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven mehrfach erzählt. Dem Leser fällt daher die Aufgabe zu, durch aufmerksames Verknüpfen der Details den Sinnzusammenhang zu erschließen.
Als Plot eines literarischen Textes bezeichnet man die Abfolge der Geschehnisse, auf die sich die Handlung reduzieren lässt, wenn alle Besonderheiten der Erzähltechnik (Vorausdeutungen, Rückblenden, Erzählverhalten usw.) außer Acht gelassen werden. Der Plot von Sansibar oder der letzte Grund setzt sich aus wenigen Geschehnissen zusammen: Fünf Personen unterschiedlichen Alters treffen in Rerik, einem (halb)fiktiven Städtchen an der Ostsee, beabsichtigt oder zufällig zusammen. Der Handlungsort lehnt sich einerseits an das reale Vorbild der Stadt Wismar und ihrer Küstenregion an; andererseits spielt er auf die 1938 von den Nationalsozialisten vorgenommene Umbenennung der Stadt Alt Gaarz in der Wismarer Bucht an. Der Name Rerik geht auf eine an dieser Stelle vermutete Wikingersiedlung zurück, doch hat das reale Rerik wenig mit dem Schauplatz in Anderschs Roman gemeinsam.
Sämtliche Personen befinden sich in einer krisenhaften Lebenssituation, aus der sie einen Ausweg suchen. Für einige besteht dieser Ausweg in einer Flucht. Drei der Personen beschließen, eine aus politischen Gründen gefährdete Holzplastik außer Landes zu schaffen. Dabei soll auch eine ebenfalls gefährdete junge Jüdin mitgenommen werden, um sie zu retten. Die Aktion gelingt, die fünf Personen trennen sich wieder und gehen ihre eigenen Wege.
Zur besseren Übersicht lässt sich die Handlung in fünf Teile gliedern:
Einleitung und Vorstellung der Personen; alle Personen suchen Möglichkeiten, um für sich oder andere die Flucht aus Rerik zu ermöglichen.
Entwicklung der Handlung und Zusammenführung der Personen; sie prüfen die Verwirklichung ihrer Pläne; das Scheitern ihrer Pläne zeichnet sich ab.
Die Rettung der Holzplastik „Lesender Klosterschüler“ wird beschlossen; Gregor beginnt, die Fäden zu ziehen.
Der „Lesende Klosterschüler“ wird verpackt und Judith in die Aktion eingeweiht; der Romantitel Sansibar beginnt sich zu klären.
Schmuggel der Holzplastik und Judiths; Trennung der Personen; Aufbruch, Neuanfang, Tod, Rückkehr.
Vorstellung der Personen
Die Handlung spielt in Rerik an der Ostsee im Jahr 1937.
Die fünf Hauptpersonen wollen aus verschiedenen Gründen von dort weg.
Sie alle befinden sich in Lebenskrisen.
Außerdem sind sie durch das politische System gefährdet.
Die Handlung spielt in Rerik an der Ostsee im Spätherbst des Jahres 1937 (vgl. S. 17) und umfasst im Kern einen sehr kurzen Zeitraum. Zwischen der ersten („Halb drei“, S. 14) und letzten (sechs Uhr morgens, vgl. S. 170) Zeitangabe liegen etwas mehr als 15 Stunden. Eine Art Epilog (Nachspiel, Nachwort) erweitert diesen Zeitraum noch bis zum Abend des nächsten Tages. Einige Ereignisse aus der unmittelbaren oder etwas länger zurückliegenden Vorgeschichte werden in Form von Rückblenden in die Handlung integriert. Für einen Roman ist dies ein sehr kurzer Zeitabschnitt.
Bis zum Ende des Romans erfährt der Leser den vollständigen Namen dieser Person nicht. Trotzdem ist der Junge eine zentrale Figur des Erzählens, da die ihm gewidmeten Abschnitte durch ihre regelmäßige Wiederkehr die Handlung gliedern und strukturieren. Trotzdem bekommt der Leser im ersten Abschnitt keine grundlegenden Informationen über den Jungen. Man weiß nicht, wer oder was er ist. Es wird lediglich deutlich, dass er gerne in seinem Versteck Abenteuergeschichten, insbesondere Huckleberry Finn von Mark Twain, liest und daher von Abenteuern in einer fernen Gegend träumt. Zumindest möchte er aus Rerik weg. An realen Gegebenheiten werden nur die „Ostsee“ (S. 7) als Handlungsort und der Vater des Jungen als dessen Vorbild genannt.
Die folgenden Abschnitte des Jungen setzen seine Assoziationskette fast nahtlos fort und ergänzen lediglich die Informationen, dass der Vater im Dorf als „Säufer“ (S. 19) verschrien war und bei einer ziellosen Fahrt mit seinem Fischerboot auf die Ostsee hinaus umgekommen ist. Der daraus resultierende Hass des Jungen auf die Erwachsenen in Rerik (vgl. S. 14) ist neben der Tatsache, dass „in Rerik nichts los war“ (S. 10) einer der drei Gründe, warum er von dort weg möchte.
Mit Gregor betritt eine Figur die Szene, die später zentral für die Handlung sein wird. Auch bei dieser Person werden die grundlegenden Informationen zunächst vorenthalten und erst in einem späteren Abschnitt mitgeteilt. Dass es sich bei Gregor um einen kommunistischen Aktivisten handelt, wird nur durch den Begriff „Genossen“ (S. 9) angedeutet. Aus seiner stellenweise gehobenen Sprache (z. B. „makadamisierte Straße“, S. 8) und seinen präzisen Beobachtungen lässt sich schließen, dass er eine gute Ausbildung genossen hat. Er befindet sich mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Rerik. Da er sich „bedroht“ (ebd.) fühlt, will er offensichtlich von dort aus fliehen. In ihm konkurrieren zwei unterschiedliche Sehweisen der Welt; auf der einen Seite kleidet er seine Eindrücke in Vergleiche und Metaphern („Kulissen für ein Spiel“, S. 8), auf der anderen Seite formuliert er sie als nüchterne Wahrnehmung („Schauplatz einer Drohung“, S. 9).
Der Pfarrer Helander ist in „dunklen Gedanken“ (S. 12) gefangen; er schaut aus dem Fenster auf den Platz an seiner Kirche und entdeckt nichts als „Einsamkeit“ (S. 11). Dass er auf der Backsteinmauer seiner Kirche nach einer „Schrift“ (S. 12) sucht, deutet an, dass er in einer Krise seines Glaubens steckt. Auch in Bezug auf seine Person wird eine Bedrohung erkennbar, er möchte bei Knudsen Hilfe gegen den „gemeinsamen Feind“ (S. 11) suchen. Dass auch hier noch nicht erwähnt wird, welche Art Hilfe wobei erwartet wird, ist ein Aspekt der Erzähltechnik und trägt zur Spannungssteigerung bei. Die hier genannte Georgenkirche wird später zum zentralen Handlungsort.
Ohne dass die Personen bisher miteinander in Kontakt getreten sind, werden an dieser Stelle die Verbindungen zwischen ihnen deutlich. Knudsen, an den Helander eben gedacht hat, ist ein Fischer und der Junge ist offensichtlich sein Schiffsjunge. Auch die Beziehung zu Gregor klärt sich, da Knudsen darüber verärgert ist, dass er hier auf einen Instrukteur der Partei wartet, anstatt schon längst zum Fischen ausgelaufen zu sein. Auch er scheint sich in einem Zustand der Bedrohung zu befinden. Einerseits ist die Parteiarbeit eine Aktion im Untergrund, das Treffen mit dem Instrukteur ist heimlich, und Knudsen fürchtet, dass er sich „verdächtig“ (S. 15) macht, wenn er nicht endlich zum Fischfang ausläuft. Er ist scheinbar als Letzter von seiner Parteigruppe übrig geblieben, weil alle anderen „Schiß“ (ebd.) vor dem ‚Terror’ haben. Andererseits wirft Knudsen der Partei Versagen vor, weil sie „hätte schießen sollen“ (ebd.).
Ein weiterer Aspekt der Bedrohung Knudsens zeigt sich in der Person seiner Frau Bertha. Sie wird als gutmütige Person geschildert, die aber unter einer psychischen Störung leidet, was sich darin zeigt, dass sie immer wieder den gleichen Witz erzählt, ohne es zu merken. In einer Rückblende werden zum ersten Mal die Urheber der Bedrohung erwähnt. Im gesamten Roman heißen sie immer nur die „Anderen“ (S. 16), aber aus dem Zusammenhang lässt sich schließen, dass es sich dabei um eine verallgemeinernde Bezeichnung handelt, die nicht nur die Nationalsozialisten meint.
Ein Vertreter der Anderen hatte Knudsen aufgesucht, weil ihrer Ansicht nach Bertha als „geistesgestört“ (ebd.) gilt und daher in eine Anstalt gebracht werden soll. Mit Hilfe des Arztes ist es Knudsen gelungen, seine Frau davor zu bewahren. Aber er lebt nun ständig in der Angst, dass er sie nach einer Ausfahrt zum Fischen nicht mehr vorfinden würde. Er hat den Eindruck, dass die Anderen seine Frau als Druckmittel gegen ihn und die Partei benutzen. Damit kommt er sich selbst wie ein Fisch vor, dem vom Fischer die Angel vorgehalten wird.
Knudsen befindet sich also in einer zwiespältigen Situation: Er hat sich innerlich von der Partei abgewendet, da er unzufrieden mit ihr ist. Er fühlt sich von den Anderen mit seiner Frau erpresst. Da er aber von ihnen wegen seiner Parteizugehörigkeit unter Druck gesetzt wird, regt sich in ihm der Widerstand; er will kein „stummer Fisch“ (S. 18) sein und erwartet widerwillig den Instrukteur.
Mit Judith Levin wird die letzte der Hauptfiguren eingeführt. Sie ist eine junge Jüdin aus wohlhabender Familie („Parterresalon“, S. 21). Eine Rückblende liefert die Begründung, warum Judith sich in Rerik aufhält. Ihr Vater ist wohl schon länger tot. Am Tag zuvor hat sich ihre körperbehinderte Mutter das Leben genommen, um sich der Abholung durch die Anderen zu entziehen („ein Name, der abgeholt werden würde, ein Name, der sich verbergen mußte“, S. 23). Noch vor ihrem Freitod hat sie ihrer Tochter geraten, nach Rerik zu gehen, um von dort mit einem ausländischen Schiff aus Deutschland zu fliehen. Ein eingeweihter Bankier hat ihr Geld aus ihrem Erbe gegeben.
Nun sitzt Judith unter falschem Namen im Zimmer des Gasthofes „Wappen von Wismar“ und erkennt, dass es wohl kein guter Plan war, diesen letzten Willen der Mutter zu befolgen. Der Hafen ist leer, außer ein paar Fischkuttern liegen keine Schiffe da, schon gar keine ausländischen. Der Wirt mit seinem „weißen, fetten Gesicht“ (ebd.) und seiner aufdringlichen Art macht Judith Angst, da er ihre Anmeldung im Gästebuch verlangt, was sie aber wegen ihrer Situation nicht vornehmen kann. Sie empfindet die „riesigen roten Türme“ Reriks als „böse Ungeheuer“ (S. 22) und überträgt damit ihre Angst vor der Bedrohung auf die Außenwelt. Ihr wird klar, dass die Idee der Mutter eher einer sentimentalen (vgl. S. 20 f.) Empfindung entsprungen ist als einer reiflichen Überlegung. Die Vorschläge des Bankiers für Fluchtwege wären wohl die bessere Lösung gewesen.
Trotz ihrer unterschiedlichen Lebenssituation sind alle Hauptpersonen durch „die Anderen“ bedroht, sei es, dass sie einer verbotenen Partei angehören und im Untergrund politisch aktiv sind (Gregor, Knudsen), dass sie gegen die Anderen Widerstand leisten (Helander), dass sie wegen einer Krankheit weggesperrt werden sollen (Knudsens Frau Bertha) oder dass sie wegen ihrer Religionszugehörigkeit verfolgt werden (Judith). Alle Figuren haben sich von bestehenden Bindungen gelöst und befinden sich innerlich oder äußerlich im Aufbruch zu neuen Zielen. An ihren Einzelschicksalen zeigen sich die Auswirkungen eines totalitären Systems.
Prüfung der Fluchtmöglichkeiten
Gregor will sich von der Partei und ihren Aufträgen lösen. Er entdeckt in der Kirche den „Lesenden Klosterschüler“.
Helander möchte die Holzplastik in Sicherheit bringen lassen.
Knudsen lehnt die Hilfe für Helander ab. Er hat sich innerlich von der Partei gelöst.
Judith fühlt sich wie in einer Falle.
Die Fluchtpläne scheinen zu scheitern.
Gregor nimmt zum ersten Mal die Stadt Rerik wahr und dabei fallen ihm die Türme besonders ins Auge. Mit der Erwähnung der Türme wird eine Verknüpfung zum vorherigen Abschnitt Judiths hergestellt. Gregor scheint die Hoffnung, dass ihm hier die Flucht gelingen könnte, bereits aufzugeben. In einer Rückblende werden die Gründe für seine Absicht zu desertieren nachgeholt. „Im Anblick von Rerik erinnerte Gregor sich an Tarasovka, weil dort sein Verrat begonnen hatte.“ (S. 27) Er hat das Gefühl, dass er die Sache der Kommunistischen Partei verrät, da er nicht mehr vollkommen von ihrer Lehre überzeugt ist. Das hat sich darin gezeigt, dass ihm während eines Manövers der Roten Armee auf der Halbinsel Krim, an dem er während seiner Schulung teilnehmen durfte, das schöne Naturerlebnis „wichtiger gewesen war als die Einnahme der Stadt“ (ebd.).
In Abschnitt 16 befindet sich Gregor in der Georgenkirche, wo er seinen Verbindungsmann in Rerik treffen soll. Immer noch ist er mit den Gedanken an seine Fahnenflucht beschäftigt und stellt sich die Frage: „[…] konnte man ohne Auftrag leben?“ (S. 47) Bisher hat er immer Aufträge ausführen müssen. Jetzt will er das nicht mehr, weil er Angst hat und nicht an die Aufträge glaubt (vgl. S. 46).
In diesem Augenblick wird er auf die Holzplastik in der Kirche aufmerksam, von der vorher im Gespräch zwischen Helander und Knudsen die Rede gewesen ist. Er betrachtet sie sehr eingehend und glaubt anfangs, Parallelen zwischen sich und der Figur zu erkennen: „Das sind ja wir […]. Genau so sind wir in der Lenin-Akademie gesessen, und genau so haben wir gelesen“ (S. 48). Dann wird ihm aber der Unterschied bewusst: Der Mönch „las kritisch. […] Er sieht aus wie einer, der jederzeit sein Buch zuklappen kann und aufstehen, um etwas ganz anderes zu tun.“ (S. 49) Gregor ist von der Figur fasziniert, da sie ihm die Antwort auf seine Frage gegeben hat: „Ich habe einen gesehen, der ohne Auftrag lebt.“ (Ebd.)