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Literatur verstehen und interpretieren Thomas Manns weltberühmte Novelle Der Tod in Venedig (1912) schildert den rauschhaften Anfang und das unentrinnbare Ende einer 'verbotenen' Liebe. In der unheildrohenden Atmosphäre der Lagunenstadt begegnet der 50-jährige Schriftsteller Gustav von Aschenbach dem 14-jährigen schönen polnischen Knaben Tadzio, verfällt ihm und besiegelt damit seinen Untergang. Mit Klett-Lektürehilfen - wissen, was wann passiert: dank ausführlicher Inhaltsangabe mit Interpretation - wissen, welche Themen wichtig sind: anhand thematischer Kapitel - auf wichtige Fragen die richtigen Antworten wissen: gut vorbereitet durch typische Abiturfragen mit Lösungen
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Seitenzahl: 191
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Klett Lektürehilfen
Thomas Mann
Für Oberstufe und Abitur
von Solvejg Müller
Dr. Solvejg Müller, Studiendirektorin mit den Fächern Deutsch, Philosophie und Psychologie an einem Weiterbildungskolleg in Nordrhein-Westfalen
Die Textzitate folgen der Ausgabe: Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Novelle. 24. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2013.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Auflage 4321 | 2018201720162015
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Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages
© Klett Lerntraining, c/o PONS GmbH, Stuttgart 2015
Alle Rechte vorbehalten.
www.klett-lerntraining.de
Redaktion: Günter Maier
Umschlagfoto: bpk Berlin
Satz: DOPPELPUNKT, Stuttgart
ISBN: 978-3-12-923987-2
Ein „Abenteuer des Gefühles“
Aktualität
Der Autor
Entstehung der Novelle
Krisenbewusstsein zu Zeiten Wilhelms II
Literatur um die Jahrhundertwende
Handlung
Wer? Was? Wann? Wo?
Handlungsverlauf
Zentrale Figuren
Die Transformation des Künstlers
Tadzio
Komposition
Literaturgeschichtliche Einordnung
Novelle
Aufbau
Der Tod – Bilder und Leitmotive
Nietzsches Deutung des Mythos
Todesboten
Bilder des Todes
Kunst und Leben
Aschenbachs künstlerische Entwicklung
Kunst und Eros – Platon
Platon: Die Idee des Schönen
Homosexualität im Kaiserreich (1871–1918)
Kontroverse Deutungen
Selbstkommentare des Autors
Zeitgenössische Wirkung
Debatten in der Forschung
Künstlerische Rezeption
Literaturhinweise
Prüfungsaufgaben und Lösungen
1Ankunft im Hotel
2Dionysos-Traum
3Kunst und Eros
4Entwicklung Aschenbachs
5Venedig
6Das Schöne
7Aktualität des Werks?
8Kritik am Meister
Der Tod in Venedig: weltberühmt, oft interpretiert und adaptiert
Positive Aufnahme des Werks bei den Zeitgenossen
Zentrales Thema: Alternder Künstler verliebt sich in ca. 14-jährigen Jungen
Thematik im Kontext von Philosophie und Mythologie
Weitere aktuelle Themen wie z. B. das des Verhältnisses von Selbstdisziplin und Auflösung des Selbst im Rausch
Kein Werk von Thomas Mann ist weltweit so anerkannt wie die 1912 erschienene Novelle Der Tod in Venedig – ein schmaler Band, verglichen mit dem ersten großen Werk, der Familiensaga Buddenbrooks, die Thomas Mann internationale Bewunderung brachte. Über zehn Jahre vergingen nach dem Erscheinen der Buddenbrooks, bis Thomas Mann mit der vorliegenden Novelle wieder ein Werk von Weltgeltung verfasste.
Dieser Erfolg überrascht zunächst, wenn man den äußeren Gang der Handlung betrachtet: Die beiden zentralen Figuren reden nicht einmal miteinander. Ein alternder Künstler verliebt sich in einen ca. vierzehnjährigen Jungen. Es bleibt bei Blickkontakten. Doch der homoerotische Blick, dieses „Abenteuer des Gefühles“ (38), wird im Zusammenhang von Philosophie und Mythologie entwickelt und mit abendländischen Bild- und Denkfiguren dargestellt.
Der Tod in Venedig gehört zu den meistinterpretierten Texten von Thomas Mann. Die Wirkung der Novelle lässt sich auch an der Zahl der Übersetzungen und Bearbeitungen, an der Aufnahme etlicher Motive in der nachfolgenden internationalen Literatur und an zahlreichen graphischen Umsetzungen ablesen. Und wie kaum ein anderes Werk hat es das Bild sowohl vom Autor als auch von Venedig geprägt.
Nach der Erstveröffentlichung 1912 in einer literarischen Zeitschrift in zwei Teilen erfolgte die Publikation in einer bibliophilen Ausgabe mit kleiner Auflage. Die ersten Kritiken waren im Allgemeinen positiv; gerügt wurden gelegentlich der manieristische Stil sowie die Ansammlung von Bildungswissen. Doch der für die damalige Zeit heikle Gegenstand der Novelle – ein alternder Mann verliebt sich in einen Knaben – wurde meist akzeptiert. Dies fiel und fällt nicht schwer, da der verliebte Alte – wie der Titel bereits verdeutlicht – am Ende des Geschehens zu Tode kommt. In einem Brief vom Januar 1913 nennt Thomas Mann Gustav von Aschenbach seinen „verstorbenen“ Freund (vgl. GKFA, Bd. 21, S. 512).
Eine Fülle von nicht abschließend interpretierten Aspekten trägt dazu bei, dass das Werk bis heute immer noch fasziniert. Viele Deutungen gehen aufgrund seiner Vielschichtigkeit davon aus, dass jede Annäherung eben nur eine Annäherung sein kann und dass am Ende jeglichen Deutungsversuchs Rätsel bleiben müssen.
Zu den Gesichtspunkten, die bis heute aktuell sind, gehören z. B. Themen, die mit den folgenden Fragen und Gegensatzpaaren umschrieben werden können:
– Wie soll das Leben gestaltet werden?
– Wie viel Selbstdisziplin ist nötig bzw. sinnvoll, wie viel Lustgewinn soll/kann man zulassen?
– Geht es um Askese zur Optimierung der Arbeitskraft oder Rausch der individuellen Triebbefriedigung?
– Gilt in diesem Zusammenhang Aschenbach als moderner Held?
– Was ist Hoffnung, was Selbsttäuschung?
– Wo sind Grenzen der Identität, wo fängt deren Auflösung bis hin zum Selbstverlust an?
– Wie können Aspekte einer ‚verbotenen‘ Liebe, der homoerotischen bzw. pädophilen Passion, dargestellt werden?
– Wie sind Eros und Tod miteinander verwandt?
– In welcher Beziehung stehen Jugend und Alter, Schönheit und Verfall?
– Wie hängen träumerisches Unbewusstes und die Klarheit des Bewusstseins zusammen?
– In welchem Verhältnis gehören Form und Chaos zu einem Künstler?
– Wie kann das Verhältnis von Kunst und Leben, von Gefühl und Intellekt, von übergroßer Sensibilität und Produktion von Kunst verstanden werden?
– Inwieweit ist Leben nur im Modus der Ironie möglich?
– Wie sind Fragen nach dem Wesen von Schönheit und Kunst vor dem Hintergrund der großen abendländischen Philosophien Platons und Nietzsches zu beantworten?
– Was bedeuten die alten Göttergeschichten, die antike Mythologie?
Darüber hinaus ist Der Tod in Venedig von aktuellen Gegensätzen wie z. B. Stadt und Meer, dem Festen, Haltgebenden und dem Fluiden, von Orient und Okzident, von Epidemie und Einzelschicksal durchzogen.
Eine der Grundeinsichten beim Umgang mit Literatur besteht darin, dass der Autor nicht mit dem Erzähler bzw. dem Protagonisten identisch ist. In Bezug auf kaum ein anderes Werk ist eine solche Gleichsetzung jedoch so häufig geschehen. Etliche Parallelen oder auch vermeintliche Übereinstimmungen zwischen der Figur und dem Autor haben in der Rezeption oft zu deren Gleichsetzung geführt. Aber Gustav von Aschenbach, die Hauptperson, ist nicht Thomas Mann.
1875
6. Juni: Geburt Thomas Manns in Lübeck als zweiter Sohn einer begüterten Kaufmannsfamilie
1890
Hundertjähriges Jubiläum der Getreidehandelsfirma des Vaters
1891
Tod des Vaters, Auflösung der Firma
1892
Umzug der in Brasilien geborenen Mutter Julia geb. da Silva Bruhns (1851–1923) mit den drei jüngsten Kindern nach München
1894
Abgang von der Schule, Umzug nach München, Volontärstätigkeit bei einer Versicherung, Gasthörer an der Technischen Hochschule München, erste Bekanntschaften in der literarischen Szene, Perspektive als Journalist und Schriftsteller
1896–98
Italienaufenthalte mit dem Bruder Heinrich
1897
Beginn der Niederschrift der Buddenbrooks in Rom
1898
Erste Buchveröffentlichung: Der kleine Herr Friedemann (Novellenband), Rückkehr nach München; bis 1900 Lektor bei der satirischen Zeitschrift Simplicissimus
1900
Beendigung der Buddenbrooks; kurze Zeit beim Militär, wegen Dienstuntauglichkeit entlassen
1901
Erstausgabe der Buddenbrooks in zwei Bänden
1903
Tonio Kröger, Tristan (Band mit Erzählungen)
1905
Heirat mit der aus einer Industriellen- und Gelehrtenfamilie stammenden Katja Pringsheim (sechs Kinder werden dem Paar in den nächsten Jahren geboren)
1909
Königliche Hoheit (Roman)
1912
Der Tod in Venedig
1914
Beginn des Ersten Weltkriegs
1918
Betrachtungen eines Unpolitischen; Ende des Ersten Weltkriegs
1919
Ehrendoktorwürde der Universität Bonn
1924
Der Zauberberg (Roman)
1926
Unordnung und frühes Leid (Erzählung); „Lübeck als geistige Lebensform“ (Rede anlässlich der 700-Jahr-Feier der Stadt), Ernennung zum Ehren-Professor durch den Senat von Lübeck
1929
Verleihung des Nobelpreises in Stockholm für Buddenbrooks
1930
Mario und der Zauberer; Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft (Essay)
1933
30. Januar: Hitler wird Reichskanzler; 10. Februar: „Leiden und Größe Richard Wagners“ (Vortrag in München); 11. Februar: Emigration nach Holland, Südfrankreich und in die Schweiz
1934
Erste Reise in die USA
1935
Ehrendoktorwürde der Harvard University, zusammen mit Albert Einstein
1936
Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft und der Ehrendoktorwürde der Universität Bonn, tschechische Staatsbürgerschaft; Freud und die Zukunft (Essay)
1937
Emigration in die USA, Gastprofessur in Princeton; Essays: Richard Wagner und der „Ring der Nibelungen“; Schopenhauer
1939
Ehrendoktorwürde der Princeton University; 1. September: Beginn des Zweiten Weltkriegs; Bruder Hitler (Essay); Lotte in Weimar
1940
Beginn der bis Kriegsende monatlich gesendeten Radiobeiträge „Deutsche Hörer!“ (über BBC nach Deutschland ausgestrahlt)
1942
Zerstörung des Elternhauses in Lübeck
1943
Vollendung des Romans Joseph und seine Brüder; Zusammenarbeit mit dem Philosophen Theodor W. Adorno
1944
Amerikanische Staatsbürgerschaft
1945
8. Mai: Kapitulation Deutschlands; Essays: Deutschland und die Deutschen; Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe
1946
Lungenoperation in Chicago
1947
Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde (Roman)
1948
Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung (Essay)
1949
Tod des Bruders Victor, Selbstmord des Sohnes Klaus, Verleihung des Goethe-Preises in Frankfurt und in Weimar, Ehrenbürgerrecht in Weimar
1950
Tod des Bruders Heinrich in Santa Monica, Kalifornien
1951
Der Erwählte (Roman)
1952
Übersiedlung in die Schweiz
1954
Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil (unvollendet gebliebener Roman)
1955
Ehrenbürgerrecht von Lübeck; Tod am 12. August, Beerdigung in Zürich
Thomas Manns Venedigreise
Wunsch, nach dem Erfolg des Romans Buddenbrooks ein weiteres Meisterwerk zu schaffen
Verarbeitung von Reiseereignissen
Ursprüngliche Idee: Darstellung der letzten Liebe des hochbetagten Johann Wolfgang von Goethe zu der 17-jährigen Ulrike von Levetzow
Thomas Manns Verständnis des Werks: Darstellung des Künstler- und Dekadenzproblems
Problematik der Darstellung von Homoerotik um 1900
Thomas Mann war 35 Jahre alt, als er die Novelle Der Tod in Venedig verfasste. Er befürchtete, nicht mehr an den großen Erfolg der Buddenbrooks anknüpfen zu können. Sowohl ein zumindest vermuteter Druck von außen als auch die eigene Erwartung an sich selbst bewogen ihn, neue, umfangreiche Meisterwerke zu planen wie z. B. einen Großstadtroman mit dem Titel Maja, einen Roman über Friedrich den Großen sowie eine Abhandlung über Geist und Kunst.
„Ich bin nun dreißig. Es ist Zeit, auf ein Meisterstück zu sinnen“ (GKFA, Bd. 2.2, S. 362), lässt Thomas Mann seinen damals sehr produktiven Schriftsteller-Bruder Heinrich in einem Brief wissen. Er selbst arbeitet in dieser Zeit weiter an seinem erst zwischen 1950 und 1954 beendeten, aber nicht vollendeten Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, doch die Niederschrift stockt. Er fühlt sich erschöpft. Mit der Familie und Bruder Heinrich fährt er Ende Mai 1911 zunächst auf die Insel Brioni in der Adria. Da er sich dort wegen anderer Gäste nicht wohl fühlt, fährt die Familie nach Venedig. In einem Brief berichtet er, dass er dort „ganz wundervolle Ferien“ (GKFA, Bd. 2.2, S. 364) verlebt habe.
Die Familie Mann logiert in einem alten Luxushotel am Lido, dem damaligen Grand-Hôtel des Bains. Der Lido, eine etwa 11 km lange Insel, beherbergt um die Jahrhundertwende ein luxuriöses Seebad mit entsprechenden Hotels. Die Seite zur Adria hin hat einen langen Strand, die andere Seite grenzt an die Lagune, von wo aus Boote in das Zentrum Venedigs verkehren. Die Familie Mann bleibt vom 26. Mai bis 2. Juni im Grandhotel.
In diesen Ferien ereignen sich bemerkenswerte Geschehnisse. Thomas Mann befasst sich mit dem Komponisten Richard Wagner. Ein kurzer Essay mit dem Titel Auseinandersetzung mit Wagner entsteht noch im Hotel. Vom langsamen Sterben und vom Tod eines anderen Komponisten, dem von ihm verehrten Gustav Mahler, hat Thomas Mann bereits aus den Zeitungen auf der Insel Brioni erfahren. Ein dort abgedrucktes Foto von Mahlers Gesicht hat ihn zu seiner Gestaltung des Gustav von Aschenbach inspiriert (vgl. die Abbildung S. 24). Auch die Identität der Vornamen unterstreicht die von Thomas Mann konstruierte Wesensverwandtschaft, wie er selbst später bekennt.
Die Begegnung mit einem schönen Knaben hat ebenfalls in diesem Urlaub in Venedig stattgefunden. Tadzio hat also ein historisches Vorbild. Der polnische Baron Wladyslaw Moes (1900–1986) glaubte sich erinnern zu können, dass er zu jener Zeit mit der Familie in demselben Hotel wie Thomas Mann Urlaub machte und die in der Novelle beschriebene Kleidung am Lido trug. Eindeutig beweisen lässt sich dies jedoch nicht – der Baron hatte dunkle Haare und war zu diesem Zeitpunkt gerade mal zehn Jahre alt. Viele polnische Adelsfamilien hielten sich jedoch dort zu jener Zeit als Sommergäste auf. Andere Vermutungen sprechen sich für den polnischen Jungen Adam Henzel (1897–1975) aus, der auf einem Foto blondgelockt vor einem Gemälde posiert und zu dessen Bruder Thomas Mann bereits zuvor beruflichen Kontakt hatte.
Thomas Mann benennt die einzelnen Elemente der Reise in den Süden, die Eingang in die Novelle Der Tod in Venedig gefunden haben, folgendermaßen:
„Der Wanderer am Münchener Nordfriedhof, das düstere Polesaner Schiff, der greise Geck, der verdächtige Gondolier, Tadzio und die Seinen, die durch Gepäckverwechslung mißglückte Abreise, die Cholera, der ehrliche Clerc im Reisebureau, der bösartige Bänkelsänger oder was sonst anzuführen wäre – alles war gegeben.“ (GKFA, Bd. 2.2, S. 363)
Ursprünglich plante Mann, die Liebe des alten Johann Wolfgang von Goethe (1756–1832) zu der wesentlich jüngeren Ulrike von Levetzow in Marienbad erzählerisch zu gestalten. Thematisch verwandt zu der dann entstandenen Novelle ist – so der Autor „die Entwürdigung eines hochgestiegenen Greises durch die Leidenschaft für ein reizendes, unschuldiges Stück Leben“ (Über mich selbst, S. 71). Der junge Thomas Mann wagte sich noch nicht an Goethe als Sujet. Erst in dem viel später entstandenen Roman Lotte in Weimar (1939) macht Thomas Mann ihn zum Protagonisten.
Um 1900 war die Cholera in weiten Teilen Europas virulent. Thomas Mann selbst musste 1905 einen Urlaub an der Ostsee abbrechen, um einem Ausbruch der Cholera im nahen Danzig zu entgehen. Und schon in der ersten Woche des Venedig-Aufenthalts begegnet das Ehepaar Mann der Cholera erneut. Täglich fallen ihr bis zu sechs Menschen zum Opfer, und insgesamt sterben etwa 250 Menschen als Folge der Epidemie. Auch die Dementis der italienischen Behörden sind überliefert (vgl. Rütten 2014). Aufgrund von Zeitungsberichten verlassen die Manns die Stadt vorzeitig.
Nach der Rückkehr von der literarisch folgenreichen Reise macht sich Thomas Mann sofort an die Niederschrift der Novelle. Am 18. Juli 1911 schreibt er an einen Freund:
„Eine recht sonderbare Sache, die ich aus Venedig mitgebracht habe, Novelle, ernst und rein im Ton, einen Fall von Knabenliebe bei einem alternden Künstler behandelnd. Aber es ist sehr anständig.“ (GKFA, Bd. 21, S. 476)
Das Werk sollte schnell niedergeschrieben werden, doch der Autor benötigte noch ein Jahr, bis er die Novelle vollendet hatte. Mitunter sprach er dabei von Qualen, die ihm die vielleicht „unmögliche Conception“ (GKFA, Bd. 2.2, S. 365) bereitete.
Schon in den frühen Erzählungen thematisierte Mann den Konflikt zwischen Bürgertum und Künstlertum. Bereits in Tonio Kröger (1903) klingt unter Einbeziehung des Kontrastes zwischen Kunst und Leben eine homoerotisch grundierte Sehnsucht des Protagonisten Tonio Kröger zu dem blonden Hans Hansen an.
Thomas Mann hat sich lebenslang mit seinen eigenen homoerotischen Tendenzen auseinandergesetzt. Um 1900 galt männliche Homosexualität unter Erwachsenen als strafrechtliches Delikt. Der berüchtigte § 175 des deutschen Strafgesetzbuches wurde in der Bundesrepublik erst 1994 ersatzlos gestrichen.
Als der Autor der Buddenbrooks immer bekannter wird, beschließt er, sich selbst eine „Verfassung“ zu geben, wie er an seinen Bruder Heinrich 1906 schreibt. Er heiratet Katja Pringsheim, aus einer Münchner Gelehrtenfamilie stammend, und hat mit ihr sechs Kinder, die in den Jahren zwischen 1905 und 1919 geboren werden. Das Bekenntnis zur Ehe sowie seinen Bezug zu Homoerotik legt Thomas Mann in dem langen Brief an den Schriftsteller-Kollegen Graf Hermann Keyserling im Jahre 1925 dar. In einem Vergleich zwischen Ehe und Homoerotik spricht er der Ehe „Dauer, Gründung, Fortzeugung, Geschlechterfolge, Verantwortung“ zu. Im Gegensatz dazu sei die Homoerotik als „sterile Libertinage [Freizügigkeit und Unverbindlichkeit] […] das Gegenteil von Treue“ (GKFA, Bd. 15,1, S. 1028). Sowohl Männer- und Knabenliebe als auch Kunst und die Liebe zum Schönen stünden außerhalb der Moral und seien nicht nützlich. Dem „Lebensbefehl“ der Ehe, die soziale Bindung ermögliche, stehe die leidenschaftliche Liebe gegenüber.
Thomas Mann war sich bewusst, was es um 1912 bedeutete, einen fiktiven Text, der u. a. Männer- bzw. Knabenliebe thematisiert, zu veröffentlichen. So dachte er zunächst an eine Privatpublikation in kleiner Auflage.
Krisen und Verunsicherung im Deutschen Reich (1871–1918)
Veränderung gesellschaftlicher Strukturen durch Industrialisierung, Bildung von Großstädten
Soldatische Ideale des Preußentums
Außenpolitische Spannungen im Vorfeld des Ersten Weltkriegs (1914–1918)
Entdeckung der Relevanz von Traum und Unbewusstem in der Psychoanalyse; Nervenkrankheit „Neurasthenie“
Künstlertypus: verfeinert, sehr sensibel
Einfluss der Philosophie Nietzsches: Umwertung aller Werte, Ablehnung von Dekadenz
Zu der Zeit der Entstehung der Novelle regierte Wilhelm II. (1859–1941), Deutscher Kaiser und König von Preußen von 1888 bis 1918. Durch die zunehmende Industrialisierung veränderte sich die gesellschaftliche Schichtung. Der Groß-bzw. Bildungsbürger verlor an Ansehen und gesellschaftlicher Macht zugunsten derjenigen, die mit den neuen Produktionsformen Schritt hielten. Gleichzeitig herrschten soldatische Ideale, die in Tugenden des Preußentums verankert waren wie Disziplin, Pflichtbewusstsein, Tapferkeit, Fleiß, Härte gegenüber sich selbst. Außenpolitisch führten militaristische, nationalistische und imperialistische Tendenzen zu Spannungen zwischen den Staaten Europas, die den Ersten Weltkrieg auslösten.
Insgesamt begründeten die vielen Veränderungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie z. B. die Bildung von Großstädten, die Relevanz technischer Kenntnisse, neue psychologische Einsichten sowie die bedrohliche außenpolitische Situation ein Lebensgefühl der Verunsicherung. Insbesondere bürgerliche Intellektuelle und Künstler suchten ihren Platz in oder außerhalb der Gesellschaft. Die nervliche Überreizung und Verfeinerung galt als Auszeichnung der Künstler, um die unübersichtlich gewordene Welt zu erfassen. Neurasthenie (Nervenschwäche) galt aber auch als Krankheit. Die Entdeckung des Unbewussten in der sich neu entwickelnden Lehre der Psychoanalyse durch Sigmund Freud ließ Perspektiven auf die Welt der Triebe wie den des Eros und den des Thanatos, den Todestrieb, zu. In der 1900 erschienenen Traumdeutung hebt Freud den Traum in den Rang eines „Königswegs“ zum Unbewussten. Nach Freud ist die Basis der Kultur die Unterdrückung der Triebe bzw. deren Sublimierung, deren Verfeinerung in geistige Sphären.
Der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) wirft der dekadenten Lebensführung Schwäche vor und hält mit einem vitale Funktionen betonenden Weltbild dagegen. Er weist auf die „Unterwelt“ der Triebe hin und hofft auf die Rückkehr des „im Zivilisationsprozess verbannten dionysischen Tiger[s]“ (Kämper-van den Boogaart 2001, S. 106). Nietzsche sieht in der Betonung des Rationalen durch die Aufklärung eine Missachtung biologisch-psychologischer Gegebenheiten. Mitleid und damit die Religion des Christentums sei so eine Schwäche und keine Tugend. Er spricht von der „Umwertung aller Werte“ und vom „Tode Gottes“.
Verschiedene literarische Strömungen
Ästhetizismus, Literatur der Dekadenz
Naturalismus
Neuklassik
Wunsch Thomas Manns nach „neuer Klassizität“
Die Lebenshaltung des Ästhetizismus billigt allem Schönen den obersten Wert zu. Sämtliche Sachverhalte werden einzig aus ästhetischer Sicht bewertet. Daher spricht man auch vom Amoralismus der ästhetischen Weltsicht. In der Moderne lässt sich der Vorrang des schönen Scheins als eine Möglichkeit verstehen, der Widersprüchlichkeit und Hässlichkeit des Lebens zu entrinnen. In der Literatur spiegelt sich diese Haltung um 1900 in der Dichtung der Neuromantik, der Dekadenz, (des Verfalls), des Fin de Siècle und des „L’art pour l’art“, der Kunst um der Kunst willen.
Das Werk des irischen Dichters Oscar Wilde (1854–1900) prägt die Strömung des Ästhetizismus. Das von Wilde gelebte Dandytum – das Leben soll der Kunst dienen – entsprach dieser Grundhaltung. Sein Roman Das Bildnis des Dorian Gray (1890), der im Vorwort eine Art Manifest des Ästhetizismus enthält, wird 1901 ins Deutsche übersetzt. Die Dichtung der Dekadenz betont das Lebensgefühl der Endzeit, der nervösen Verfeinerung vor dem Untergang.
Einen großen Kontrast zum Ästhetizismus bildet die literarische Strömung des Naturalismus, die die Schattenseiten der Industrialisierung wie Armut und Elend in der Großstadt künstlerisch thematisiert und die Verhältnisse möglichst wirklichkeitsnah zu schildern sucht. So sprechen z. B. Figuren in den Dramen Gerhart Hauptmanns wie Die Weber Dialekt.
Um die Jahrhundertwende entwickelt sich eine gegen die Kunst der Dekadenz, des reinen Ästhetizismus, aber auch gegen naturalistische Kunst gerichtete literarische Strömung der Neuklassik, auch Neuklassizismus genannt. Sie orientiert sich an Prinzipien der Weimarer Klassik, primär vertreten durch Werke Johann Wolfgang von Goethes und Friedrich Schillers. Paul Ernst (1866–1933), einer der Hauptvertreter der Neuklassik, forderte eine strenge Form und einen hohen Stil. Auch ein Bezug zur Antike, zu deren Götter und Philosophien, soll wiederhergestellt und die klassische Tragödie wiederbelebt werden. Die naturalistische Sozialkritik in den Dramen z. B. Gerhart Hauptmanns sei nicht mehr zeitgemäß.
Der junge Thomas Mann ist von der Musik Richard Wagners zunächst fasziniert. Doch zunehmend wendet er sich gegen die rauschhafte Musikerfahrung. Eine neue Epoche, so der Autor, verlange eine andere Musik bzw. einen anderen künstlerischen Stil. Dem 20. Jahrhundert sei das Erlebnis romantischer und kolossaler Kunst nicht mehr angemessen. Thomas Mann ist auf der Suche nach Klarheit und Form, nach distanzierender, nicht ekstatischer Kunst. In seiner in Venedig entstandenen Abhandlung Auseinandersetzung mit Richard Wagner fordert er „eine neue Klassizität“ (zit. nach: Bahr 2005, S. 116).
Gustav von Aschenbach, ein hoch angesehener, diszipliniert arbeitender Schriftsteller, hat an seinem 50. Geburtstag den Adelstitel erhalten. Er ist in München ansässig und besitzt ein Landhaus in den Bergen. In einer Schaffenskrise verspürt er die Sehnsucht, in den Süden zu reisen. In Venedig erfährt er beim Anblick des grazilen Jungen Tadzio das Wesen des Schönen sowohl im Sinne ästhetischer Reflexion als auch homoerotischen Begehrens.
Tadzio muss man sich als einen etwa vierzehnjährigen, schön gestalteten Jungen vorstellen. Er gehört zu einer polnischen Familie, die in Venedig zeitgleich mit Aschenbach den Urlaub verbringt. Dazu gibt es noch eine Reihe weiterer Personen, die als Todesboten figurieren wie z. B. der Wanderer und der Gondoliere sowie Angestellte im Dienstleistungssektor.
Aschenbach befindet sich in einer künstlerischen Schaffenskrise. Auf einem Spaziergang erwacht in ihm die Lust, in Richtung Süden zu reisen. In Venedig angekommen, beobachtet er einen schönen Jungen am Strand. Zunehmend verfällt er ihm. Die Sehnsucht nach Tadzio geht einher mit Reflexionen über das Wesen des Schönen im Allgemeinen, orientiert an antiker Philosophie und Mythologie. Trotz zunehmender Hitze und einer beginnenden Cholera-Epidemie beschließt Aschenbach, in der faulig riechenden und gleichwohl wunderbaren Stadt zu bleiben, um Tadzio weiter sehen zu können. Als er am Strand den geliebten Jungen zum wiederholten Male beobachtet, sinkt er in seinem Liegestuhl zusammen und stirbt.
In der Novelle gibt es eine, wenn auch ungenaue, Zeitangabe. Zu Beginn, bereits im zweiten Satz, wird der Tag des die Reiselust auslösenden Spaziergangs datiert: „an einem Frühlingsnachmittag des Jahres 19.., das unserem Kontinent eine so gefahrdrohende Miene zeigte“ (9). Die ungenaue Zeitangabe verallgemeinert die Krisenstimmung, die den Hintergrund des gesamten Geschehens bildet.
Es handelt sich um eine Anspielung auf eine der zahlreichen politischen Krisen, die Europa in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erschütterten. Zur Zeit der Niederschrift der Novelle (1911) gab es bereits die zweite Marokkokrise. Sowohl Deutschland als auch Frankreich interessierten sich für die Vorherrschaft in Marokko. 1911 hatte Frankreich einige marokkanische Städte besetzt. Im Gegenzug schickte Deutschland das Kanonenboot „Panther“ an die marokkanische Küste. 1912 wurde Marokko französisches Protektorat.