Klinische Interkulturelle Psychotherapie -  - E-Book

Klinische Interkulturelle Psychotherapie E-Book

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Beschreibung

Die Zahl der Migranten und Geflüchteten, die als Patienten psychosoziale Einrichtungen aufsuchen, nimmt - entsprechend ihrem wachsenden Anteil an der Bevölkerung - beständig zu. Dieses Werk zielt darauf ab, Psychotherapeuten zu einer effektiven interkulturellen psychotherapeutischen Arbeit zu befähigen. In der 2. Auflage wurde der Fokus auf Geflüchtete ausgeweitet, wie es die Kriege in Syrien und der Ukraine und die darauffolgenden Fluchtbewegungen erfordern. Somit beschreibt dieses Lehr- und Praxisbuch die Psychotherapie mit den größten Migrantengruppen im deutschsprachigen Raum: türkisch, polnisch, ehem. jugoslawisch, syrisch und ukrainisch. Dabei werden die Lebenswelten und ethnosoziokulturellen Hintergründe dieser Migranten ebenso in den Blick genommen wie die kulturelle Prägung psychischer Symptombildung sowie interkulturelle kollektive Übertragungsmechanismen. Neben einer Übersicht über die sozial- und migrationspsychologische Theoriebildung enthält das Buch eine Zusammenfassung aktueller Forschungsergebnisse und anschauliche Fallberichte.

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Inhalt

Cover

Titelei

Geleitwort

Vorwort und Danksagung

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Teil I Interkulturelle Psychotherapie

1 Ein Modell der kulturellen Unterschiede, kulturellen Anpassung und Persönlichkeitsentwicklung in der Migration

1.1 Einleitung

1.1.1 Aktuelle Daten zur Migration

1.1.2 Wie wird eine Person mit Migrationshintergrund und wie wird ein Flüchtling definiert?

1.1.3 Wie ist Kultur im Kontext der Psychotherapie zu definieren?

1.1.4 Warum ist Kultur ein wichtiger Faktor in der Psychotherapie?

1.2 Modelle psychischer Entwicklung in der Migration

1.2.1 Intergenerationale Transmission von Werten

1.2.2 Kulturelle Adaptation: Wie bewältigen Individuen und Gruppen die Anforderungen nach Anpassung, wenn sie in einer neuen kulturellen Umgebung ankommen?

1.2.3 Kulturzugehörigkeit als Problem in der Psychotherapie

1.2.4 Auswirkungen der aufnehmenden Gesellschaft auf die psychische Entwicklung der Migrant:innen

1.2.5 Steht am Ende immer die Integration?

1.2.6 Innovative Lebensformen von Migranten

1.2.7 Diskriminierung und das Integrationsparadox

1.2.8 Ethnische Identität und psychologische Anpassung

1.2.9 Warum bleibt die ethnische Identität auch bei gelungener Integration bestehen?

1.2.10 Heimatverbundenheit: Komponenten der Identitätsdefinition und ihre Veränderung

Literatur

2 Prädiktoren der psychischen Gesundheit von Migrant:innen und Geflüchteten

2.1 Ein Miniglossar der Migrationspsychosomatik

2.2 Sozialpsychologische Erklärungsmodelle

2.2.1 Soziale Kategorisationstheorie

2.2.2 Stereotyp

2.2.3 Theorie des realistischen Gruppenkonflikts

2.2.4 Theorie der sozialen Identität

2.2.5 Theorie des Intergruppenkontakts

2.3 Migrationspsychologische Erklärungsmodelle

2.3.1 Akkulturationstheorie

2.3.2 Kulturelle Formen des Selbst

2.4 Charakteristika der Aufnahmegesellschaft

2.5 Prosoziales Verhalten

2.6 Autoritarismus

2.7 Charakteristika der Migrant:innen

2.7.1 Ethnische Identität

2.7.2 Postmigratorische Stressoren

2.7.3 Wahrgenommene Diskriminierung

Literatur

3 Psychotherapie mit Migranten – Interkulturelle Aspekte in der Psychotherapie

3.1 Historischer Überblick

3.1.2 Wer ist ein Migrant?

3.1.3 Migration und psychische Krankheit: Vom Defizit zur Ressource

3.2 Interkulturelle Diagnostik

3.2.1 Kulturspezifische Kenntnisse – Kulturleitfäden

3.3 Befunderhebung – Besonderheiten der biografischen Anamnese bei Migranten

3.3.1 Migrationsbezogene Besonderheiten der biografischen Anamnese am Beispiel der türkeistämmigen (türkischen und kurdischen) Gruppe

3.4 Sprach- und Verständigungsprobleme: Der Einsatz von Dolmetschern

3.5 Interkulturelle Beziehungsdynamik, kollektive Übertragungsbereitschaft von Migranten, einheimischen und ethnischen Therapeuten

3.5.1 Therapeutische Haltungen und Voreinstellungen

3.5.2 Interkulturelle Beziehungsdynamik

3.5.3 Interkulturelle Kompetenz

3.5.4 Übertragungs- und Gegenübertragungsbereitschaft, Eigenübertragung in der interkulturellen Psychotherapie

3.5.5 Kollektive Gegenübertragungen der einheimischen Therapeuten

3.5.6 Übertragungsbereitschaft der ethnischen Patienten

3.5.7 Gegenübertragungsbereitschaft der ethnischen Therapeuten

3.5.8 Fazit

3.6 Hilfreiche therapeutische Haltung

3.6.1 Kulturelle Geprägtheit der therapeutischen Methode

3.6.2 Individualismus versus Bezogenheit

3.6.3 Hilfreiche therapeutische Interventionen

3.7 Psychotherapeutische Versorgungsstrukturen

3.7.1 Spezialisierte Behandlungsangebote in Deutschland

3.8 Ausblick

Literatur

Teil II Psychische Störungsbilder im Kontext der Migration

4 Psychische Gesundheit von Geflüchteten: Psychische Belastungen und psychotherapeutische Konzepte für Menschen mit Fluchterfahrung – Befunde zur posttraumatischen Belastungsstörung, Depression und Angst

4.1 Einleitung

4.2 Exkurs: Posttraumatische Belastungsstörung

4.2.1 Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung

4.2.2 Ätiologische Modelle der posttraumatischen Belastungsstörung

4.2.3 Die posttraumatische Belastungsstörung bei Migranten und Geflüchteten

4.3 Postmigratorische Stress- und Belastungsfaktoren

4.4 Psychische Belastungen von Geflüchteten: Vorkommenshäufigkeiten von Depression, Angst und PTBS

4.5 Ergebnisse einer bevölkerungsrepräsentativen Studie aus Deutschland

4.6 Psychosoziale Versorgung und Psychotherapie mit Geflüchteten: Besondere Bedarfe und Überblick über Interventionen

4.6.1 Psychosoziale Versorgung von Flüchtlingen

4.6.2 Spezifische Interventionen

4.6.3 Effektivität von Psychotherapie mit Geflüchteten

4.6.4 Fazit

4.7 Skalierbare transdiagnostische Interventionen und kulturelle Adaptation

4.7.1 Die Skalierbarkeit von Psychotherapien in LMICs

4.7.2 Transdiagnostische Interventionen und Task-Shifting

4.7.3 Task-Shifting (Übernahme von therapeutischen Aufgaben durch Laienhelfer)

4.7.4 Interkulturelle Adaptation der CBT-Elemente bei CETA

4.7.5 Ein Modell der CBT für Geflüchtete

4.8 Psychosoziale Versorgung von Geflüchteten in Deutschland

Flüchtlingsberatungsstellen

4.8.1 ROTATE: Eine ressourcenorientierte Traumatherapie mit EMDR und Task-Shifting

4.8.2 Wissenschaftliche Psychotherapie-Projekte in Deutschland und in europäischen Ländern

4.8.3 Traumapädagogik: Aufklärung und Schutz der Helfer und Task-Shifting

4.8.4 Inhalte der Psychotherapiegespräche in einer Ambulanz für Geflüchtete

4.9 Fazit

4.10 Vertiefung der Thematik in weiteren Kapiteln des Buches

Literatur

5 Somatoforme Störungen im Kontext von Migration und Flucht

5.1 Einleitung

5.2 Häufigkeit der Somatisierungsstörung in unterschiedlichen Kulturen

5.3 Somatisierung und symbolische Bedeutung der Symptome

5.4 Symbolgehalt der Schmerzsymptome bei türkischstämmigen Migrant:innen

5.5 Erklärungsansätze für kulturelle Unterschiede in der Ausprägung/Prävalenz somatoformer Symptome

5.6 Somatisierung und Akkulturation

5.7 Somatisierung und Depressivität

5.8 Somatisierung bei türkischen Migranten/-innen in deutschen und internationalen Studien

5.9 Eigene Untersuchungen zur Somatisierung/somatoformen Symptomen bei Personen mit Migrationshintergrund

5.10 Somatisierung und kulturgebundene Syndrome

5.11 Somatisierung bei Geflüchteten

5.12 Fazit und therapeutische Implikationen

Literatur

6 Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund als Patient:innen

6.1 Allgemeine gesellschaftliche Situation

6.2 Versorgungslage

6.3 Gibt es migrationsspezifische Risikofaktoren für psychische Erkrankungen bei Jugendlichen?

6.4 Epidemiologie

6.5 Therapeutische Grundhaltungen

Literatur

Teil III Implementierung von Psychotherapieangeboten für Migranten und Geflüchtete

7 Interkulturelle Öffnung in den Institutionen der Gesundheitsdienste

7.1 Einleitung

7.2 Inanspruchnahmeverhalten der Migranten und Zugangsbarrieren zu den Regeldiensten

7.3 Interkulturelle Öffnung der Gesundheitsdienste – eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft und eine zeitgerechte Notwendigkeit

7.3.1 Qualitätskriterien zur interkulturellen Öffnung der Gesundheitsdienste

7.3.2 Leitkriterien für eine interkulturell geöffnete bzw. ausgerichtete Institution des Gesundheitsdienstes (Checkliste)

7.4 Zusammenfassung

Literatur

8 Psychosoziales Zentrum für Geflüchtete an einer Psychosomatischen Klinik: Möglichkeiten und Grenzen

8.1 Einführung: Psychosoziales Zentrum für Flüchtlinge und Folteropfer

8.2 Psychosoziales Zentrum für (traumatisierte) Flüchtlinge in Bielefeld und Umgebung

8.2.1 Ziel der Arbeit

8.2.2 Weitere Tätigkeitsfelder

8.2.3 Welche Behandlungsform für welche Patient:innen im PSZ Bielefeld

8.2.4 Chancen und Grenzen der Integration des psychologisch/psychotherapeutischen/ärztlichen Teils des PSZ in die Klinik

8.3 Fallbeispiele

8.4 Diskussion und Ausblick

Literatur

Teil IV Spezielle Aspekte der Psychotherapie mit Migranten und Geflüchteten

9 Stabilisierende psychodynamische Traumatherapie für Geflüchtete: Ein Leitfaden für das therapeutische Vorgehen bei PTBS und Somatisierung

9.1 Einleitung

9.2 Grundlagen der stabilisierenden psychodynamischen Traumatherapie für Flüchtlinge

9.3 Inhalte und Interventionen

9.3.1 Aufbau der therapeutischen Beziehung

9.3.2 Reduktion des Stressniveaus

9.3.3 Psychoedukation

9.3.4 Arbeiten an kognitiven Inhalten

9.3.5 Kurzformen von Entspannungsverfahren

9.3.6 Affektregulation und stabilisierende Übungen

9.3.7 Selbstfürsorgende Verantwortungsübernahme

9.3.8 Sozialtherapeutische Unterstützung

9.4 Weitere stabilisierende Formen der Traumatherapie mit Flüchtlingen

Literatur

10 Achtsamkeits- und imaginative Stabilisierungsübungen für traumatisierte Geflüchtete

10.1 Traumatische Erfahrungen im Kontext von Flucht und Vertreibung

10.2 Psychische Belastungen und deren Behandlung bei Geflüchteten

10.3 Therapie der Posttraumatischen Belastungsstörung

10.3.1 Achtsamkeitsbasierte Techniken

10.3.2 Imaginative Techniken

10.3.3 Wirksamkeit achtsamkeitsbasierter und imaginativer Techniken in unterschiedlichen Anwendungskontexten

10.4 Fazit

Literatur

11 Kinder- und jugendpsychiatrischer Umgang mit minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen (MuF): Ein Bericht aus dem Praxisalltag

11.1 Einleitung

11.2 Was ist das Spezifische an der Arbeit mit minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen?

11.3 Besonderheiten im psychotherapeutischen Umgang mit minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen und Ausblick

12 Psychoanalytische Familientherapie mit türkischen Familien

12.1 Einführung

12.2 Das familientherapeutische Konzept

12.3 Familie B.

12.3.1 Grund der Vorstellung

12.3.2 Erstgespräch mit Familie B.

12.3.3 Unbewusste Dynamik der Familie bzw. die individual-familiäre Ebene

12.4 Abschließende Bemerkungen

Literatur

13 Märchen als kultursensible Intervention

13.1 Märchen als therapeutisches Element

13.2 Kultursensible Interventionen

13.3 Die Patientinnen und das Behandlungsproblem

13.4 Kollektive Gegenübertragung in der interkulturellen Begegnung?

13.5 Die Arbeit mit Märchen

13.5.1 Das Märchen »Der Geduldstein«

13.5.2 Gemeinsame Motive in »Der Geduldstein« und in europäischen Märchen

13.5.3 Tiefenpsychologische Interpretation des Märchens

13.5.4 Themen der weiblichen Persönlichkeitsentwicklung in »Der Geduldstein« und bei türkischstämmigen Patientinnen

13.5.5 Welchen positiven Ausblick vermittelt das Märchen?

13.6 Schlussbemerkung

Literatur

Teil V Kasuistische Einblicke in die Lebenswelten der Migranten

14 Muttersprachliche Gruppentherapie mit türkeistämmigen Migrantinnen

14.1 Einleitung und Zusammenfassung

14.2 Ausgangssituation

14.3 Kultursensible Angebote für türkeistämmige Patienten

14.3.1 Niederschwelliges Beratungsangebot im Rahmen eines Stadtteilprojekts

14.3.2 Kombination muttersprachlicher Einzeltherapie und gruppentherapeutischer Angebote in der stationären Behandlung

14.3.3 Ambulante muttersprachliche Gruppentherapie für türkeistämmige Patientinnen

14.4 Die Teilnehmerinnen

14.5 Gruppenverlauf

14.5.1 Rituale der traditionellen Frauengruppe: »der Frauennachmittag«

14.5.2 »Draußen« und »Drinnen«

14.5.3 Differenzierung der einzelnen Teilnehmerinnen

14.5.4 Bearbeitung von Trauer und Wut

14.5.5 Eltern- und Selbstbilder, das entwertete Selbst

14.5.6 Fremd- oder selbstbestimmt?

14.5.7 Gemeinsame Abwehr der Gruppe

14.5.8 Sexualität

14.5.9 Somatisierung in der Gruppe

14.5.10 Abschlussphase

14.5.11 Was ist kulturtypisch in der muttersprachlichen Gruppentherapie?

14.6 Schlussfolgerungen

Literatur

15 Bikulturalität und Abwehr: Die tiefenpsychologische Behandlung einer Migrantin

15.1 Einleitung

15.2 Die Patientin

15.3 Behandlungsverlauf

15.4 Diagnostische Überlegungen

15.5 Bikulturalität und Abwehr

15.6 Kulturelle Hintergründe

15.7 Eine Abwehrform: Übermäßige Identifikation mit der Zugehörigkeitskultur

15.8 Schlusswort

Literatur

16 Der türkische Migrant in der Psychotherapie: »Stolz und Vorurteil« – Stationäre Psychotherapie bei Männern mit türkischem Migrationshintergrund

16.1 Einleitung

16.2 Psychotherapie mit Männern

16.3 Männer aus der Türkei

16.4 Wie kann stationäre Psychotherapie mit Männern erfolgreicher gestaltet werden?

Literatur

17 Fallberichte von Patient:innen aus der Ukraine im Kontext des Angriffskriegs

18 Die Behandlung eines durch Krieg und Folterhaft traumatisierten Patienten 30 Jahre nach seiner Zuwanderung nach Deutschland

18.1 Was ist das migrationstypische an dieser Behandlung?

Literatur

19 Stationäre Behandlung einer »Arbeitsmigrantin in der zweiten Generation«

19.1 Was ist das migrationstypische an dieser Behandlung

Teil VI Ethnisch-kulturelle Gruppen

20 Eine Einführung in die Spezifik der ukrainischen Identität und Kultur unter Berücksichtigung des Angriffskriegs Russlands sowie der Studienlage zur psychischen Gesundheit ukrainischer Migrant:innen

20.1 Einleitung

20.2 Historischer Hintergrund

20.2.1 Unabhängige Ukraine – Identitätsbildung: Von fremder Monokultur über Polyphonie zu neuer Synthese

20.2.2 Zwischen Ost und West: Maidan, erster Krieg 2014

20.3 Kultur

20.3.1 Kulturdimensionen im Vergleich zu Deutschland und deren Bedeutung für soziale und medizinische Prozesse

20.3.2 Kulturelle Verortung zwischen dem Osten und Westen

20.4 Gesundheit vor 2022

20.4.1 Epidemiologie der wesentlichen Aspekte der somatischen und seelischen Gesundheit

20.4.2 Von Stigmatisierung und Furcht zu einem Hilfsangebot – Beziehung zur seelischen Gesundheit

20.4.3 Prekäre Situation der Binnenflüchtlinge zwischen 2014 und 2022

20.5 Ukrainer:innen in Deutschland

20.5.1 Situation vor dem Krieg

20.5.2 Die große Flucht

20.5.3 Schicksal, Gesundheit und Bedürfnisse der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland

20.6 Therapeutische Implikationen

20.6.1 Grundlegende Haltung in der Behandlung der geflüchteten und traumatisierten Menschen

20.6.2 Bedeutung der Ressourcen und Resilienz

20.6.3 Spezifische kultursensible Elemente in der Psychotherapie mit ukrainischen Geflüchteten

20.6.4 Einige Besonderheiten der Abwehr und Struktur

20.6.5 Umgang mit Sprache und Identitätsthemen

20.6.6 Bedeutung der Gegenübertragung

Literatur

21 Die Fluchtmigration aus Syrien: Empfehlungen basierend auf aktuellen Studienergebnissen

21.1 Einleitung

21.2 Bürgerkrieg in Syrien und Flucht nach Deutschland

21.3 Ankunft und Leben in Deutschland

21.4 Psychische Gesundheit syrischer Geflüchteter in Deutschland – Ergebnisse einer prospektiven Studie

21.5 Empfehlungen zur psychosozialen Versorgung und Psychotherapie

21.6 Exkurs: Übertragbarkeit auf ukrainische Geflüchtete?

21.7 Fazit

Literatur

22 Patriot:innen, Überlebenskünstler:innen, Chaot:innen? Eine Einführung in die Spezifik der polnischen Identität und Kultur unter Berücksichtigung der Studienlage zur psychischen Gesundheit polnischer Migrant:innen

22.1 Einleitung

22.2 Polens geschichtliches Erbe

22.3 Polnische Kultur und Identität

22.3.1 Familie und Stellung der Frau

22.3.2 Katholische Religiosität und Kirche

22.3.3 Freiheitsliebe, Nationshochschätzung und Staatsauffassung

22.4 Geschichte der Migration aus Polen nach Deutschland

22.5 Polnische Community in Deutschland

22.6 Psychosoziale Belastungsfaktoren

22.7 Psychische Morbidität – Stand der Forschung

22.8 Polnische Migrant:innen in der Psychotherapie

22.9 Fazit

Literatur

23 Biografische und lebensweltliche Spezifika bei Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien

23.1 Einleitung

23.2 Das ehemalige Jugoslawien: geschichtliche und soziopolitische Entwicklung

23.3 Der »Balkankrieg«: das Ausmaß der sozialen Zerstörung

23.4 Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien: Wissenswertes für die ärztliche und psychotherapeutische Begegnung

23.4.1 Arbeitsleben und Auftreten in der Öffentlichkeit

23.4.2 Familienleben unter dem Einfluss der Migration

23.4.3 Beziehung zu Ärzten

Literatur

24 Wie prägt der islamische Glaube das Selbst und das Körperselbst der Patientinnen? Ein ethno-sozio-analytischer Exkurs

24.1 Einleitung

24.2 Religiosität als protektiver Faktor der psychischen Gesundheit

24.3 Die islamische Religion als psychische Ressource

24.3.1 Haltung von Migranten zu Religiosität und Religionserziehung

24.4 Der türkische Islam und der Laizismus

24.5 Das islamische Bedeckungsgebot als Belastungsfaktor

24.5.1 Die Stellung der Frau in den monotheistischen Religionen

24.5.2 Islam und der Köper

24.5.3 Islam, Ehe und Sexualität

24.5.4 Kontrolle der sexuellen Lust im islamischen Kulturkreis im Vergleich zum christlichen

24.6 Das Bedeckungsgebot in Deutschland

24.6.1 Konsequenzen für die Psychotherapie

24.7 Fazit für die psychotherapeutische Arbeit

Literatur

Die Herausgeberin

Yesim Erim, Univ.-Prof. Dr. med. (TR), geboren in Istanbul, Studium der Medizin an der Universität Istanbul, ärztliche Tätigkeit in der zentralanatolischen Provinzstadt Nigde, Beginn der psychiatrischen Facharztausbildung in Istanbul am psychiatrischen Lehrkrankenhaus Bakirköy, Wechsel an die Psychiatrische Universitätsklinik in Münster mit einem DAAD-Stipendium. Ärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ärztin für Psychiatrie, Psychoanalytikerin (DGPT). Frau Erim beschäftigte sich als stellvertretende Direktorin der Psychosomatischen Klinik an den Rheinischen Kliniken, Universitätsklinikum Essen, mit der Optimierung der psychotherapeutischen Versorgung von Migranten und insbesondere von Frauen mit Migrationserfahrung und führte ein langjähriges Projekt des Landschaftsverbands dazu durch. In 2009 gab sie das Lehrbuch für Klinische Interkulturelle Psychotherapie heraus.

2013 wurde sie als Professorin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie berufen und ist Leiterin der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Abteilung am Universitätsklinikum Erlangen der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg. Dort initiierte sie ab 2015 Schulungen für ehrenamtliche Helfer der Geflüchteten, die wissenschaftlich begleitet wurden, ab 2018 wurde gemeinsam mit den Disziplinen der Gesundheitspsychologie, Linguistik und Politikwissenschaften die Studie »Verbale Gewalt gegen Migranten und Geflüchtete in Institutionen« durchgeführt, die von der Friedrich-Alexander Universität und der STAEDTLER-Stiftung gefördert wurde. Eine Langzeitstudie mit quantitativer und qualitativer Methodik erfasst mit mehreren Messzeitpunkten die psychische Gesundheit und kulturelle Adaptation der syrischen Geflüchteten. Mehrere qualifizierende Arbeiten in der Betreuung von Frau Erim beschäftigen sich mit den Einflüssen von Diskriminierung auf die psychische Gesundheit, die spezielle Situation der Migrant:innen am Arbeitsplatz und mit dem Erfolg der Psychotherapie bei Migrant:innen und Geflüchteten.

2022 erhielt Frau Erim den Höffmann-Wissenschaftspreis der Universität Vechta für Interkulturelle Kompetenz. Neben der Interkulturalität im psychotherapeutischen Kontext befasste sich Frau Erim mit Krankheitsbewältigung bei körperlichen Erkrankungen, z. B. nach Transplantation; seit 2020 mit der psychischen Gesundheit von Mitarbeitenden im Gesundheitswesen während der Pandemie. 2022 ist sie Sprecherin des Post-Covid Zentrums der Universitätsklinik Erlangen.

Yesim Erim (Hrsg.)

Klinische Interkulturelle Psychotherapie

Migration und Fluchterfahrungin der therapeutischen Arbeit –Ein Lehr- und Praxisbuch

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-034607-9

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-034608-6epub: ISBN 978-3-17-034609-3

Geleitwort

von Wolfgang Senf

Die Neuauflage eines Lehr- und Praxisbuchs, in dem es um primär fachliche, hier speziell psychosomatische und psychotherapeutische Themen geht, spricht nicht nur für die Qualität des Buches, sondern auch für die hohe Relevanz der Thematik und der dargelegten Problemstellungen. Schon mit der 1. Auflage, die 2009 erschienen war, hatte Frau Professorin Yesim Erim als Herausgeberin ein untrügliches Gespür und Wissen bewiesen für die klinische Notwendigkeit interkultureller Kompetenz und für die damit verbundenen psychotherapeutischen Aufgaben. Die Psychotherapie ist nun mal der Ort, an dem individuell wie gesellschaftlich objektive und subjektive Realitäten unvermittelt aufeinandertreffen, wodurch sich die jeweiligen Überzeugungen in der Gestalt von sinngebenden Erzählungen (Narrativen) gegenüberstehen und dabei oftmals unverträglich erscheinen.

Tatsächliche oder scheinbare interkulturelle Unverträglichkeiten in der Psychotherapie zu überwinden, das stand in der 1. Auflage im Vordergrund. Es geht darum »zwei Perspektiven zu betrachten: die der Hilfesuchenden (Patienten) und die der Helfer (Psychotherapeuten), und beide müssen lernen, ihre Möglichkeiten zu nutzen und aber auch ihre Grenzen zu sehen«. Als eine Erläuterung dazu diente damals die Erzählung von Sudhir Kakar1 über eine Erkenntnis in seiner psychoanalytischen Lehranalyse, dass in der interkulturellen Begegnung »Gefühle gegenseitiger Befremdung ... in tieferen kulturellen Schichten des Selbst begründet sind. Wenn sich Hilfesuchender und Helfer im psychotherapeutischen Prozess manchmal fremd werden, so liegt das daran, dass jeder in einem spezifischen, kulturellen Unbewussten gefangen ist, einem kulturellen Unbewussten, das aus einem mehr oder weniger geschlossenen System kultureller Vorstellungen besteht, die der bewussten Wahrnehmung nicht leicht zugänglich sind.« Damit waren die Aufgabenstellung gegenseitiger respektvoller und wertschätzender Wahrnehmung und Akzeptanz in der Psychotherapie skizziert.

Gegenüber 2009 befinden wir uns aktuell in einer sehr veränderten gesellschaftlichen und politischen Lebensrealität, bedingt durch politisch-kulturelle Paradigmenwechsel, Stichwort sind ebenso Pandemie, Krieg, Zeitenwende, Terrorismus etc. Weitreichende gesellschaftliche Verunsicherungen und ein damit verbundenes Anwachsen rechtspopulistisch und rechtsradikal-völkisch orientierter Gesinnungen hat die gesellschaftliche und politische Situation drastisch verändert. Dem notwendigen Anliegen dieses Buches, interkulturelle Kompetenz und damit interkulturelles Zusammenleben zu fördern, stehen unverhohlen vorgetragene Forderungen zur Ausgrenzung entgegen, was zum Jahresbeginn 2024 Ausdruck findet in verstörenden völkischen Forderungen zu einer umfassenden »Remigration«.

Das primäre Anliegen mit diesem Buch, interkulturelle Kompetenz zu fördern und umzusetzen, ist in der gegenwärtigen Zeit nicht alleine eine psychotherapeutische Aufgabe – es ist eine dringliche existenzielle gesellschaftliche und politische Notwendigkeit. Auch dafür steht dieses Buch und dafür ist der Herausgeberin und allen an diesem Buch beteiligten Autorinnen und Autoren herzlich zu danken.

Essen/Berlin, im Januar 2024Prof. Dr. med. Wolfgang Senf

Endnoten

1Kakar S (2006) Kultur und Psyche – Auswirkungen der Globalisierung auf die Psychotherapie. In: Strauß B, Geyer M (Hrsg.) Psychotherapie in Zeiten der Globalisierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Vorwort und Danksagung

»Klinische Interkulturelle Psychotherapie« liegt nun in der zweiten Auflage vor. Schon der Titel verweist auf die wichtigste Erweiterung, die ergänzt wurde: »Migrations- und Fluchterfahrung in der psychotherapeutischen Arbeit«. Neben der Psychotherapie mit Arbeitsmigranten, die bei der ersten Auflage im Jahr 2009 die größte Gruppe kulturell diverser Personen darstellten, wird in der zweiten Auflage schwerpunktmäßig die psychotherapeutische und die psychosoziale Behandlung von Geflüchteten fokussiert. Das Buch verfolgt das Ziel, einheimische und bilingual-ethnische Therapeuten für die Arbeit mit Migranten zu befähigen. Autoren des Werkes sind seit vielen Jahren in der psychotherapeutischen Versorgung von Migranten klinisch tätig und haben sich mit der interkulturellen Psychotherapie in diversen Veröffentlichungen befasst. Das Werk beinhaltet neben Berichten und Empfehlungen dieser Experten aktuelle Forschungsergebnisse und enthält anschauliche Kasuistiken.

Fragestellungen, die sich in meiner psychotherapeutischen Arbeit mit Migranten oder in den Fortbildungsveranstaltungen, die ich seit 1997 regelmäßig am Universitätsklinikum in Essen und später im Rahmen der Lindauer Psychotherapiewochen anbiete, als behandlungsrelevante Themen abgebildet haben, werden in 24 Kapiteln untersucht. Nach der Fluchtbewegung aus Syrien hat sich meine Arbeitsgruppe in der psychosomatischen Abteilung in Erlangen mit der psychischen Gesundheit von Geflüchteten beschäftigt, seit 2016 wird auch eine spezialisierte Sprechstunde angeboten, diese Ergebnisse flossen in das Buch ein. So werden neben Behandlungs- und Forschungsergebnissen aus Projekten in Deutschland mit Geflüchteten aus Syrien auch internationale Studien aus Regionen mit kriegerischen Konflikten referiert. Hierzu sind viele neue Kapitel entstanden, neben den Übersichtskapiteln, nach den Entitäten, erstens PTBS, Angst und Depression und zweitens somatoformen Störungen aufgeteilt, präsentieren zwei weitere Kapitel spezifische psychotherapeutische Vorgehensweisen der psychosomatischen Arbeitsgruppen in Heidelberg und Viersen-Düsseldorf.

Das Buch startet mit einer Zusammenfassung theoretischen Wissens zur psychischen Entwicklung und soziokulturellen Adaptation nach der Migration. Ein kleines Glossar sozial- und migrationspsychologischer Begriffe rundet diese theoretische Einführung ab. Das nächste Kapitel behandelt Grundlagen der interkulturellen Psychotherapie. Hierzu gehört nicht nur die Untersuchung besonderer Konstellationen der Übertragung und Gegenübertragung zwischen Migranten und Einheimischen, sondern z. B. auch kultur- oder migrationsspezifische Besonderheiten in der Biografie und im Erleben der Patienten. Hier geht es u. a. um kollektiv geprägte Übertragungsbereitschaften in der interkulturellen Psychotherapie und um Besonderheiten der biografischen Anamnese im Kontext der Migration sowie um Kontextsensibilität und interkulturelle Kompetenz.

Das Thema der Benachteiligung der Frauen taucht in Psychotherapien von Migrantinnen als biografisches Merkmal und in der konkordanten, ängstlich vermeidenden Haltung und Gegenübertragung der Behandler häufig auf. Meine Erfahrungen in der Psychotherapie von Migrantinnen habe ich im Kontext der Gruppentherapie und der Einzeltherapie dargestellt. In diesem Zusammenhang habe ich diskutiert, ob Zweisprachlichkeit und Bikulturalität in Form einer Überidentifikation mit der konservativen Herkunftskultur eine besondere Abwehrform darstellen. Welchen Einfluss die religiöse Zugehörigkeit der Patientinnen auf deren Selbst und Körpererleben nehmen kann, habe ich in einem gesonderten Kapitel diskutiert. In der Zwischenzeit seit 2009 hat Gewalt gegenüber Frauen grausame Formen angenommen, die den Beobachter erschüttern. Beispiele dafür, die weltweit zu Solidaritätsbekundungen führen, sind die Aggressionen gegenüber Frauen durch den islamischen Staat im Syrienkrieg und durch Repressalien des Staates gegenüber der Emanzipationsbewegung im Iran. Auch in Deutschland sind die Übergriffe gegenüber Frauen und Migrantinnen angestiegen. Die Ausführungen in diesem Kapitel sollen nicht dazu verleiten, dass Vorurteile und Vorannahmen bestärkt werden, sondern zu einem besseren psychodynamischen Verständnis der Patientinnen beitragen. Die schwierigen politischen Debatten nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine und der Hamas auf israelische Siedler haben gezeigt, wie kompliziert die Zusammenhänge sind. Eine parteiergreifende Perspektive, hier für die Rechte der Frauen, die notwendig und unumgänglich erscheint, kann leider auch zur Bildung von neuen Stereotypen führen. Dieses Risiko bin ich als Autorin nach vielen Überlegungen eingegangen.

Der Beitrag von Norbert Hartkamp befasst sich mit der Psychotherapie der türkischen Männer. Hartkamp führt aus, dass die gesellschaftliche Normvorstellung, wie ein Mann zu sein habe, heute noch sehr viel strikter festgelegt sei und sehr viel weniger Ausweichmöglichkeiten bereithalte, als dies für Frauen üblicherweise der Fall sei. Überdies würden dysfunktionale Verhaltensweisen häufig durch eine spezifische Form von Männlichkeitsideologie in ihrem Bestand gefestigt. Nach einer Beschreibung der kulturellen Wertvorstellungen von Ehrenhaftigkeit und Ehrbarkeit beschreibt er, wie Geschlechtsrollenstereotypen in der Psychotherapie mit türkischen Männern zu berücksichtigen sind.2

Zwei Störungsbilder, die Traumafolgestörungen und die somatoformen Störungen, nehmen einen großen Raum ein, weil Migranten meistens mit diesen Störungsbildern einen Psychotherapeuten aufsuchen. Ergebnisse zu Ätiologie, Epidemiologie und Psychotherapie wurden in zwei Kapiteln zusammengefasst. Dabei wurden im Besonderen die internationalen Bemühungen, den Mangel an psychosozialen Versorgungsstrukturen zu kompensieren dargestellt. Es geht dabei um Konzepte von transdiagnostischer Psychotherapie und task-shifting. Zur Vertiefung dieses Überblicks werden standardisierte Stabilisierungsübungen der Heidelberger Forschergruppe von Irja Rzepka und Christoph Nikendei vorgestellt, deren Akzeptanz und Wirksamkeit untersucht wurde. Joksimovic präsentiert das Konzept einer stabilisierenden psychodynamischen Traumatherapie. Möllering und Kallwitz stellen die Arbeit des psychosozialen Zentrums für Geflüchtete in Bielefeld vor, auch anhand von Kasuistiken. Gertrud Peschel-Krömker beschreibt die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von traumatisierten Kindern und Jugendlichen, auch als unbegleitete junge Geflüchtete, an einem Traumazentrum. In einer Kasuistik wird die Behandlung eines Patienten 30 Jahre nach seiner Flucht dargestellt.

Ali Kemal Gün befasst sich mit Fragestellungen bzgl. der interkulturellen Öffnung von Institutionen. Gün gibt eine umfassende Beschreibung für die institutionellen Voraussetzungen der kulturellen Öffnung und fasst diese dann in einer Checkliste zusammen.

Die besonderen Probleme von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die einen großen Teil der jungen Bevölkerung in Deutschland darstellen, wurden von Toker und Schepker behandelt. Das Kapitel wurde mit Daten zu Kindern und Jugendlichen erweitert, die in Begleitung ihrer Familien oder unbegleitet als Geflüchtete nach Deutschland kommen. Die Autoren haben besonders deutlich herausgearbeitet, wie wichtig es in diesem Zusammenhang ist, durch eine kulturell offene Haltung ressourcenorientiert vorzugehen, Inanspruchnahmeverhalten, schicht-‍, migrations- und kulturspezifische Haltungen der Jugendlichen sowie ihrer Familien mit einer kulturellen Offenheit zu untersuchen.

Auch Fatih Güç befasst sich mit Migrantenfamilien und beschreibt die systemisch psychoanalytische Methode in der Familientherapie in diesem Kontext. Güç schildert die Bedeutung der Erhebung der Migrationserfahrungen aller Mitglieder der Familie und schlägt vor, die Familien in einer transkulturellen, einer kulturellen und einer individuell familiären Ebene wahrzunehmen und zu untersuchen. In seinem Beitrag wird auch die Problematik des fortgesetzten Migrationsstresses in Familien mit der Erfahrung der Heiratsmigration verdeutlicht.

Obwohl sie betonen, dass ein sozio-ethno-kultureller Leitfaden nicht die Auseinandersetzung mit der individuellen Konfliktdynamik der Patienten ersetzen darf, waren Ljiljana Joksimovic und Eva Morawa bereit, meiner Einladung zu folgen und für Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien und polnischstämmige Migranten entsprechende Orientierungsleitfäden zu schreiben. In diesen Kapiteln werden die historische und politische Entwicklung der betroffenen Ethnien und deren Auswirkung auf bestimmte kollektive Wahrnehmungen und Rollenbilder beschrieben. Hier wird dem US-amerikanischen Ansatz gefolgt, durch die Schilderung dieser Besonderheiten der einzelnen Ethnien, die immer auch stereotypisch sein müssen, eine erste Begegnung mit der spezifischen Beziehungswelt des Migranten und eine Sensibilisierung des Therapeuten für bestimmte kulturspezifische Konfliktmuster zu erreichen. Andrea Borho aus der Erlanger Arbeitsgruppe ergänzt diesen Blick auf die ethnisch-kulturellen Gruppen mit einem Beitrag mit Ergebnissen der prospektiven Studie zur Lebenssituation syrischer Geflüchteter.

Maksym Yarmolenko gibt in seinem Beitrag eine Einführung in die Historie der Ukraine. Er macht deutlich, wie weit die ukrainische und die russische Kultur miteinander verzahnt sind und welche lange Historie die Unterwerfungsintention Russlands gegenüber der Ukraine hat. Die Geflüchteten sind neben den Repressalien, der Mühsal und den Torturen des Kriegs und der Flucht auch mit Fragen der eigenen kulturellen Identität konfrontiert. Sein Beitrag wird durch kasuistische Behandlungsskizzen ergänzt.

In der hier skizzierten Auflistung gibt das Buch eine umfassende Einführung in die Thematik der interkulturellen Psychotherapie. Als Herausgeberin hoffe ich, dass ein Buch entstanden ist, das den Leser zu einem kompetenten, offenen und neugierigen Umgang mit Migranten und Geflüchteten ermuntert.

Allen Autoren danke ich für ihre großzügige und engagierte Mitarbeit sowie die interessanten und lehrreichen Kapitel. Frau PD Dr. Eva Morawa ist seit vielen Jahren eine kompetente und engagierte Mitstreiterin. Prof. Dr. Wolfgang Senf, dem emeritierten Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des LVR-Klinikums am Universitätsklinikum Essen, gebührt großer Dank. Ohne seine Unterstützung hätte ich meine klinische interkulturelle Arbeit nicht als wissenschaftlichen Schwerpunkt etablieren können. Der Landschaftsverband Rheinland als Träger von psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhäusern in der Region hat unsere Projekte zur Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung von Migranten von Beginn an unterstützt. Die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und die STAEDTLER Stiftung unterstützten mit Drittmitteln die Etablierung einer multidisziplinären Arbeitsgruppe zur Erforschung der verbalen Gewalt, einer weit verbreiteten Form der Diskriminierung.

Schließlich bin ich der Universität Vechta und der Höffmann Stiftung für die Würdigung meiner Arbeit und die Verleihung des Wissenschaftspreises für interkulturelle Kompetenz im Jahr 2022 zu großem Dank verpflichtet. Der Preis hat meiner Person aber auch dem Thema interkulturelle Psychotherapie eine höhere Sichtbarkeit verschafft.

Frau Brutler aus dem Kohlhammer Verlag gebührt mein herzlicher Dank für ihr Engagement für das Thema dieses Werkes und ihre stetige freundliche und geduldige Unterstützung in der redaktionellen Überarbeitung des Buches.

Meinem Mann Hans Martin Strehl danke ich für seine immense instrumentelle und emotionale Unterstützung; er hat dafür gesorgt, dass unsere eheliche interkulturelle Beziehung trotz der Arbeitsbelastung lebendig und reich geblieben ist.

Erlangen, im Frühjahr 2024Prof. Dr. med. (TR) Yesim Erim

Endnoten

2Aufgrund der Schwierigkeit, eine einheitliche Regelung zu finden (z. B. aufgrund der verschiedenen Kapitel, die sich ausschließlich den Frauen oder den Männern widmen), war die Form des Gendering den Autorinnen und Autoren jeweils freigestellt.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Borho, Andrea, Dr. rer. biol. hum., M. Sc. PsychologieWissenschaftliche MitarbeiterinPsychosomatische und Psychotherapeutische AbteilungUniversitätsklinikum ErlangenSchwabachanlage 6, 91054 [email protected]

Dallwitz, Kathrin, Dipl.-SozialarbeiterinFachberaterin PsychotraumatologieAK Asyl e.V., PSZ – psychosoziale BeratungFriedenstr. 4 – 8, 33602 [email protected]

Erim, Yesim, Univ.-Prof. Dr. med. (TR)Leiterin der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen AbteilungSprecherin des Post-Covid-ZentrumsUniversitätsklinikum ErlangenFriedrich-Alexander Universität Erlangen-NürnbergChefärztin der Psychosomatischen AbteilungKlinikum fränkische Schweiz-Forchheim Standort EbermannstadtSchwabachanlage 6, 91054 Erlangenwww.psychosomatik.uk-erlangen.de

Güç, Fatih, Dipl.-PsychologeAnsbacher Str. 62, 10777 [email protected]

Gün, Ali Kemal, Dr. phil.Psychologischer PsychotherapeutIntegrationsbeauftragterLVR-Klinik KölnWilhelm-Griesinger-Str. 23, 51109 Kö[email protected]

Hartkamp, Norbert, Dr. med., M. Sc.Facharzt für Psychosomatische Medizin und PsychotherapiePraxis für psychosomatische Medizin und PsychotherapieRheinstr. 37, 42697 [email protected]

Joksimovic, Ljiljana, Dr. med. (YU), M. san.Leiterin des LVR-Zentrums für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie NiederrheinLVR-Klinik ViersenJohannisstr. 70, 41794 [email protected]

Möllering, Andrea, Dr. med.Chefärztin der Klinik für Psychotherapeutische und Psychosomatische MedizinEvangelisches Klinikum BethelUniversitätsklinikum OWL der Universität BielefeldCampus Bielefeld-BethelSchildescher Str. 103p, 33611 [email protected]

Morawa, Eva, PD Dr. rer. medic. Dr. habil. med.Leitende Psychologin (Forschung), Diplom-Psychologin, Diplom-Theologin, Psychologische PsychotherapeutinPsychosomatische und Psychotherapeutische AbteilungUniversitätsklinikum ErlangenSchwabachanlage 6, 91054 [email protected]

Nikendei, Christoph, Prof. (apl.) Dr. med., MMEStellv. Ärztlicher Direktor, Leiter der Sektion PsychotraumatologieZentrum für Psychosoziale Medizin des Universitätsklinikums HeidelbergKlinik für Allgemeine Innere Medizin und PsychosomatikThibautstr. 4, 69115 [email protected]

Peschel-Krömker, Gertrud, Dr. med.Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie,Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie – [email protected]

Rzepka, Irja, Dr. med.AssistenzärztinZentrum für Psychosoziale Medizin des Universitätsklinikums HeidelbergKlinik Allgemeine Innere Medizin und PsychosomatikThibautstr. 4, 69115 [email protected]

Schepker, Renate, Prof. Dr. med.Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und JugendaltersZfP SüdwürttembergWeingartshofer Str. 2, 88214 [email protected]

Toker, Mehmet, Dr. phil.Ehem. LWL-Universitätsklinik HammHeithofer Allee 64, 59071 Hamm

Yarmolenko, Maksym, Dr. med.Facharzt für Psychosomatische Medizin und PsychotherapiePraxis für Psychosomatische Medizin und PsychotherapieSchönhauser Allee 56, 10437 [email protected]

Teil I Interkulturelle Psychotherapie

1 Ein Modell der kulturellen Unterschiede, kulturellen Anpassung und Persönlichkeitsentwicklung in der Migration

Yesim Erim

1.1 Einleitung

1.1.1 Aktuelle Daten zur Migration

Die Einwanderung der ersten großen Migrantengruppe setzte im ausgehenden 19. Jahrhundert aus Polen nach Deutschland ein. Dabei wurden Arbeitsmigranten in die Industrialisierungsgebiete, in das mitteldeutsche Braunkohlerevier und an die Ruhr rekrutiert. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs lebten vier Millionen polnisch sprechende Einwohner im deutschen Staatsgebiet. Ende der 1950er-Jahre herrschte in Deutschland ein Mangel an Arbeitskräften. Aus Italien, Griechenland, Spanien, Portugal, der Türkei, Jugoslawien und Marokko wurden »Gastarbeiter« geworben und somit die Zuwanderung nach Deutschland initiiert. Als der Arbeitsmarkt »gesättigt« war, wurde 1973 der »Anwerbestopp« beschlossen. Die Migration setzte sich jedoch fort, durch Flüchtlingswellen, aber auch durch die Zuwanderung von Familienangehörigen, Kindern und Ehepartnern der Migranten.3

Nachdem in den 1970er-Jahren entsprechend der politischen Vorstellung einer vorübergehenden Entlastung des Arbeitsmarktes und zur Beendigung dieser passageren Lösung wirtschaftliche Anreize in Form von »Rückkehrprämien« geschaffen wurden, um die Arbeitsmigranten zur Rückkehr in ihr Heimatland zu motivieren, ist ein ausländerfreies Deutschland heute auch aus volkswirtschaftlicher Sicht nicht mehr vorstellbar, da Migranten nicht nur als Arbeitskräfte, sondern auch als Konsumenten fehlen würden. Auf der Seite der Migranten, die oft mit dem kurzfristigen Ziel des wirtschaftlichen Erfolges nach Deutschland kamen, stellten viele im Laufe ihres jahrelangen Aufenthaltes und meistens im Zusammenhang mit der Lebensplanung ihrer hier geborenen Kinder fest, dass sie inzwischen mehr ins Aufnahmeland gehören als in ihre Heimat.

Die Migration stellt neben den klimatischen Veränderungen weltweit eine der wichtigsten soziopolitischen Entwicklungen dar. Im Hinblick auf die letzten 35 Jahre hat sich die Anzahl der Migrant:innen im internationalen Maßstab verdoppelt (World Migration Report 2020). Der Welt-Migrations-Bericht von 2020 konstatierte für 2019 272 Mio. internationale Migrant:innen, was 3,5 % der Gesamtbevölkerung der Welt entspricht, bei ca. zwei Dritteln davon handelte es sich um Arbeitsmigrant:innen. Die Zahl der Geflüchteten betrug im Jahre 2019 25,9 Mio. (52 % unter 18 Jahren) (International Organization for Migration 2020). Mit 13,1 Mio. nimmt Deutschland hinter den USA (50,7 Mio.) und vor Saudi-Arabien und der Russischen Föderation weltweit den zweiten Platz der Staaten mit den höchsten Migrant:innenzahlen ein.

In Deutschland ist die interkulturelle Öffnung der Institutionen seit 2012 erklärtes Ziel der Bundespolitik (Nationaler Integrationsplan § 5.2.2, Themenfeld 4, Themenschwerpunkt 3: Gesundheit, www.bundesregierung.de/resource). Interkulturelle Öffnung wird definiert als eine gezielte Optimierung der Angebote einer Institution, damit Migrant:innen der gleiche Zugang zu den Dienstleistungen ermöglicht wird wie Einheimischen.

1.1.2 Wie wird eine Person mit Migrationshintergrund und wie wird ein Flüchtling definiert?

Die Definition für eine geflüchtete Person wurde in dem Abkommen der Vereinten Nationen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 festgelegt. Ein Flüchtling ist eine Person, die »aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder der, da er keine Staatsangehörigkeit besitzt und sich aufgrund solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in dem er zuvor seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht dorthin zurückkehren kann oder aufgrund dieser Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will«. Ein Asylbewerber ist eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht und deren Antrag noch nicht vom Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) oder den Behörden des Landes, in dem die Flüchtlingseigenschaft beantragt wird, entschieden wurde (UNHCR Statistical Yearbook 1967). Im Folgenden wird der Begriff Migrant:in oder Person mit Migrationshintergrund als ein Oberbegriff benutzt, der neben Arbeitsmigrant:innen auch die Kategorie »Geflüchtete« umfasst.

1.1.3 Wie ist Kultur im Kontext der Psychotherapie zu definieren?

Das Thema dieses Werkes ist die Psychotherapie für Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, für Migrant:innen und Geflüchtete. Wie ist Kultur in diesem Kontext zu definieren? Es gibt viele Beschreibungen von Kultur. Auch im Kontext von Psychotherapie sind viele unterschiedliche Definitionen möglich, doch möchten wir uns mit denen beschäftigen, die zur Optimierung der interkulturellen Psychotherapie beitragen. Die Familientherapeutin Mc Goldrick (1982), Autorin des US-amerikanischen Standardwerks »Ethnicity and Family Therapy« geht davon aus, dass die Kultur aus Prozessen und Wertvorstellungen besteht, die das Bedürfnis des Individuums nach Identität und historischer Kontinuität erfüllen. D. h., im Kontext der interkulturellen Therapie ist die Kultur einerseits die ethnische Kultur und Identität in Abgrenzung zu anderen Kulturen, für Migranten zur Kultur der Majorität. Nach Mc Goldrick werden Kultur und ethnische Identität in der Familie vermittelt und prägen das Familienleben (wie groß ist die Familie, wer gehört dazu?), die Partnerfindung (wie finden junge Menschen zusammen?), Familiengründung (was bedeutet Elternschaft?), Lebenszyklus (wann ist man jung, wann alt?) und das Krankheitserleben, (z. B. die Intensität von Schmerzwahrnehmung, Erwartungen gegenüber Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen und die Kommunikation von Krankheit). Die Kultur bestimmt unter anderem die Beziehung der Generationen (wie gehen Junge und Alte Menschen miteinander um) und die Beziehung der Geschlechter (wie gehen Männer mit Frauen um). Schließlich werden durch diese Definition nicht nur einzelne Kulturen charakterisiert, sondern auch unterschiedliche – ethnische – Gruppen voneinander abgegrenzt.

Wir möchten Kultur definieren als alle Formen von Wertvorstellungen, Wahrnehmung und Verhalten, die durch eine gemeinsame ethnische Zugehörigkeit und durch die Sprache vermittelt werden. Eine ethnische Gruppe ist oft durch eine gemeinsame Sprache verbunden. Viele Wertvorstellungen werden über die Sprache vermittelt. Nehmen wir das Wort »Gurbet« im Türkischen, das »von der Heimat getrennt und entfernt sein, in einem fremden Land sein« bedeutet. In der Türkei werden die ausgewanderten, früheren Gastarbeiter als »Gurbetci«, die in Gurbet leben, bezeichnet, damit ist ein Verlust und ein Leiden konnotiert, vielleicht dem Deutschen Heimweh entsprechend. Zudem wird das Wort mit der Endung »ci« gebildet, mit der Berufsbezeichnungen erzeugt werden. Ein Simitci ist jemand, der Simit (türkische Sesamkringel) verkauft. Ein Muslukcu ist jemand, der Wasserhähne repariert, ein Installateur. Mit dem Wort wird also Gurbet, die Fremde auch mit Arbeiten verknüpft. Gurbetci sind sozusagen diejenigen, die in der Fremde arbeiten und leiden. Wenn man davon spricht, dass man in »Gurbet« lebt, wird auch der Inhalt transportiert, dass es sich nicht um einen zufriedenstellenden Zustand handelt, wenn man im »Ausland« lebt. Nehme man das Wort »Diaspora«, würden wiederum andere Bedeutungen mitschwingen, die in erster Linie mit der jüdischen Gruppe assoziiert sind und den historischen Zusammenhang der Vertreibung der Juden und ihrer Verteilung über die Welt umfassen würden. Beide Wörter machen deutlich, dass es sich beim Leben außerhalb der ursprünglichen Heimat nicht um einen angestrebten Endzustand, sondern einen Übergangszustand handelt, den es zu bewältigen gilt. Also geben Wörter und Sprachen vor, wie eine Situation beurteilt wird. Vor allen Dingen transportiert und bestimmt die Sprache verschiedene Bedeutungen des Krankheitserlebens, was einige Autoren im psychotherapeutischen Kontext für die türkische Sprache untersucht haben (Gün 2018).

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts werden in der Soziologie soziale Milieus beschrieben. Hierbei handelt es sich um gesellschaftliche Gruppen mit ähnlichen Wertvorstellungen und Prinzipien des Lebensstils. Bildung, Beruf und Einkommen, Wertorientierungen, Lebensziele, Arbeitseinstellungen, Freizeitmotive, Lebensstil und alltagsästhetische Präferenzen können bei der Zuordnung von Individuen und Gruppen zu einem Milieu maßgeblich sein. Die Lebensstilforschung geht davon aus, dass durch die Zunahme der Diversität in Gesellschaften und Ausdifferenzierung der Lebensstile die enge Verknüpfung zwischen sozialer Lage und Milieus aufgelöst wird (Bundeszentrale für politische Bildung 2006). Millieus haben Einfluss auf die psychische Entwicklung und die psychosozialen Präferenzen des Individuums.

Schließlich sind in den letzten Jahrzenten immer mehr Subkulturen definiert worden, innerhalb eines Kulturbereichs, einer Gesellschaft bestehende, von einer bestimmten gesellschaftlichen, ethnischen Gruppe getragene Kulturen mit eigenen Normen und Werten. Aus psychotherapeutischer Sicht ist zu konstatieren, dass viele junge Menschen die ethnisch-kulturelle Identität immer häufiger als die Zugehörigkeit zu einer Subkultur, zu einem Milieu wahrnehmen. Die Milieus und Subkulturen sind über ihre Emanzipationsansprüche miteinander verbunden. Betroffene Menschen möchten mit einem Diversitätsmerkmal anerkannt, nicht ausgeschlossen und nicht diskriminiert werden. Das heißt, sie kämpfen um die Anerkennung ihrer Andersartigkeit und um gleiche Rechte wie die Gruppe der Majorität. Hier ist die türkische Herkunft eine Diversität ähnlich wie eine homosexuelle Präferenz oder die Zugehörigkeit zu einer Gruppe schwarzer Menschen. Aus der Diskriminierungsforschung wissen wir, dass die gesellschaftliche Akzeptanz einer diversen Gruppe in der Majorität der Anerkennung anderer Subgruppen zugutekommt. Die Solidarität unter den Subkulturen ist also gerechtfertigt.

In der Zusammenfassung bezieht sich Kultur, wie wir sie in diesem Werk verstehen, auf die historisch und durch eine Sprache geprägten Wertvorstellungen und Beschreibungen einer Gruppe, die die Wahrnehmungen und Verhalten ihrer Mitglieder bestimmen. Diese ethnische Kultur impliziert eine Abgrenzung von den Wertvorstellungen der Majorität, hier der »einheimisch-deutschen«, die solchen diversen Einflüssen nicht unterliegen. Bei einem hohen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund von inzwischen 27 %, weiter ansteigend, in Deutschland ist das Merkmal »einheimisch deutsch« eine Idealvorstellung. Die meisten Menschen haben verschiedene Kontakte und Verknüpfungen zu Personen mit Migrationshintergrund und anderen diversen Gruppen und sind nicht »unberührt einheimisch«. Auf der anderen Seite nehmen junge Menschen mit Migrationshintergrund ihre kulturelle Identität immer mehr als eine Zugehörigkeit zu einer diversen Subkultur wahr und nicht zu einer ethnischen oder nationalen Gruppe.

Verschiedene Kapitel in diesem Werk beschreiben kulturelle Gruppen und ihre biografischen Besonderheiten und besonderen Bedarfe in der Psychotherapie. Diese Kapitel wurden in der ersten und in der aktuellen Auflage durch Zugehörige der jeweiligen ethnischen Gruppen verfasst und haben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, was das historische, politische oder psychosoziale Wissen über diese Gruppen betrifft. Diese Kapitel haben das Ziel, den einheimischen Psychotherapeut:innen die Arbeit mit Menschen aus diesen Kulturkreisen zu erleichtern, die Vertiefung der psychotherapeutischen Beziehung zu beschleunigen. Empathie, ein zentrales Instrument in der Psychotherapie, entsteht nicht nur dadurch, dass wir emotional angesprochen werden, sondern auch durch kognitive Aspekte des Einfühlens. Die therapeutische Annäherung kann leichter und produktiver sein, wenn man über die Wertvorstellungen voneinander informiert ist. Die Unterstreichung dieser Wertvorstellungen durchzieht alle Kapitel des Buches.

Nun möchten wir uns dem Versuch widmen, ein Modell der kulturellen Anpassung in der Migration zu entwickeln. Diese Überlegungen werden vereinfacht, indem von einer idealtypischen ethnisch geprägten Migrantengruppe und einer idealtypischen einheitlich geprägten Gruppe der aufnehmenden einheimischen Gesellschaft ausgegangen wird.

1.1.4 Warum ist Kultur ein wichtiger Faktor in der Psychotherapie?

Kultur und kulturelle Anpassung sind wichtige Aspekte in der Psychotherapie, weil die Auseinandersetzung mit dem Selbst ein zentrales Ziel im psychotherapeutischen Gespräch ist. Wie das Selbst wahrgenommen und beschrieben wird, wird wesentlich durch die Kultur bestimmt. Jede Psychotherapiemethode beruht auf Modellen des Selbst, die ihrerseits aus kulturellen Konzepten des Individuums hervorgehen (Kirmayer 2007). Diese Konzepte definieren das Selbst in seiner Beziehung zur Familie und zur sozialen Welt, zur natürlichen Umgebung und zum Kosmos.

Das kulturelle Konzept der Person, das die westlichen Psychotherapiemethoden benutzen, entsteht aus den westlichen Wertvorstellungen des Individualismus. Wir (westliche Psychotherapeut:innen) handeln ausgehend von individualistischen und individuumszentrierten, nach manchen Autoren, z. B. Kirmayer, »egozentrischen« Konzepten der Person. Es sind aber auch soziozentrische, ökozentrische und kosmozentrische Konzepte des Selbst möglich. In der interkulturellen psychotherapeutischen Beziehung sollte der Therapeut eine Bewusstheit über die Unterschiede der kulturellen Wertvorstellungen und der Selbstbilder besitzen.

1.2 Modelle psychischer Entwicklung in der Migration

In der Psychotherapie-Literatur wurden migrationsspezifische und interkulturelle Aspekte erst spät untersucht, obwohl viele Psychoanalytiker selbst Migrationsschicksale erlebten. Zu den ersten Werken, die sich mit den Auswirkungen der Migration befassen, gehört die Monografie des Ehepaares Grinberg (1984, deutsche Übersetzung 1990). Hier wird die Migration als ein Trauma oder eine Lebenskrise verstanden. Die Grinbergs beziehen sich auf das Modell von Garza-Guerrero (1974), das die psychische Entwicklung in der Migration in drei Phasen beschreibt. In der ersten Phase würden die Unterschiede zwischen den neuen Objekten und der psychischen Repräsentanz der verlassenen Kultur deutlich, in der zweiten Phase würde das Individuum durch Trauerarbeit für die Besetzung der neuen Objekte frei und entwickle schließlich in der dritten Phase ein neues Selbstkonzept.

Zur Bewältigung des kulturellen Wandels in der Migration wird ein breites Spektrum von Mechanismen beschrieben, die von einer Überbetonung und Idealisierung der ethnischen Wertvorstellungen des Herkunftslandes bis hin zu einer völligen Aufgabe dergleichen reichen und zur unkritischen zwanghaften Annahme neuer kultureller Normen. So stellte z. B. Güc (1991) die »traditionell verstrickte«, die »überangepasste«, die »gespaltene« und die »vom Zerfall bedrohte« Familie als typische Konstellationen in der missglückten Problembewältigung von Migrantenfamilien dar. Kürsat-Ahlers (1995) beschrieb ein Phasenmodell der Migration, an dessen Ende idealtypisch eine Bereicherung der Identität stehe, aufgrund der guten Synthese- und Kritikfähigkeit nach der Bewältigung der Migration und Integration der zwei Kulturen.

Bhugra (2004) kommt nach einer Disputation der vorliegenden Literatur zu dem Schluss, dass die Migration einen intensiven Stress auslösen kann, jedoch nicht alle Migranten den gleichen Prozess durchlaufen. Ein wichtiger Aspekt, der den Erfolg einer Migration bestimmt, ist nach seiner Ansicht die Phase der Prämigration. Darunter versteht der Autor die sozialen Kompetenzen, das Selbstbild und die psychische Stabilität des Migranten vor der Migration. Nach Bhugra spielt der Aspekt der selbst gewählten gegenüber einer unfreiwilligen Migration eine entscheidende Rolle. Eine unfreiwillige Migration, z. B. im Sinne einer Flucht, wird als wesentlich belastender angesehen als eine geplante und gewollte Umsiedlung. Auch die geografische Distanz vom Ursprungsland sei bedeutsam. Eine Migration in ein Land mit einer völlig unterschiedlichen Kultur und Mentalität als die des Heimatlandes ist belastender und schwerer zu verarbeiten.

In der Postmigrationsphase bestimmt das Zusammenspiel von positiven und negativen Erfahrungen im neuen Land den Erfolg der Migration. Zu den negativen Erfahrungen zählen unter anderem Diskriminierungen, Arbeitslosigkeit, Verlust sozialer Kontakte, Armut etc. Häufig müssen bei einer erzwungenen Migration gut ausgebildete und qualifizierte Fachkräfte eine Berufstätigkeit unter ihren Fähigkeiten akzeptieren. Es liegt eine große Diskrepanz zwischen dem Erreichten und dem vorgenommenen Migrationsziel vor. Personen, die alleine, ohne andere Familienangehörige in ein fremdes Land migrieren, haben es schwieriger in dem neuen Land zurechtzukommen, da ihnen der emotionale Rückhalt und Schutz der eigenen Familie fehlt. Zusätzlich kommt häufig hinzu, dass sie dem Druck ausgesetzt sind, die Erwartungen der Familienmitglieder im Heimatland zu erfüllen, z. B. schnell eine Arbeit zu finden. Weiterhin wird der Grad der nötigen kulturellen Anpassung, der Akkulturation durch die Unterschiedlichkeit bzw. Ähnlichkeit der Kulturen zwischen Herkunftsland und Gastland bestimmt. Je ähnlicher sich beide Kulturen sind, desto geringer ist der Aufwand bei der soziokulturellen Adaptation.

Bhugra (2005) behauptet, dass persistierende Probleme der kulturellen Adaptation mit einem höheren Risiko für Probleme der psychischen Gesundheit assoziiert seien. Er unterscheidet zwischen individualistischen und kollektivistischen Kulturen. Bhugra weist auf Studien hin, die zeigen konnten, dass Menschen aus kollektivistischen Kulturen in individualistischen Ländern hohe Raten an Angststörungen, Depressionen und Alkoholabhängigkeit entwickeln. Vor allem Migranten aus kollektivistischen Ländern, die sich diskriminiert und isoliert fühlen, seien für psychische Erkrankungen vulnerabel. Bhugra behauptet schließlich, dass Personen aus individualistischen Kulturkreisen größere Fähigkeiten haben, neue soziale Gruppen zu betreten und neue soziale Kontakte zu knüpfen.

Die Identitätsentwicklung in der Migration beschreibt Akhtar (1995, 2007) als eine dritte Individuation nach den Phasen der Separation-Individuation (Mahler et al. 1975) und dem zweiten Individuationsprozess während der Adoleszenz (Blos 1967). Er verdeutlicht, dass es hier nur um eine phänomenologische Ähnlichkeit beider Prozesse geht und die Migranten natürlich wesentliche Schritte ihrer psychischen Entwicklung abgeschlossen haben, wenn sie ins Aufnahmeland kommen. Der Terminus »dritte Individuation« beziehe sich auf eine Reorganisation der Identität im Erwachsenenalter. Er beschreibt, dass der Migrant, der in eine kulturell unterschiedliche Umgebung kommt, verschiedenen psychischen Belastungen in den neuen Objektbeziehungen ausgesetzt sein wird. Ein Migrant aus einer individualistischen Heimatkultur könne sich z. B. in einer Umgebung wie Japan, in der die Gruppenzugehörigkeit eine Gratifikation erfährt, unter Druck gesetzt fühlen. Migranten aus einer »sexuell repressiven« Kultur, z. B. aus einem arabischen Land, könnten in einem westlichen Land im Kontakt zu zugewandt freundlichen Frauen unter »unangenehmen« Triebdruck geraten. Eine Frau mit einer ähnlichen Migrationsgeschichte könne westliche Frauen als aggressive ödipale Rivalinnen erleben. Alle beschriebenen Situationen würden die psychische Stabilität oder die Ich-Stärke der Migranten auf den Prüfstand stellen. Akhtar beschreibt, dass in diesem Zustand der Destabilisierung nach der Begegnung mit der neuen Kultur eine Auseinandersetzung mit der Heimat- und der Aufnahmekultur, mit alten wie neuen Objekten beginnt, wobei auf diese Objekte Elternimagines übertragen werden. In dieser Phase werde das mütterliche und das väterliche Objekt, d. h. das Heimat- und das Aufnahmeland abwechselnd idealisiert, bis schließlich die Idealisierung zurückgenommen und eine realistische, in diesem Sinne ambivalente Haltung gegenüber beiden Objekten entwickelt wird. Gleichzeitig habe der Migrant auch seine Nähe und Distanz zu der alten und der neuen Kultur zu regulieren.

Schließlich gehe es um die Wahrnehmung von Verlust und um Trauerarbeit. Migranten, die die Veränderungen und Verluste in ihrer neuen Umgebung nicht wahrnehmen wollten, entwickelten die Fantasie des »verlorenen Paradieses«, wobei die alte Heimat idealisiert werde. Zur weiteren Integration in die neue Kultur gehöre neben deren Erlernen und Beherrschen auch die Übernahme neuer Über-Ich-Gebote. Wie in der Adoleszenz käme es durch eine Überflutung des Ich durch neue Impulse zu einer Destabilisierung, mit der Annahme neuer Regeln, hier der Regeln der neuen Kultur, zu einer Stabilisierung. Auch wenn in einem Migranten die neue, permissivere Kultur zuerst Angst auslöse, könne in einer prozesshaften Entwicklung, die mit einer »Besänftigung« des eigenen Über-Ich einhergeht, ein neues Gleichgewicht erreicht werden.

Akhtar beschreibt auch die Relevanz des Erwerbs neuer sprachlicher Fähigkeiten. Durch Verbindungen zu frühen Mutterrepräsentanzen bleibe die Muttersprache zuerst idealisiert, in der Wahrnehmung des Migranten der neuen Sprache »überlegen«. Die neue Sprache werde als schwach und unverständlich entwertet. Eine echte Bilingualität, bei der beide Sprachen gleichberechtigt benutzt werden können, entstehe erst spät, könne aber ein Indiz für eine weit gediehene Identitätsentwicklung in der Migration angesehen werden. Akhtar verweist hier auch darauf, dass unterschiedliche Repräsentationen des Selbst an den Gebrauch unterschiedlicher Sprachen gekoppelt sein können. In Anlehnung an Amati-Ehler (1993) wird verdeutlicht, dass die Bilingualität eine Bereicherung sein, eine neue Sprache neue Möglichkeiten der »inneren Welt des Selbst« eröffnen kann. Die Zweisprachigkeit eröffne aber auch Möglichkeiten des Widerstands in der Therapie und der Spaltungen der Selbstrepräsentanzen (▸ Kap. 15).

Auch Machleidt (2004) sieht die psychischen Anpassungsprozesse in der Migration als eine besondere Form der psychosexuellen Entwicklung und Reifung an. Er beschreibt die Parallelität zwischen der Persönlichkeitsentwicklung während der Pubertät und in der Migration dahingehend, dass es durch die neuen Impulse in der Pubertät oder die neuen Objekte und Reize in der kulturfremden Umgebung zu einer Reizüberflutung und einer Krise kommt. Das Neustrukturieren und Sortieren von Beziehungen während dieser Krise bietet nach Machleidt die Möglichkeit, neue Normen und Verhaltensgewohnheiten zu akzeptieren, was zu einer Bereicherung der Persönlichkeit des Migranten führe.

1.2.1 Intergenerationale Transmission von Werten

Die bisher zusammengefassten Modelle beschreiben die Kultur dahingehend, als würde sie sich in einem stabilen Zustand ohne Wandel befinden. Das trifft aber nicht zu. Einerseits befindet sich »die Kultur« in einem stetigen Veränderungsprozess, andererseits kommt es auch in einer Familie über Generationen hinweg zur Annahme von neuen Werten. Einige Wertvorstellungen werden unverändert weitergegeben, andere werden »überarbeitet, verwandelt« oder aufgegeben, in der Sozialpsychologie und Soziologie nennt man diesen Prozess die »intergenerationale Transmission von Werten« (Uslucan 2017). Je nachdem, welche soziokulturellen und Bildungsvoraussetzungen und Bereitschaften eine Familie aufweist, werden Veränderungen neben dem gesellschaftlichen auch in dem innerfamiliären Kontext angenommen oder abgelehnt. Wenn wir uns mit dem kulturellen Selbst des Patienten beschäftigen, kann es von Vorteil sein, uns ein Bild darüber zu machen, wo die Migranten gemeinsam mit ihrer Familie stehen. Z. B. kann es zuerst um die Frage gehen, ob eine Kultur im Allgemeinen die Scheidung als eine Lösung für eheliche Probleme akzeptiert. Für türkischstämmige Familien in Deutschland ist die Scheidung immer mehr eine akzeptable Lösung geworden. Als die Autorin in den 1995er-Jahren psychotherapeutisch mit Migrantinnen aus der Türkei arbeitete, war diese Lösung noch nicht dermaßen akzeptiert. Frauen mit Partnerschaftsproblemen litten darunter, dass sie sich eine Scheidung und Trennung nicht vorstellen konnten. Sie konnten sich ihr Selbst als geschiedene und alleinerziehende Frau nicht vorstellen. Nach der allgemeinen kulturellen Akzeptanz der Scheidung ist diese Lösung von Patientinnen häufiger umgesetzt worden. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass neben den spezifischen situativen Bedingungen der jeweiligen Familie des Patienten das soziale und kulturelle Milieu unsere Aufmerksamkeit verdienen.

1.2.2 Kulturelle Adaptation: Wie bewältigen Individuen und Gruppen die Anforderungen nach Anpassung, wenn sie in einer neuen kulturellen Umgebung ankommen?

Die notwendigen Veränderungen für die kulturelle Anpassung bezeichnet Berry als »Akkulturation«. Akkulturation umfasst die kulturellen und psychologischen Veränderungsprozesse, wenn Personen sich in ein neues Land bzw. in eine neue Kultur begeben, und bezieht sich auf Verhalten und Einstellungen von Personen und Gruppen. Berry definiert zwei Achsen der kulturellen Orientierung nach der Umsiedlung in ein neues Land. Die Migranten können sich entweder an der alten »Heimats-« oder der neuen »Aufnahme-Kultur« orientieren. Danach entstehen vier unterschiedliche Akkulturationsstile, nämlich Integration, Assimilation, Separation und Marginalisation. Bei der Integration sind beide Orientierungen stark, bei der Marginalisation beide schwach ausgeprägt. Bei der Assimilation überwiegt die Orientierung an der Kultur des Aufnahmelandes und bei der Separation die des Herkunftslandes (Berry 2010).

Abb. 1.1:Depression ist in der Gruppe der Integrierten am wenigsten ausgeprägt (übersetzt und adaptiert nach Morawa & Erim 2014, https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/)

Patienten, die psychisch belastet sind, erbringen geringere Adaptationsleistungen, sie sind weder mit der eigenen kulturellen Gruppe (Peers, Community) noch mit der Aufnahmekultur (Schule, behördliche Hilfsangebote, Familienhilfe, Sozialpädagogik) gut vernetzt, sie befinden sich nach dem Modell von Berry oft in der Gruppe der Marginalisierten. In einer eigenen Studie konnten wir den Zusammenhang zwischen Depressivität und Integration bei türkischstämmigen Migranten untersuchen (▸ Abb. 1.1). Die Migranten, deren Akkulturationsleistung als Integration oder Assimiliation einzuordnen war, die sich also stark an der Aufnahmekultur orientierten, wiesen niedrigere Depressionsscores auf (Morawa et al. 2014). Die höchsten Depressionsscores wurden in der Gruppe der Marginalisierten gemessen. Dieser Zusammenhang wurde nur querschnittlich belegt. Sicher spielen in diesem Bedingungsgefüge weitere Einflussfaktoren eine wichtige Rolle. Wir gehen jedoch davon aus, dass Menschen mit einer hohen Resilienz die Kraft haben, die sozio-kulturelle Anpassung gut zu bewältigen; andererseits wird aus dem Gefühl von Zugehörigkeit in der neuen Kultur, wenn diese durch Integrationsbemühungen entsteht, auch neue psychische Kraft hervorgehen. Diejenigen mit geringen psychischen Ressourcen bleiben bzgl. der Anpassungsleistung zurück und vermutlich entsteht hier ein Teufelskreis, in dem die weniger angepassten Migranten sich in der Gesellschaft weniger zugehörig, sondern eher ausgeschlossen fühlen und in einem sich selbst erfüllenden Modus schließlich auch mehr Diskriminierung erleben und insgesamt weniger Stresstoleranz haben als die integrierten Personen, was mit einem sozialen Rückzug einhergehen kann.

Für die psychotherapeutische Arbeit resultiert aus dieser Information die Empfehlung, insbesondere bei Patienten mit schwerer Symptomatik und eingeschränkter Ich-Stärke sowohl Kontakte zur eigenen kulturellen Peergroup als auch die Kontakte zur Aufnahmegesellschaft als mögliche Ressourcen zu eruieren und zu aktivieren.

Bei Patient:innen, die eine höhere Adaptationsleistung zeigen, z. B. die Sprache erworben haben, im Arbeitsleben und in der Nachbarschaft Beziehungen zu Einheimischen pflegen, kann man auch in der Psychotherapie eher davon ausgehen, dass sie über gute Ich-Funktionen verfügen und in der Therapie gut mitarbeiten können.

1.2.3 Kulturzugehörigkeit als Problem in der Psychotherapie

Die Adaptation an die kulturellen Werte der sogenannten Aufnahmekultur ist ein Prozess, von dem die meisten Migranten betroffen sind. Das bedeutet, dass Menschen mit Migrationshintergrund über den allgemeinen kulturellen Wandel hinaus und damit vermengt, sich in einem Anpassungsprozess befinden.

In der Regel ist es hilfreich in der Psychotherapie, diese Veränderungsmomente, von denen der Migrant betroffen ist, zu verstehen. Oft ist es auch für die Patienten eine wichtige Klärung, wenn sie die eigenen Wertvorstellungen und die vermuteten Erwartungen ihrer Familie analysieren und verstehen können. Die besonderen Probleme in den Psychotherapien von Migranten entstehen oft in Situationen, wenn die Patienten einen perspektivischen Blick, in der Verhaltenstherapie nennt man das eine Defusion, nicht zulassen und an der Kognition festhalten: »ich bin meine Kultur«. Gemeint sind Patient:innen, die zwischen ihren Entwicklungswünschen und aktuellen Bedürfnissen auf der einen Seite und den Vorgaben ihrer Zugehörigkeitskultur auf der anderen Seite unüberwindbare Konflikte sehen und behaupten, dass eine bestimmte Lösung in ihrem Kulturkreis nicht zulässig ist. »Bei uns kann man ohne die Zustimmung der Eltern keinen Partner wählen/bei uns kann man die Eltern nicht in ein Pflegeheim abgeben/bei uns kann man Verwandte nicht ausladen, auch wenn man am nächsten Tag arbeiten muss. Sie kommen weiter, wenn sie der Idee Raum lassen, dass ihr Selbst nicht nur durch »Kultur« geformt wird, dass sie auch andere Anteile und Merkmale haben, neben der ethnischen und kulturellen Identität oder dem kulturellen Selbst, haben Menschen Persönlichkeitszüge wie beispielweise Offenheit, Ordentlichkeit, Sparsamkeit, Ehrgeiz u. v. m. Aus tiefenpsychologischer Sicht machen die verschiedenen Ich-Funktionen und eine Ich-Struktur, die gut, mäßig oder schlecht funktioniert, einen wesentlichen Teil der Personeneigenschaften aus.

Schließlich können wir davon ausgehen, dass sowohl unser Selbst als auch unsere kulturelle Zugehörigkeit sich stetig verändern. Wenn dieser Blick erst einmal zugelassen wird, werden die Patienten vielleicht wahrnehmen, dass auch ihre Familien nicht nur aus kulturellen Bedürfnissen angetrieben werden. Wenn Patient:innen die Möglichkeiten der Veränderung bei sich und ihrer Familie wahrnehmen können, können sie auch Möglichkeiten erkennen, die Konflikte zwischen eigenen Bedürfnissen und Zielen sowie den Vorgaben der Kultur zu lösen. Dieses möchten wir anhand eines kasuistischen Beispiels vertiefen.

Kasuistische Skizze

Eine 20-jährige Patientin, als einziges Mitglied ihrer kurdischen Familie in Deutschland geboren, kam mit ausgeprägten depressiven Beschwerden bis hin zur Suizidalität zur Behandlung. Sie habe Angst vor negativen Reaktionen ihrer Familie, falls ihr »Doppelleben«, nämlich die Beziehung zu einem deutschen Partner, die sie vor ihrer Familie geheim hielt, bemerkt würde. Sie berichtete in der Therapie, dass sie Angst vor Ausschluss aus ihrer Familie habe, aber auch vor möglichen gewalttätigen Übergriffen. Wenn sie die Familie über die aktuelle Lebenssituation unterrichte und ihren Wunsch nach Fortsetzung ihrer Partnerschaft mit einem Mann, den die Familie aus religiösen Gründen nicht akzeptieren würde, mitteile, könne die Familie ihr oder ihrem Partner gegenüber mit Gewalt reagieren. Die Familienmitglieder waren etwa vor 15 Jahren als politische Flüchtlinge nach Deutschland immigriert.

Die Patientin hatte eine starke Bindung an ihre Familie und berichtete auch von Vorteilen der engen Bezogenheit, z. B. setzten sich die Familienmitglieder füreinander ein und sie wurde von Eltern und Geschwistern verwöhnt. Auf der anderen Seite beobachtete sie, dass in ihrer Familie die traditionellen, muslimisch geprägten Normen gelten. Es herrschte u. a. eine hierarchische Struktur, die Rolle der Frau sah vor, dass die Partnerwahl den Eltern überlassen wurde und Sexualität vor der Ehe nicht erlaubt war. Ihr Wunsch nach selbstbestimmter Auswahl eines Partners nach westlichen Vorstellungen wurde von den Eltern nicht gehört, sie fühlte sich ihnen unterworfen.

Lösungen, die der Patientin für eine Verbesserung ihrer Lebenssituation einfielen, waren dichotom: Sie könne sich ihrer Familie unterwerfen und deren Normen annehmen oder die Beziehung zur Familie abbrechen und mit ihrem Freund durchbrennen.

Das Spezifische an diesem Fall ist die starke Überzeugung der Patientin darüber, dass sie sich in einer unlösbaren Situation befindet. Diese Überzeugung war so stark, dass sie in der Behandlung auch ihren Therapeuten davon überzeugte, dass sie z. B. nicht über ihre Probleme in der Beziehung zu ihrem Freund oder zu ihrer Familie sprechen könne, da sich in diesen Beziehungen nichts verändern ließe. So hatte sie viele symptombezogene Ziele in der Zielhierarchie der Therapie platziert und die interaktionellen Konflikte mit Familie und Partner ausgeklammert. Die Diskussion darüber, inwiefern sie selbst bereit war, Kompromisse einzugehen, d. h. ihre kulturell bestimmten Wertvorstellungen und Beziehungswünsche der aktuellen Lebenssituation anzupassen, brachte sie weiter. So stellte sie fest, dass es durchaus möglich und notwendig war, dass sie eigene Idealvorstellungen, die ihres Freundes und die der Familie nicht jeweils in vollem Umfang erfüllen konnte. Sie musste dann damit leben, dass sie z. B. die Eltern mit ihren Entscheidungen verletzen würde, oder selbst enttäuscht sein würde, da sie nicht alle ihre Lebensziele erreichen würde, dass sie jedoch diese »Unperfektheiten« nach ihrem Ermessen verteilen konnte. Je mehr sie selbst spürte, dass sie neben den kulturellen Beziehungsidealen auch weitere eigene Wünsche und Ideale hatte, je mehr sie also die Überlappung und Vermischung dieser Ideale auflösen konnte, desto mehr war es ihr möglich, entsprechende Kompromisse zu entwickeln und die Kompromisshaftigkeit zu akzeptieren. In ihrer Fremdwahrnehmung veränderte sich das Bild ihrer Familie. Sie erkannte, dass sich in ihrer Familie wenig Veränderung vollzog. Bei anderen Familien mit ähnlicher Vorgeschichte hatte sie beobachtet, dass diese mehr Wandel zugelassen hatten. Damit bekam sie die Überzeugung, dass sie mehr für sich fordern durfte und konfrontierte ihre Familie mit ihren Bedürfnissen und Erwartungen. In der therapeutischen Situation, in der Patient:innen die Unlösbarkeit ihrer Probleme mit kulturellen Vorgaben begründen, hilft oft die Frage, ob sie in ihrem eigenen kulturellen Umfeld Personen kennen, die dieses Problem erfolgreich lösen konnten und wie deren Lösung aussieht. Die Betrachtung dieser Lösung kann einen lösungsorientierten Veränderungsprozess in die Wege leiten.

1.2.4 Auswirkungen der aufnehmenden Gesellschaft auf die psychische Entwicklung der Migrant:innen

In seinem späteren Werk wies Berry (2005) darauf hin, dass auch die im Aufnahmeland vorherrschenden politischen Haltungen bei der psychischen Adaptation von Migrant:innen eine wichtige Rolle spielen. Eine Willkommenskultur wird mehr Menschen in Richtung Integration und Assimilation ermutigen und eine Ablehnung der Neuankömmlinge und Zuwanderer mehr zu einer Abschottung der Migranten führen. Diese politischen Haltungen wurden von Berry ähnlich der möglichen persönlichen Orientierungen der Migrant:innen klassifiziert: Multikulturalität und »Melting Pot« sind dabei offene, integrierende, Segregation und Exklusion sind abweisende, ausschließende politische Haltungen der Aufnahmegesellschaft.

Individuelle Faktoren, die die soziokulturelle und psychische Adaptation fördern

Junges Alter und männliches Geschlecht, Resilienz und Fehlen von traumatischen Erfahrungen, höhere Bildung/schnellerer Spracherwerb sowie Berufstätigkeit, die Nähe zur Aufnahmekultur am Anfang der Migration (z. B. Migration aus einem anderen westlichen Land) und Sicherheit in der Aufnahmekultur (vs. akkulturativer Stress) werden als Faktoren angesehen, die den Anpassungsprozess unterstützen.

Das Vier-Ebenen-Modell der psychosozialen Adaptation

In der Zusammenfassung wurden vier Ebenen im Prozess der psychosoziokulturellen Adaptation beschrieben. Ein:e Migrant:in mit

1.

bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen und Ich-stärke,

2.

einem besonderen Grad der intergenerationellen Transmission von Werten in seiner/ihrer Familie,

3.

mit einem bestimmten kulturellen Selbst, bestimmt durch die Herkunftskultur und

4.

dem erlebten Einfluss der aufnehmenden Gesellschaft

wird nach dieser Theoriebildung bestimmte Verhaltens- und Haltungsänderungen vornehmen, damit er sich in der neuen Gesellschaft wohlfühlt. In ▸ Abb. 1.2 werden die wichtigen Aspekte der kulturellen Adaptation auf Seiten der Migrant:innen sowie der Aufnahmegesellschaft zusammengefasst.

Abb. 1.2:Kulturelle und psychische Veränderungen nach Migration

1.2.5 Steht am Ende immer die Integration?

Die Integration bedeutet einen hohen Gewinn, nämlich soziale Anerkennung und soziale Kontakte in der neuen Gesellschaft zu haben, neue Kompetenzen und Chancen in der neuen Kultur zu finden wie eine neue Sprache, neue Bildungs- und Berufschancen. Am Ende der Akkulturation ist jedoch nicht zu erwarten, dass die migrations-bezogenen Spannungen und Belastungen sich völlig auflösen. Vielmehr entstehen innovative Lebensformen, die eine fortgesetzte Orientierung an der Heimatkultur bzw. auch die Fortsetzung des Kontakts zu den Verwandten ermöglichen. Schließlich ist einerseits die positive Attribuierung der eigenen kulturellen