Knüppeldick - Jean-Patrick Manchette - E-Book

Knüppeldick E-Book

Jean-Patrick Manchette

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Beschreibung

Eine alte Dame bittet Privatdetektiv Eugène Tarpon, ihre blinde Tochter zu finden, die seit einem Monat spurlos verschwunden ist. Da sein letzter Auftrag bereits Wochen zurückliegt, willigt er ein, die Suche zu übernehmen. Was anfangs wie ein Routinejob aussieht, erweist sich jedoch in kürzester Zeit als Stich ins Wespennest. Drogen, Gewalt, alte Nazis und das große Geld sind die Gegner, denen sich Tarpon stellen muss - und hinter Klostermauern, die jeden Schrei ersticken, kämpft er nicht zuletzt ums eigene Überleben...

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DistelLiteraturVerlag

Jean-Patrick Manchette, geboren 1942 in Marseille, liebte Jazz, Kino und Literatur. Er radikalisierte den europäischen Roman noir und gilt als Begründer des neueren sozialkritischen französischen Kriminalromans, des sogenannten Néopolar.

Manchette arbeitete als Drehbuchautor und veröffentlichte neben Theaterstücken und zahlreichen Essays auch zehn Kriminalromane, die ihn zur Kultfigur machten, und von denen die meisten verfilmt wurden, so Nada (1973) von Claude Chabrol; Tödliche Luftschlösser (Folle à tuer, 1975) von Yves Boisset, mit Marlène Jobert; Westküstenblues (Trois hommes à abattre, 1980) von Jacques Deray, mit Alain Delon; Knüppeldick (Pour la peau d’un flic, 1981) von und mit Alain Delon; Position: Anschlag liegend (Le choc, 1982) von Robin Davis, mit Catherine Deneuve und Alain Delon; Volles Leichenhaus (Polar, 1983) von Jacques Bral; Position: Anschlag liegend wurde 2015 unter dem Titel The Gunman neu verfilmt von Pierre Morel mit dem zweimaligen Oscar-Preisträger Sean Penn.

Alle Kriminalromane sowie die gesammelten Essays zum Roman noir in den «Chroniques» sind auf Deutsch im Distel-LiteraturVerlag erschienen.

Jean-Patrick Manchette starb 1995 im Alter von 52 Jahren in Paris. Er wurde zur Leitfigur für eine neue Generation von Krimiautoren in Frankreich

Jean-Patrick Manchette

Knüppeldick

Aus dem Französischen von Christina Mansfeld und Stefan Linster

DistelLiteraturVerlag

Deutsche Ausgabe Zweite korrigierte Auflage Copyright © 2001, 2016 by Distel Literaturverlag GmbH Sonnengasse 11, 74072 Heilbronn Die Originalausgabe erschien 1976 unter dem Titel «Que d’os!» in der Série Noire bei Éditions Gallimard (Paris) Copyright © Éditions Gallimard 1976 Umschlagentwurf: Jürgen Knauer, Heilbronn ISBN 978-3-923208-44-9 (print) ISBN 978-3-923208-99-9 (e-book)

1

Das Telefon klingelte. Ich setzte ein entschuldigendes Lächeln auf und nahm den Hörer ab.

«Detektei Tarpon», sagte ich möglichst kaltschnäuzig.

«Sind Sie’s, Tarpon, ja? Coccioli am Apparat. Kriminalbeamter Coccioli. Wissen Sie noch, ja?»

«Ja.»

«Ich schicke Ihnen einen Klienten. Da sind Sie platt,

was?»

«Ein bisschen schon.»

«Ist aber so», sagte der Kripobeamte Coccioli. «Ich hab nämlich an Sie gedacht, weil das ein besonderer Fall ist. Eine alte Dame.»

«Ich weiß». Ich blickte auf die alte Dame, die mir gegenüber am Schreibtisch hockte, lächelte sie nochmals entschuldigend an und zwinkerte ihr zu, um ihr begreiflich zu machen, dass es nicht lange dauern würde. Sie zwinkerte zurück und lächelte verkrampft. Offensichtlich saß sie nicht bequem in dem Kunstledersessel; sie hätte sicher lieber einen Stuhl gehabt; sie war eine von der Sorte, die immer vorgebeugt auf der Stuhlkante sitzt, sich mit ihren spitzen Ellenbogen auf dem Schreibtisch abstützt und einem ihr spitzes Gesicht entgegenstreckt, um dann lange zu reden und lange rumzudiskutieren, eine, die Post- und Versicherungsangestellte ewig belagerte, weil sie ständig was erklärte, rumdiskutierte und Erklärungen verlangte, eine von dieser Sorte eben. Sie fühlte sich nicht wohl in dem Kunstledersessel, weil sie da nicht mit ihrem spitzen Hintern am Rand sitzenbleiben konnte, sie rutschte andauernd nach hinten. Als alte Dame würde ich sie übrigens nicht bezeichnen, aber na ja.

«Ach so, sie ist schon bei Ihnen?», meinte Coccioli am anderen Ende der Leitung.

«Ja.»

«Gut, hören Sie, ich werd Sie wieder anrufen, dann erklär ich Ihnen alles, ich will Ihnen bloß noch kurz sagen, warum ich sie zu Ihnen geschickt habe: es ist nämlich die Freundin einer Verwandten, wissen Sie, und sie wollte sich unbedingt an einen Privatdetektiv wenden, wie sie sich ausdrückte. Ich musste sie also zu jemandem schicken, sonst hätte sie sich von irgendeinem Gauner übers Ohr hauen lassen. Seien Sie so nett, hören Sie sich ihre kleine Geschichte an, aber sagen Sie ihr bloß nicht, dass das, was sie will, nicht geht. Hm? He, Tarpon, sind Sie noch dran?»

«Ja.»

«Gut. Sagen Sie ihr auf keinen Fall, dass es nicht geht, hm?»

«Mal sehen», sagte ich. «Das hängt von meinem Urteil ab.»

«Wie?», meinte der Kripomann vollkommen verdutzt. «Was für ein Urteil?»

«Meins. Mein Verstand. Sie wissen schon, so was wie Verstand, Urteilsvermögen, freier Wille, müssen Sie doch schon mal gehört haben.»

«Genau, seien Sie ruhig geistreich, ist ja auch der passende Zeitpunkt», meinte Coccioli entzückt. «Hören Sie, verklickern Sie ihr, dass Sie die Sache übernehmen werden und ungefähr vierzehn Tage brauchen, für zwanzigtausend alte Franc die Woche. Wir hätten Ihnen verdammt viel Ärger machen können im letzten Jahr, mein lieber Tarpon, wegen der Sache Sergent, da sind Sie uns noch eine Kleinigkeit schuldig. Wenn Sie ihr mehr als vierzig Mille abknöpfen, kriegen Sie es mit mir zu tun. Die ist total pleite, mein Gott, zeigen Sie doch ein bisschen Herz, Tarpon, verdammt.»

«Ich hab noch nicht abgelehnt», bemerkte ich. «Mal sehen. Rufen Sie mich in einer knappen Stunde wieder an.»

«Sie brauchen nichts zu machen, Tarpon. Da ist übrigens auch nichts zu machen. Nehmen Sie die vierzig Riesen, legen Sie die Hände in den Schoß, und nach vierzehn Tagen sagen Sie ihr, dass nichts dabei herausgekommen ist, und fertig. Haben wir uns da verstanden?»

Ich seufzte und legte den Hörer auf. Ich stützte meine Ellenbogen auf den Schreibtisch, faltete beide Hände unter dem Kinn und betrachtete die Dame liebenswürdig, zuvorkommend und scharfsinnig. Sie trug ein Kleid aus Liberty-Baumwolle, das noch aus der Zeit der Liberty-Schiffe stammen musste, malvenfarben gehalten (das Kleid), eine schwarze Strickjacke, schwarze Strümpfe, schwarze Schnürschuhe mit Dreizentimeter-Blockabsatz und einen schwarzen gelackten Strohhut. Sie erinnerte mich an meine Mutter, die im Departement Allier lebt; doch meine Mutter ist siebzig Jahre alt; die Dame mochte gut zehn Jahre jünger sein; deshalb würde ich sie nicht als alte Dame bezeichnen; trotzdem sah man, dass sie irgendwie vergreist war, vielleicht erst seit einigen Tagen, wahrscheinlich ganz plötzlich, weißes Haar und wächserner Teint, weder Schminke noch Schmuck, nur eine dicke falsche Perle an der Hutnadel. Sie hatte eine große schwarze Tasche dabei, aus der sie einen 22x28 cm Kraftpapierumschlag zog.

Darin befanden sich handgeschriebene Seiten und Fotos unterschiedlichster Formate, Amateuraufnahmen, auf denen hauptsächlich die Tochter der alten Dame in verschiedenen Lebensabschnitten, von der Geburt bis zum Alter von sechsunddreißig Jahren, zu sehen war. Das weiß ich, weil die alte Dame die Fotos herausnahm, sie auf den Schreibtisch legte und jeweils Erklärungen dazu abgab. Hin und wieder schaute sie in ihren Aufzeichnungen nach.

Diese Unmenge Fotos war meines Erachtens nicht nötig. Eine der letzten Aufnahmen hätte genügt, aber die alte Dame bestand darauf, mir das Leben ihrer Tochter bis ins Detail zu schildern, was wiederum ganz nützlich war, und es mit Bildern zu belegen.

Sie erzählte mir also ihre kleine Geschichte. Ich sagte ihr, dass Polizei und Gendarmerie für die von ihr gewünschte Arbeit viel besser ausgerüstet seien als ich. Weil sie ihre spitzen Ellenbogen nicht auf die Schreibtischplatte stützen konnte, krallte sie sich mit beiden Händen an der Kante fest und erklärte mir, dass sie sich natürlich an die Polizei gewandt habe, aber dort sei ihr ständig gesagt worden, sie müsse sich gedulden und es gebe nichts Neues; und sogar ein Inspektor, den sie persönlich kenne, das heißt über eine Freundin ihrer Schwester, Inspektor Coccioli selbst habe ihr geraten, sich an mich zu wenden.

«Normalerweise nehme ich mindestens zweihundertfünfzig Franc pro Tag, zuzüglich Spesen», sagte ich. (Ich log. Ich nehme mehr. Na ja, wenn ich kann.) «Sehen Sie, das wird ziemlich kostspielig, wenn alles nur vom Zufall abhängt.»

«Ich habe mir genau überlegt, was ich dafür aufwenden könnte, also eintausend neue Franc», sagte die alte Dame.

Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte man das Gefühl, dass das ihre gesamten Ersparnisse waren.

«Wissen Sie, ich schlage Ihnen Folgendes vor», sagte ich spontan und energisch. «Für vierhundert Franc kümmere ich mich, sagen wir mal etwa vierzehn Tage lang, während meiner freien Zeit um Ihre Angelegenheit.»

«Haben Sie viel freie Zeit?»

«Eigentlich ja, ziemlich viel», sagte ich.

Eigentlich hatte ich praktisch seit fünf Wochen nicht mehr gearbeitet. Davor ein bisschen Überwachung wegen versuchter Brandstiftung in einem Lagerhaus, und gegenwärtig bemühte ich mich, herauszubekommen, ob einer der sechs Angestellten eines Apothekers sich aus der Kasse bediente, wie der Geschäftsinhaber mutmaßte.

Die alte Dame überlegte und sagte, das sei ihr recht. Sie stellte mir einen Postscheck aus. Wir gaben uns die Hand, ich begleitete sie zur Tür, wir gaben uns noch einmal die Hand, und sie ging.

Ich sah auf meine Uhr. Fast sechs Uhr, und es war Sonnabend, Bébert-Tag. Bébert, das war Albert Pérez, 29 Jahre, seit drei Jahren Laborant in Judes Apotheke Le Bocal, Paris, 6. Arrondissement. Der Chef liebt Schüttelreime. Er ist so typisch französisch urwüchsig, dass ich danach immer einen langen Verdauungsspaziergang brauche. Übrigens heißt er tatsächlich Jude.

Ich band meinen schwarzen Schal um, zog meinen grauen Paleton über den braunen Anzug. Coccioli hatte nicht noch mal angerufen, was soll’s. Ich ließ mein Telefon auf den Auftragsdienst umstellen, nahm meinen Aktenkoffer und ging runter. In den Hauseingängen, Cafés und auf den Gehwegen standen die Nutten wie immer auf ihren Posten, Ledershorts, Tennisröckchen, wie mit Kreide aufgemaltes Lächeln, die Autos schossen von der Porte Saint-Martin runter wie losgelassene Gürteltiere und verharrten hier vibrierend Schulter an Schulter in einer blauen Gaswolke. Meinen 2CV ließ ich stehen, es hätte ja sein können, dass Bébert dasselbe Ding wie letzte Woche abzog. Ich ging zur Station Strasbourg-Saint-Denis und nahm die Metro, las über die Schultern meiner Nachbarn hinweg das Wichtigste aus France-Soir, Monde, Parisien Libéré und kam in Saint-Germain-des-Prés wieder ans Tageslicht. Nach France-Soir war die Situation dramatisch, Le Monde zufolge gab sie zu ernsthaften Bedenken Anlass, und laut Parisien forderten die Franzosen ein härteres Durchgreifen. Ich ging den Boulevard Raspail hinunter und schaute vorher noch kurz in einer Spezialbuchhandlung am Boulevard Saint-Germain vorbei, wo ich das Novemberheft von British Chess Magazine kaufte. Das steckte ich in die Innentasche meines Mantels.

Am Ende des Boulevard Raspail nahm ich das bestellte Mietauto in Empfang, einen großen Fiat. Man zeigte mir die Gänge, und ich startete. Es war 18.45 Uhr. An der Station Sèvres Babylone fuhr ich nach rechts, und dann noch einmal rechts durch das Viertel mit Ministerien und alten teuren Wohnhäusern, am Anwesen des verstorbenen Onassis vorbei bis zum Boulevard Saint-Germain. Bei dem Verkehr ging schnell mal eine Viertelstunde drauf. Punkt 19 Uhr stand ich zwischen anderen Wagen in der zweiten Reihe auf der linken Seite des Boulevard Saint-Germain, gegenüber von Judes Apotheke, die gerade Geschäftsschluss hatte.

19.01 Uhr kam Albert Pérez zusammen mit zwei oder drei Laborantinnen aus der Tür, und hinter ihm zog Monsieur Jude das Gitter herunter und verriegelte es von innen. Freund Bébert, ein großer und sehr dunkler hagerer junger Mann mit blauen Augen und Koteletten, ging unterdessen, eine amerikanische Zigarette im Mund, in einer langen Schaffelljacke zum Parkhaus Saint-Germain-des-Prés und verschwand in einem Fußgängereingang.

Als sein Simca, ein Rallye 2, aus dem Parkhaus kam und dieselbe Richtung wie letzten Samstag einschlug, war ich bereits auf der Rue de Rennes. Erst viel weiter hinten, nachdem wir bereits am Gare Montparnasse vorbeigefahren waren, überholte er mich in Höhe der Fleischerei Bigeard am Boulevard Pasteur. Eine halbe Stunde später überquerten wir die Brücke von Saint-Cloud, ich hundert Meter hinter ihm. In der vorigen Woche hatte ich es mit dem 2 CV versucht, aber er hatte mich, wie nicht anders zu erwarten, noch vor der Tunnelausfahrt abgehängt. Diesmal folgte ich ihm unauffällig, bis er die Autobahnabfahrt nach Rouen nahm und von dort aus über eine hügelige Nationalstraße weiter nach Dieppe raste. Geschwindigkeitsbegrenzungen ließ er vollkommen außer Acht. Zweimal meinte ich, er wäre weg, sichtete ihn aber jedes Mal irgendwann wieder.

Als wir in Dieppe ankamen, war es bereits kurz nach zehn Uhr abends, doch unser Freund Pérez schien sich auszukennen, er ging schnurstracks auf eines der wenigen Hotels direkt an der Strandpromenade zu, die auch außerhalb der Saison geöffnet haben, um sich dort einzuquartieren. Ich sah keinen Grund, warum ich das nicht auch tun sollte. Nachdem er mit seinem kleinen Kunststoffkoffer das Etablissement betreten hatte, wartete ich fünf Minuten, dann ging ich mit meinem Köfferchen rein. Als mir der Dicke ohne Krawatte an der Rezeption einen Schlüssel gab und ich mich gerade fragte, wo im Erdgeschoß ich mich möglichst unauffällig mit einem Buch platzieren konnte, um abzuwarten, ob Bébert weggehen würde, da war mein Bébert auch schon wieder unten.

«Guten Abend, Monsieur Pérez!», rief ihm der joviale Mann an der Rezeption zu, als er nach dem Schlüssel schnappte, den Bébert ihm zwischen Daumen und Zeigefinger heraus ostentativ schwungvoll wie ein amerikanischer Filmkomödiant zuwarf. Bébert ging; ich konnte mich nicht sofort an seine Fersen heften.

Nachdem der Dicke mir im Flur schnaufend vorausgegangen war, mir das kalte, feuchte und mit einer beigefarbenen Tapete mit Jagdmotiven im Neo-Puffstil bekleisterte Zimmer gezeigt und seinen Franc Trinkgeld bekommen hatte, nachdem er wieder zur Tür hinaus war und ich diese hinter ihm zugemacht hatte, stürzte ich zum Fenster und riss es auf, doch es war viel zu spät. Besagter Pérez, Albert, war ganz bestimmt schon eine Weile außer Sichtweite, entweder in den Gässchen verschwunden oder auf die ausgedehnte Esplanaden-Promenade abgebogen, die in Dieppe zwischen der Uferstraße und dem Meer liegt und in diesem Flautemonat eher spärlich bis gar nicht beleuchtet war.

Ich konnte Albert Pérez nicht entdecken, aber ganz hinten links an der Esplanade, direkt am Meer, unter dem Felsen, auf dem das Schloss von Dieppe mit seinem Museum, seinen Malereien, maritimen Beutestücken und Elfenbeinschnitzereien steht, dort sah ich eine Art riesigen, mit bunten Lichtern behängten Kiosk, zweifellos das Casino von Dieppe.

Bevor ich mich dorthin begab, duschte ich und genehmigte mir dann am Hafen Muscheln, Fritten und Bier. Albert war bestimmt im Casino. Und vor Mitternacht würde er sich von dort nicht wegbewegen, dachte ich mir.

Kurz nach Mitternacht ging ich über die Promenade, die breite, von einem Geflecht von Verbindungswegen durchbrochene Esplanade, die mit einzelnen Laternen bestückt und so verlassen wie ein Glacis war. Im Dunkeln hörte man das Meer tosen. Ein kalter Nordwind wehte Wasser und Salz über die Stadt und peitschte mir um die Ohren. Ich ging um eine Minigolfanlage herum und gelangte in das Casino. Im Kinosaal, in dem der neuste Bronson lief, waren die Lichter seit einer Weile ausgegangen, doch an den Spieltischen und auf der Tanzfläche waren noch Leute, und zwar jede Menge, und das stand in krassem Gegensatz zu der sibirischen Trostlosigkeit der Esplanade.

Albert Pérez war beim «Chemin de fer». Vor ihm lag ein ansehnlicher Haufen Jetons. Während ich ihn beobachtete, gewann er noch einmal fünfzehntausend Franc vom Bankhalter, einem etwa Vierzigjährigen mit Hakennase und eckigen Brillengläsern, der gerade mit ziemlich ausgeprägtem Akzent, amerikanischem, glaube ich, «Ich gebe» sagte, und missmutig grunzend eine Vier und zwei Dreien auf den Tisch legte. Ebenfalls fünfzehntausend Franc gingen an einen kleinen, kahlgeschorenen Typen am Ende des Tisches. Dann musste ein anderer blechen. Ich blickte nicht ganz durch, weil ich keine Ahnung vom «Chemin de fer» habe. Ich weiß nur, dass Pérez sehr unregelmäßig spielte, mal beträchtliche Summen einsetzte und mal lächerlich kleine, dass er dann kleine Beträge verlor und große Batzen gewann. Wenn die so weitermachten, wären sie noch eine ganze Weile beschäftigt.

Ich ging in den Nachtklub was trinken, wo vier Neger in Dashikis den Söhnen von Fischgroßhändlern und den Töchtern von Kaufleuten zum Tanz aufspielten, während die Eltern zu großen Tischgesellschaften zusammengeschart im Hintergrund des Saals schnatterten. Ich schlürfte in winzigen Schlückchen einen Whisky mit Leitungswasser und dachte darüber nach, was mir die alte Dame heute Nachmittag erzählt hatte.

Ihre Tochter war seit einem Monat verschwunden. Ihre Tochter: Philippine Pigot, während des Krieges unehelich als Halbwaise geboren («Der Mann starb im Krieg, sie hat ihn nicht gekannt», hatte mir Madame Pigot gesagt), unverheiratet und von Geburt an blind. Blond, 1,70°m groß, muskulös, sehr hübsch, den Fotos nach zu urteilen. Sie machte Sport. Schien sich voll ins Leben gestürzt zu haben, trotz ihrer Blindheit. Schwimmen, Reiten (in Begleitung) und sogar Tanzen («Ihr geht es dabei nicht so sehr um das Künstlerische, sondern um Körperdisziplin, verstehen Sie?») Sie hatte eine ordentlich bezahlte Anstellung als Schreibkraft (für Blindenschrift) in einer gewissen Stiftung Stanislas Baudrillart, die sich die Förderung von Blinden zum Ziel gesetzt hatte. Philippine wohnte bei ihrer Mutter, in einem Haus in Mantes-la-Jolie, und nahm an fünf Tagen in der Woche jeweils morgens und abends den Zug, um nach Paris zur Arbeit und wieder zurückzufahren.

Im August hatte sie ihren Urlaub in einem Ferienclub in Griechenland verbracht. Anfang September hatte sie wieder zu arbeiten begonnen, und Ende des Monats war sie verschwunden. An einem Mittwoch war sie wie immer morgens zur Arbeit gefahren, war aber dort nicht angekommen und seitdem nicht wieder gesehen worden. Die Polizei hatte die üblichen Nachforschungen angestellt. Viel herausgekommen war dabei aber nicht, da jeglicher Anhaltspunkt fehlte.

«Hatte sie denn Freunde oder Bekannte in Paris?», hatte ich die Mutter gefragt. «Ich nehme mal an, dass das alles überprüft worden ist, aber …»

«Keine Freunde, nein. Nur Kolleginnen aus dem Büro.»

«Aber von denen mal abgesehen? Einen … einen jungen Mann vielleicht, nein?»

«Nein.»

«Entschuldigen Sie, aber sind Sie sich da auch wirklich ganz sicher?»

«Ich bin ihre Mutter, Monsieur Tarpon.»

«Gut, einverstanden, Madame Pigot, aber trotzdem.»

«Sie hatte einfach keine Zeit dazu, Monsieur. Ihr Tag war genauestens eingeteilt. Sie hat nie … herumgelungert oder so etwas. Kam nie zu spät.»

Was natürlich überhaupt nichts bewies. Im Schwimmbad, beim Tanzen, Reiten, in den Ferien, auf den Fahrten, da sind überall Männer, und Frauen natürlich auch, und immer gibt es Lücken im Zeitplan der Lebenden, doch ich diskutierte nicht weiter mit ihr darüber.

Ich hatte noch massenhaft Fragen gestellt, nicht alle waren übrigens sachdienlich, jedenfalls kam dabei heraus, dass nichts Auffälliges zu bemerken war. Ich konnte lediglich die von der Polizei bereits durchgeführten Routineüberprüfungen noch mal abarbeiten. Ich wollte schon beinahe Cocciolis Rat befolgen und überhaupt nichts machen.

«Und in den Tagen unmittelbar vor ihrem Verschwinden», fragte ich, «war da etwas anders als sonst? War sie vielleicht abends, als sie nach Hause kam, ich weiß nicht, sagen wir, ein bisschen unruhig oder ungewöhnlich ruhig oder irgendwas, ich weiß ja nicht. Oder könnte sie Anrufe erhalten haben?»

«Nein»

«Sind Sie sicher?»

«Absolut.»

2

Ich kam am Sonntagnachmittag nach Paris zurück. Albert Pérez hatte in der Nacht unwahrscheinlich viel Geld gewonnen. Um 10 Uhr morgens, als ich mir gerade in der Hotelbar ein pappiges Croissant und einen modrig schmeckenden Milchkaffee einverleibte, kam der Laborant mit düsterer Miene und schlecht rasiert die Treppe runtergeschossen und verschwand auf der Stelle, mit Kunststoffkoffer, und das war’s dann. Er ließ mir einfach keine Zeit, ihm unauffällig zu folgen. Ich trat etwas später die Rückfahrt nach Paris an, und hielt unterwegs noch kurz für ein bescheidenes Mahl auf Kosten von Monsieur Jude.

In Paris nahm ich die Porte de Clignancourt und sah in der Rue Championnet, in der Albert Pérez wohnt, seinen Simca stehen. Ich gab den Fiat wieder bei der Mietwagenagentur ab und fuhr mit der Metro nach Hause.

Der Auftragsdienst hatte mir alle Anrufe seit dem Vorabend aufgelistet. Zunächst Coccioli, der um Rückruf bat, mir aber keine Nummer hinterlassen hatte. Dann jemand, der weder eine Nachricht noch seinen Namen hinterlassen hatte. Dann Charlotte Malrakis, die mich für nächsten Samstag zu einer Feier bei sich einlud und um eine telefonische Zusage bat. Dann wieder jemand, der weder eine Nachricht noch seinen Namen hinterlassen und am Morgen noch zweimal angerufen hatte. Ich bedankte mich bei der Angestellten und ließ wieder auf meine Nummer umstellen.

Zuerst rief ich Monsieur Jude in seiner Zweitwohnung an und schilderte ihm in groben Zügen mein Wochenende. Er kochte vor Wut am anderen Ende der Leitung und fing an, Albert Pérez mit allen möglichen Ausdrücken zu belegen.

«Ich will, dass dieses kleine Arschloch ins Gefängnis kommt! Der soll begreifen, was los ist! Was mach ich jetzt? Die Polizei benachrichtigen?»

«Nun», seufzte ich, «wenn er gestern Abend verloren hätte, würd ich sagen, tun Sie’s. Ein Typ, der Geld stiehlt und es beim Spiel verliert, lebt ständig in Angst, nicht wahr. Da reicht es schon, dass die Flics ihn mal kurz in die Mangel nehmen, und er fällt um.»

«Ja, ja!» Er schien zufrieden und böse zu sein.

«Doch heute Nacht hat er gewonnen. Er ist euphorisch. Wir haben keine Beweise. Die Chance steht eins zu eins, dass er eben nicht umfällt. Außerdem kann ich nicht mit Sicherheit sagen, dass er es war.» Aus Versehen machte ich ein ekliges Schmatzgeräusch. «Wenn wir andererseits jedoch abwarten, bis er wieder verliert, wird er nicht mehr in der Lage sein, Ihnen Ihr Geld zurückzuerstatten, falls er es …»

«Ach, das Geld ist mir doch scheißegal!», rief Jude. «Machen Sie noch eine Woche weiter und schaffen Sie mir Beweise ran. Ich will, dass er bestraft wird, verstehen Sie?»

«Ich verstehe.»

«Sehen Sie zu, dass Sie das hinkriegen. Machen Sie es wie Maurice Thorez.»

«Wie bitte?»

«Das Ungeziefer wird Ihnen schon auf den Leim gehen», erklärte er äußerst zufrieden und fing schallend an zu lachen.

Ich seufzte.

«Ich werd Sie Ende der Woche wieder anrufen», sagte ich.

«Denken Sie dran.» Er war wieder böse geworden. «Wer mich beklaut, muss ins Gefängnis. Der soll Scheiße fressen.»

«Ich werd dran denken.»

Wir legten auf. Ich fühlte mich deprimiert. Bevor ich Privatermittler wurde, war ich Gendarm. Nicht der gute Gendarm, der Ihnen von Geschwindigkeitsüberschreitungen abrät, der entlaufene Bälger wiederfindet und Streitigkeiten zwischen Betrunkenen schlichtet, nein. Ich war bei der kasernierten Bereitschaftspolizei, das heißt, dass ich die meiste Zeit damit verbrachte, in Mannschaftsbussen zu warten, aus denen man nicht aussteigen durfte, obwohl man dringend pinkeln musste, und dann trieben wir hin und wieder Arbeiterdemos auseinander. Ich habe einen Mann getötet. Und bin gegangen. Mittlerweile haben die Kameraden neue Mannschaftsbusse, mit eingebauten Klos. Aber selbst mit eingebauten Klos würde ich es da nicht mehr aushalten.

Ich wurde dann Ermittler, ich glaube, teilweise, um Gutes zu tun, wie man mir im Religionsunterricht und bei den Pfadfinder-Wölflingen beigebracht hatte. Und wo fand ich mich wieder? Unter den Ärmsten der Armen. Ich jagte bedauernswerte idiotische Penner, um zu verhindern, dass sie Besitzende wie Monsieur Jude um ihren Besitz brachten. Während Drogenhändler in der Nationalversammlung und sonst wo saßen. Und was konnte ich dagegen tun?

Mit einem Wort, ich fühlte mich halt deprimiert.

Das Telefon klingelte. Ich nahm ab.

«Detektei Tarpon.»

«Eugène Tarpon?»

«Wer will das wissen?»

«Das sag ich Ihnen noch. Sind Sie in der nächsten Stunde da? Ich komm bei Ihnen vorbei.»

«Heute ist Sonntag», bemerkte ich.

«Ich muss Sie dringend sprechen.»

«Gut. Ich erwarte Sie.» Im Grunde genommen hatte ich ja nichts vor an meinem Sonntag, dem kümmerlichen Rest davon.

Der Mann – barsche Stimme, jugendlich, nicht sehr distinguiert, herrisch, unsympathisch – hängte ein. Ich packte mein Gepäck aus, das heißt, ich öffnete mein Köfferchen und räumte meinen Schlafanzug und meine Zahnbürste weg. Ich holte das British Chess Magazine und setzte mich wieder an den Schreibtisch. Aus einer Schublade nahm ich mir mein Miniaturschach und mein Harrap’s Wörterbuch. Ich begann, eine Partie zu rekonstruieren, die Lhamsuren Magmasuren und Tudev Ujtumen vor drei oder vier Monaten (als Philippine Pigot in Griechenland war) in Ulan Bator während der Mongolischen Spartakiade gegeneinander ausgetragen hatten. Ich drücke mich hoffentlich verständlich aus. Jedenfalls gewann Ujtumen in achtundzwanzig Zügen. Um den Kommentar zu verstehen, sah ich die Wörter im Harrap’s nach. Das Gute am Schach ist, dass ich Englisch dabei lerne, und mit einer Fremdsprache schlägt man sich besser durchs Leben.

Als ich die Partie nachgespielt und die Figuren samt Bauern gerade wieder eingeräumt hatte, klingelte es an der Tür. Ich legte das Schach und das Wörterbuch in die Schublade zurück und ging aufmachen.

Er kam rein, so, wie ich es in etwa erwartet hatte, das Kinn hoch erhoben, die Arme angelegt, eine halbe Drehung des Oberkörpers, und hopp und bumm, die Schulter vor, und alles, was ihm im Weg war, hatte dem harten Burschen nur noch auszuweichen. Aber ich hatte meine Tür nur etwa in einem Vierziggradwinkel geöffnet und wie zufällig meinen Fuß als Stopper dahintergesetzt, sodass der Typ sich die Schulter am Türrahmen stieß und seitlich mit der Fresse dumm gegen die Tür schlug.

«Sie haben sich doch nicht etwa weh getan?», fragte ich.

Er schniefte.

«Tarpon?»

«Waren Sie der Anrufer von eben, der seinen Namen nicht genannt hat?»

Er legte abermals den Vorwärtsgang ein, und wir knallten beinahe mit der Stirn aneinander, weil ich nicht von der Stelle wich. Es kostete ihn zwar einige Selbstüberwindung, doch dann meinte er lobenswerterweise:

«Charles Pradier. Es ist wegen Philippine Pigot. Kann ich reinkommen, ja?»

Ich nickte und trat zur Seite. Wir gingen durch das Vorzimmer – mit dem blauen Bettsofa, dem runden Tischchen und dem Zeitungsständer unverkennbar mein Privatzimmer – und nahmen in dem anderen Raum Platz, meinem Büro. Ich habe noch eine Küche, mehr nicht. Das Klo ist auf dem Treppenflur, städtische Dusch- und Baderäume gibt es in der Rue des Ecluses-Saint-Martin, falls Sie das interessiert.

Charles Pradier war ein großer hagerer Bursche, dunkler Typ mit blauen Augen, dichtem Haar und Koteletten. Er sah ein bisschen wie Albert Pérez aus. Beigefarbener Lodenmantel über einem Seidenanzug. Der Stoff hatte was Pfiffiges, er war eigentlich grauschwarz, schillerte aber mitunter purpurrot. Nachts und bei einer bestimmten Beleuchtung musste er gewissermaßen phosphoreszieren. Vom Feinsten. Sehr breite Krawatte mit Arabesken auf perlgrauem Hemd. Eine goldene Anstecknadel unterhalb des Brustbeins hielt seine Krawatte, außerdem trug er einen goldenen Siegelring mit einem Freimaurerzeichen. Mahagonifarbene englische Schuhe. Aus einem goldenen Etui zog er eine helle Zigarette, steckte sie in eine silbergefasste Dunhill-Zigarettenspitze und zündete sie mit einem Laurimette-Feuerzeug an, einem Werbegeschenk von Mazda-Scheinwerfer. Ich wartete geduldig.

«Nun», meinte ich schließlich, «Sie kommen wegen Philippine Pigot?»

«Sie ist nicht verschwunden. Sie ist von zu Hause abgehauen.»

«Wer behauptet denn, dass sie verschwunden ist?»

«Was?», sagte er und streckte den Kopf vor. «Ach! Ja! Ich verstehe! Sie meinen, wie wir erfahren haben, dass die Alte sich an Sie gewandt hat. Von der Polizei, mein Lieber.»

«Ach so. Die Polizei ist im Bilde.»

«Wie, im Bild?» Wieder Kopf vor, Hals gestreckt. «Nein! Überhaupt nicht! Aber mein Kumpel hat denen geschrieben. Warten Sie, ich erklär’s Ihnen. Philippine Pigot ist mit meinem Kumpel abgehauen.»

«Ihrem Kumpel?»