Fatal - Jean-Patrick Manchette - E-Book

Fatal E-Book

Jean-Patrick Manchette

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Beschreibung

Aimée ist Killerin und zieht von Stadt zu Stadt. Jetzt ist sie in Bléville, einer kleinen Provinzstadt schein-barer Wohlanständigkeit. Als ein örtlicher Skandal droht, den es zu vertuschen gilt, bietet Aimée den Honoratioren ihre Dienste an. «Es gibt immer irgendeinen oder irgendeine, die ein anderes doofes Arschloch umbringen möchte. Der Gedanke zu töten darf dem Kunden nicht mehr aus dem Kopf gehen. Zuletzt bietet man seine Dienste an, möglichst in einer Krisensituation. Ich sage ihnen nicht, dass ich ein Killer bin. Ich bin eine Frau ...»

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DistelLiteraturVerlag

Jean-Patrick Manchette, geboren 1942 in Marseille, liebte Jazz, Kino und Literatur. Er radikalisierte den europäischen Roman noir und gilt als Begründer des neueren sozialkritischen französischen Kriminalromans, des sogenannten Néopolar.

Manchette arbeitete als Drehbuchautor und veröffentlichte neben Theaterstücken und zahlreichen Essays auch zehn Kriminalromane, die ihn zur Kultfigur machten, und von denen die meisten verfilmt wurden, so Nada (1973) von Claude Chabrol; Tödliche Luftschlösser (Folle à tuer, 1975) von Yves Boisset, mit Marlène Jobert; Westküstenblues (Trois hommes à abattre, 1980) von Jacques Deray, mit Alain Delon; Knüppeldick (Pour la peau d’un flic, 1981) von und mit Alain Delon; Position: Anschlag liegend (Le choc, 1982) von Robin Davis, mit Catherine Deneuve und Alain Delon; Volles Leichenhaus (Polar, 1983) von Jacques Bral; Position: Anschlag liegend wurde 2015 unter dem Titel The Gunman neu verfilmt von Pierre Morel mit dem zweimaligen Oscar-Preisträger Sean Penn.

Alle Kriminalromane sowie die gesammelten Essays zum Roman noir in den «Chroniques» sind auf Deutsch im DistelLiteraturVerlag erschienen.

Jean-Patrick Manchette starb 1995 im Alter von 52 Jahren in Paris. Er wurde zur Leitfigur für eine neue Generation von Krimiautoren in Frankreich

Jean-Patrick Manchette

Fatal

Aus dem Französischen von Christina Mansfeld

DistelLiteraturVerlag

Deutsche Ausgabe Zweite Auflage 2007, 2015 Copyright © 2001, 2007, 2015 by Distel Literaturverlag Sonnengasse 11, 74072 Heilbronn Die Originalausgabe erschien 1977 unter dem Titel «Fatale» bei Éditions Gallimard (Paris) Copyright © Éditions Gallimard 1977 Umschlagentwurf: Jürgen Knauer, Heilbronn, ISBN 978-3-923208-81-4 (Print) ISBN 978-3-923208-94-4 (E-Book)

À ma bien-aimée

1

Die Jäger waren zu sechst. Es waren vorwiegend Männer um die fünfzig oder älter, und dann noch zwei junge mit spöttischem Gesichtsausdruck. Sie trugen karierte Hemden, Lammfellwesten, wasserdichte khakifarbene Überzieher-Jacken, mehr oder weniger hohe Schaftstiefel und Schirmmützen. Einer der beiden jungen Typen war hager, und einer der Fünfzigjährigen, ein Apotheker mit Brille, weißem Haar und Bürstenschnitt, war ziemlich schlank. Die übrigen Jäger waren dickbäuchig und sanguinisch, vor allem Roucart. Sie hatten doppel- und dreiläufige, mit feinem Schrot geladene Flinten, denn man jagte Federwild. Sie führten drei Hunde mit, zwei Bracken und einen Gordon Setter. Irgendwo nordöstlich mussten noch andere Jäger sein, denn ein oder anderthalb Kilometer entfernt fiel ein Schuss, dann ein zweiter.

Die Männer hatten das Ende des feuchten Heidegebiets erreicht. Sie gingen etwa zehn Meter weit an jungen, kaum mannshohen Birken vorbei, gleich danach befanden sie sich inmitten von hohen, leise rauschenden Bäumen – vor allem Birken und Pappeln – und Unterholz. Die Gruppe rückte etwas auseinander. Überall waren Wasserlachen. Aus nordöstlicher Richtung war von fern wieder das dumpfe Geknalle von vier oder fünf Gewehrschüssen zu hören. Etwas später ging man bewusst auseinander. Seit drei Stunden waren sie auf der Jagd und hatten noch nichts erlegt. Sie waren frustriert und übellaunig.

Irgendwann stieg Roucart in eine enge, feuchte Schlucht hinunter, in der viel verrottetes Laub lag. Er hatte einige Mühe beim Hinuntersteigen, weil ihn sein Wanst nach unten zog: er musste mit den Hacken abbremsen und den Kopf dabei nach hinten werfen. Sein Kopf hatte die Form einer Birne, nach oben hin schmäler werdend, sein kahler, roter Schädel war mit einer grünbraun gescheckten Mütze bedeckt, wie sie von Spezialeinheiten getragen wird. Roucart hatte ein gerötetes Gesicht, strahlend blaue Augen, weiße Augenbrauen, eine kurze Stupsnase mit großen Nasenlöchern und weißen Haaren darin. In der Sohle der Schlucht machte er halt, um zu verschnaufen. Er stellte seine Flinte gegen einen Baumstamm, an den er sich mit dem Rücken anlehnte. Mechanisch tastete er in seiner Brusttasche nach einer Zigarette, dann fiel ihm ein, dass er vor drei Wochen mit dem Rauchen aufgehört hatte, und ließ die Hand wieder sinken. Er war enttäuscht. Plötzlich krachte weniger als hundert Meter entfernt ein Gewehrschuss, gleich danach bellte ein schlecht abgerichteter Hund kurz auf. Roucart hatte keinen Hund. Ohne seinen dicken Hintern von dem Baum zu lösen, streckte er seinen Oberkörper vor und lauschte aufmerksam, mit halboffenem Mund in die Richtung, aus der der Knall gekommen war. Doch er hörte nur das Rauschen der Blätter, und dann, dass hinter ihm jemand in die Schlucht gekommen war. Mit großer Mühe drehte er den Kopf und sah die junge Frau, die vier Schritte von ihm entfernt regungslos unten am Hang stand. Sie war zierlich, trug einen langen, hellbraunen Wachstuchmantel, Pataugas-Stiefel und einen runden Regenhut auf dem langen braunen Haar. Über ihrer Schulter hing eine Flinte Kaliber 16.

«Donnerwetter, wen haben wir denn da? Das ist doch Melanie Horst!» rief Roucart, nahm hastig seinen Hintern vom Baum und zog den Bauch ein. «Das ist aber eine Überraschung! Wie ist das möglich? Ich dachte, Sie hätten uns für immer verlassen, mein liebes Kind…»

Sie lächelte flüchtig. Sie mochte etwa dreißig oder fünfunddreißig Jahre alt sein und hatte braune Augen und feine Gesichtszüge. Durch ihr flüchtiges Lächeln waren ihre kleinen, regelmäßigen Zähne nur ein wenig zu sehen. Roucart ging auf sie zu und nannte die junge Frau mit väterlicher Stimme sein liebes Kind, während seine großen blauen Augen unablässig über die Konturen ihres schlanken Körpers schweiften. Er war äußerst erstaunt, sie hier zu treffen, wo sie doch nie auf die Jagd ging und sich zudem gestern Nachmittag von allen verabschiedet hatte und mit dem Taxi zum Bahnhof gefahren war.

«Ist das eine Überraschung, so eine Überraschung aber auch!» rief er aus, und sie nahm die 16er-Flinte in die Hand, richtete sie auf ihn, und noch ehe er aufgehört hatte zu lächeln, Schoss sie ihm aus beiden Läufen die volle Ladung in den Bauch.

Dann lag er auf dem Rücken im verrotteten Laub am Abhang. Sein Rumpf war durchlöchert, seine khakifarbene Jacke war durch den Sturz bis zum Kinn hochgerutscht und sein kariertes Hemd hing ihm halb aus der Hose. Roucarts kahler Kopf war nach vorn gekippt und zur Seite gedreht, die Wange lag im Dreck, Augen und Mund standen offen, seine Mütze lag verkehrt herum auf dem Boden. Speichel glänzte im Mund des Mannes, seine Lider zuckten kurz, dann starb er. In der Ferne waren ganz schwach drei harmlose Schüsse zu hören. Die junge Frau ging weg.

2

Es war Nacht, als sie den Bahnhof betrat. Sie hatte ihren reversiblen Wachstuchmantel gewendet und trug nun die hellbraune Seite nach innen, die weiße nach außen. Um ihr braunes Haar hatte sie ein rotes Tuch gebunden, das Gestell ihrer großen Brille war schwarzweiß kariert. Den Mund hatte sich die junge Frau jetzt scharlachrot geschminkt. Im Bahnhof waren nur wenige Leute. Eine arabische Familie mit drei Kindern wartete auf einer Bank und schälte Orangen. Bahnarbeiter mit Ölkännchen an der Seite kamen vorbei. Die junge Frau ging zu den Gepäckschließfächern. An einem Ende der Fächerreihe öffnete sie eine Tür und zog ein flaches schwarzes Köfferchen und eine große Ledertasche heraus. Dann begab sie sich zum anderen Ende der Reihe und öffnete ein anderes Fach. Darin lag eine grüne Aktenmappe aus Kunstleder, deren Reißverschluss über drei Seiten lief. Die Frau zog ihn etwa zwanzig Zentimeter weit auf und warf einen kurzen Blick in die Mappe. Sie war ausgebeult und verzogen, weil so viel hineingestopft worden war. Sie hob den Kopf und machte die Aktenmappe wieder zu. Mit ihren drei Gepäckstücken setzte sie sich in eine Ecke der Halle und rauchte zwei Celtique.

Nach etwa zehn oder zwölf Minuten fuhr ein königsblauer Zug der Luxusklasse in den Bahnhof ein. Da war die junge Frau schon auf dem Weg zur Unterführung. Als der Zug hielt, trat sie hinaus auf den Bahnsteig. Sie ging etwa fünfzig Meter am Zug entlang und prüfte dabei die Wagennummern. Sie fand ihren Schlafwagen. Ein Angestellter der Bahn empfing sie auf dem Bahnsteig, nahm ihren Fahrschein, die Tasche und den flachen Koffer. Sie hatte die pralle Aktenmappe unter den linken Arm geklemmt und hielt sie gleichzeitig noch mit der rechten Hand vorn fest, während sie in den Wagen einstieg und zu ihrem Einzelabteil ging. Der Angestellte der Bahn verstaute das Gepäck. Er sagte der jungen Frau, man wäre morgen früh um acht Uhr in Bléville und fragte, wann sie geweckt werden wolle. Um sieben Uhr, sagte sie. Lächelnd fragte sie den Mann, ob es ihm möglich wäre, die Vorschrift zu umgehen und ihr ein Essen ins Abteil zu bringen, und zählte auf, was es sein sollte. Der Angestellte sagte zunächst nein, konnte dann aber ihrem bezaubernden Lächeln und dem einmal gefalteten 50-Franc-Schein, den sie ihm zwischen zwei Fingern hinhielt, nicht widerstehen. Sie ließ dabei die Aktenmappe, die sie auf der bereits zum Schlafen hergerichteten Liege abgestellt hatte, so gut wie nicht aus den Augen.

Als der Angestellte eine ganze Weile später mit den bestellten Sachen zurückkam, brannte nur noch die Leselampe, und die junge Frau war fast nackt. Sie trug ein tief in der Stirn verknotetes Handtuch wie einen Turban auf dem Kopf, und um den Körper hatte sie sich unterhalb der Achseln ein anderes ziemlich großes Handtuch gewickelt, das wie das Tuch einer Afrikanerin Arme und Schultern freiließ und ihr bis zu den Knöcheln reichte. Der Bedienstete stellte das Essen auf das Tischchen, entkorkte dann eine der beiden Champagnerflaschen, setzte die beiden versilberten Kübel auf den Boden und sagte, dass sie ihn am besten rufen solle, wenn sie das Bedürfnis danach verspüre, auch die andere zu entkorken. Nachdem die junge Frau ihre Mahlzeit mit Scheinen aus ihrer schwarzen Boxcalfbrieftasche bezahlt hatte, zog er sich schließlich schnell zurück.

Seit etwa fünfzehn Minuten fuhr der Zug wieder und erreichte oft eine Geschwindigkeit von fast hundertachtzig Stundenkilometern. Nachdem der Angestellte gegangen war, schaltete die junge Frau wieder alle Lichter des Abteils an. Sie nahm das Handtuch vom Kopf und ihre nassen, gelb- und schwarzgefleckten Haare kamen zum Vorschein. Das kleine Handtuch war voller schwarzer Farbe. Über dem Waschbecken wusch sich die junge Frau das restliche Schwarz aus dem Haar. Aus der großen Reisetasche nahm sie einen kleinen Fön. Zuvor hatte sie einen batteriebetriebenen amerikanischen Apparat mit zwanzig aufgesteckten heizbaren amerikanischen Lockenwicklern auf den Boden gestellt. Sie steckte den Stecker des Föns in die Steckdose am Waschbecken und trocknete ihre Haare. Durch eine umkehrbare chemische Reaktion wurde die rote Mittelachse der heizbaren Lockenwickler schwarz, ein Zeichen dafür, dass sie die richtige Gebrauchstemperatur erreicht hatten. Die blonde junge Frau nahm das große Handtuch ab, um sich besser bewegen zu können. Sie drehte sich die zwanzig Lockenwickler ins Haar. Dann zog sie den Rand des heruntergelassenen Fenstervorhangs ein wenig zur Seite. Schemenhaft sah sie die Nacht vorbeiziehen und in der Nacht tiefschwarze Gebilde, das waren Baumgruppen oder Gebäude. Hier und da waren Lichter in der Ferne zu sehen. Manchmal huschte ganz nah ein beleuchtetes Fenster vorbei. Sie ließ den Vorhang los und setzte sich an das Tischchen. Mit ausgestrecktem Arm griff sie nach der Aktenmappe, legte sie auf ihre Knie und machte sie ganz auf. Sorgfältig zählte sie die Fünfhundert- und Hundert-Franc-Scheine, die sich darin befanden. Manchmal fiel ihr einer auf den Boden, dann beugte sie sich vor, und ihre Brustwarzen rieben an dem Geld auf ihren Knien, während sie den hinuntergefallenen Schein aufhob. Insgesamt waren etwa 25000 oder 30000 Franc in der Mappe; die junge Frau packte die Geldscheine zurück und Schloss die Aktenmappe wieder. Sie stellte sie an der Wand auf den Boden.

Dann nahm sie den Deckel von der Warmhalteplatte ab, und das garnierte Sauerkraut kam zum Vorschein. Die junge Frau begann, Kraut, Wurst und Schweinebauch in sich hineinzustopfen. Sie kaute große Happen, schnell und geräuschvoll. Saft lief ihr aus den Mundwinkeln. Zuweilen rutschte ihr etwas Sauerkraut von der Gabel oder aus dem Mund, fiel hinunter oder blieb an ihrer Unterlippe oder am Kinn hängen. Während des Kauens waren die Zähne der jungen Frau zu sehen, denn ihre Lippen öffneten sich breit. Sie trank Champagner. Die erste Flasche war schnell leer. Als sie die zweite entkorkte, stach sie sich mit dem Draht in den Daumenballen, und es sickerte ein wenig scharlachrotes Blut heraus. Sie gluckste, denn sie war schon betrunken, sie lutschte an ihrem Daumen und schluckte das Blut hinunter.

Sie aß und trank weiter und geriet immer mehr außer sich. Sie beugte sich kauend vor, öffnete die Aktenmappe, griff sich mit beiden Händen Geldscheine und rieb sie an ihrem verschwitzten Bauch und an ihrer Brust, ihren Achseln, ihrem Geschlecht und in den Kniekehlen. Tränen rannen über ihre Wangen, während sie gleichzeitig lautlos lachte und weiterkaute. Sie beugte den Kopf, um an dem lauwarmen Sauerkraut zu riechen, rieb die Geldscheine an ihren Lippen und Zähnen, hob das Champagnerglas hoch und tauchte ihre Nasenspitze in den Champagner. In dem Luxusabteil des Luxuszuges hatte sie nun alles gleichzeitig in der Nase: den luxuriösen Duft von Champagner, den schmutzigen Geruch der schmutzigen Scheine und die schmutzige Ausdünstung des Sauerkrauts, das wie Pisse oder Sperma roch.

Bei der Ankunft um acht Uhr in Bléville hatte sie jedoch ihre gewohnte Selbstbeherrschung völlig wiedererlangt.

3

Als die junge Frau in Bléville aus dem Zug stieg, war sie blond und hatte Ringellöckchen. Sie trug rehbraune hohe Lederstiefel mit sehr hohen Absätzen, einen braunen Tweedrock, eine beigefarbene Seidenbluse und einen geradegeschnittenen Dreiviertelmantel aus rehbraunem Leder. An der rechten Hand hatte sie zwei alte Ringe mit ziemlich wertlosen Steinen in Fassungen aus angelaufenem Silber, an der linken Hand einen Ehering aus Weißgold, am linken Handgelenk eine kleine viereckige Cartier mit Lederarmband. Sie rief einen Kofferträger und gab ihm ihre große Reisetasche und ihren kleinen flachen Koffer. Die grüne Aktenmappe hatte sie nicht mehr, aber eine große Tasche aus breiten geflochtenen beigefarbenen und dunkelbraunen Lederstreifen. Als sie durch die Bahnhofshalle ging, sah sie zu den Gepäckschließfächern. Es waren ziemlich viele.

Vor dem Bahnhof gab die junge Frau dem Träger zwei Franc und stieg in ein Taxi, einen Peugeot 403. Sie ließ sich zur «Résidence des Goélands» fahren. Auf der Fahrt fror sie und drehte das Fenster auf ihrer Seite hoch, denn der vom Meer her wehende Wind war kalt und feucht.

Für ihren Aufenthalt in Bléville hatte sie sich den Namen Aimée Joubert ausgesucht, und so werde ich sie von jetzt an auch nennen. In der «Résidence des Goélands» war eine Reservierung für Aimée Joubert vorgemerkt. Das junge Mädchen an der Rezeption, fast noch ein Kind, im schwierigen Alter mit Akne und nachdenklichen, boshaften Augen, sah in einem Verzeichnis nach, gab dann Aimée die Schlüssel und nannte ihr die Etage und die Nummer des Appartements.

«Sehen Sie, es sind zwei Schlüssel», sagte sie und zeigte sie Aimée. «Der hier ist für die Eingangstür. Die ist ab zehn Uhr abends zugeschlossen. Wir bitten unsere Mieter, nach zehn Uhr abends möglichst keinen Krach zu machen. Außerhalb der Saison haben wir nämlich vor allem ältere Leute, die wollen ihre Ruhe.»

«Sehr gut, ja», sagte Aimée. «Ich will auch meine Ruhe.»

Das junge Mädchen begleitete sie nicht. Aimée trug ihr Gepäck bis an das hintere Ende der Halle, nahm den Fahrstuhl und ging zu ihrem Appartement in der dritten Etage. Ein ziemlich hübsches, etwa zwanzig Quadratmeter großes Zimmer, dazu ein breiter Balkon und eine Kochnische. Eine Art Falttür trennte die Küche vom eigentlichen Appartement. Es gab auch noch ein enges Badezimmer mit einer langen Badewanne und spinatgrünen Terrakottafliesen an den Wänden. Im Appartement standen ein Doppelbett mit einer Tagesdecke in leuchtendrot gehaltenem Schottenkaro, ein Nachttischchen mit Telefon, ein Teakholz-Einbauschrank, zwei blaue Samtsessel, ein Teakholz-Schreibtisch mit Kupfergriffen an den sechs großen Schubfächern und ein Teakholz-Stuhl. Die Wände waren weiß, der Teppichboden anthrazitfarben. An drei Wänden hingen jeweils in der Mitte englische Drucke von britischen Linienschiffen aus dem 18. Jahrhundert. An dem großen Glasfenster, das die gesamte Front des Zimmers einnahm, stand ein kleiner Ducretet-Thomson-Fernseher in der Ecke auf dem Boden, auf dem breiten Balkon zwei Gartenstühle und ein runder Gartentisch aus weißgestrichenem Gusseisen. Vom Balkon aus sah man auf die Promenade, eine Esplanade mit gelb gewordenem Rasen, durch die eine schmutzig rosa Straße führte, und man sah auf das stürmische, graugrüne Meer. Alles in allem ganz annehmbar.

Aimée packte aus und räumte die Kleidung und die anderen Sachen in den Schrank, auch den Apparat zum Anfertigen von Schlüsseln, das Gerät zum Kräftigen der Handmuskeln und die Expander. Es hatte alles genügend Platz im Kleiderschrank. Die junge Frau ließ sich ein Bad ein. Während das Wasser lief, schaltete sie den Fernseher an, doch es wurde nichts gesendet. Sie schaltete das Gerät wieder aus und nahm sich einen Reiseführer Bléville und Umgebung und eine durchsichtige Plastik-Rüschenhaube mit Streublumenmuster. Sie zog die Haube über ihr Haar und setzte sich mit dem Buch in die Wanne. Sie schlug das Buch irgendwo auf und las folgendes: … ein Wal, was in dieser chiliastischen Zeit als ein Vorzeichen für den Weltuntergang galt. (Aimée bewegte beim Lesen leicht die Lippen. Sie übersprang mehrere Zeilen im Text. Übrigens kannte sie das Buch schon seit einiger Zeit.)