Kohärenz, Phasenharmonisierung und Praxisschock in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung - Tobias Koch - E-Book

Kohärenz, Phasenharmonisierung und Praxisschock in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung E-Book

Tobias Koch

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Beschreibung

Die Lehrerinnen- und Lehrerbildung in Deutschland zeichnet sich durch ihre mehrphasige Organisationsstruktur aus, welche aus der universitären Studienphase, dem Vorbereitungsdienst und der berufslebenslangen Fort- und Weiterbildung besteht. Bei den Transitionen zwischen den einzelnen Phasen kann es zu Problemen und Spannungen kommen. So herrscht bereits seit der Mitte der 1970er Jahre ein Diskurs über das Auftreten eines Praxisschocks beim Übergang von der ersten universitären Phase in die zweite schulpraktische Phase. Im Rahmen der Forschung zum Praxissemester und anderen Formen verlängerter Praxisaufenthalte während des Lehramtsstudiums werden die Harmonisierung zwischen erster und zweiter Phase sowie die Vorbeugung des Praxisschocks immer wieder als Potenzial genannt. Jedoch konnte eine derartige Wirkung bislang empirisch nicht bestätigt werden. In der vorliegenden Interviewstudie werden Referendarinnen und Referendare mit und ohne Praxissemester im Lehramtsstudium nach ihrem Belastungserleben im Vorbereitungsdienst befragt. Die Auswertung erfolgt mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse durch deduktive und induktive Kategorienbildung. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass insbesondere das Kennenlernen der Zentren für schulpraktische Lehrerinnen- und Lehrerbildung sowie des Arbeitsplatzes Schule im Praxissemester zu einer geringeren Belastung zu Beginn des Vorbereitungsdienstes und somit zu einer Phasenharmonisierung beim Übergang zwischen der ersten und zweiten Phase führen kann. Aufgrund fehlender Trennschärfe beim individuellen Belastungserleben können allgemeingültige Aussagen zum Praxisschock nur eingeschränkt getroffen werden. Konklusiv wird daher eine stärkere Trennung dieser Bereiche im wissenschaftlichen Diskurs vorgeschlagen.

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Vorwort zur Reihe

Impulse sind Antriebe, Anstöße und Anregungen. Als Denkanstöße sind sie im hochschulischen (Arbeits)Alltag auf vielfältige Weise Ausgangspunkt und zugleich Gegenstand von Wissenschaft. Daraus resultierende Forschungsvorhaben sind zumeist vorerst exklusiv Wissenschaftler*innen vorbehalten.

Leider viel zu selten – hier sei aus der Perspektive der Erziehungswissenschaft gesprochen – wird die Lehre als Forschungsraum verstanden. Gemeint ist damit keineswegs, dass die Studierenden in den Lehrveranstaltungen zu Probanden von Studien werden oder diese evaluieren. Intendiert sind ebenfalls keine Praxisseminare, die z. B. im Rahmen von Lehr-Lern-Laboren den Professionalisierungsprozess von Lehramtsstudierenden forcieren und deren Selbstwirksamkeitsüberzeugungen steigern wollen. Ohne Zweifel haben die skizzierten Settings alle ihre Berechtigung, verbinden die für die Hochschulen elementaren Sphären der Forschung und Lehre jedoch nicht ganzheitlich, weil die Forschung als Prozess nicht im Seminarkonzept inhärent ist, sondern zum spezifischen Inhalt (z. B. Publikationen) wird oder als Additum angesehen werden muss. Dazu konträr stehen jene Lehrformate, in denen Forschung und Lehre verschmelzen und die Studierenden zu Forschenden werden. Ohne Frage muss der Gehalt studentischer Forschung anders bewertet werden als wissenschaftliche Forschung. Studierende sind Forschungsnovizen, die das Forschen erlernen müssen. Dennoch können aus studentischer Forschung Impulse hervorgehen. Für Dozierende ist die hochschuldidaktische Gestaltung von „Forschungsseminaren“ eine polyvalente Herausforderung, gilt es doch eine wissenschaftstheoretische und methodologische Basis zu schaffen und die (Forschungs)Interessen aller Teilnehmenden zu berücksichtigen. Das Anliegen stößt zudem nicht selten auf administrative Hürden, da solche Formate nicht immer mit Studienordnungen kompatibel sind. Studentische Abschlussarbeiten – in Zeiten der Internationalisierung des Studiums vor allem Bachelor- und Masterarbeiten – haben das Potential, ausgehend von den Interessen der Studierenden zu kleinen Forschungsvorhaben zu werden. Die Studierenden bearbeiten über einen Zeitraum von mehreren Monaten selbstständig eine Fragestellung und erschließen sich Forschungsmethoden und Diskurse mit dem Ziel, ihre Ergebnisse in einen Kontext zu stellen. Dabei behandeln sie Themen, die für wissenschaftliche Forschung zu partikular sind. Nicht selten wird mit ihnen neues Wissen generiert, aus dem sich wiederum Möglichkeiten für sich anschließende wissenschaftliche Forschung ergeben können oder die Abschlussarbeiten sind bereits die Weiterentwicklung eines vorausgegangenen Studienprojektes aus dem Praxissemester. Die Reihe Erziehungswissenschaftliche Impulse setzt es sich zum Ziel, exzeptioneller studentischer Forschung ein Forum zu bieten. Anker sind neben der Bedeutung des Gegenstandes und der gewählten Herangehensweise auch Anerkennung und Wertschätzung der Leistung. Dabei sollen die veröffentlichten Arbeiten auch als Impuls, das heißt als Anregung verstanden werden, die erwähnten partikularen Themen aufzugreifen und weitere Forschung (vor-)anzutreiben.

Münster, im November 2020

Patrick Gollub

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Einleitung

Theoretische Verortung

2.1 Professionalität und Professionalisierung

2.2 Lehrerinnen- und Lehrerbildung in Nordrhein-Westfalen

2.2.1 Mehrphasige Struktur

2.2.2 Entwicklung seit dem Jahr 2000

2.2.3 Das Praxissemester

2.2.4 Der Vorbereitungsdienst

2.3 Belastung und Beanspruchung im Vorbereitungsdienst

2.3.1 Das Transaktionale Stressmodell

2.3.2 Burnout

2.3.3 Bewältigungsstrategien (Coping)

2.4 Forschungsstand

2.4.1 Entwicklung der Forschung zum Praxisschock

2.4.2 Aktuelle Forschung zum Praxisschock

2.5 Forschungsfrage und Hypothesen

Methodik

3.1 Erhebungsmethode qualitatives Experteninterview

3.2 Stichprobe

3.3 Auswertungsmethode qualitative Inhaltsanalyse

3.3.1 Zum Umgang mit qualitativen Daten

3.3.2 Qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz

Ergebnisse

4.1 Kategorienbasierte Ergebnisdarstellung

4.2 Ergebnisinterpretation

Diskussion

5.1 Erkenntnisgewinn

5.2 Gütekriterien

5.3 Einschränkungen

5.4 Ableitung von Desiderata

Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

8.1 Interviewleitfaden

8.2. Kategorienhandbuch

8.3 Kodierübersichten

8.3.1 Kodierübersicht Hauptkategorie ,,Praxisaufenthalte‘‘

8.3.2 Kodierübersicht Hauptkategorie ,,Praxisschock‘‘

8.3.3 Kodierübersicht Hauptkategorie ,,(Bewältigungs-) Ressourcen‘‘

8.3.4 Kodierübersicht Hauptkategorie ,,Sonstiges‘‘

8.3.5 Kodierhäufigkeiten Hauptkategorie ,,Praxisaufenthalte‘‘

8.3.6 Kodierhäufigkeiten Hauptkategorie ,,Praxisschock‘‘

8.3.7 Kodierhäufigkeiten Hauptkategorie ,,(Bewältigungs-) Ressourcen‘‘

8.3.8 Kodierhäufigkeiten Hauptkategorie ,,Sonstiges‘‘

8.4 Persönlichkeitsmerkmale der Befragten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Übergangsarten beim Übergang von der 1. zur 2. Phase. Modifikation nach Rath (2011).

Abbildung 2: Modell professioneller Handlungskompetenz (Baumert & Kunter, 2006).

Abbildung 3: Stufenmodell nach Fuller & Bown (1975) in Messner & Reusser (2000).

Abbildung 4: Phasen der Kompetenzentwicklung (aus Keller-Schneider, 2010).

Abbildung 5: Phasen der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung in

Nordrhein-Westfalen.

Abbildung 6: Handlungsfelder im Vorbereitungsdienst (MSW, 2016c).

Abbildung 7: Absolute Häufigkeit von Publikationen in der psychologischen Literaturdatenbank PsychInfo (Rothland, 2013).

Abbildung 8: Praxisschock im transaktionalen Stressmodell. Eigene Darstellung nach Lazarus (1966) bzw. Lazarus & Launier (1981).

Abbildung 9: Kompetenzen und Merkmale des Burnout-Syndroms in Körner (2003).

Abbildung 10: Konzeptionelle und Instrumentelle Operationalisierung nach Kaiser (2014, S. 57).

Abbildung 11: Generelles Ablaufschema qualitativer Inhaltsanalysen aus Kuckartz (2018, S. 45).

Abbildung 12: Ablaufschema einer inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse (Kuckartz, 2018, S.100).

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Strukturprobleme der Kooperation von 1. und 2. Phase der Lehrerbildung. Schubarth (2010).

Tabelle 2: Übersicht Pädagogischer Antinomien nach Helsper (2016).

Tabelle 3: Beispiele für gefühlte und objektivierbare Ressourcen und Belastungsfaktoren (Eckert, Ebert & Sieland, 2013, S. 199).

Tabelle 4: Allgemeine Informationen zu den befragten Referendarinnen und Refe

Tabelle 5: Kategorisierung qualitativer Verfahren nach Aeppli, Gasser, Gutzwiller & Tettenborn (2016).

Tabelle 6: Deduktiv gebildete thematische Hauptkategorien.

Tabelle 7: Absolute Kodierhäufigkeiten in der Hauptkategorie Praxisschock.

1. Einleitung

Im Wintersemester 2019/20 waren an deutschen Hochschulen insgesamt 251 522 Studierende für ein Lehramtsstudium eingeschrieben. Somit besitzen Lehramtsstudierende mit etwa zehn Prozent einen nennenswerten Anteil an der Gesamtzahl aller Studierenden in der Bundesrepublik (vgl. Statistisches Bundesamt, 2020). Die universitäre Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern blickt in Deutschland auf eine lange Tradition zurück. Bereits im 19. Jahrhundert beginnt sich das Gymnasiallehramt durch die Abtrennung vom geistlichen Amt des Theologen als eigenständiger Berufsstand zu etablieren, dessen Vertreter durch ein universitäres Fachstudium für den Beruf qualifiziert und durch eine staatliche Prüfung1 lizensiert sind (vgl. Terhart, 2016; siehe auch Hellekamps & Musolff, 2014). Mit der verpflichtenden Einführung eines ,,Seminarjahrs‘‘ im Jahr 1890 (vgl. Reh & Scholz, 2019) wurde die Strukturierung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung in mehrere sich hinsichtlich Funktion und Organisation voneinander unterscheidende Phasen geschaffen, die heute in Deutschland in allen Bundesländern für alle Lehrämter praktiziert wird (vgl. Dietrich, 2014).

Hericks (2004) identifiziert in Anlehnung an die Gemischte Kommission Lehrerbildung der Kultusministerkonferenz (vgl. Terhart, 2000) drei Phasen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung2: Eine erste, universitäre Phase legt einen Schwerpunkt auf die berufsrelevanten wissenschaftlichen Grundlagen des Lehrerberufs. Daran schließt sich eine zweite Phase

[…] mit den Lernorten Studienseminar und Ausbildungsschule(n), deren Gegenstand die Erarbeitung und Einübung unmittelbarer beruflicher Handlungskompetenz und erster Routinen darstellt (Hericks, 2004, S. 302)

an. Zuletzt wird eine dritte Phase des berufsbegleitenden Lernens genannt, welche mit der Berufseingangsphase beginnt. Auf diese Phase

Abbildung 1: Übergangsarten beim Übergang von der 1. zur 2. Phase. Modifikation nach Rath (2011).

werden die Lehramtsstudierenden bereits während der ersten Ausbildungsphase vorbereitet, was sich in den ministeriellen Vorgaben für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung in den Bildungswissenschaften widerspiegelt, in denen es zu den Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern heißt:

Lehrerinnen und Lehrer entwickeln ihre Kompetenzen ständig weiter und nutzen wie in anderen Berufen auch Fort- und Weiterbildungsangebote, um die neuen Entwicklungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse in ihrer beruflichen Tätigkeit zu berücksichtigen (KMK, 2019, S. 3).

Diese historisch gewachsene und im internationalen Vergleich nahezu einzigartige mehrphasige Struktur der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung ruft entsprechend auch weltweit einzigartige Probleme hervor (vgl. Hericks, 2004; Schubarth, 2010; Dicke et al., 2016). So führt die dreiphasige Ausbildungsstruktur dazu, dass es während des beruflichen Werdegangs angehender Lehrerinnen und Lehrer zu mehreren Transitionsprozessen kommt, welche potenziell Konflikte und Krisen auslösen können. Insbesondere der Übergang von der ersten universitären zur zweiten schulischen Ausbildungsphase birgt ein hohes Konfliktpotential, da es hier gleich zu mehreren Arten von Übergängen kommt (vgl. Abb. 1). So ist dieser Übergang in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung relativ spät situiert. Da Lehramtsanwärterinnen und - anwärter bereits ein Bachelor- und Masterstudium bzw. erstes Staatsexamen absolviert haben, müssen sie nach dem Wechsel von der Grundschule zur weiterführenden Schule und von dieser zur Universität mit weit über Zwanzig Jahren3 erneut einen bildungsbiografischinstitutionellen Übergang überwinden. Zingg und Grob (2002) verweisen zudem darauf, dass es mit der Aufnahme der Berufstätigkeit bei vielen Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern zu einer Veränderung der Wohnsituation kommt, wodurch sich in vielen Fällen auch das soziale Umfeld verändert. Dies stellt einen einschneidenden biografischen Übergang dar. Zuletzt werden ,,Studienreferendarinnen oder Studienreferendare […] als Beamtinnen und Beamte auf Widerruf eingestellt und erhalten eine Besoldung […]‘‘ (Dietrich, 2014, S. 10), wodurch es sich beim Übergang von der ersten zur zweien Ausbildungsphase ebenfalls um einen statusbezogenen Übergang in die Erwerbstätigkeit handelt.

Hinzu kommt, dass die Struktur der ersten Ausbildungsphase an der Universität in vielerlei Hinsicht von derjenigen der zweiten Phase am Studienseminar bzw. an der Ausbildungsschule abweicht. Schubarth (2010) führt verschiedene Merkmale auf, hinsichtlich derer sich die Phasen voneinander unterscheiden (Gesamtübersicht siehe Tab. 1). Während der eigentliche gesellschaftliche Auftrag der Universitäten im Bereich Forschung und Lehre angesiedelt ist – wobei die Lehramtsstudierenden vorrangig zur Sicherung der Studierendenzahlen dienen (vgl. Schubarth, 2010) – besteht dieser in der zweiten Phase eindeutig in der schulpraktischen Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern. Zudem besteht an Universitäten eine eher liberale Organisationsstruktur, wohingegen Studienseminare und Ausbildungsschulen als eher hierarchisch organisiert charakterisiert werden können. Darüber hinaus bestehen in den jeweiligen Institutionen eine phasenspezifische Ferne bzw. Nähe zum praktischen Handeln in der Schule. Daraus resultiert, dass ,,[…] es sich um eine schwierige, insgesamt eher divergierende Interessenlage und um deutliche Strukturunterschiede […]‘‘ (ebd., S. 85) handelt, die beim Übergang von der ersten zur zweiten Phase zu Anpassungsschwierigkeiten führen können.

Im wissenschaftlichen wie im schulischen Kontext hat sich in den vergangenen 40 Jahren für diese Anpassungsschwierigkeiten im Verlauf des Vorbereitungsdienstes der Begriff des Praxisschocks etabliert (vgl. z.B. Dietrich, 2014; Dicke et al., 2016; siehe Kapitel 2.1). Die Vorbeugung der Entstehung eines Praxisschocks bei angehenden Lehrerinnen und Lehrern war – neben anderen wichtigen Kritikpunkten wie der unzureichenden Verknüpfung von Theorie und Praxis sowie der insgesamt als zu hoch angesehenen Belastung (vgl. Dicke et al., 2016) – ein ausschlaggebender Grund dafür, dass im Jahr 2009 der Vorbereitungsdienst in Nordrhein-Westfalen auf der Grundlage eines neuen Lehrerausbildungsgesetzes (LABG 2009) reformiert wurde (vgl. MdI, 2009). Wichtiger Teil dieser Reform war zudem die Einführung eines Praxissemesters während des Masterstudiums.

Tabelle 1: Strukturprobleme der Kooperation von 1. und 2. Phase der Lehrerbildung. Schubarth (2010).

Merkmale

1. Phase (Universität)

2. Phase (Studienseminar und Ausbildungsschule)

Allgemeine Strukturmerkmale

Gesellschaftlicher Auftrag

Forschung und Lehre

Lehrerausbildung

Anreizsysteme der Institution

forschungsdominiert (Drittmittel etc.)

Lehrerbildung als Dienstauftrag

Organisationsstruktur

eher liberal

eher hierarchisch

Habitus

Forscherhabitus

Ausbilderhabitus

Status der Institution

relativ hoch

vergleichsweise niedrig

Lehrerbildungsbezogene Strukturmerkmale

Zuständigkeit für Lehrerbildung

diffuse Verantwortungsstrukturen (Hochschulleitung, Fakultäten, Zentren für Lehrerbildung)

zentrale Leitungsstruktur (Kultusministerien)

Anreizsysteme für Lehrerbildung

i. d. R. keine

Lehrerbildung als Dienstaufgabe

Nutzen von Lehrerbildung

Sicherung von Studierendenzahlen

Lehrerbildung als Dienstaufgabe

Status der Lehrerbildung

niedrig, ungeliebte Dienstleistung

hoch

Inhaltliche Merkmale

Ziele der Lehrerbildung

Berufsfähigkeit: Vermittlung berufsrelevanter wissenschaftlicher Grundlagen

Berufsfertigkeit: Einübung beruflicher Handlungskompetenzen und Routinen

Fokus

Theoretische Reflexivität

Praktische Einsozialisation

Auswahl der Inhalte

an der Wissenschaft orientiert

am Berufsfeld orientiert

Selbstverständnis

Distanz zu Berufsfeld bzw. Praxis

Nähe zu Berufsfeld bzw. Praxis

Als Hauptintention des Praxissemesters in Nordrhein-Westfalen formulieren die ministeriellen Rahmenvorgaben das Ziel,

im Rahmen des universitären Masterstudiums Theorie und Praxis professionsorientiert miteinander zu verbinden und die Studierenden auf die Praxisanforderungen der Schule und des Vorbereitungsdienstes wissenschafts- und berufsfeldbezogen vorzubereiten (MSW, 2010, S. 4).

Auf einer individuellen Ebene sollen Lehramtsstudierende durch die Verzahnung von Theorie und Praxis im Praxissemester während der ersten Phase in die Lage versetzt werden, die in der Universität vermittelten berufsrelevanten wissenschaftlichen Grundlagen für die zweite Phase anschlussfähig zu machen (zur Kritik am Begriff der Anschlussfähigkeit in der soziologisch fundierten Wissensverwendungsforschung siehe Hericks, 2004). Auf einer eher systemischen Ebene intendiert die Einführung des Praxissemesters eine verstärkte Kooperation der beiden Ausbildungsphasen, was sich beispielsweise in der Ausgestaltung des Bilanz- und Perspektivgesprächs am Ende des Praxissemesters widerspiegelt, an dem Vertreterinnen und Vertreter aller an der Lehrerinnen- und Lehrerbildung beteiligten Institutionen (Universität, Studienseminar und Schule) teilnehmen können4 (vgl. Zorn, 2020).

In der Forschung zum Praxissemester scheint hinsichtlich dessen Wirkung auf den Phasenübergang bislang eine weitgehend einheitliche Meinung zu herrschen. So konstatiert Fereidooni:

Das Praxissemester kann weiterhin im Sinne der Verbesserung der Ausbildungsqualität angehender Lehrkräfte den Übergang der ersten und zweiten Ausbildungsphase harmonisieren […] (2015, S. 60).

Auch Holtz attestiert dem Praxissemester die Möglichkeit zur ,,Überwindung einer von Studierenden und angehenden Lehrerinnen und Lehrern häufig wahrgenommenen Fragmentierung der drei Phasen der Lehrerbildung‘‘ (2014, S. 97). Porsch und Gollub (2020 i. Dr.) konnten bei 103 Texten zur Wirksamkeit verlängerter schulpraktischer Aufenthalte im Lehramtsstudium im Zeitraum zwischen 2000 und 2019 insgesamt 19 Textstellen identifizieren, welche die Harmonisierung zwischen der ersten und zweiten Phase als Potential verlängerter Praxisphasen nennen. Bei genauerer Betrachtung der berücksichtigten Texte fällt jedoch auf, dass der dem Praxissemester zugeschriebene Effekt bislang mit keiner Studie empirisch überprüft wurde. Darüber hinaus greifen die Autorinnen und Autoren häufig auf hypothetische Formulierungen zurück. ,,Wahrscheinlich kann das Praxissemester dazu beitragen, dass der ,Praxisschock‘ angehender LehrerInnen vermindert wird […]‘‘ vermutet beispielsweise Fereidooni (2015, S. 61.). Auch Wachnowski und Kull mutmaßen über die Wirkungen des Praxissemesters: ,,Für die Studierenden könnte so der Übergang aus der ersten in die zweite Phase der Lehrerausbildung erleichtert werden‘‘ ( 2015, S. 206), bleiben jedoch ebenfalls einen Beleg schuldig.

Aus den bis hierhin dargestellten Sachverhalten lässt sich als zentrales Erkenntnisinteresse dieser Arbeit die Untersuchung der tatsächlichen Auswirkungen des Praxissemesters auf angehende Lehrkräfte in Bezug auf den Übergang von der ersten zur zweiten Ausbildungsphase formulieren. Zu diesem Zweck soll im Anschluss an eine tiefergreifende theoretische Verortung der Ausgestaltung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung in Nordrhein-Westfalen sowie des Praxisschocks (2) die Untersuchung anhand der Durchführung qualitativer Experteninterviews dargestellt werden (3). Im Anschluss daran sollen die Ergebnisse interpretiert (4) und abschließend diskutiert werden (5).

1 In Preußen wurde im Jahr 1810 das Examen pro facultate docendi zur Prüfung der Kandidaten für das höhere Schulamt eingeführt (vgl. Hellekamps & Musolff, 2014; Reh & Scholz, 2019). Die Volksschullehrerinnen und -lehrer hingegen besuchten zwei bis drei Jahre lang eine nichtuniversitäre Ausbildungsstätte (sog. Lehrerseminare), ohne staatlich geprüft zu werden. Akademisierungstendenzen wurden erst im beginnenden 20. Jahrhundert sichtbar (vgl. Terhart, 2016).

2 Die Anzahl der benannten Phasen variiert in der Literatur (z.B. zwei Phasen bei Dicke et al. (2016); vier Phasen bei Keuffer & Oelkers (2001)). Dieser Arbeit liegt jedoch der Sprachgebrauch nach Terhart (2000) bzw. Hendricks (2004) zugrunde.

3 Dreer, Bock & Protzel (2019) untersuchen beispielsweise eine Stichprobe von 79 Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern, die ein durchschnittliches Alter von 25,5 Jahren aufwiesen.

4 Allerdings nehmen in der Regel nur Vertreterinnen und Vertreter der zweiten Phase an diesem teil. An 21 von Zorn (2020) untersuchten Bilanz- und Perspektivgesprächen nahm nicht eine Hochschuldozentin bzw. Hochschuldozent teil.

2. Theoretische Verortung

2.1 Professionalität und Professionalisierung

Wird im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs über die Ausbildung angehender Lehrkräften gesprochen, bedienen sich Autorinnen und Autoren gewöhnlich der Begriffe Professionalität und Professionalisierung. Als Ziel der Lehrerinnen- und Lehrerbildung, welche sich in drei unterschiedlichen Phasen vollzieht und im Rahmen des universitären Studiums und des Vorbereitungsdienstes von unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren gestaltet wird, kann also die Befähigung angehender Lehrkräfte zu professionellem Handeln angesehen werden. Professionalität bezeichnet dabei zunächst allgemein ,,einen bestimmten erreichten Grad an Könnerschaft‘‘ (Keller-Schneider, 2016, S. 282). Košinár (2014) verweist auf die um die Jahrtausendwende durch die schlechten Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudien PISA und TIMMS ausgelöste Debatte um die Professionalität von Lehrkräften in Deutschland, in deren Verlauf es unter anderem zur Einführung verbindlicher Standards für die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern kam (vgl. Terhart, 2002; 2006; siehe KMK, 2004/2019).

Eine weitere Folge dieser lebhaft geführten Debatte stellt die Entstehung unterschiedlicher Ansätze und Theorien zur Professionalität von Lehrkräften dar. Es erscheint daher sinnvoll, sich vor einer tiefergreifenden Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Praxisschocks im Rahmen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung zunächst allgemein mit verschiedenen Konzepten zu Professionalität und Professionalisierung auseinanderzusetzen. Im Folgenden sollen daher zentrale Professionalitätsansätze dargestellt werden, die das professionelle Handeln von Lehrerinnen und Lehrern erklären.

Der strukturtheoretische Ansatz, der auf Oevermann (vgl. u.a. 1996) zurückgeht und sich insbesondere auf die Struktur pädagogischen Handelns bezieht, vertritt die grundsätzliche Auffassung, dass aufgrund der ,,unterschiedlichen Strukturlogik von Wissenschaft und Praxis (bzw. der Institutionen Universität und Schule)‘‘ (Hericks, 2004, S. 303) professionelles Handeln nicht während der universitären Ausbildung, sondern lediglich im Rahmen der beruflichen Praxis erlernt werden kann. Der strukturtheoretische Ansatz steht der universitären Lehrerinnen- und Lehrerbildung zunächst also prinzipiell kritisch gegenüber, wobei ihr auch gewisse Potentiale zugesprochen werden:

Was universitäre Lehrerbildung vermag, ist einen Beitrag zur Herausbildung eines (selbst-)reflexiven, wissenschaftsbasierten Habitus zu leisten, der notwendig ist, um den Praxiszwängen nicht mehr oder weniger blind zu unterliegen (Helsper, 2016, S. 104).

Die reflexiv-wissenschaftliche Haltung ist eine Voraussetzung für das Handeln im Lehrerberuf. Die Tätigkeit von Lehrerinnen und Lehrern kann nach Helsper insofern als Profession5 angesehen werden, als sie einen Beruf darstellt, der ,,mit der stellvertretenden Krisenlösung für Personen‘‘ betraut ist (2016, S. 107), wobei die Lehrkräfte eine Art therapeutische Funktion für ihre Schülerinnen und Schüler übernehmen (vgl. Oevermann, 1996). Einen weiteren Grund, warum der strukturtheoretische Ansatz das Erlernen theoretisch basierter Handlungsanweisungen ablehnt, stellt die Tatsache dar, dass das tägliche Handeln in der schulischen Praxis von Ungewissheit geprägt ist (vgl. Combe, 1997). Zwar können Unterrichtsstunden inhaltlich und methodisch geplant werden, der tatsächliche Verlauf kann aber jederzeit von der tatsächlichen Planung abweichen (vgl. Kurtz, 2009). Professionelles Handeln erfordert also von Lehrkräften ,,sich auf den Umgang mit Unsicherheit […] einzustellen‘‘ (Kurtz, 2009, S. 50). Darüber hinaus ist das unterrichtspraktische Handeln von Lehrerinnen und Lehrern durch widersprüchliche Anforderungen bzw. Handlungsdilemmata gekennzeichnet, welche Helsper (2016) als Pädagogische Antinomien bezeichnet. Es lassen sich dabei Antinomien erster und zweiter Ordnung unterscheiden (siehe Tab. 2).

Tabelle 2: Übersicht Pädagogischer Antinomien nach Helsper (2016).

Bezeichnung

Definition/Ausprägung

Pädagogische Antinomien erster Ordnung des Lehrerhandelns

Praxisantinomie

Praktisches Handeln im Unterricht

versus

theoretische Reflexion

Begründungsantinomie

Hoher Entscheidungsdruck ohne Bedenkzeit

versus

hohe Begründungsverpflichtung

Subsumtionsantinomie

Schema-F-Erklärungen und Zuweisungen

versus

reflexive Begegnung mit diesen

Ungewissheitsantinomie

Gewissheitsfiktionen

versus

Ungewissheit des Handlungserfolgs

Symmetrieantinomie

Asymmetrisches Lehrer-Schüler-Verhältnis

versus

kommunikative Symmetriesierung

Pädagogische Antinomien zweiter Ordnung des Lehrerhandelns

Differenzierungsantinomie

homogenisierende Gleichbehandlung

versus

differenzierte pädagogische Unterstützung

Organisationsantinomie

Organisatorische Routine

versus

Offenheit für Bildungsprozesse

Autonomieantinomie

Autonomie

versus

Heteronomie

Alle genannten Aspekte sorgen aus strukturtheoretischer Sicht dafür, dass die Entwicklung einer theoretischen Reflexivität und erfahrungswissenschaftlichen Begründungswissens als Aufgabe der ersten universitären Ausbildungsphase angesehen werden kann, während die praktische Einsozialisation in professionelles Handeln das Ziel der zweiten Phase darstellt (vgl. Hericks, 2004). Insbesondere der Umstand der Ungewissheit pädagogischen Handelns scheint im Hinblick auf den Praxisschock im Vorbereitungsdienst von Bedeutung zu sein.

In deutlicher Abgrenzung zum strukturtheoretischen Ansatz stellt der kompetenztheoretische Ansatz6 ein weiteres Konzept der Professionalität von Lehrkräften dar. Für Tenorth (2006) bildet die Beschreibung des Lehrerberufs als antinomisch und unbestimmt einen Widerspruch zur Realität der täglichen Schul- und Unterrichtspraxis. Mit Blick auf die Bewältigung unsicherer Situationen im unterrichtlichen Handeln verweisen Baumert und Kunter (2006) auf das technologische, methodische, fachdidaktische und fachwissenschaftliche Repertoire von Lehrkräften. Somit intendieren Vertreterinnen und Vertreter des kompetenztheoretischen Ansatzes die ,,Schließung von Ungewissheit durch Kompetenz‘‘ (Košinár, 2014, S. 30). In Anlehnung an den Kompetenzbegriff nach Weinert (2001), der auch motivationale und volitionale Aspekte einschließt, lassen sich ,,allgemeines pädagogisches Wissen, Fachwissen und fachdidaktisches Wissen als zentrale Kompetenzfacetten‘‘ im Modell der professionellen Handlungskompetenz benennen (Baumert & Kunter, 2006, S. 482; siehe Abb. 2; zur Kritik am Modell siehe Lehmann-Grube & Nickolaus, 2009). Baumert und Kunter ergänzen darüber hinaus Organisations- und Beratungswissen als zwei weitere wichtige Kompetenzen von Lehrerinnen und Lehrern. Es lässt sich somit festhalten, dass die (pädagogischen) Kompetenzen von Lehrerinnen und Lehrern dem kompetenztheoretischen Ansatz zufolge einen wichtigen Teil ihrer Professionalität ausmachen. Inwiefern der Erwerb dieser Kompetenzen einen Einfluss auf das Erleben eines Praxisschocks während des Vorbereitungsdienstes haben, soll an späterer Stelle thematisiert werden (siehe Kapitel 2.3.3 und 2.4.3).

Abbildung 2: Modell professioneller Handlungskompetenz (Baumert & Kunter, 2006).

Eine weitere Möglichkeit zur Betrachtung von Professionalität im Lehrerberuf bietet der berufsbiografische Ansatz.7 Aus dieser Perspektive erscheint Professionalität als berufsbiographisches Entwicklungsproblem, bei dem der Aufbau von Kompetenzen, die Übernahme eines beruflichen Habitus sowie die Verknüpfung von privatem Lebenslauf und beruflicher Karriere im Zentrum stehen (vgl. Terhart, 2011). Dieser Ansatz stellt also in gewisser Weise einen Kompromiss zwischen den beiden oben beschriebenen Ansätzen dar. Keller-Schneider und Hericks (2014) benennen vier berufliche Entwicklungsaufgaben:8 Rollenfindung, Vermittlung, Anerkennung bzw. Führung sowie Kooperation. Diese stellen spezifische Anforderungen des professionellen Handelns von Lehrkräften dar. So verweist die Entwicklungsanforderung der Rollenfindung auf die Entwicklung eines beruflichen Habitus bzw. einer beruflichen Identität. Bezogen auf den Vorbereitungsdienst wird ersichtlich, dass sich diese Aufgabe für angehenden Lehrerinnen und Lehrern aufgrund ihrer Stellung zwischen Schülerin bzw. Schüler und Lehrkraft (Studienseminar versus Schule) als besonders anspruchsvoll erweisen könnte. Die Entwicklungsaufgabe Vermittlung bezieht sich auf die Notwendigkeit, dass angehende Lehrerinnen und Lehrer einen Weg finden müssen, ihre im Studium erworbenen Kenntnisse adressatengerecht an Schülerinnen und Schüler weiterzugeben. Die Entwicklungsaufgabe Anerkennung bzw. Führung umfasst Aspekte der Klassenführung sowie gegenseitige Anerkennung im Klassenraum. Auch hier kann es während des Vorbereitungsdienstes möglicherweise zu Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit kommen.9 Die letzte Entwicklungsaufgabe Kooperation bezieht sich auf das Erkennen und Einschätzen institutioneller Anforderungen sowie auf Formen kollegialer Kooperation (vgl. Keller-Schneider, 2010; zur besonderen Rolle der Kooperation zwischen Referendarinnen- und Referendaren siehe Kapitel 2.4.3).

Wenn Professionalität das Ziel der Lehrerinnen- und Lehrerbildung darstellt, kann Professionalisierung gewissermaßen als der Weg zur Professionalität angesehen werden.

Professionalisierung umschreibt den berufsbiografischen Prozess, durch den die Professionellen in die Strukturen ihres Berufes hineinfinden und die zur Ausübung notwendigen Kompetenzen erwerben (Keller-Schneider, 2016, S. 282).

Košinár geht davon aus, dass

die Entwicklung von Lehrer/innen über die ganze Spanne ihrer Berufslaufbahn kontinuierlich fortschreitet und keineswegs mit dem Ende der Ausbildung bzw. Berufseinstiegsphase abgeschlossen ist (2014, S. 67).

Es kann also davon ausgegangen werden, dass sich Referendarinnen und Referendare inmitten eines Professionalisierungsprozesses befinden, der bereits mit dem universitären Studium begonnen hat und der auch nach dem Ende des Vorbereitungsdienstes noch nicht abgeschlossen ist. Doch auf welcher Stufe des Professionalisierungsprozess lässt sich der Vorbereitungsdienst verorten?

Abbildung 3: Stufenmodell nach Fuller & Bown (1975) in Messner & Reusser (2000).

Ein viel rezipiertes Modell stellt das Stufen-Modell nach Fuller und Bown (1975; siehe Abb. 3) dar, welches drei charakteristische Entwicklungsstufen des Lehrerberufs hinsichtlich entwicklungstypischer ,,concerns of teachers‘‘ (ebd., S. 36) abbildet. In der Einstiegsphase zu Beginn der unterrichtlichen Praxistätigkeit richtet sich die Aufmerksamkeit junger Lehrkräfte demnach zunächst auf die eigene Person und das eigene Handeln. Der tägliche Überlebenskampf im Klassenzimmer (daher ,,survival stage‘‘), ausgelöst durch persönliche Schwierigkeiten, steht bei den Lehrerinnen und Lehrern im Vordergrund (vgl. Košinár, 2014). Auf der zweiten Entwicklungsstufe löst sich dieser strenge Ich-Bezug allmählich auf und Lehrkräfte ,,richten ihren Blick mehr und mehr auf die methodisch-didaktische Gestaltung des Unterrichts, um die Unterrichtssituation zu beherrschen (Keller-Schneider, 2016, S. 279). Dabei orientieren sie sich an einem Normal-Level (vgl. Hericks, 2006). Erst auf der dritten Stufe, der ,,routine stage‘‘, sind Lehrkräfte aufgrund ihrer erworbenen Erfahrung in der Lage, sich voll auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler zu konzentrieren und ihren Fokus auf den eigentlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag zu richten (vgl. Messner & Reusser, 2000). Die Belastungen der ersten Entwicklungsphase, die mit dem Einstieg in die unterrichtliche Handlungspraxis einhergehen, scheinen auch für Referendarinnen und Referendare eine Rolle zu spielen. Die Frage, ob diese bereits während des Vorbereitungsdienstes einen Übergang von der ersten zur zweiten Phase schaffen können, könnte maßgeblich dazu beitragen, ob und in welcher Ausprägung das Erleben eines Praxisschocks auftritt.

Ein weiteres Modell, welches die Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern erklärt, ist das fünfstufige Novizen-Expertenmodell von Dreyfus und Dreyfus (1987; siehe Abb. 4). Lehrkräfte beginnen ihre Berufstätigkeit als Novizinnen bzw. Novizen. Auf dieser Stufe können sie die Anforderungen, die der Lehrerberuf an sie stellt, noch nicht selbstständig in vollem Umfang erfüllen. Sie besitzen noch keine Erfahrung, sodass in diesem Stadium kontextfreie Regeln handlungsleitend sind, was im unterrichtlichen Handeln komplexitätsreduzierend wirkt (vgl. Košinár, 2014). Die Tatsache, dass nicht der Kontext, sondern die Regeln als Maßstab herangezogen werden, kann für Lehrkräfte in bestimmten Situationen zu Schwierigkeiten führen. So führt Keller-Schneider (2010) den kontextbezogenen Umgang mit dem Lärmpegel in Klassensituationen an, der abhängig von der Arbeitssituation auch sinnvoll sein kann, von den angehenden Lehrkräften aber in dieser Phase tendenziell kontextunabhängig als störend empfunden und reguliert wird. Auf der nächsten Stufe besitzen die Lehrkräfte mehr Erfahrung und werden als fortgeschrittene Anfängerinnen bzw. Anfänger bezeichnet. In dieser Phase können sie handlungsleitende Regeln zunehmend kontextbezogen anwenden. Es ist ihnen darüber hinaus möglich, mehrere Aspekte wahrzunehmen und in ihre Handlungsplanung einzubeziehen (vgl. Keller-Schneider, 2010). Durch Praxiserfahrung und das Erleben widersprüchlicher Situationen und Regeln, die zueinander in Bezug gesetzt werden müssen, erreichen Lehrerinnen und Lehrer die dritte Stufe (vgl. Košinár, 2014). In diesem sogenannten Kompetenzstadium werden Entscheidungen nicht mehr mit Regeln oder Richtlinien begründet, sondern die Verantwortung liegt vollständig bei den Lehrkräften selbst (vgl. Keller-Schneider, 2010).

Durch die regelmäßige Konfrontation mit komplexen Handlungssituationen […] entwickeln Akteur/innen ihr Detail- und Funktionswissen, sowie ihr fachsystematisches Wissen weiter […] (Košinár, 2014, S. 71f.).

Damit erreichen sie die Stufe des gewandten Könnens, auf der ein Reduktionsprozess einsetzt, in dessen Zuge die Komplexität von Situationen abnimmt. Auf der sich daran anschließenden fünften und letzten Stufe sind aus den Lehrkräften Expertinnen und Experten geworden, die auf internalisiertes Handlungswissen zurückgreifen und viele Entscheidungen daher ,,nicht mehr analytisch, sondern holistisch intuitiv und angemessen‘‘ treffen (Keller-Schneider, 2010, S. 64).

Abbildung 4: Phasen der Kompetenzentwicklung (aus Keller-Schneider, 2010).

Zwar können derartige Phasenmodelle aufgrund der Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Berufsbiografien individuelle Lebensläufe nicht vorhersagen (vgl. Keller-Schneider, 2016), dennoch geben sie einen Einblick in die Herausforderungen, die die Professionalisierung von Lehrkräften an diese stellt. Wann derartige Professionalisierungsprozesse abgeschlossen sind und wann eine Lehrkraft als professionell gelten kann, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Vielmehr zeigen die bisherigen Erläuterungen, dass sich angehende Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst in der Regel noch am Anfang ihres individuellen Weges auf dem Weg zum professionellen Handeln befinden. Dieser Weg ist mit zahlreichen Herausforderungen und Transitionen verbunden, welche überwunden werden müssen.

5 Zur Kritik am Professionsbegriff siehe Herzog (2011) sowie Zorn (2020).

6 Auch kompetenzorientierter Ansatz. Siehe z.B. Zorn, 2020.

7 Die im Folgenden dargestellten Modelle lassen sich eher der life-span-Orientierung zuweisen, welche auf eine typisierende Verallgemeinerung der Lebensspanne von Lehrkräften abzielt, aber die individuellen Prozessverläufe nicht abbilden kann. Darüber hinaus gibt es Studien im Sinne der Bildungsgangforschung, bei der Zusammenhänge zwischen Handlungsstruktur und individueller Entwicklung Berücksichtigung finden (vgl. Herzmann & König, 2016).

8 Uwe Hericks und Manuela Keller-Schneider arbeiteten zunächst getrennt am Konzept der Entwicklungsaufgaben, ehe sie gemeinsam weiterführende Überlegungen anstellten (vgl. Košinár, 2014). Siehe auch Hericks (2006) und Keller-Schneider (2010).

9 Hier können auch die oben erwähnten pädagogischen Antinomien eine Rolle spielen, z.B. die Symmetireantinomie (vgl. Helsper, 2016).

2.2 Lehrerinnen- und Lehrerbildung in Nordrhein-Westfalen
2.2.1 Mehrphasige Struktur

Um zu verstehen, wie es zu einem Praxisschock kommen kann, erscheint es zunächst als notwendig, zu betrachten, wie die Lehrerinnen- und Lehrerbildung in Nordrhein-Westfalen organisiert ist. Diese lässt sich in drei zeitlich aufeinanderfolgende Phasen gliedern (vgl. Terhart, 2000; siehe Abb. 5): Die erste Phase der Ausbildung stellt das Studium an einer Universität dar10, in dessen Rahmen den Lehramtsstudierenden berufsrelevante wissenschaftliche Grundlagen des Lehrerberufs vermittelt werden (vgl. Hericks, 2004). Dabei wird der Schwerpunkt insbesondere auf fachwissenschaftliches, fachdidaktisches und bildungswissenschaftliches Wissen gelegt (vgl. Terhart, 2007).

Nachdem die erste Phase mit dem Erwerb des (allein nicht berufsqualifizierenden; vgl. Dietrich, 2014) Studienabschlusses ,,Master of Education‘‘ abgeschlossen ist, sind die angehenden Lehrkräfte zum Zugang der zweiten Phase der Lehrerinnen- und Lehrerbildung berechtigt, welche den Vorbereitungsdienst darstellt (vgl. MdI, 2009; 2020a). Im Rahmen dessen erfolgt an den Ausbildungsschulen und Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL)11 aufbauend auf den in der ersten Phase erworbenen Kompetenzen eine praxisorientierte Berufsvorbereitung (vgl. Terhart, 2007), die ,,theoretisch einen sukzessiven und begleiteten Berufseinstieg von Lehrkräften [ermöglicht]‘‘ (Dicke et al., 2016, S. 245).

Die sich an den Vorbereitungsdienst anschließende dritte Phase der Lehrerinnen- und Lehrerbildung repräsentiert das ,,Lernen im Beruf‘‘ (Hericks, 2004, S. 302). Sie unterscheidet sich insofern von den ersten beiden Phasen, als es sich um ein berufslebenslanges Lernen im Rahmen von Fortbildungen und eine eigenständige Weiterentwicklung von Kompetenzen handelt.12 Bereits in der ersten Phasen sollen die Studierenden auf diese Aufgabe vorbereitet werden. So weisen die Standards für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung den Kompetenzbereich Innovieren auf (vgl. KMK, 2019). Terhart (2007) verweist zudem auf besondere Einrichtungen und Angebote für die Fortbildung der Lehrkräfte in allen Bundesländern13, an denen wiederum auch Akteurinnen und Akteure der ersten beiden Phasen beteiligt sein können. Die verpflichtende Teilnahme an derartigen Fort- und Weiterbildungsangeboten ist darüber hinaus auch im nordrhein-westfälischen Schulgesetz verankert: ,,Lehrerinnen und Lehrer sind verpflichtet, sich zur Erhaltung und weiteren Entwicklung ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten fortzubilden‘‘ (MdI, 2005, § 57 Abs. 3).

Abbildung 5: Phasen der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung in Nordrhein-Westfalen.

Somit lässt sich festhalten, dass die Lehrerinnen- und Lehrerbildung in Nordrhein-Westfalen ein dreiphasiger Prozess ist, der Lehrkräfte vom ersten Tag ihres Studiums bis zum letzten Tag ihres Berufslebens begleitet. An dieser Struktur wird trotz Kritik (vgl. Schubarth, Speck & Seidel, 2007; Terhart, 2007) im Grundsatz weiterhin festgehalten.14

2.2.2 Entwicklung seit dem Jahr 2000

Die Ausgestaltung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung in Nordrhein-Westfalen ist in den vergangenen 20 Jahren durch häufige Reformen und Umstrukturierungen gekennzeichnet. Im Zentrum der Neugestaltungen standen dabei insbesondere die erste und zweite Phase. Die dritte Phase wird daher im Folgenden vernachlässigt.

Einen wichtigen Ausgangspunkt stellt der Abschlussbericht der Gemischten Kommission Lehrerbildung der Kultusministerkonferenz dar, an der Fachleute aus Wissenschaft und Bildungsadministration teilnahmen. Dieser bemängelte bereits zu Beginn des Jahrtausends die unzufriedenstellende Qualität der Lehrerinnen- und Lehrerbildung in Deutschland. Zwar hielt die Kommission prinzipiell am dreiphasigen Ausbildungsmodell fest, sie ging ,,jedoch von einer beträchtlichen Reformbedürftigkeit innerhalb der einzelnen Phasen wie auch hinsichtlich der Koordination zwischen den Phasen aus‘‘ (Terhart, 2000, S. 113). Hinsichtlich der ersten Phase stellte die Kommission fest:

Die Situation der Lehrerausbildung in der ersten Phase ist insgesamt durch eine stark zersplitterte Struktur gekennzeichnet. Die Beziehung zwischen den einzelnen Studienelementen und -inhalten sind unklar und werden den Studierenden nicht deutlich, und der Bezug der Studieninhalte und -elemente zum späteren Berufsfeld ist ebenfalls unklar und vielfach nicht unmittelbar zu erkennen (ebd., S. 84).

An der zweiten Phase kritisierte die Kommission in ihrem Abschlussbericht insbesondere die mangelnde Verknüpfung mit der ersten Phase sowie eine unzureichende Beachtung hinsichtlich des ständigen Rollenwechsels der Referendarinnen und Referendare (Rolle im Studienseminar vs. Rolle in der Schule). Sie forderte daher ,,eine phasenübergreifende Kooperation, die kumulatives Lernen in Ausbildung und Beruf fördert‘‘ (ebd., S. 114). Zudem regte die Kommission die Gründung von ,,universitären Zentren für Lehrerbildung und Schulforschung‘‘ (ebd., S. 109) an.15 Zusätzlich zu der in den folgenden Jahren durch die Bologna-Reform ausgelösten grundlegenden Neugestaltung der ersten Phase, die in Nordrhein-Westfalen im Vergleich zu anderen Bundesländern eine relativ frühe Abschaffung des ersten Staatsexamens zugunsten von Bachelor- und Masterabschluss bewirkte, richteten sich die Reformen also insbesondere auf den ,,Ruf nach mehr Praxis‘‘ (Terhart, 2013, S. 5) sowie die vertiefte Verzahnung der beiden Phasen, da sich als Problemlage der zweiten Phase insbesondere ,,die fehlende Kooperation, Abstimmung und Verknüpfung mit der ersten und dritten Phase‘‘ (Schubarth, Speck & Seidel, 2007, S. 13) benennen ließ. Als Reaktion auf die genannten Aspekte wurden bereits in der Ordnung der Ersten Staatsprüfung für Lehrämter an Schulen (LPO) von 2003 umfangreichere Praxisphasen in der Studienphase verlangt (vgl. Bergheim, 2007). Im Jahr 2009 kam es durch Beschluss eines neuen Gesetzes über die Ausbildung für Lehrämter an öffentlichen Schulen (LABG) dann zu einer weitreichenden Reform der Lehrerinnen- und Lehrerbildung in Nordrhein-Westfalen. Diese betraf sowohl die erste als auch zweite Phase der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. So wurde mit dem Eignungs-, Orientierungs- und Berufsfeldpraktikum16 bereits während des Bachelorstudiums drei Praxisphasen in den universitären Teil der Ausbildung implementiert (vgl. MdI, 2009). Eine noch weitreichendere Änderung stellte die Einführung des fünfmonatigen Praxissemesters im Masterstudium dar (siehe Kapitel 2.2.2). Diese erstmals zum Frühjahr 2015 in Nordrhein-Westfalen umgesetzte Maßnahme17 muss auch vor dem Hintergrund der Einführung verschiedener Formen von Langzeitpraktika in mehreren anderen deutschen Bundesländern gesehen werden (vgl. Weyland & Wittmann, 2015). In Bezug auf die zweite Phase führte die Änderung des LABG zu einer Verkürzung des Vorbereitungsdienstes von 24 auf 18 Monate (vgl. MdI, 2009; siehe Kapitel 2.2.3).

Am 20. April 2016 verabschiedete der nordrhein-westfälische Landtag wieder ein Gesetz zur Änderung des Lehrerausbildungsgesetzes (vgl. MdI, 2016a), wodurch es zu einer erneuten, im Vergleich zu 2009 aber geringer ausfallenden Umgestaltung bezüglich der Praxisphasen während der ersten Phase der Lehrerinnen- und Lehrerbildung kam. So wurden das Eignungspraktikum und das Orientierungspraktikum miteinander zum ,,Eignungs- und Orientierungspraktikum‘‘ (MdI, 2016a, S. 209) verbunden. Das Praxissemester blieb auch weiterhin als Studienelement im Master of Education vorhanden.