Kommt doch wieder zurück - Marietta Brem - E-Book

Kommt doch wieder zurück E-Book

Marietta Brem

4,0

Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. »Mir ist so kalt, Tante Franzi«, nörgelte die kleine Marion Bölz, ein hübsches Mädchen von fünf Jahren. Vorwitzig lugten ihre schwarzen Locken unter der dunkelblauen Kapuze ihres Regenmantels hervor. Ihre Händchen hatte sie fröstelnd in den Taschen vergraben. »Sei still, Marion«, wisperte Franziska Bölz zurück. Hastig wischte sie mit der linken Hand die Tränen ab, die ihr über die Wangen liefen. Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr stand die junge Frau am Grabe eines geliebten Menschen, und dieses Mal fiel es ihr besonders schwer, denn es war ihr einziger Bruder, dessen Sarg gerade langsam in die Erde hinabgelassen wurde. Es waren viele Menschen zu dieser Beerdigung gekommen, denn Ulrich Bölz, der Sprengmeister der Baufirma Hirzel und Sohn, war allseits ziemlich beliebt gewesen, hatte dem örtlichen Gesangsverein als aktives Mitglied angehört, und war im Betrieb sowohl von Kollegen als auch von seinen Vorgesetzten sehr geschätzt worden. Es war ein Unglücksfall gewesen, der ihn bei einer Sprengung im betriebseigenen Steinbruch das Leben gekostet hatte. Das hatte Manfred Hirzel, der Juniorchef und Franziskas Verlobter, immer wieder versichert. Aber das war für Franziska kein Trost. Sie hatte ihren Bruder und Marion ihren Vater verloren. Nun war das Mädchen eine Waise. Kaum daß sie den Tod der Mutter vor elf Monaten verkraftet hatte, mußte sie auch schon auf den Vater verzichten, dem ihre ganze kindliche Liebe gegolten hatte. Franziska konnte die Welt nicht mehr verstehen. Was sollte das noch für einen Sinn haben, wenn eine ganze Familie ausgelöscht wurde und nur ein kleines Mädchen von gerade fünf Jahren übrigblieb? »Komm, wir gehen heim, Tante Franziska«, quengelte Marion nun schon etwas lauter und riß energisch an der Hand der Tante. »Mir gefällt es hier nicht mehr.

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Sophienlust Bestseller – 11 –

Kommt doch wieder zurück

Marietta Brem

»Mir ist so kalt, Tante Franzi«, nörgelte die kleine Marion Bölz, ein hübsches Mädchen von fünf Jahren. Vorwitzig lugten ihre schwarzen Locken unter der dunkelblauen Kapuze ihres Regenmantels hervor. Ihre Händchen hatte sie fröstelnd in den Taschen vergraben.

»Sei still, Marion«, wisperte Franziska Bölz zurück. Hastig wischte sie mit der linken Hand die Tränen ab, die ihr über die Wangen liefen. Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr stand die junge Frau am Grabe eines geliebten Menschen, und dieses Mal fiel es ihr besonders schwer, denn es war ihr einziger Bruder, dessen Sarg gerade langsam in die Erde hinabgelassen wurde.

Es waren viele Menschen zu dieser Beerdigung gekommen, denn Ulrich Bölz, der Sprengmeister der Baufirma Hirzel und Sohn, war allseits ziemlich beliebt gewesen, hatte dem örtlichen Gesangsverein als aktives Mitglied angehört, und war im Betrieb sowohl von Kollegen als auch von seinen Vorgesetzten sehr geschätzt worden.

Es war ein Unglücksfall gewesen, der ihn bei einer Sprengung im betriebseigenen Steinbruch das Leben gekostet hatte. Das hatte Manfred Hirzel, der Juniorchef und Franziskas Verlobter, immer wieder versichert.

Aber das war für Franziska kein Trost. Sie hatte ihren Bruder und Marion ihren Vater verloren. Nun war das Mädchen eine Waise. Kaum daß sie den Tod der Mutter vor elf Monaten verkraftet hatte, mußte sie auch schon auf den Vater verzichten, dem ihre ganze kindliche Liebe gegolten hatte.

Franziska konnte die Welt nicht mehr verstehen. Was sollte das noch für einen Sinn haben, wenn eine ganze Familie ausgelöscht wurde und nur ein kleines Mädchen von gerade fünf Jahren übrigblieb?

»Komm, wir gehen heim, Tante Franziska«, quengelte Marion nun schon etwas lauter und riß energisch an der Hand der Tante. »Mir gefällt es hier nicht mehr. Ich will nach Hause zu meinem Papi.«

Die junge Frau preßte voll ohnmächtigem Schmerz die blassen Lippen zusammen, während die Tränen wieder zu fließen anfingen. Sie spürte, wie einige der Trauergäste immer wieder verstohlen zu ihnen herüberschauten. Es war ihr peinlich, und sie senkte rasch den Kopf. Langes dunkles Haar fiel nach vorne und schirmte sie gegen die neugierigen Blicke ab.

Franziska Bölz war eine schöne, blutjunge Frau, die schon viel Leid in ihrem Leben erfahren hatte. Kurz nacheinander waren die geliebten Eltern gestorben, als sie gerade sechzehn Jahre alt gewesen war.

Ulrich, der ältere Bruder, war zu dieser Zeit schon mit Herta verheiratet gewesen. Mit offenen Armen hatte seine Frau die verwaiste Schwägerin in ihrem Haushalt aufgenommen. Dann, kaum zwei Jahre später, war Marion auf die Welt gekommen, und sie hatten schon geglaubt, daß nun die Zeit des Kummers und der Trauer endgültig vorbei sei. Es war jedoch nur eine kurze Atempause, die ihnen das Schicksal gönnte, ehe es erneut und unbarmherzig zuschlug.

Herta begann zu kränkeln. Sie wurde immer blasser und magerer, und bald konnte sie nur noch für wenige Stunden am Tag aufstehen und in einem Stuhl sitzen.

Ulrich wußte, daß seine Frau nur noch kurze Zeit leben würde, denn der Arzt hatte es ihm gesagt. Herta litt an einer unheilbaren Krankheit, die man zu spät erkannt hatte, um sie noch zum Stillstand bringen zu können. Seine Geduld und Beherrschung war bewundernswert gewesen, und erst, als Herta tot war, brach auch er zusammen. Die Monate, die dann folgten, waren die grausamsten in Franziskas Leben gewesen. Ulrich konnte den Schicksalsschlag nicht überwinden. Er hatte keine Freude mehr an seinem Dasein, und auch um sein Töchterchen Marion kümmerte er sich kaum mehr.

Oft fragte die Kleine nach ihrem Papi, aber Franziska konnte dem Kind auch nicht helfen, sondern nur versuchen, es abzulenken.

Irgend etwas riß Franziska aus ihren wehmütigen Gedanken. Jemand hatte sie ziemlich unsanft angerempelt. Wie erwachend schaute sich die junge Frau um und entdeckte, daß die Beerdigung ihrem Ende zuging. Mitleidig hielt der Pfarrer, ein älterer Herr mit schlohweißem Haar, ihre Hand und murmelte ein paar tröstende Worte, die wie nichtssagende Floskeln an ihr vorbeiglitten.

Franziska war wie versteinert. Noch konnte sie keinen klaren Gedanken fassen, wie es weitergehen sollte.

Ihre Schritte waren müde und schleppend, als sie an das offene Grab trat. Sie schaute hinunter auf den dunklen Sarg, auf dem bunte Blumen lagen. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, als schaue ihr Bruder sie mit seinen dunklen Augen bittend an. »Sorge du für meine kleine Marion, wenn ich einmal nicht mehr bin«, hatte er noch wenige Tage vor seinem zu frühen Tod zu ihr gesagt, und sie hatte es ihm ganz fest versprochen, nicht ahnend, daß sie dieses Versprechen schon bald würde einlösen müssen.

Marion war Ulrichs Vermächtnis, das sie zu schützen hatte. Irgendwie würde es schon weitergehen, wenn nur sie und das Kind zusammenbleiben durften.

Lautlos fiel der Strauß weißer Nelken in das Grab hinab. Am liebsten wäre Franziska jetzt hinterhergesprungen, wenn sie nicht die kleine Hand ihrer Nichte in der ihren gespürt hätte. Daran klammerte sie sich wie eine Ertrinkende.

»Wenn Sie Hilfe brauchen, Fräulein Bölz, dann scheuen Sie sich bitte nicht, zu uns zu kommen.«

Franziska schaute überrascht in das schöne Gesicht der Frau, die so überaus freundlich zu ihr gesprochen hatte. Stumm hatte sie die Beileidsbezeigungen an sich vorüberrauschen lassen, ohne an jemanden ein Wort zu richten, aber diese Stimme klang anders. Sie drückte nicht seelenloses Mitgefühl, sondern echte Anteilnahme aus.

»Das ist sehr freundlich. Vielen Dank, Frau…«

»Ich bin Denise von Schoenecker«, stellte sich die Unbekannte in dem schwarzen Wollmantel vor. »Meinem Sohn gehört das Kinderheim Sophienlust. Wenn Sie also Hilfe brauchen oder einen Platz für Ihre kleine Nichte suchen, dann können Sie sich jederzeit an mich wenden.«

Denise nickte der jungen Frau noch einmal zu und verschwand dann in der Menge. Sie kannte die traurige Geschichte der Familie, die durch ein unverständliches Schicksal so hart geprüft wurde.

Nachdenklich schaute Franziska Bölz der Frau nach. Irgendwie fühlte sie sich sogar ein bißchen getröstet, auch wenn sie nicht im Traum daran dachte, das Angebot der fremden Frau anzunehmen. Ein Kinderheim! Wie sollte sie das mit der kleinen Waisenrente bezahlen?

»Gehen wir jetzt endlich nach Hause?« flüsterte Marion, als sie langsam über den Kiesweg gingen. Das hohe, eiserne Friedhofstor war nicht mehr weit von ihnen entfernt, aber Franziska hatte das Gefühl, als würden sie es niemals erreichen.

»Ja, Schätzchen, jetzt gehen wir heim«, antwortete sie noch schwach. Unbändige Sehnsucht nach Manfred überkam jetzt die junge Frau. Warum nur hatte er sie diesen schweren Weg ganz allein gehen lassen? Sie konnte das einfach nicht verstehen. Oder doch?

Zugegeben, er hatte ihren Bruder nie besonders gemocht. Aber seit Hertas Tod, als sie, Franziska, den kleinen Haushalt ganz übernommen hatte, war er erst recht nicht mehr gut auf den zukünftigen Schwager zu sprechen gewesen. Er wollte nicht, daß sich seine Braut mit einem, wie er sagte, fremden Kind belastete, auch wenn es sich um die eigene Nichte handelte.

Franziska sollte schön aussehen und sich nicht wie eine abgehetzte Hausfrau benehmen. Das waren seine Worte bei ihrem letzten Streit gewesen.

Überhaupt stritten sie ziemlich viel, seit sie zu ihrem Bruder in die kleine Wohnung gezogen war und deshalb auch der Hochzeitstermin verschoben wurde.

Manfred konnte nicht verstehen, wie man ihm, dem Juniorchef der Baufirma Hirzel und Sohn, einen Korb geben konnte. Schließlich konnte er jedes Mädchen haben, das er haben wollte. Und da wagte es ausgerechnet die Schwester eines seiner Angestellten, den Hochzeitstermin mit ihm abzusagen.

Franziska hatte ihren Verlobten zwar durchschaut, aber sie hing an ihm, weil er außer Marion der einzige Mensch war, der ihr noch etwas bedeutete.

Als sie die Tür zu der kleinen Wohnung aufschloß, fühlten sich ihre Finger wie Eis an.

»Was machen wir jetzt, Tante Franzi?« piepste Marion mit ihrem zarten Stimmchen.

»Ich weiß es auch nicht, Herzchen«, gestand Franziska, die erleichtert war, daß sie den Trauergästen entkommen war.

Die Wohnung machte einen kalten, leeren Eindruck auf Franziska, nicht zuletzt deshalb, weil sie vergessen hatte, einzuheizen. Das war immer die Arbeit ihres Bruders gewesen, der ihr jeden nur möglichen Handgriff abgenommen hatte.

»Du tust schon so viel für uns, da ist es nur recht und billig, wenn ich dir die schweren Arbeiten abnehme.« Fast glaubte sie, seine warme, wohlklingende Stimme zu hören, und irgendwie fühlte sie sich getröstet.

»Komm, Marion, jetzt mache ich dir erst einmal etwas zu essen, und dann legst du dich hin.«

»Nicht schon schlafen gehen, Tante Franzi. Draußen ist es noch gar nicht dunkel«, wehrte sich das kleine Mädchen und zog einen Schmollmund. Sie sah aus wie eine Elfe mit ihrem schwarzen Lockenkopf und dem schmalen, ein wenig zu blassen Gesichtchen.

»Natürlich ist es schon dunkel. Das Licht, das du siehst, stammt von der Straßenlaterne, du kleiner Schlauberger.« Unwillkürlich mußte die junge Frau lachen. Sie liebte ihre kleine Nichte über alles, doch nicht nur, weil diese dem toten Bruder wie aus dem Gesicht geschnitten war.

Das wußte Marion natürlich, und sie wandte ihren ganzen Charme auf, wenn sie der Tante etwas abschmeicheln wollte.

»Was möchtest du, Marion? Brot mit Wurst oder lieber mit Rührei?« Franziska zwang sich dazu, ein freundliches Gesicht zu machen, obwohl sie immer wieder gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen mußte. Das Kind sollte es nicht sehen, denn sie hatte es noch nicht richtig begriffen, daß der Tod des Vaters ein Grund zum Traurigsein war.

»Wurst mit Rührei«, rief das Mädchen ganz begeistert und kroch auf allen vieren über die Eckbank, bis sie endlich auf ihrem Platz zum Sitzen kam.

Die Wohnküche war groß und behaglich eingerichtet, doch auch hier herrschte ziemliche Kälte. Aber Franziska hatte keine Lust, den Kohleofen einzuheizen. Sie schaltete den Backofen ein und öffnete die Klappe einen Spalt breit. So konnte die Wärme ungehindert entweichen. Bald war es angenehm überschlagen.

Die junge Frau bemühte sich, sich auf das Abendessen zu konzentrieren, das sie zubereitete. Kurze Zeit später stellte sie überrascht fest, daß ihr das sogar einigermaßen gelungen war. Trotzdem war sie froh, als das Kind gegen achtzehn Uhr endlich im Bett lag.

Artig faltete Marion ihre Hände und schaute erwartungsvoll zu der Tante auf. Beinahe hätte Franziska vergessen, mit dem Kind, wie gewohnt, zu beten. Schuldbewußt kehrte sie noch einmal zurück und setzte sich an das Bett.

»Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich zu dir in den Himmel komm«, murmelte die junge Frau tonlos.

»Und zu meinem Vati«, fügte Marion noch eifrig hinzu. Dann schloß sie zufrieden die Augen.

Franziska aber war bei den Worten des Kindes erschrocken zusammengezuckt. Hatte Marion doch mehr verstanden, als sie ahnte?

Rasch hauchte sie dem Kind noch einen zärtlichen Kuß auf die Stirn, bevor sie das liebevoll eingerichtete Kinderzimmer verließ.

Erst jetzt konnte Franziska sich ihrem Schmerz hingeben. Sie vermißte den Bruder unendlich, denn er war immer der ruhende Pol in ihrem Leben gewesen. Und nun war er tot.

Müde setzte sich Franziska auf das Bett in dem kleinen Zimmer, das sie seit Hertas Tod bewohnte. Wie sollte es jetzt weitergehen? Hoffnungslosigkeit stieg in der jungen Frau auf.

Franziska Bölz wußte, daß sie Marion niemals würde im Stich lassen können, dazu liebte sie das Mädchen viel zu sehr. Außerdem war sie es ihrem Bruder und auch Herta schuldig, daß sie sich um deren Töchterchen kümmerte, jetzt, da sie es selbst nicht mehr konnten.

Mit leerem Blick schaute sie sich in dem Zimmer um. Der dunkle Schrank, der noch von den Eltern stammte, schien drohend auf sie zuzukommen, und die dünnen Vorhänge bewegten sich leicht vor dem halb geöffneten Fenster. Kühle Abendluft drang ins Zimmer. Von der Straße konnte man die Geräusche hektischer Betriebsamkeit hören.

Aber Franziska nahm das alles gar nicht wahr. Sie mußte an Ulrich denken, der jetzt so weit von ihr entfernt war. Für ihren Bruder war das Leben ohne seine geliebte Frau sinnlos geworden. Eigentlich hatte der Tod für ihn eine Erlösung dargestellt.

Franziska erschrak bei diesem Gedanken. In welche irren Phantasien verirrte sie sich nun in ihrer Trauer?

Nein! Soweit durfte es nicht kommen. Entschlossen stand sie auf und machte das Fenster zu. Dann ging sie ins Bad, füllte ihren Zahnputzbecher mit Wasser und holte aus dem Medizinschränkchen, das sich hinter dem Spiegel verbarg, die Schlaftabletten ihres Bruders. Ulrich hatte sie seit Hertas Tod täglich genommen.

Es zischte leise, als sie die weiße Tablette ins Wasserglas fallen ließ, dann sprudelte es, und schließlich hatte sie sich aufgelöst. Angewidert verzog Franziska das Gesicht, als sie die milchige Flüssigkeit auf ihrer Zunge spürte. Aber sie fühlte schon nach zehn Minuten, wie sich eine bleierne Müdigkeit in ihr ausbreitete.

Franziska schloß die Augen, bereit, sofort einzuschlafen. Da läutete das Telefon. Die Frau zuckte zusammen, aber sie öffnete nicht die Augen. Sie hatte beschlossen, es läuten zu lassen.

Aber der Anrufer blieb hartnäckig, und schließlich hielt sie das Gebimmel nicht mehr aus. Seufzend erhob sie sich und mußte sich einen Augenblick am Bettpfosten festhalten. Ihr wurde schwindlig, denn die Tablette war stark und ihre Wirkung zuverlässig.

»Ja, hallo«, murmelte sie schwach und preßte den Hörer an ihr Ohr.

»Franziska, endlich. Ich dachte schon, du…« Die Stimme des Mannes klang aufgeregt und auch ein wenig ärgerlich. »Ich habe es vorhin schon einmal versucht. Wenn du jetzt nicht abgenommen hättest, dann wäre ich sofort zu dir gefahren.«

»Ach, Manfred, du bist das«, antwortete Franziska leise auf den Redestrom des Mannes am anderen Ende der Leitung. Sie gähnte verstohlen und war froh, daß er es nicht sehen konnte. Sicher hätte er sie sonst getadelt. »Ich lag schon im Bett.«

Daß Manfred Hirzel vor lauter Ärger die Augen verdrehte, konnte sie zum Glück nicht sehen. Aber im Moment hätte es sie wahrscheinlich auch nicht besonders interessiert.

»Na, du hast vielleicht Nerven, Mädchen. Ich dachte, daß du dir vor lauter Kummer um deinen geliebten Bruder vielleicht das Leben nimmst, und dann gehst du seelenruhig ins Bett und läßt den lieben Gott einen guten Mann sein.«

»Sprich nicht so respektlos von meinem Bruder und vom lieben Gott. Vielleicht brauchst du ihn auch einmal«, antwortete Franziska ärgerlich. Plötzlich war sie hellwach. Manfred hatte sich um sie gesorgt. Das war ja etwas ganz Neues.

»Von wo rufst du überhaupt an? Ich dachte, du wärst in Zürich?« Die Verbindung war so deutlich und ohne Nebengeräusche, daß Franziska sofort merkte, daß Manfred Hirzel zumindest in Deutschland war.

»Die Verabredung hat sich zerschlagen«, gestand der Mann. »Überhaupt ist der ganze Auftrag flöten gegangen.«

»Ach, und das sagst du mir erst jetzt?« Franziskas Stimme klang traurig. »Dann hättest du mich doch begleiten können. Ich hätte dich so dringend gebraucht.«

»Das glaube ich dir ja, Liebling. Aber weißt du, ich war so zerschlagen, weil mir ein anderer zuvorgekommen ist, daß ich mich erst einmal habe erholen müssen. Bitte, verzeih mir.« Manfred bemühte sich, seine Stimme zerknirscht klingen zu lassen, und es gelang ihm auch. Er war ein guter Schauspieler und auf diese Eigenschaft stolz.

Franziska fiel auch prompt darauf herein. »Natürlich verzeih ich dir. Es ist zum Glück vorbei, und Ulrich hättest du ohnehin nicht mehr helfen können. Es ist nur…« Sie zögerte einen Augenblick. »Ich… ich vermisse dich so sehr.«

»Also, dann machen wir jetzt Schluß, damit du wieder in dein Bett kommst, bevor es kalt wird. Morgen sehen wir uns ja sicher.« Hastig beendete Manfred Hirzel das Gespräch, das in Bahnen zu verlaufen drohte, die ihm nicht unbedingt zusagten. Zugegeben, er mochte Franziska Bölz sehr gern. Sie sah bildhübsch aus mit ihren dunklen, langen Haaren und den fast schwarzen Augen, die voller Glut funkeln konnten.

Seit sie sich aber zu einem richtigen Heimchen am Herd entwickelt hatte, war sein Interesse an ihr merklich abgekühlt. Er brauchte eine Frau, die zu jeder Tages- und Nachtzeit für ihn da war, die seine Hobbys teilte und an seinen Vergnügungen teilnahm.

Franziska hatte sich aber statt dessen mit dem Kind ihres Bruders belastet und mit dessen ganzem Haushalt. Das gefiel Manfred Hirzel ganz und gar nicht. Und jetzt, nach Ulrichs Tod, sah es fast so aus, als würde Franziska gar nicht mehr von dem Kind loskommen, an das sie offensichtlich ihr Herz gehängt hatte.

Nein! Manfred Hirzel schüttelte den Kopf, daß seine blonden, dauergewellten Haare nur so flogen. Ein Kind würde er sich niemals aufhalsen. Da verzichtete er lieber auf Franziska, so schwer es ihm auch fiel.

Noch eine ganze Weile stand Manfred vor dem Telefon und betrachtete den Apparat, ohne ihn überhaupt wahrzunehmen. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht, und darum beschloß er, sie auf Franziska abzuwälzen.

Sie sollte wählen zwischen einer Ehe mit ihm und dem Kind, das er niemals aufnehmen würde. Was ging ihn diese Marion an, das Kind eines seiner Arbeiter?

Er hatte schließlich den Unfall nicht verschuldet, der Ulrich Bölz das Leben gekostet hatte. Also war er auch nicht verpflichtet, sich um dessen Nachkommen zu kümmern.

Trotzdem wollte er großzügig sein und Franziska anbieten, das Kind in einem guten Internat unterzubringen.

Natürlich! Das war überhaupt die Lösung. Manfred schlug sich mit der Handfläche an die Stirn. Daß er da nicht eher draufgekommen war.

Von Manfred Hirzels geheimen Gedanken und Plänen ahnte Franziska natürlich nichts. Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, kehrte auch die bleierne Müdigkeit wieder zurück, die sie vorhin so rasch abgeschüttelt hatte.

*

»Hast du ihn eigentlich gekannt?« Denise von Schoenecker trat ans Fenster und beobachtete gedankenverloren die Schneeflocken, die lustig durch die kalte Novemberluft gaukelten, bevor sie langsam zu Boden fielen.

»Wen meinst du?« Ihr Mann Alexander von Schoenecker ließ die Zeitung sinken. Den ganzen Abend schon hatte er gemerkt, daß seine Frau etwas beschäftigte. Sie war so schweigsam gewesen, was sonst gar nicht ihre Art war.

»Ulrich Bölz«, antwortete Denise etwas ungeduldig. »Er hat bei Hirzel und Sohn gearbeitet. Du kennst doch den Seniorchef.«