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Seit Jahresbeginn 2022 hat der Gesetzgeber sehr deutlich den Anspruch junger Menschen für seine Entwicklung und Erziehung mit erheblichen Änderungen im Achten Buch -Sozialgesetzbuch- konkretisiert. Für die Persönlichkeitsentwicklung hat er nun die Norm SELBSTBESTIMMUNG den bisherigen Normen EIGENVERANTWORTUNG und GEMEINSCHAFTSFÄHIGKEIT vorangestellt. Das geänderte SGB VIII wird nun mit "Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit." in § 1 Absatz 1 Satz 1 eingeleitet. Solch eine erhebliche Anspruchserweiterung zieht eine grundlegende Überlegung der bisherigen Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen nach sich. Erziehung und Kommunikation sind untrennbar miteinander verbunden. Erziehung von jungen Menschen basiert elementar auf Kommunikation. Man darf daher davon ausgehen, dass die Kommunikationsfähigkeit einer pädagogischen Fach- und Lehrkraft das wohl bedeutendste Qualifikationsmerkmal ihrer Tätigkeitsbewertung ist. Wie kann ich als pädagogische Fach- und Lehrkraft diesen neuen gesetzlichen Anspruch bei meinen Schutzbefohlenen in meiner Alltagssprache fördernd so umsetzen, damit ich mich in meiner pädagogischen Arbeit nicht allzu weit weg von Recht und Gesetz bewege? Was kann ich zukünftig tun, damit ich mich im vorgegebenen Rechtsanspruch des jungen Menschen im alltäglichen Sprachgebrauch und Handeln bewege? Ein pädagogischer Kommunikationsstandard mit Bezug auf die gesetzlich neu vorgegebene Anspruchsgruppe Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit drängt sich damit als eine notwendige Teildisziplin bisheriger Erziehungswissenschaften in den Mittelpunkt jeglicher weiterer Überlegungen, weil Fach- und sachgerechte Einschätzungen und Bewertungen heutiger pädagogischer Arbeit die Einbeziehung des Qualifikationsmerkmals pädagogisch fördernder Kommunikationsfähigkeit im Sinne der neuen Anspruchsgruppennorm Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit zukünftig erfordern wird.
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Seitenzahl: 76
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«Die besten Absichten bewirken nachhaltig wenig, wenn die innere Haltung eine andere Sprache spricht.»
Hartmut Kay Hirsch Kommunikationspädagoge
Gewidmet meiner Mutter.
Sie gab mir in meiner Kindheit Mut und Zuversicht für meinen Berufswunsch als Erzieher und Lehrer.
Vorwort
1.0 Grundlagen
1.1 Begriffserklärungen
1.2 Gesetze im Kontext der Würde des Menschen
1.2.1 Das Grundgesetz
1.2.2 Das Achte Buch -Sozialgesetzbuch- SGB VIII
1.2.3 Das Schulgesetz am Beispiel des Landes Baden-Württemberg
1.3 Haltungsinterpretationen im Kontext des gesetzlichen Anspruchs
1.3.1 Bisheriger Stand und wie es eigentlich sein sollte
1.3.2 Haltung zur Schulpflicht nach heutiger gesetzlicher Norm
1.3.3 Haltung zu Bewertungsformen nach heutiger gesetzlicher Norm
1.3.4 Haltung zur Selbstbestimmung nach heutiger gesetzl. Norm
1.3.5 Haltung als Indikator erziehungsfördernder Kommunikation
2.0 Standardentwickl. im Kontext des Achten Buch – Sozialgesetzbuch
2.1 Indikatoren für die Gewichtung von Kommunikationspädagogik
2.2 Notwendigkeit eines Kommunikationsstandards
2.3 Kurzvorstellung von Teilen geeigneter Kommunikationsmethoden
2.3.1 Menschenwürdige Kommunikation
2.3.2 Gewaltfreie Kommunikation
2.3.3 Leichte Sprache
2.3.4 Einfache Sprache
3.0 Entwicklung von Leitlinien in der pädagogischen Kommunikation
4.0 Qualitätssicherung
4.1 Qualifikationsmerkmale
4.2 Weiterbildung
4.3 Kommunikationsbeauftragte
Schlusswort
Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einer meiner Seminare und ich stelle Ihnen folgende Eingangsfrage:
“Was müsste ich als pädagogische Fachkraft alles tun, um von einem jungen Menschen, den ich zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit erziehen soll, anschließend die schlechteste Bewertung für meine Erziehungsleistung zu erhalten?“
Die Frage würde Sie anfangs vermutlich zum Schmunzeln bringen.
Später würden die Antworten im Abgleich mit der aktuellen Kommunikationsrealität immer deutlicher werden lassen, in welcher katastrophalen Situation unser Erziehungs- und Bildungssystem derzeit eigentlich steckt.
Sowohl kommunikativ wie auch dadurch visuell resultierend werden die tatsächlichen anerzogenen Haltungen sichtbar. Insbesondere die Rückfrage auf den Begriff - Selbstbestimmung - wie: “Tja dürfen dann Kinder nun auf den Tischen stehen, auf uns herabsehen und machen, was sie wollen?“ offenbart eine geprägte innere Haltung der bisherigen Erziehungsgewohnheiten und -ansprüche älterer Pädagogen. Hier ist ernsthaft folgende Hinterfragung zielführend, um die neue Situation ab Januar 2022 zu verdeutlichen:
Ich frage mich hier grundsätzlich, von welchen Menschen ich eigentlich bisher erzogen und geprägt wurde. Ist denn tatsächlich davon auszugehen, dass genau diese Frage stellenden Pädagogen in ihrer eigenen Kindheit und Jugendzeit auf den Tischen gestanden hätten und kein Gehör ihren Begleitern gegeben hätten, hätte man ihnen damals Selbstbestimmung zuerkannt und anerzogen? Diese Furcht vor Folgen, die sie heute der Selbstbestimmung zuschreiben, wäre diese tatsächlich bei ihnen selbst berechtigt gewesen? Und von solchen eigentlichen Rowdys, die durch Fehlen der Selbstbestimmung in ihrer Erziehung leider doch noch brave Menschen geworden sind, wurde ich erzogen? Solchen Menschen, die ihre brutalen, randalierenden und gewalttätigen Bedürfnisse durch strenge Erzieher unterdrücken mussten, soll ich nun meine Kinder überlassen? In welcher Scheinwelt voller unterdrückter Gefühle habe ich eigentlich bisher gelebt? Wie soll ich bei solch einer Haltung zu dem Begriff Selbstbestimmung die jeweilige Person eigentlich betrachten und verstehen?
Entsteht Ungehorsam und Revolution aus der Selbstbestimmung heraus oder aus der Nichtbeachtung solch eines Anspruchs?
Ich hoffe dem Leser wird mit dieser philosophischen Annahme klar, aus welcher Haltung heraus eine so klare Änderung des Erziehungsanspruchs durch den Gesetzgeber erforderlich wurde.
Bis zum 31.12.2021 war der Rechtsanspruch nur auf Eigenbestimmung und Gemeinschaftsfähigkeit ausgerichtet. Seit 01.01.2022 ist der Rechtsanspruch auf Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit geändert worden.
Angenommen der Rechtsbegriff Eigenverantwortung vertritt in der Farbenwelt die Farbe Gelb und Gemeinschaftsfähigkeit die Farbe Blau, so hatte der bisherige Erziehungsauftrag die Farbe Grün. Durch den zugefügten Rechtsbegriff Selbstbestimmung in der Farbe Rot ergibt sich ein Erziehungsauftrag in der Farbe Schwarz. Allerdings kommt es in der Rechtssprache auf die Stellung der Rechtsbegriffe an. Die Reihenfolge von Rechtsbegriffen zeigt die Absicht des Gesetzgebers hinsichtlich seiner Gewichtung. Der Gesetzgeber hat die Selbstbestimmung (Rot) als Nummer 1, die Eigenverantwortung (Gelb) als Nummer 2 und die Gemeinschaftsfähigkeit (Blau) als Nummer 3 gewichtet. Aus viel Rot, weniger Gelb und am wenigsten Blau ergibt sich das Farbergebnis rotes Orange.
Der bisherige Erziehungsauftrag Grün ist nun seit Januar 2022 rotes Orange in Farbensprache ausgedrückt.
Die Würde des Menschen ist durch Selbstbestimmung (Rot) und Eigenverantwortung (Gelb) geprägt was die Farbmischung Orange ergibt.
Aus der Farbenperspektive betrachtet ist mit einem rotorangenen Erziehungsauftrag der Würde des Menschen am naheliegendsten gedient und somit auch der Verfassungsnorm „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.
Der fehlende Blick auf die Selbstbestimmung in der Kommunikation zwischen pädagogischen Fachkräften und ihren Schutzbefohlenen hatte die Würde des Heranwachsenden in staatlichen sowie privaten Bildungs- und Erziehungseinrichtungen allerdings bisher nicht wirklich im Visier. Als Rechtsnorm und gesellschaftliche Haltung stand seit Juni 1990, also seit gut 30 Jahren, die Erziehung junger Menschen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Die Rechtsnormgruppe Eigenverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit allein haben kaum einen Bezug zur Selbstbestimmung. Nur auf Eigenverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit abgezielt sind Erziehungsbegriffe grundsätzlich auf Unterordnung in einer vorgegebenen Hierarchie ausgerichtet. Dies war in Deutschland bis 1989 auch überlebensnotwendig. Deutschland war geteilt zwischen zwei politisch herrschenden Ansichten, besetzt von den Siegermächten USA, Frankreich, Großbritannien und Sowjetunion und durch eine Staatsgrenze in zwei deutsche Völker geteilt. Gemeinschaftsfähigkeit hatte den Blick darauf in der jeweiligen Zone zu funktionieren und Eigenverantwortung hatte den Fokus auf den rechtlichen Aspekt, der sich letztendlich bei Vollgeschäftsfähigkeit ab 18 Jahre per Bürgerlichen Gesetzbuch und die damit einhergehenden Rechte wie auch Pflichten ergaben. Aber ganz klar von mir darauf hingewiesen unterscheidet sich Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit kaum ebenso von Erziehung in Bildungseinrichtungen der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik sowie eben insbesondere auch Resozialisierungsprogrammen in der Bewährungshilfe und Justizvollzugsanstalten. Hart von mir kritisierend ist 1990 ein SGB 8 verabschiedet worden, um junge Menschen einen Anspruch auf späteres Funktionieren in einer Gesellschaft so zu sichern, um allein dem Staat die neu erlangte Souveränität in zukünftigen Generationen funktional zu ermöglichen. Denn ein wirklich erstrebenswerter Anspruch für den Betroffenen, dem jungen Menschen, ergab sich insoweit nicht, als dass ein Kind und Jugendlicher diesen Anspruch gegenüber den Staat hätte einklagen wollen. Erziehung zu Eigenverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit zielt kaum auf die Anspruchshaltung eines Kindes und Jugendlichen ab, sondern auf eine bis heute anhaltende Bestimmungshaltung gegenüber dem jungen Menschen. Der bisherige Anspruch auf Erziehung entpuppte sich als Erwartungshaltung und Regelmaßnahme des Gesetzgebers. Der Demokratie war er nicht ausreichend dienlich. So sind im letzten Jahrzehnt die Wahlbeteiligungen erheblich gesunken und nach einer neuesten Studie glauben 33 % der deutschen Bevölkerung, sie leben in einer Scheindemokratie, die von einigen Wenigen bestimmt wird. Selbstbestimmung sei nicht gewollt und gefördert.
Und vergessen sei auch nicht die auf Eigenverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit getrimmte Bildungspolitik der ehemaligen DDR, die als Resultat massenhafte Flucht der jungen Erwachsen begünstigte, insbesondere auch wegen der fehlenden Selbstbestimmungsförderung.
Der Gesetzgeber hinterlässt also 1990 den Anschein zu unerfahren in seiner Gesetzesgestaltung zu sein, als dass er insbesondere Selbstbestimmung noch nicht als Notwendigkeit von Gemeinschaftsfähigkeit und Demokratieentwicklung erkennen konnte.
Aus den letzten 30 Jahren ist nun eine Generation hervorgegangen, die sehr gut gebildet und daraus hervorrufend mit dem Anspruch der Selbstbestimmung ein Demokratieverständnis und Weltsicht eingenommen hat, die die Würde des Menschen in den ihm gebührenden Blick korrigierend neu stellt.
Selbstbestimmung ist ein wesentlich bedeutender Bestandteil der Würde des Menschen. Ohne Selbstbestimmung sind Eigenverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit in der gesellschaftlichen und rechtlichen Umsetzung schließlich nur Schall und Rauch. Selbstbestimmung fördert die Eigenverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit bedeutend.
Und genau deswegen darf man ebenso annehmen, dass der Gesetzgeber nun in einer sehr deutlichen Art und Weise sein Achtes Buch – Sozialgesetzbuch geändert hat.
Sein neues Gesetzeswerk wird mit dem geänderten Satz "Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit." in § 1 Absatz 1 Satz 1 neu eingeleitet.1
Die „Selbstbestimmung“ wurde in weiteren fünf Paragrafen vor den bisherigen und weiter gültigen Worten „Eigenverantwortung“ und „Gemeinschaftsfähigkeit“ normativ als Rechtsanspruch an den Normadressat gesetzt. Die Norm Selbstbestimmung an erster Stelle der Normengruppe Selbstbestimmung/Eigenverantwortung/Gemeinschaftsfähigkeit ist keine Ergänzung als solche, denn sonst wäre es in dieser Konstellation an letzter Stelle hinzugefügt worden. Nein, der Gesetzgeber hat die Selbstbestimmung an erste Stelle gesetzt, weil nur mit dieser auch eine eigenverantwortliche, gemeinschaftsfähige Persönlichkeit sich erst überhaupt entwickeln kann.
Selbstbestimmung und Eigenverantwortung sind zusammenhängende Grundelemente der menschlichen Würde. Inzwischen wurde anerkannt, dass die Würde des Menschen nicht nur durch Dritte, sondern aufgrund ihrer Beschaffenheit auch an sich selbst unantastbar sein soll.
Bereits Richard Karl Freiherr von Weizsäcker (1920-2015) gab Hinweise auf die Verletzlichkeit der eigenen Würde durch sich selbst mit seinem Zitat: "Seiner eigenen Würde gibt Ausdruck, wer die Würde anderer Menschen respektiert." Davon abgeleitet darf man sagen, wer die Würde des anderen Menschen nicht respektiert, tastet seine eigene Würde unvermeidlich an.
Kommen wir aus den Annahmen und dem Philosophieren wieder in die Beantwortung meiner Eingangsfrage zurück. Letztendlich führt sie zu offenen Grundsatzfragen:
Was braucht es, um der Erfordernis des Gesetzgebers nachkommen zu können?
Aufgrund der eigenen Erziehung haben wir (hier der Seminarleiter und die Seminarteilnehmer) eine innere, von Bestimmung geprägte Haltung an- und eingenommen, die sich ebenso in unserer Kommunikationsfähigkeit unweigerlich ausdrückt und an jüngere Menschen weiter gegeben wird.
Die neue Situation erfordert einfach eine klare Hilfestellung in der pädagogischen Arbeit.
Hauptwerkzeug eines Pädagogen sind i.d.R. Sprachlaute in Form von Kommunikation zu jungen Menschen.