Kornblumenzeit - Simona Wernicke - E-Book

Kornblumenzeit E-Book

Simona Wernicke

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Beschreibung

Ostpreußen 1928. Die junge Käthe verliebt sich in Carl, einen angehenden Bäckermeister mit eigenem Geschäft. Nach der Hochzeit werden ihre Kinder geboren, es folgen arbeitsame und glückliche Jahre in Locken. Doch im Januar 1945 nimmt das Schicksal der Familie eine dramatische Wendung, als sie ihre geliebte Heimat Masuren verlassen müssen. Ist die gesundheitlich stark angeschlagene Käthe den Strapazen der Flucht gewachsen, und was wird aus den fünf Kindern, als Carl in Gefangenschaft gerät?

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Simona Wernicke

Kornblumenzeit

Eine ostpreußische Familiengeschichte Roman

Impressum

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © Janusz Lipiński / stock.adobe.com;

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ostpreussen_karte.png

ISBN 978-3-8392-7748-5

Zitat und Widmung

Wer nich Angst hefft, dem done se ok nuscht.

Wer keine Angst hat, dem tun sie auch nichts.

Ostpreußisches Sprichwort

*

Für meinen Vater und Käthe

Teil 1: Gute Jahre

1.

April 1928

Im Zimmer war es noch dunkel, als im frühen Morgengrauen auf dem Misthaufen der erste Hahn krähte. Der Zeiger des Weckers zeigte auf 4.30 Uhr. Müde wälzte sich Käthe noch einmal im Bett herum.

»Was ist?«, flüsterte Tuta neben ihr.

»Zeit zum Aufstehen, Kleine!«

»Och nö!«

»Ei, du kannst noch ein paar Minuten liegen bleiben, bis ich Wasser geholt habe.«

In der Stube war es kalt an diesem ersten Apriltag des Jahres 1928. Käthe fror in ihrem dünnen Nachthemd, zog schnell den Morgenrock über und schlüpfte in die Holzpantinen. In der Dunkelheit tastete sie nach der kleinen tragbaren Öllampe und den Zündhölzern und entfachte das funzlige Licht. Gut, dass sie gestern Abend noch das Wasser zum Waschen von der Pumpe im Hof in die Eimer geschöpft hatten, die auf dem Flur draußen bereitstanden.

Auch Tuta, eigentlich Gertrud und nur ein Jahr jünger als Käthe, war inzwischen wach. Nachdem Käthe Wasserkrug und Schüssel geholt hatte, machten die Mädchen kichernd Katzenwäsche, bevor sie sich ihre Wollstrümpfe, warme Unterwäsche und ihre Leinenkleider anzogen. Es waren die Kleider, die sie täglich für die Arbeit in Haus und Hof trugen. Auf den gedeckten dunklen Farben sah man nicht gleich jeden Fleck.

Auch ihre Schwester Lotte, die mit vollem Namen Charlotte hieß, rührte sich endlich im dritten Bett in der Stube. »Wollt ihr heute ohne mich anfangen? Ich schlafe gerne noch ein Stündchen!«

»Nein, los, raus mit dir, sonst komme ich mit dem nassen Waschlappen!« Tuta lachte.

Die drei Schwestern waren hübsche Mädchen, Käthe mit ihren 21 Jahren die älteste, Lotte mit 17 das Küken unter den Mädels. Sie waren im heiratsfähigen Alter, aber bisher hatte keine von ihnen Interesse an dem einen oder anderen Bewerber gezeigt.

Ihr Bruder Bruno nebenan hatte eine Kammer für sich. Er durfte noch eine Stunde länger schlafen, denn er hatte, wie fast jeden Abend, gestern dem Vater in der Wirtsstube geholfen. Es war sehr spät geworden, als der letzte Bauer endlich heimtorkelte.

Die Familie Weiß betrieb ihren Dorfkrug unter der großen Linde in Koschainen schon seit vielen Jahren. Vater Hugo hatte das Anwesen von seinem Vater übernommen, der das flache rote Backsteingebäude mit den schmucken grünen Fensterläden Ende des 19. Jahrhunderts bauen ließ.

Viel Personal brauchte man im Gasthaus Hugo Weiß nicht. Man hatte schließlich vier erwachsene Kinder, die mit zu­­packen konnten.

Da war Erna, die Mamsell, die hier schon viele Jahre ihren Dienst tat und eine sehr gute Köchin war. Mittlerweile war sie etwas in die Jahre gekommen. War sie 60 oder älter? Das wusste niemand so ganz genau. Erna selbst sprach nicht darüber.

Auch Marie, noch jung an Jahren, gehörte als Magd mit zum Haushalt, genauso wie der Knecht Paul. An den Werktagen hatten sie am Vormittag im Laden Hilfe von Mine.

Mutter Anna stand dem Haushalt und dem Laden vor. Haus und Hof hatten blitzblank in Ordnung zu sein. Daneben kümmerte sie sich um das Kleinvieh und den Garten, in dem neben Blumen allerlei Gemüse wuchs.

Für die Feldarbeit gab es Saisonkräfte, die bei der Saat und bei der Ernte halfen. Die Leute wohnten in den beiden kleinen Insthäusern gegenüber dem Wohn- und Gasthaus.

Käthe rieb sich den letzten Rest Müdigkeit aus den Augen. »Dann wollen wir mal!« Durch die Gartentür gingen sie ein paar Schritte in Richtung Stall, wo Marie und Paul schon dabei waren, die acht Kühe zu melken. Die Schwestern banden sich ihre Kopftücher um und schnappten sich eine der Forken, die am Scheuneneingang am Haken hingen. Sie machten sich daran, den Kuhstall auszumisten. Den Schweinekoben würden sie sich später auch noch vornehmen.

Als sie fertig waren, holte Lotte noch schnell die Blechschüssel aus der Küche und stieg damit die schmale Treppe hinauf auf den Dachboden, um in der Kornkammer Mengsel und Hühnergerste für das Federvieh zu holen. Sobald sie damit den Stall betrat, ging ein eifriges Gegacker los, und Hühner, Gänse, Enten und Truthähne flatterten ihr aufgeregt entgegen.

Diese Arbeiten gehörten jeden Morgen in der ersten Stunde nach dem Aufstehen zum Leben. Erst kam das Vieh, dann der Mensch. Niemand störte sich daran.

Nachdem die Tiere versorgt waren, gab es um 6 Uhr das erste Frühstück. Dazu saß die Familie mit den Leuten am großen Tisch in der Küche. Es gab Klunkermus, eine süße Milchsuppe mit Mehlklümpchen, und ein Stück Brot mit Butter dazu. Bevor sie anfingen zu essen, wurde von Mutter Anna die tägliche kurze Andacht aus der Bibel gelesen.

Anna war eine gute Christin und brachte den Glauben auch ihren Kindern und Angestellten nahe. Sie war nun mittlerweile 48 Jahre alt, und die viele Arbeit in Haus, Hof, Laden und Gastwirtschaft hatten sie ausgezehrt. Ihr Rücken war schon leicht gebeugt, und oft taten ihre Knochen weh. Doch sie war immer noch eine schöne Frau mit einem aparten Profil, kräftigem Kinn und graziler Nase. Das Haar trug sie zu einem Knoten streng nach hinten frisiert. Es war inzwischen mit Silberfäden durchzogen, aber das stand ihr gut. Ihr Körper war immer noch schlank und ansehnlich trotz der vier Kinder, die sie geboren und erzogen hatte. Sie war stets adrett gekleidet.

»Sag mal, Käthe, was meinst du, wann bei uns mal wieder richtig was los ist im Gasthaus?« Lotte sah fragend ihre große Schwester an, während sie gähnend in ihrer Suppe rührte.

»Warum, los ist doch immer was! Ich kann mich über zu wenig Arbeit nicht beklagen!«

»Ich meine so richtig, mit Musik und Tanz. Nicht immer nur die Bauern, die abends am Stammtisch ihr Bier trinken und Karten spielen. Der Winter war so langweilig!«

»Na warte mal ab, Kleine, die Saison geht ja bald los. Dann haben wir demnächst das Ostergeschäft, das Pfingstgeschäft, Hochzeiten, Vereinsfeiern … na, ihr wisst schon. Jedes Jahr das Gleiche.« Käthe sah ihre Schwester verständnislos an. Was Lotte nur immer feiern wollte. Ihr genügte das stille Land­leben. Am Nachmittag mal in aller Ruhe im Garten in der Sonne sitzen, den Blick über die Wiesen streifen lassen und den Pferden und Kühen beim Grasen zusehen. Das gefiel ihr besser als der Trubel bei den Feierlichkeiten.

Lotte aber freute sich. Etwas Abwechslung konnten sie nach dem langen Winter wirklich gebrauchen. Sie waren junge schöne Frauen, und es musste sich doch auch mal jemand hierher verirren, der nicht aus ihrer 300-Seelen-Gemeinde Koschainen stammte.

An diesen noch etwas kühlen Frühlingstagen war die Saat schon ausgebracht und zeigte erste Ergebnisse. Zarte grüne Halme Korn und auch Kartoffelpflanzen wuchsen auf ihren 60 Morgen großen Feldern, dahinter stand die Wiese für die Kühe. In den 20 mit Pferdemist gedüngten Frühbeeten zeigten zarte Pflänzchen ihre ersten Spitzen und konnten bald ins Freie ausgesetzt werden.

»So, Marjellchens, schnappt euch einen Besen, Eimer und Schrubber – die Gaststube ist fällig!« Mutters Worte ließen keine Widerrede zu. Aber die drei fügten sich ohne Murren, es war ja jeden Tag so. Hier mussten alle mit anfassen. Vater und Bruno waren mit Paul im Stall zugange und schleuderten die frisch gemolkene Milch in der Zentrifuge.

Käthe schaute noch schnell in den Hühnerstall und fand fünf Eier in den Nestern. »Hier, Erna, hab ich dir mitgebracht. Mehr als fünf waren es nicht.«

»Na, der Tag ist noch lang, Marjellchen.« Erna in der Küche strahlte wie immer Ruhe aus und nahm Käthe dankend die Eier ab. Gleich würde sie mit der Herrin des Hauses den Essensplan für den Tag besprechen.

»Vielleicht mache ich Schmandheringe mit Kartoffeln. Oder einfach Kartoffelklöße mit Specksoße und etwas grünen Salat?« Erna überlegte. Der erste Blattsalat war in den Frühbeeten schon ordentlich gewachsen und konnte geschnitten werden. Da es ein Wochentag war, wollte sie etwas Einfaches für die Familie und die Leute vorschlagen. Für die Gaststube würde man drei Gerichte auf die Karte nehmen, die schnell zuzubereiten waren. Kartoffelsalat hatte sie noch von gestern im Kühlkeller.

Anna hatte mit der Magd Marie am gestrigen Abend schon die Wäsche mit dem Waschsoda Henko eingeweicht. Die war heute noch fällig. Darum würde Marie sich kümmern, denn sie selbst hatte im Laden zu tun. Jetzt sortierte sie Waren in die Regale, die gestern geliefert worden waren. Auf ihre Kolonialwaren war Anna besonders stolz. Aus einer großen Kiste packte sie Reis, das Pfund zu 15 Pfennig, und Zucker zu 62 Pfennig. Auch ein paar Tüten echten Bohnenkaffee stellte sie dazu, ein Luxus, den sich nicht viele leisteten, denn für das Pfund musste man drei Reichsmark 50 berappen. Deshalb kauften ihn die meisten nur in Viertelpfundtütchen. Butter hatten sie im Fass, ebenso das Sauerkraut. Selbst gemachter Käse stand unter der Glasglocke, auch geräucherten Speck und Schinken boten sie an. Hühnereier gab es en gros in einem großen Weidekorb, die frischesten auf der linken, die von gestern und vorgestern auf der rechten Seite. Milch hatten alle Dörfler selbst. Auch die Instleute hielten sich auf ihren kleinen Höfen eine Kuh und ein paar Hühner und waren damit versorgt.

Vater sattelte gerade sein Pferd, um einen frühen Ausritt über die Felder zu machen und nach dem Rechten zu sehen. Sohn Bruno hatte den Kastenwagen angespannt, denn er wollte nach Miswalde auf den Markt fahren, um neue Ware für den Laden zu holen.

Um 9 Uhr versammelten sich alle wieder um den großen Tisch mit der Glanzdecke in der Küche. Es duftete nach Malzkaffee und Rührei. »Hab ich schon wieder einen Hunger«, stellte Lotte fest. Es gab Kleinmittag, das kräftige zweite Frühstück mit Brot, Butter, Schlackwurst, Glumsen und ein paar Eiern.

Mutter Anna goss noch einmal Kaffee nach. Eine Kanne mit dem Getreidekaffee stand den ganzen Tag über in der Küche unter der gesteppten Wärmehaube. Nur sonntags und zu besonderen Anlässen gönnte man sich den echten Bohnenkaffee.

»Sagt mal, Mädchen, wie wäre es, wenn wir übermorgen einmal nach Mohrungen fahren und nach ein paar guten Stoffen schauen? Es ist Frühling, und da solltet ihr etwas Hübsches anzuziehen haben. Lisbeth Kerner, die Schneiderin im Ort, wird euch daraus ein schönes Kleid nähen.«

»Oh ja! Ein neues Kleid!« Mit einem Freudenschrei fielen ihr die drei Mädchen um den Hals. Anna schaute liebevoll ihre nun schon erwachsenen Kinder an. Was für eine Freude waren sie, und was für eine Hilfe.

Denn etwas anderes als Arbeit gab es selten, es war von jeher so und würde immer so bleiben. Vom Morgengrauen bis in die Abendstunden wurde geschafft und gesorgt.

Sie hatte Hugo vier wunderbare Kinder geschenkt, und beide waren dankbar dafür. Ihre Liebe war stark genug, alle Höhen und Tiefen des Alltags zu bewältigen. Wenn sie die Zeit fanden, saßen sie an lauen Abenden auch einmal hinter dem Haus auf der Gartenbank. Dann lag seine Hand auf ihrer, während sein wachsamer Blick über das Land schweifte.

Die Mädchen waren gut geraten und von einem lieben, ehrlichen Charakter. Bruno mit seinen 19 Jahren kam etwas mehr nach dem Vater, der eine preußische Strenge ausstrahlte, den dunklen Schnurrbart gepflegt und fein mit Pomade nach oben gezwirbelt.

Bruno sollte später einmal das Wirtshaus übernehmen, dafür hatte er eine kaufmännische Schule besucht und war vom Vater schon in alle Gepflogenheiten eines Geschäftsmannes eingewiesen worden. Oft saß er an den Vormittagen in der Schreibkammer und führte die Bücher.

Die Familie war sehr musikalisch. Die Mädchen spielten Klavier, der Junge Geige. Gern musizierten sie an langen Winterabenden gemeinsam in der guten Stube.

»Ihr Marjellchens habt’s gut!« Bruno schmunzelte. »Ein hübsches Kleid nach dem anderen. Und was ist mit mir?«

»Wir bringen dir was mit!« Käthe lachte. »Wie wäre es mit einer Tafel Schokolade?« Sie wusste, ihr Bruder liebte Süßes über alles.

2.

Mai 1928

Die Luft flimmerte an diesem sonnigen Pfingstsonntag. Die Hitze hatte jetzt in den späten Vormittagsstunden schon fast ihren Höhepunkt erreicht. Aus dem Wald in der Ferne rief ein Kuckuck, bunte Schmetterlinge tummelten sich im blühenden Holunderbusch und auf den Wiesenblumen. Die große Linde am Haus verströmte einen starken, süßlichen Duft.

Käthe ließ ihren Blick über die grünen Felder und Weiden schweifen und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Es sah herrlich aus, wenn der Mohn so üppig in einem leuchtenden Rot zwischen dem Weizen blühte!

Sie hatte ihr dunkelblondes kräftiges Haar im Nacken zu einem geflochtenen Kranz gelegt. Die gestärkte blütenweiße Schürze über dem knöchellangen blauen Kleid, die sie extra zum Bedienen trug, wurde im Rücken mit breiten Bändern über Kreuz gehalten.

Das wird wieder ein anstrengender Tag werden, dachte sie. Bereits am Vormittag war die ganze Familie mit dem Pferdefuhrwerk in Miswalde in der Kirche zum Pfingstgottesdienst gewesen. Nun, endlich zurück, hieß es, Vorbereitungen für die Gäste zu treffen. Im Haus herrschte eine geschäftige Betriebsamkeit.

»Käthchen, haste schon die Tische im Garten abjewischt?«, rief Erna aus der Küche. »Du wolltest doch helfen!«

»Ich komme schon«, antwortete Käthe. Der Pfingstsonntag versprach ein gutes Geschäft für das Gasthaus. Auch aus den umliegenden Dörfern würden erwartungsgemäß zahlreiche Gäste kommen. Erna schwitzte in der Küche über allerlei Töpfen und Pfannen. Ein Schwein war geschlachtet worden, deshalb hatte sie das bei allen so beliebte Schwarzsauer gekocht. Keiner konnte diese Blutsuppe so gut würzen wie sie. Es duftete nach Schweinebraten und Sauerkraut. Auch ihre berühmten Königsberger Klopse standen auf der Karte, sowie Aal und Dorsch. Die waren in den nahen Seen reichlich vorhanden und günstig beim Fischer zu erstehen. Dazu gab es Gurkensalat. Im Gewächshaus hatte sie die ersten grünen Gurken abgenommen.

An Tagen wie diesem konnte man sich erhoffen, dass im Gasthaus neben Bier und Schnaps auch das eine oder andere gute Essen gewünscht wurde.

Im Garten hatten 50 Leute Platz. Käthe rückte die Stühle gerade und säuberte sie mit einem feuchten Lappen. Die Holztische musste sie mit einer Bürste schrubben, denn sie waren mit Blütenstaub und Vogeldreck verschmutzt. Bei diesem schönen Wetter würden tagsüber die Gäste draußen sitzen wollen.

Kurz darauf kamen die ersten Dörfler zum Frühschoppen nach dem Kirchgang. Sie nahmen am Stammtisch Platz, um über ihre Arbeit und die Politik zu palavern und dabei die eine oder andere Maß zu zischen. Es rollten auch Fuhrwerke aus Pollwitten, Maldeuten und Miswalde an, denn die gute Küche und der freundliche Gastwirt waren weithin bekannt und beliebt.

Wirt Hugo stand am Ausschank, zapfte das Bier und füllte hochprozentigen Korn und Klaren in die Schnapsgläser. Auch der eine oder andere gute Meschkinnes fand zahlreichen Absatz. Den mit Honig, Kräutern, Zimtstangen und Nelken sowie hochprozentigem Alkohol gebrauten Bärenfang-Likör setzte er selber an und hatte einen guten Vorrat an Flaschen im Keller. Seine Fässer mit »Ostmark«-Bier bekam Hugo direkt aus Königsberg geliefert. Erst letzte Woche hatte der Bierkutscher fünf neue Fässer gebracht. Getrunken wurde reichlich. Im Jahr 1907 hatte er die Wirtschaft von seinem Vater übernommen und seine Schankerlaubnis erhalten. Zehn Jahre später ließ er den Anbau mit dem großen Festsaal errichten, wo die Gäste auf dem guten Eichenparkett ausgelassen tanzen konnten.

Die Stimmung wurde immer fröhlicher. Käthe half freundlich beim Bedienen und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ei, Hugo, was hast du bloß für’n hübschet Marjellchen«, rief der Stellmacher Otto dem Vater zu.

»Danke, danke, hab sogar noch zwei davon!« Hugo wusste Bescheid. Der Otto hatte ein Auge auf sein Käthchen geworfen. Aber damit traf er leider nicht auf Gegenliebe.

Käthe stieg vor Verlegenheit die Röte in die Wangen. Warum mussten Männer immer so direkt sein, besonders wenn sie das eine oder andere Glas getrunken hatten? Aber sie wusste ja, es war herzlich gemeint. Alle mochten sie und meinten es gut.

Die ersten Mittagsgäste verabschiedeten sich, andere blieben aber noch zum Kaffee da. Es war ein Kommen und Gehen. In der Küche hieß es, Geschirr zu spülen und bereits Vorbereitungen für das Abendessen zu treffen. Es war heiß, Erna schwitzte und wischte sich ab und zu mit einem leinenen Tuch über die Stirn.

»Wollt ihr wohl rausjehen«, schimpfte sie. Wegen der Hitze hatte sie etwas Durchzug machen wollen und die hintere Tür zum Garten offen gelassen. Gleich waren ein paar der Hühner hereingelaufen und pickten nach heruntergefallenen Krumen. Erschreckt gackerten sie, als Erna sie hinausscheuchte.

»Da kommt schon wieder jemand!«, sagte sie mit einem Blick aus dem Fenster der Küche, die im Souterrain lag. Käthe, die gerade schmutziges Geschirr zum Spülstein trug, setzte die leer gegessenen Teller ab und reckte wie Erna den Hals, um hinauszuschauen. »Ei, dat wird Carlchen sein.« Erna war von Anna informiert worden. »Der bringt doch noch die Brote für heute Abend und allerhand Kuchen fürs Kaffeegeschäft.«

»Carl? Meinst du den Bäcker Carl Kühnapfel aus Locken? Den hab ich lange nicht gesehen.« Käthe guckte angestrengt nach draußen. Da saß ein junger Mann auf dem Kutschbock, die Schiebermütze frech auf dem Kopf und ein breites Lächeln im Gesicht. Gut sah er aus, groß und stattlich. Sein Grinsen war umwerfend. Käthe fühlte plötzlich ein aufgeregtes Kribbeln in der Magengegend.

Carl hatte die Zügel seines Zweispänners fest angezogen, nachdem er den Wagen auf dem Hof neben der Linde geparkt hatte. Heiter pfiff er ein fröhliches Lied vor sich hin. Was für ein schöner Tag! Der Fahrtwind hatte für eine leichte Kühlung gesorgt, die Sonne schien, und er würde es sich bei Weißens heute noch gut gehen lassen.

Sein Vater und Hugo Weiß kannten sich gut, waren alte Geschäftsfreunde. Die Backwaren des Bäckermeisters Adolf Kühnapfel waren weit über Locken hinaus bekannt und beliebt, weshalb sie auf Bestellung auch in die nähere Umgebung geliefert wurden. Mit der Auslieferung betraute Adolf immer häufiger seinen Sohn Carl, der auch einmal die Bäckerei übernehmen sollte.

Carl war von Locken seit dem frühen Morgen unterwegs gewesen. Aber das steckte er leicht weg. Er war ein kräftiger, gut aussehender junger Mann von 25 Jahren, gut gebaut, mit einem glatt rasierten Gesicht, Lachfältchen um die Augen. Das blonde Haar trug er nach der neuesten Mode an den Seiten raspelkurz und oben zu einer kurzen Tolle seitwärts glatt gekämmt. Carl hatte freundliche, gütige Augen und einen schmallippigen Mund. Sein Gesicht drückte Forschheit und Willensstärke aus. Er hatte sich fein gemacht an diesem Feiertag und seinen guten Anzug mit weißem Hemd angezogen.

Zunächst spannte er seine Pferde aus – stattliche braune Trakehner –, die er nach hinten in den Stall führte und gleich dafür sorgte, dass sie Hafer und eine Tränke bekamen. Heute würde er schließlich nicht mehr zurückfahren, sondern seine mitgebrachten Brote und Kuchen ausladen und dann das Pfingstfest genießen.

Gastwirt Hugo umarmte ihn zur Begrüßung. »Ich soll Ihnen viele Grüße von meinem Vater ausrichten«, sagte Carl.

Hugo nickte erfreut. »Ja, dein Vater kommt nun auch in die Jahre und fährt nicht mehr selbst«, meinte er schmunzelnd. »Aber lade doch erst mal aus, mein Jungchen. Erna hat bestimmt schon in der Küche Platz gemacht.«

Carl begab sich in die Küche und lud die frischen Brote und die Bleche mit Mohn- und Streuselkuchen, einer Schokoladen- und einer Glumstorte auf dem Küchentisch ab, den Erna für ihn frei gemacht hatte.

Er war länger nicht mehr hier gewesen, wurde aber von der Köchin, die hochrot und schwitzend über ihren Töpfen stand, herzlich begrüßt: »Schön, dich mal wiederzusehen, Carlchen«, sagte sie. »Ist ja schon ein Weilchen her, als du das letzte Mal hier warst. Wie war die Fahrt?« Obwohl Carl längst ein junger Mann war, nannte Erna ihn immer noch Carlchen. Sie kannte ihn schon, als er als kleiner Junge immer mit seinem Vater unterwegs gewesen war.

»Sehr gut bei diesem schönen Wetter«, sagte Carl. »Aber nach den drei Stunden habe ich jetzt ganz schönen Kohldampf.«

Erna hatte schon die Schüssel mit dem Kartoffelsalat hervorgeholt. Sie bereitete ihn mit Dill, eingelegten Gurken und den ersten Radieschen zu. Dazu legte sie ihm eine dicke Scheibe Schinken auf den Teller, der im Ofen gebacken wurde. »Hm, Erna, ich wusste, warum ich als Erstes in deine Küche komme«, freute sich Carl über das leckere Essen.

Käthe indes, die schnell noch zwei Portionen Schweinebraten hoch in die Gaststube getragen hatte, wurde aufgehalten. »Nein, Tuta, hör auf damit! Sonst stehe ich ja ohne Schürze da.« Käthe rangelte lachend mit ihrer Schwester herum, die sie neckte, indem sie immer wieder an ihren Schürzenbändern zupfte. »Geh lieber gucken, ob im Garten noch Tische abzuräumen sind oder Erna dich in der Küche braucht«, wies sie ihre Schwester an und zeigte Richtung Küche. Sie brachte einen Stapel schmutziges Geschirr mit hinunter und stellte ihn in den Spülstein. Da trafen sich ihre Augen mit denen von Carl, der gerade seinen Teller leer gekratzt hatte.

So erwachsen hatte ich ihn gar nicht in Erinnerung, dachte Käthe als Erstes. Carl ist ja ein richtiger Mann geworden, und was für einer! Ihr Herz klopfte laut in der Brust. Auf einmal war sie aufgeregt und fast ein wenig benommen. Verschämt senkte sie den Blick.

Auch Carl staunte. War das das kleine Käthchen, das vor fünf Jahren noch ein Backfisch mit streng gescheiteltem Haar und langen geflochtenen Zöpfen war? Diese schöne junge Frau mit dem verschmitzten und doch so bescheidenen Lächeln? Er bekam weiche Knie. »Guten Tag, Käthe. Ich freue mich sehr, dich wiederzusehen«, sagte er und gab ihr die Hand.

»Ganz meinerseits«, erwiderte sie und wusste vor Verlegenheit gar nicht wohin mit ihrem Blick.

»Käthe!« Vater Hugo rief aus der Gaststube. »Am Tisch von Herrn Golm wird nach Kaffee und Kuchen verlangt!«

Herr Golm war der Dorfschulze und saß behäbig da mit seiner Frau und den beiden Kindern und wartete. Käthe ließ schnell die Hand von Carl los, flitzte zum Tisch der Familie und nahm die Bestellung auf. Von nun an ging es Schlag auf Schlag, das Kaffeegeschäft florierte, und der von Carl mitgebrachte Kuchen fand regen Zuspruch.

Käthe hatte kaum Zeit, sich ihres Herzklopfens bewusst zu werden. Sie eilte von Tisch zu Tisch, hier und da einen Scherz auf den Lippen. In sich spürte sie jedoch ein wunderbares Gefühl, das sie besonders heiter und fröhlich sein ließ. Immer, wenn sie in Richtung Carl sah, der kaum von der Seite ihres Vaters wich, begegneten sich ihre Blicke. Eine seltsame frohe Unruhe erfüllte sie.

Mutter Anna hatte sich inzwischen auch eine weiße Bedienschürze umgebunden. »Käthchen, ich will ja nichts sagen, aber irgendwie bist du heute nicht ganz bei der Sache. Den Streuselkuchen für Familie Lehmann hast du bei Mannweilers hingestellt«, schmunzelte sie. Sie hatte ein feines Gespür für ihre Kinder und hatte die Blicke zwischen Carl und Käthe bemerkt.

Das wäre doch was, dachte sie so bei sich. Carl war eine gute Partie, und ihre drei Mädchen mussten unter die Haube gebracht werden. Es war doch schlau, dass Hugo und Adolf sich ausgemacht hatten, dass jetzt Carl die Backwaren nach Koschainen ausfuhr.

»Ach Mamachen!« Käthe strahlte sie an. »Mir ist heute irgendwie so fröhlich zumute!«

Wissend lächelte ihre Mutter in sich hinein.

Gegen Abend erschienen die ersten Gäste zum Abendbrot. Auf der Abendkarte standen Hühnersuppe, in Butter gebratene Hähnchenbrust mit Wurzelgemüse, Kartoffelsalat mit Bratwurst, Forelle Müllerin, Mettwurst und Schmalzbrot mit Salzgurken. Dem Bier und Korn wurde reichlich zugesprochen. Die mitgeführten Damen tranken ein Gläschen Likör. In geselliger Runde wurde gegessen und getrunken.

Der Festsaal mit seinem Tanzparkett war nun auch geöffnet worden. Die Dorfmusiker bauten ihre Instrumente auf und begannen, mit Ziehharmonika, Geige und Klavier zum Tanz aufzuspielen. Nach Heimatliedern wurde geschunkelt, dann wurde im Walzertakt getanzt, keiner ließ sich lange bitten. In den ostpreußischen Dörfern wurden die Gelegenheiten zum Tanzen und Feiern jederzeit ausgenutzt. »So jung kommen wir nicht mehr zusammen«, war das Motto.

Carls Augen suchten die von Käthe. Da war sie, stand am Rande und schaute mit einem Tablett in der Hand den Tanzenden zu. Es gab kein Halten mehr für ihn, Käthe zog ihn magisch an.

»Würdest du mir diesen Tanz gestatten?«, fragte er, als er zu ihr hinübergegangen war. Und ob sie wollte! »Gern, Carl.« Sie lächelte, und ihre Augen funkelten. Sie stellte ihr Tablett beiseite und legte ihre Schürze ab.

Er nahm sie bei der Hand und führte sie auf die Tanzfläche. Ein unbekanntes Glücksgefühl durchströmte sie. Nach »Waldeslust« wiegten sie sich im Takt und schauten sich unentwegt in die Augen. Noch nie hatte sich Käthe so beschwingt gefühlt wie in diesem Moment in Carls Armen. Sie hoffte, dieser Tanz würde nie enden.

Der Abschied am nächsten Morgen fiel herzlich aus. Carl hatte in einer kleinen Gästekammer übernachtet. Am frühen Morgen hatte Marie ihm einen Krug mit frischem Wasser zum Waschen und Rasieren gebracht. Als Gast des Hauses saß er mit am langen Tisch im Esszimmer, als um 8 Uhr ein recht spätes Frühstück eingenommen wurde.

»Heute werden alle verkatert sein!« Erna kannte sich aus und hatte Deftiges wie Rühreier, Räucherfisch und Brat­hering serviert.

»Carl muss sich richtig stärken, denn er hat ja eine weite Fahrt nach Hause vor sich«, sagte Vater und reichte Carl die Platte mit dem Bückling, wovon sich der noch einmal beherzt bediente.

Verstohlen schaute Käthe zu Carl, der ihr gegenübersaß. Er sah frisch und freundlich aus wie immer. Oh ja, sie mochte ihn. Wie wohlig sie sich gestern beim Tanz in seinen Armen gefühlt hatte!

»Na, dann werd ich mal!« Carl rieb sich die Hände und stand gesättigt auf. »Der Weg nach Locken ist ein Stück zu fahren. Morgen ist Dienstag, da muss ich wieder nach Berlin. Ich mache doch gerade meine Meisterschule, weil ich die Bäckerei vom Vater übernehmen werde.« Er sah Käthe an. »Da lerne ich auch Konditor, ich will nämlich nicht nur Brot, Schnecken und Blechkuchen backen, sondern einmal feine Torten kreieren.«

»Und warum in Berlin? Das muss ja an die 500 Kilometer zu fahren sein«, fragte Käthe überrascht.

»Weil es dort die besten Konditoreien und die beste Ausbildung gibt. Da gibt es riesige Kaffeehäuser wie Kranzler oder Jostys, das könnt ihr euch nicht vorstellen. Da kann ich viel lernen.«

Käthe, die noch nie weiter als bis Allenstein oder Königsberg gekommen war, staunte und sah Carl bewundernd an.

»Außerdem habe ich da Verwandtschaft. Der Bruder meiner Mutter wohnt dort mit seiner Familie. Und die haben mich für die Zeit bei sich aufgenommen.«

Er sah Käthe in die Augen und zwinkerte. »Aber bestimmt komme ich bald wieder!«

3.

September 1928

»Was machst du für ein trübsinniges Gesicht, Käthe?«

Die drei Mädchen saßen im Garten und schnippelten grüne Bohnen.

»Käthchen ist verliebt, Käthchen ist verliebt!«, sang Lotte in neckendem Ton.

»So ein Unsinn!« Käthe schnappte sich ihren Topf und wollte empört aufstehen.

»Na lass man, Käthchen, es braucht alles seine Zeit. Carl schreibt dir doch immerzu, und zum Erntedank werdet ihr euch wiedersehen.« Tuta kniff Käthe leicht in die Seite und brachte ihre Schwester zum Lächeln.

»Ach wenn es denn schon so weit wäre«, seufzte sie. »Seit Pfingsten haben wir uns nicht mehr gesehen. Ich wünschte, er wäre nicht 500 Kilometer weit weg in Berlin!«

Mutter trat aus der Hoftür, einen großen Korb mit frisch gewaschener Wäsche im Arm. »Los, Käthe, hilf mir mal beim Aufhängen! Und Tuta und Lottchen, ihr geht Erna helfen. Sie hat zwei Eimer mit Kartoffelschalen und Resten für die Schweine.«

Müßiggang gab es nicht. Käthe brachte schnell die geschnippelten Bohnen in die Küche. Erna würde daraus einen guten Eintopf zubereiten und auch einen Teil für den Winter einkochen.

Dann half sie ihrer Mutter beim Wäscheaufhängen.

Das Abendessen nahm die Familie um Punkt 18.30 Uhr am Esstisch in der Stube ein. Es war inzwischen September, die noch wärmende Sonne versank schon früher hinter den Feldern. Es wurde eher dunkel, Marie hatte bereits die samtenen Vorhänge zugezogen.

»Wir sollten noch einmal über die Vorbereitungen zum Erntedankfest sprechen«, sagte Mutter Anna. »Die Felder sind so gut wie abgeerntet, nächsten Sonntag ist es so weit. Wir wollen Erntedank feiern. Die Schnitter sind auch noch so lange da und haben sich ein Fest mit Speis und Trank verdient.«

»Au fein, und wir binden die Erntekrone«, rief Tuta freudig aus. »Ja, aber nicht ihr allein. Beim Binden und Schmücken helfen euch die anderen Frauen und Mädchen aus dem Dorf. Und Vater, wir sollten überlegen, was wir alles in der Wirtschaft anbieten, was meinst du?«

»Am besten so wie alle Jahre vorher. Der Bierkutscher kommt jedenfalls am Mittwoch aus Königsberg.« Vater hatte es eilig, wieder in die Gaststube zu kommen. Um seinen Teil, Bier und Klaren, hatte er sich umsichtig gekümmert. Sogar seinen selbst gekelterten Johannisbeerwein, gut im Keller gelagert, wollte er anbieten. »Besprich es doch mit der Mamsell, Anna, bisher hat doch immer alles gut geklappt.«

Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. In der Küche wurde geschmort und gebrutzelt, es wurden Kränze aus blauen Korn- und anderen Wildblumen geflochten und die Erntewagen für den Umzug geschmückt. Im ganzen Ort herrschte ein geschäftiges Treiben.

Käthe saß in der Schlafkammer und las verstohlen noch einmal den letzten Brief von Carl. Er würde kommen, er würde kommen! Ihr Herz hüpfte vor Aufregung und Sehnsucht.

Endlich war es so weit. Der Hauseingang war geschmückt mit goldenen Ährenkränzen, die mit Blumen umwunden waren, die prächtigsten Kürbisse lagen orange leuchtend vor dem Eingang. Die drei Mädchen hatten sich jede einen feinen Kornkranz um den Kopf gewunden, der mit farbenfrohen Schleifenbändern, gelben Goldruten, lila Herbstastern und blauem Sonnenhut umwickelt war. Sie trugen ihre schönsten Kleider, die mit blau-rot-weißer Stickerei an den Rocksäumen versehen waren.

Nach dem Erntegottesdienst fuhren die bunten Erntewagen mit den herausgeputzten Pferden zum Marktplatz. Alle Dorfbewohner, feingemacht im Sonntagsstaat, und auch die Saisonkräfte, die teilweise aus Polen herübergekommen waren, zogen hinterdrein. Die Erntekrone wurde an einem Mast hochgezogen. Der Dorfschulze hielt eine kurze Rede, bedankte sich für die fleißige Arbeit und lobte das gute Ernteergebnis, das in diesem Jahr eingebracht worden war. »Und nun, liebe Leute, geht und feiert! Singt und tanzt, esst und trinkt! Ihr habt es euch verdient! Beim Hugo ist schon angerichtet!« Er wurde reichlich beklatscht und bejubelt.

Im Wirtshaus waren zu diesem Anlass noch weitere Tische aus der Nachbarschaft aufgestellt worden. Auf dem langen Holztisch im Festsaal lagen die fein bestickten Tischtücher, die die Frauen an langen Winterabenden hergestellt hatten. Hugo hatte wieder Liese und Berta aus dem Dorf bestellt, um beim Bedienen und in der Küche auszuhelfen. Seine Kinder waren den ganzen Sommer während der Ernte unermüdlich mit auf den Feldern gewesen und sollten sich an diesem Tag auch einmal amüsieren.

Er selbst würde sich heute auch nicht zurückhalten, sondern sich den einen oder anderen Kurzen genehmigen. Im Saal summte und brummte es vom Stimmengewirr und lautem Lachen, das immer stärker wurde, je mehr der Klare, gebraut aus Kartoffeln oder Korn, die Kehle hinunterfloss.

»Ei, Marjellchen, wie wäre es mit einem Schnapsche?« Otto versuchte auch diesmal wieder, die hübsche Wirtstochter Käthe für sich zu erwärmen. Sein rundes Gesicht war schon leicht gerötet, die Augen glänzten.

»Ach, Otto, du weißt doch, ich trinke nicht!«, wies Käthe ihn lächelnd ab. »Außerdem muss ich schnell mal nach meiner Schwester sehen.« Augenblicklich war sie ihm entwischt. Nein, Otto war nicht der Mann, nach dem sie sich sehnte. Sie hielt nach einem anderen Ausschau. Wo Carl nur blieb?

Carl war an diesem Tag schlecht aus Locken fortgekommen, denn auch in seinem Dorf wurde das Erntedankfest gefeiert. Also hatte er erst am Nachmittag losfahren können, um am Abend in Koschainen bei Käthe zu sein.

Immer wieder ging Käthe unauffällig in Richtung Fenster und spähte hinaus. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, hörte sie Hufgeklapper auf dem Sandweg und wusste sofort: Carl!

Mit klopfendem Herzen lief sie nach draußen ihm entgegen.

Carl hatte gerade den Zweispänner auf den Hof gefahren und die Pferde zum Stehen gebracht. Sein Lächeln war unwiderstehlich, und als er vom Kutschbock stieg, so groß und männlich und gut aussehend, wünschte Käthe, er würde nie wieder wegfahren.

Jetzt hör mit der Gefühlsduselei auf, schalt sie sich im Stillen selbst.

»Guten Tag, Carl«, begrüßte sie ihn etwas steif.

»Käthchen!« Er lachte. »Jetzt bitte mich doch mal rein. Aber vorher komm her und begrüße mich richtig.« Er drückte sie kurz und kräftig an seine Brust und umarmte sie dabei herzlich. »Endlich sehen wir uns wieder. Wir haben uns viel zu erzählen. Was hast du so getrieben die ganze Zeit? Und hast du mir was Schönes zu essen beiseitegestellt? Ich könnte einen Bären verdrücken!«

Sofort waren beide in ein Gespräch vertieft, als hätten sie sich erst gestern gesehen. Was der eine aussprach, dachte der andere und umgekehrt. Beide spürten: Sie waren füreinander geschaffen.

Als sie die Gaststube betraten, umfing sie lautes Lachen und Juchzen. Die ersten Lieder wurden gesungen, die Kapelle stimmte ihre Instrumente.

»Carl, Käthe!«, rief Mutter Anna, die mit Lotte, Bruno und Tuta am langen Holztisch saß, und winkte. »Kommt rüber, ich habe euch Plätze freigehalten!« Sie freute sich, dass Carl wieder da war. Sie wünschte, die beiden würden ein Paar werden, denn sie sah, wie glücklich ihre Käthe an Carls Seite aussah. Und für ihre Kinder erhoffte sie alles Glück, das man sich denken konnte.

Anna winkte der Bedienung. »Was willst du essen, Carl, du bist bestimmt ganz ausgehungert? Wir haben Schlachtplatte oder gebratene Ente? Oder lieber einen Schmorbraten?«

Carl rieb sich die Hände. Nach der langen Fahrt war ihm die Schlachtplatte mit Sauerkraut gerade recht. Dazu gab es eine Tulpche Bier und einen Klaren.

»Trink einen Kleinen mit, Käthe«, bat er sie, »allein schmeckt es mir nicht.«

Käthe zierte sich, doch sie fühlte sich heute so froh und ausgelassen, dass sie ihm diese Bitte nicht abschlagen konnte und ihre Vorsätze über Bord warf.

Am Tisch wurde gesungen und geschunkelt, und die ersten Dörfler betraten die Tanzfläche. Bei Trink, trink, Brüderlein trink schlug die Stimmung Wellen.

Carl nahm Käthes Hand und zog sie mit sich. Sie tanzten Walzer im schnellen Takt. Nach ein paar Runden kamen beide erhitzt mit roten Wangen zum Tisch zurück.

»Wollen wir einen Augenblick an die frische Luft gehen?« Carl sah Käthe mit einem Blick an, der ihr durch und durch ging. Er nahm einfach ihre Hand und zog sie mit sich.

»Lass uns ein paar Schritte machen, Käthchen.« Sie spazierten ein Stück in Richtung Dorfanger, wo in dem großen Teich mit den Trauerweiden die Poggen quakten.

Plötzlich blieb Carl stehen und zog sie an sich. Sie spürte durch ihr baumwollenes Kleid hindurch seinen warmen Körper, fühlte sein Herz schlagen. Oder war es ihr eigenes? Sie mochte es, wie gut er roch, wie er sich anfühlte.

»Sieh mich an, Käthe. Wir kennen uns nun schon ein ganzes Weilchen. Und noch nie habe ich eine Frau gesehen, die ich so wunderbar finde, die so schön ist, die so patent und lieb ist wie du. Ich musste in Berlin immerzu an dich denken. Ich glaube, ich hab dich ganz schön lieb. Hast du mich denn auch ein wenig gern?«

Käthe wollte in seinen Augen versinken. War dies der Moment, wovon alle immer schwärmten? Von dem sie in schnulzigen Büchern schon gelesen hatte?

»Ach, Carl, ja, ich weiß bestimmt, ich hab dich auch lieb!«

Nach einem langen Blick küsste er sie zum ersten Mal. Seine Hand berührte ihr Haar und streichelte ihren zarten Hals. Sie fühlte ein noch unbekanntes Begehren in sich aufsteigen.

»Was meinst du, Käthe«, flüsterte er, »was würde dein Vater dazu sagen, wenn ich um deine Hand anhalte?«

»Und was meinst du, Carl, wenn du erst einmal mich fragst?«, erwiderte sie schelmisch.

»Willst du meine Frau werden, Käthe?«

»Oh ja, das will ich.«

»Sicher wird das Leben mit mir nicht immer leicht, Käthe.« Carl wollte ehrlich sein. »Ein Bäcker steht schon morgens um 3 Uhr auf und fängt an, den Teig zu kneten, damit pünktlich um 6 Uhr die ersten Brötchen ausgeliefert werden können. Und ich werde die Verantwortung für alles haben, denn Vater will sich aus dem Geschäft zurückziehen. Die Bäckerei wird mir gehören und auch der Laden. So wie ihr hier verkaufen wir neben Brot und Kuchen auch Kolonialwaren. Aber ich verspreche dir ein schönes Leben, dafür werde ich alles tun. Es soll dir und unseren Kindern an nichts fehlen.«

Käthe sah verständnisvoll zu ihm auf. Er war ein Mann, der schaffen konnte, ein Mann, der Träume hatte und ein Mann der Tat. Sie würde sich mit ihm ein gutes Leben aufbauen, sie würden eine Familie gründen und Kinder bekommen, das spürte sie.

Glücklich schloss sie die Augen. Es konnte nicht mehr besser werden. Könnte sie doch diesen Augenblick für immer festhalten.

4.

November 1928

Käthe packte. In ihren Koffer kamen zwei ihrer schönsten Kleider und ein paar Spangenschuhe aus Lackleder mit kleinem Absatz, die sie ganz neu in Allenstein erworben hatte, wo sie vor ein paar Tagen mit ihrer Mutter einkaufen war. Sie wollte besonders hübsch sein zu diesem Anlass. In zwei Stunden würde sie mit Mutter und Vater mit der Eisenbahn nach Locken fahren, um dort Carls 26. Geburtstag zu feiern und ihre künftigen Schwiegereltern kennenzulernen.

Inzwischen war es kühl geworden, kräftige Herbstwinde wehten über die masurische Landschaft. Über ihr Kleid zog sie deshalb noch den warmen Wollmantel mit dem pelzbesetzten Kragen, der sie so gut kleidete. An den Füßen trug sie zierliche braune Lederstiefelchen mit kleinen lederbezogenen Knöpfen an der Seite.

»Mach hin, Käthe, Vater wartet schon draußen!«, rief die Mutter.

Käthe schnappte sich ihr kleines Lederköfferchen und trat vor die Tür. Das Pferdefuhrwerk stand schon abfahrbereit, um sie zum Bahnhof zu bringen. Paul kletterte auf den Kutschbock, und Käthe, Vater und Mutter setzten sich auf die Rückbank, wo sie sich eine warme Decke über die Knie legen konnten.

Erna und Marie standen mit den Schwestern und Bruno gedrängt auf der Treppe des roten Backsteinhauses und winkten. »Bringt ihr mir was Schönes mit?«, rief Lotte. Vielleicht gab es ja in Locken Dinge, wovon man auf ihrem kleinen Dorf nur träumen konnte.

Die Fahrt ging durch dichte Baumalleen sechs Kilometer bis zum Bahnhof Maldeuten, vorbei an den abgeernteten Feldern und inzwischen kahlen Bäumen. Sie waren überpünktlich dort und hatten noch genug Zeit, sich die Fahrkarten zu kaufen. Im Wartesaal des Bahnhofs wärmten sie sich noch etwas auf, bevor sie den Zug in Richtung Locken bestiegen.

Locken hatte keinen eigenen Bahnhof, deshalb stiegen sie im zwei Kilometer entfernten Kämmersdorf aus.

Der Knecht Fritz begrüßte sie. »Na, allet jut jegangen?«, frotzelte er, eine Pfeife im Mundwinkel, mit der er sich die Wartezeit ein wenig versüßt hatte. Er fasste Mutter und Käthe unter die Arme und half beim Einsteigen in den gut gefederten Kutschwagen. Da es schon recht kalt geworden war, legte er den Damen eine Lederdecke über die Knie, die links und rechts am Wagenverschlag befestigt wurde.

Die Bäume hatten bereits ihr Laub verloren, ein frischer Novemberwind wehte die letzten Herbstblätter fort. Auf beiden Seiten der Straße standen Eichen und Linden, ein See glitzerte. Käthe war aufgeregt, ihre Gedanken waren bei Carl. Wie würde alles sein, dort, wo sie einmal leben wollte? Mutter legte beruhigend ihre Hand auf die ihrer Tochter und streichelte sie lächelnd. »Nur Mut, mein Kindchen, es wird schon alles.«

Der Marktplatz von Locken war belebt an diesem Montag, dem einzigen Tag, an dem Familie Weiß einmal nicht an ihre Gastwirtschaft denken musste, denn es war Ruhetag in Koschainen.

Käthe sah interessante Geschäfte, einen Fleischer, einen Krämer, ein Textilgeschäft und ein großes Wirtshaus. Alles schien hier so groß zu sein. Mitten auf dem Marktplatz stand ein riesiger Kastanienbaum. Frauen gingen mit ihren Körben zum Einkauf oder standen einfach zu zweit am Straßenrand und schwatzten. Als Käthe mit ihren Eltern langsam und mit Hufgeklapper auf dem Kopfsteinpflaster vorbeigezuckelt kam, drehten sich viele Köpfe nach den Fremden um. Was könnten das für Leute sein, die die Bäckersfamilie besuchten?

Sie fuhren nun direkt auf das Gebäude mit der Bäckerei Adolf Kühnapfel zu. Solch ein großes Haus hatte Käthe nicht erwartet. Stattlich und weithin sichtbar stand es in der frühen Nachmittagssonne. Es war ein hell verputztes Backsteinhaus mit hohem Giebel und roten Dachziegeln. Um Fenster und Türen war der Putz ausgespart worden, sodass die sichtbaren hellroten Backsteine wie eine Zierde wirkten. Mehrere Fenster gingen zur Straße und einige zum Garten hin. Auch hier gab es hölzerne grüne Klappläden. Das Haus war ein Schmuckstück.

Das Fuhrwerk hielt an.

»Oh Mutti, schau nur, was für ein wunderbares Schaufenster!«, rief Käthe entzückt aus. Sie lief sofort zur Auslage und schaute durch die blank geputzte Scheibe. Die leckeren Törtchen, Marzipanherzen und Mohnschnecken sahen zum Anbeißen aus. Alles war auf weißen Spitzendeckchen fein dekoriert und lud zum Kaufen ein.

Carl musste sie gehört haben, denn er kam sofort aus der Backstube gelaufen. Sein Kittel war mit Mehl bestäubt, auf dem Kopf trug er eine weiße Mütze. Er strahlte. »Käthe! Schön, dass du da bist. Ich habe mich so auf dich gefreut!«

Für drei Tage konnte er sich von der Meisterschule in Berlin frei machen. Er war schon am Sonnabend angereist und würde morgen wieder zurückfahren. Die Innung hatte erlaubt, dass er zu seinem Geburtstag nach Hause fuhr. Dennoch stand er im Laden und half.

Der Streuselkuchen war noch warm und duftete nach Hefe und guter Butter. Eine Buttercremetorte mit der Zahl 26 aus Marzipan obendrauf prangte mitten auf dem Tisch, in der edlen Porzellankanne dampfte echter Bohnenkaffee. Der Esstisch in der guten Stube war mit einer weißen Damasttischdecke und dem guten, mit Blumen und Goldrand verzierten Kaffeeservice aus feinem Porzellan gedeckt. Silberlöffel lagen auf den Untertassen.

»Soso, du bist also das Marjellchen, das der Carl sich ausgeguckt hat«, schmunzelte Carls Vater Adolf, dem die Bäckerei gehörte, und ließ sich von seiner Frau ein Stück Kuchen nachlegen. »Wird ja auch langsam Zeit, dass der Carl zu Potte kommt! Ich muss sagen, er hat einen guten Geschmack.«

Käthe errötete. Sie mochte Carls Vater mit seiner direkten Art und Herzlichkeit. Aber als Mann, der es zu etwas gebracht hatte im Leben, strahlte er auch eine gewisse Autorität aus. Er trug noch den Kaiser-Wilhelm-Bart, sein Haar war schon weiß. Zur Feier des Tages hatte er sich in einen guten Tuchanzug mit geknöpfter Weste geworfen.

Carls Mutter Ida war an die zehn Jahre jünger als ihr Mann. Sie hatte einen Ansatz zum Doppelkinn und war schon etwas füllig, was auch ihr locker fallendes gemustertes Kleid nicht verbergen konnte. Ida wirkte auf Käthe sehr resolut und in ihrer Behäbigkeit etwas dominant. Ihr bereits graues Haar war in der Mitte gescheitelt und am Hinterkopf streng zu einem Knoten gebunden. Ihre kleinen Augen, die tief in den Höhlen lagen, flitzten hin und her. Ihrem Blick schien nichts zu entgehen.

Auch Alwine, Carls ältere Schwester, hatte es sich nicht nehmen lassen, die Zukünftige von Carl in Augenschein zu nehmen. Alwine war schon verheiratet. Wie ihre Mutter wirkte sie auf Käthe matronenhaft und energisch. Ihre kräftige Figur mit dem fülligen Busen hatte sie in ein bunt gemustertes Kostüm gezwängt, darunter trug sie eine weiße Bluse, die etwas spannte. Sie hatte ein rundes Gesicht, das wie bei ihrer Mutter bereits ein Doppelkinn zierte.

Alwine lebte mit ihrem Mann, Hans Kalmus, im etwa 170 Kilometer entfernten Königsberg. Die beiden hatten sich in Locken kennengelernt. Fritz Kalmus, der Vater von Hans, war der Wirt des Gasthauses Kalmus am Markt, in dem Adolf und Carl regelmäßig verkehrten. Zum Erntedankfest vor sechs Jahren war Alwine dorthin zum Tanz mitgegangen und hatte sich in Hans verliebt. Der hatte gerade sein Beamtenstudium in Königsberg beendet und dort auch gleich eine Stellung gefunden. Nun lebten die beiden in Königsberg. Sie hatten schon zwei Söhne, den fünfjährigen Hans und den zweieinhalbjährigen Walter.

Alwine taxierte Käthe und freute sich. Die passt gut zu uns, war sie sicher und versuchte gleich, Käthe in ein Gespräch zu verwickeln.

Während alle über dies und das schabberten, suchte Carl unter dem Tisch nach Käthes Hand und drückte sie. Verstohlen sahen sie sich an und lächelten.

Als alte Geschäftsfreunde gingen die Väter Hugo und Adolf nach dem Kaffeetrinken auf die Veranda, um eine Pfeife zu rauchen, ein Schnapsche zu trinken und die neuesten Ereignisse zu bereden.

»Weißt du, was sie neulich am Stammtisch geredet haben?« Hugo empörte sich. »Da hat einer die Königsberger Allgemeine mitgebracht. Da stand, dass die neue Regierung in Berlin einen Panzerkreuzer bauen lässt. Erst war ja die SPD dagegen, und nun haben sie doch zugestimmt. Mann, wir haben gerade mal zehn Jahre Frieden. Was das nur soll? Wollen die etwa wieder aufrüsten? Und was das kostet. Vorher wollten sie wohl das Geld für Kinderspeisung ausgeben, und nun?« Eigentlich waren beide politisch nicht sehr engagiert, aber manche Themen mussten einmal angesprochen werden.

»Ich glaube, die Regierung Müller ist unfähig!«

»Und hast du schon von diesen Nationalsozialisten gehört? Diesem Hitler hatten sie ja mit seinem dussligen Gerede erst einen Maulkorb verpasst, aber nun darf er wieder seine Tiraden vom Stapel lassen.«

Beide redeten sich in Rage. »Politik ist einfach Mist«, meinte Adolf dann. »Wir sind ja zum Glück ein Stück weg und bekommen nicht alles so mit wie die im Reich.«

Man musste ja nicht immer alles schwarzmalen. Doch Adolf machte sich insgeheim Gedanken. Mit Grausen dachte er an den Spätsommer 1914 zurück, als im Krieg die russischen Armeen in Ostpreußen eindrangen. Zum Glück gelang es den deutschen Soldaten, Masuren zu verteidigen und den Feind schließlich in Tannenberg zu schlagen. Hindenburg sei es gedankt. Doch die vielen Tausend Toten! Und wie viele Dorfbewohner hatten aus Angst vor den Russen kopflos Haus und Hof verlassen und waren Richtung Westen geflüchtet. Nach dem Sieg in Tannenberg waren sie alle wieder da, nur, um kurz darauf wieder evakuiert zu werden. Er, Adolf, hatte mit Bäckerei und Lebensmittelgeschäft standgehalten, schließlich hatte er ein Dorf zu versorgen, jedenfalls die Menschen, die noch da waren. Aus diesem Grund war er auch nicht zum Kriegsdienst einberufen worden. Doch finster dachte er an die schlimme Zeit zurück. Wie viele hatten ihr Hab und Gut verloren, mussten bei ihrer Rückkehr feststellen, dass ihre Häuser und ihre Existenz zerstört worden waren. Die russische Armee hatte geplündert, gebrandschatzt, das Korn verdorben. Das Vieh war verreckt. Adolf hatte mit seiner Familie Glück gehabt. Wer das Brot gibt, den erschießt man nicht. Doch die Angst, die auch er damals empfand, besonders um Ida, Carl und Alwine, ließ ihn heute noch erschauern.

In einem Zug trank er sein Glas Meschkinnes leer und goss sich sogleich nach.

Hugo, der nichts von Adolfs düsteren Gedanken ahnte, lehnte sich entspannt zurück und zog an seiner Pfeife. »Mal was anderes. Was hältst du denn von einem Automobil? Bei Adam Opel haben sie jetzt den Regent vorgestellt – mit 110 PS! Dafür könnten deine Pferde aber flitzen!« Die Männer lachten.

»Ei, ich wäre auch mit einem Adler zufrieden. Aber erst mal sehen, ob sich das mit den Automobilen durchsetzt, nicht wahr?«

Sie hoben die Gläser und prosteten sich zu.

Käthe indes hatte Ida und Alwine beim Abräumen des Kaffeetisches geholfen. Als sie zurück in die Stube kehrte, sah Carl ihr schon erwartungsvoll entgegen. »Komm, Käthe, ich zeige dir das Haus und den Garten.« Er nahm Käthes Hand und zog sie sanft mit sich.

Das prachtvolle Gebäude mit der Dampfbäckerei war das erste und imposanteste Haus am Dorfplatz in Locken. Adolf hatte es Anfang des Jahrhunderts errichten lassen. Vorher hatte er eine kleine, herkömmliche Bäckerei im Haus gegenüber betrieben. Doch als der moderne Dampfbackofen aufgekommen war, wollte Adolf mit der Entwicklung mitgehen und hatte neu gebaut.

Das große Gebäude war 1905 fertiggestellt worden, und stolz zog Adolf mit Ida, Alwine und dem kleinen Carl ein. Im Obergeschoss gab es die Gesindestuben und zwei Gästezimmer, wenn die Sommerfrischler aus Berlin oder Königsberg kamen. Das Haus der alten Bäckerei gegenüber diente fortan nur noch als Schuppen und Lagerplatz für Korn und Mehlsäcke.

Bei dem neuen Dampfbackofen wurde die Wärme vom Heizraum in die Backkammer mittels Dampf in einem geschlossenen System, den sogenannten Perkinsrohren, übertragen. Für Kunden war eine Dampfbäckerei der Garant für die Herstellung von Brot und Backwaren von bester Qualität. Somit hatte die Bäckerei Adolf Kühnapfel in Locken den besten Ruf und war weit über die Dorfgrenzen beliebt. Die Investition hatte sich gelohnt.

Die Backstube mit dem riesigen Backofen fand Käthe überwältigend. Wie gut es dort roch! Eine Mischung aus frisch gebackenem Brot, Mehl, Butter, Süßem und Hefe. Göttlich! Und warm war es hier drin. Gleich daneben befand sich der ansehnliche, blitzsaubere Verkaufsraum mit einer freundlichen Verkäuferin hinter der gläsernen Theke, die sich als Frau Schimmelpfennig vorstellte. Sie trug eine weiße Schürze und ein weißes Häubchen auf dem Kopf. Auch hier wurden neben den Backwaren allerlei Dinge des täglichen Bedarfs und Kolonialwaren angeboten.

Der Rest des Hauses war praktisch in Küche und ebenerdige Stuben unten und ein paar Kammern oben aufgeteilt. In Schlafstube und Wohnstube wohnten noch Carls Eltern, die aber bald in das Haus gegenüber einziehen wollten, sobald es für ihr Altenteil neu hergerichtet war. Nur als Lagerhaus war es eigentlich zu schade.

Die Torftoilette befand sich in einem Verschlag unter der Treppe, welche nach oben auf den Dachboden führte. Fließendes Wasser gab es noch nicht, die Magd holte es in Eimern von der Pumpe auf dem Hof. Aber das kannte Käthe von Koschainen ja nicht anders.

Die Landwirtschaft wurde hier etwas kleiner gehalten, in den Ställen gab es zwei Kühe und zwei Pferde, Hühner, Gänse und Enten.

Ein schöner Garten mit einer Wiese und abgeernteten Beeten und Obstbäumen erstreckte sich hinter dem Haus. Die letzten Winterastern leuchteten mit ihren vielen kleinen dunkellila Blüten. Dahinter floss ein kleines Flüsschen, die Locke. Darüber ging ein schmaler Steg, der zu weiten Wiesen führte. Und dort stand ehrfurchtsvoll, groß und mächtig die wunderschöne Kirche von Locken. Käthe fand es zauberhaft. Sie stellte sich vor, wie sie irgendwann auf der Gartenbank in der Sonne sitzen und auf die Kirche schauen würde.

»Carl, es ist wunderbar!« Sie lehnte sich begeistert an ihn.

»Ich hoffe, dass du dich einmal hier wohlfühlen wirst, Liebchen.« Carl war stolz auf sein Zuhause. Und er war glücklich, dass Käthe seine Frau werden wollte.

Als Familie Weiß am nächsten Tag abreiste, war die Verlobung im nächsten Frühjahr beschlossene Sache. Beide Familien waren mit der Verbindung mehr als einverstanden. Carl würde sich für die Feier ein paar Tage von Berlin freinehmen und nach Koschainen kommen.

Für die Geschwister daheim gab Carl drei Tütchen mit leckeren Marzipankartoffeln und ein großes Kuchenpaket mit.

5.

Berlin, Ende 1928

Der Zug hielt mit ohrenbetäubend quietschenden Bremsen am Schlesischen Bahnhof.

Carl nahm seinen Hut aus dem Ablagefach im Abteil, setzte ihn auf und richtete seinen grauen Reiseanzug, der nach den sieben Stunden Fahrt leichte Knitterfalten aufwies. Noch einmal lüftete er den Hut zum Gruß, um sich von seinem Sitznachbarn im Abteil zu verabschieden, und hievte seinen Lederkoffer aus dem Gepäckfach.

Ludwig Pieske grüßte zurück. »Denn wünsch’ ick Ihnen ’ne jute Weiterfahrt durch de Stadt! Und ’ne jute Zeit in Berlin!« Er war erst in Küstrin zugestiegen und hatte sich als unterhaltsamer Ur-Berliner erwiesen. »Und glooben Se mir, det Clärchens inne Aujuststraße is nen jutet Etablisseman!« Pieske zwinkerte mit dem linken Auge. »Da lässt sich jut schwoofen. Und lecker Buletten mit Kartoffelsalat jibt’s da ooch. Oder ’ne Bockwurscht! Kenn Sie die bei Ihnen uffm Dorf?« Er hatte sich ebenfalls erhoben und seine leichte Aktentasche aus dem Gepäcknetz gehoben. Als Vertreter für Gummiwaren hatte er einige Städte auf der Oststrecke besucht.

Carl schmunzelte. Er hatte dem gesprächigen Pieske lang und breit erklärt, dass er sich bald verloben würde, aber das traf bei dem auf taube Ohren. »Berlin is zum Amüsieren da, det sollten Sie vom Lande noch mal richtich ausnutzen, bevor Se an de Kandare kommen, junger Mann!«, meinte der lachend.

Nachdem Carl versichert hatte, dass er die Berliner Bockwurst schon bei seinen letzten Aufenthalten probiert hatte und er es sich mit Clärchens Ballhaus überlegen würde, stiegen die Herren aus.

Die Fahrt mit dem Schnellzug D2 der Preußischen Staatseisenbahn war wie immer anstrengend gewesen, obwohl die Bahn es schaffte, in gut sechs Stunden mit Halt in einigen Dörfern von Allenstein nach Berlin durchzurasen. Aber mit Anfahrt und einmal Umsteigen hatte es doch länger gedauert. Carl reckte und streckte sich, als er den Bahnsteig betrat. Immerhin war er Zweite Klasse gefahren und musste sich nicht auf den harten Holzbänken der Dritten Klasse quälen. Zwischendurch hatte er sich im Speisewagen eine Tasse Kaffee und ein Paar Frankfurter Würstchen mit Kartoffelsalat gegönnt.

Ein Glück nur, dass sie für die Durchfahrt durch den Polnischen Korridor kein Tagesvisum mehr brauchten. Noch vor einigen Jahren war das Zugpersonal bei Dirschau durch die Wagen gegangen, hatte die Vorhänge zugezogen, sie verplombt und die Fenster und Türen versiegelt. Erst wenn man bei Küstrin ins Reich fuhr, wurden Türen und Vorhänge wieder geöffnet. Jetzt konnte man immerhin ungehindert durchfahren, es gab keine Zoll- oder Visakontrollen durch polnische Grenzschützer mehr.

Auf dem Bahnsteig unter der riesigen verglasten Dachkuppel wimmelte es von Menschen. Rufe wurden laut. »Ejon, hierher!« Eine ältere Frau von gewaltigem Umfang wedelte mit dem Taschentuch einem grauhaarigen Herrn mit Schnauzbart zu, der eilig auf sie zuging. In den Ecken lungerten finstere Gestalten, die aufmerksam die ankommenden Fahrgäste taxierten. Zeitungsjungen verkauften die Berliner Volkszeitung in der Abendausgabe und die restlichen Exemplare der BZ am Mittag. Schutzmänner mit hohen schwarzen Lederstiefeln, goldknopfbesetzter Uniformjacke, einem Tschako auf dem Kopf und dem Gummiknüppel an der Hosennaht, liefen zu zweit Streife.

Die große runde Uhr auf dem Bahnsteig zeigte kurz vor 22 Uhr.

»Kann ick Ihnen den Koffa abnehmen?« Ein Dienstmann mit roter Mütze sprach Carl an und griff nach dem Gepäck.

»Ja, danke. Ich nehme dann ein Taxi!« Carl wollte auf dem schnellsten Weg zu Tante Emilie und Onkel Erich.

»Allet klar, der Herr, jehn wa zum Taxistand!« Der Dienstmann setzte sich mit dem Koffer in Bewegung Richtung Küstriner Platz.

Die hölzernen Bauzäune verbargen nur notdürftig die riesige Baustelle. Direkt in den Bahnhof integriert, einen Teil der Eingangshalle einnehmend, sollte das neue Plaza-Varieté entstehen. Die schmucke Fassade des großen Gebäudes schien schon fertiggestellt zu sein, Carl konnte auf dem Dach des Theaters steinerne Figuren ausmachen. Wahrscheinlich war man jetzt mit dem Innenausbau beschäftigt. Er musste sich einmal erkundigen, wann die Eröffnung wäre.

Auch auf dem Bahnhofsvorplatz herrschte trotz der späten Stunde noch eifriges Treiben. Die Dienstmänner hatten auf den späten Zug aus dem Osten gewartet, der mit seinen vielen Fahrgästen ein gutes Geschäft versprach. Sie schleppten die Gepäckstücke zu den schwarzen Taxis, die seit einiger Zeit die Pferdedroschken abgelöst hatten. Eine Wurstbude hatte noch geöffnet, aber der Besitzer wischte schon die Theke ab. Heute wird es also nichts mehr mit einer Bockwurst, dachte Carl. Ihm knurrte der Magen. Aber er würde ja noch lange genug in der Stadt sein. Und Tante Emilie hatte bestimmt eine Kleinigkeit zu essen vorbereitet.

»Na, Schätzeken, wie isset mit uns beede?« Ein grell geschminktes Strichmädchen mit gewagtem Dekolleté, nicht älter als 20, hängte sich aufdringlich an Carls Arm. »Für fünf Märkerchen könnten wa ’n bisken Spaß haben!« Sie klimperte mit den langen aufgeklebten Wimpern.

»Ei, lassen Sie mal, ich möchte nach Hause«, wehrte Carl ab.

»Ach, nach Hause, na da komm ick doch mit, Süßer!« Sie ließ nicht locker und streckte die Brust heraus.

»Minna, ick hab dir schon 100-mal jesacht, du sollst nich de Jäste belästijen!« Der Dienstmann war nun lauter geworden und versuchte, die Frau mit einer Armbewegung zu verscheuchen.

»Is ja schon jut, Fritze, ick muss ooch sehn, wo ick bleibe!« Damit ließ sie von Carl ab und wandte sich rasch dem nächsten Passanten zu.

»So, mein Herr, nu sind wa am Taxistand, wenn ick bitten darf!« Fritz stellte Carls Koffer vor dem lackglänzenden Mercedes-Taxi ab und drehte seine rote Mütze in der Hand. Carl, der die Prozedur schon kannte, kramte aus seiner Hosentasche eine Mark und warf sie ihm in die Mütze.

»Und vielen Dank auch!«

»Ick danke Ihnen, der Herr, und allet Jute in Berlin!« Eilig steckte der Dienstmann die Münze in seine Joppe und lief noch einmal zur Bahnhofshalle, in der Hoffnung, noch den einen oder anderen Koffer transportieren zu können.

»Wo soll et denn hinjehen?« Der Taxifahrer hatte inzwischen den Koffer in den Kofferraum der schwarzen Limousine gelegt und Carl die Tür zum Einsteigen geöffnet. Carl ließ sich in den Sitz sinken. »Inselstraße 8«, sagte er. »Wat, na, dit is ja nich weit. Da sind wa in zehn Minütchen da!« Der Fahrer war mit der kurzen Strecke nicht so ganz zufrieden, aber man wusste eben nie, wer einstieg.

Sie fuhren die Breslauer Straße entlang, an der Jannowitzbrücke vorbei, wo die funzligen Gaslaternen in der Dunkelheit nur schwach Licht spendeten. Hier und da bettelten in den Ecken des Spreeufers ein paar Obdachlose um ein paar Pfennige, in einem Torbogen der S-Bahn gab es eine Schlägerei. Carl wusste, dass die Gegend vom Schlesischen Bahnhof bis zur Inselstraße nicht zu den besten von Berlin gehörte.

Die Inselstraße jedoch war auf einmal wieder von vornehmer Schönheit. Elegante, gepflegte Jugendstilbauten mit verschnörkelten Erkern ragten in die Höhe. Carl schaute hoch. In Nummer acht brannte in der dritten Etage noch Licht.

»Macht eins achtzig!«

Carl gab dem Taxifahrer zwei Mark und ließ sich seinen Koffer geben. Er drückte auf den messingfarbenen Klingelknopf neben dem Schild »Dömnick«. Schnell wurde ihm aufgemacht, denn er wurde erwartet.

»Mein Jungchen, schön, dat de wieder da bist!« Emilie drückte ihren Neffen an ihre große Brust und zog ihn in die moderne Dreizimmerwohnung, die mit hochwertigem Mobiliar ausgestattet war. »Wie war de Fahrt?«

»Alles wie immer, Tantchen. Und schöne Grüße von Mutter und Vater. Wo ist der Onkel?«

»Na, der schläft schon. Is ja zehne durch. Er muss beizeiten uffstehn, und sich fürt Büro fertich machen. Nu komm erst mal rin inne jute Stube. Ick hab dir Stampfkartoffeln mit Julasch warmjehalten.« Emilie lachte und nahm Carl den Koffer ab. Sie wusste, dass der Junge gut und gerne aß.

In der Küche war es warm, und es roch herrlich nach Geschmortem. Carl war insgeheim froh, dass es kein Bollenfleisch gab, auch eine von Tante Emilies Spezialitäten. Aber er mochte den Geschmack von Ziege und Hammel nicht. Aber ihr Rindergulasch war einfach köstlich.

Es hatte sich seit seinem letzten Besuch nichts verändert. Alles war gemütlich, sauber und aufgeräumt, kein Krümelchen fand sich auf dem cremefarbenen Küchenbüfett.

Während Carl hungrig aß, fragte Emilie ihn über die Fahrt und die Familie aus, aber sie merkte schon, dass Carl ziemlich müde war. »Denn will ick dir man nich weiter löchern«, schmunzelte sie. »Komm man, ick hab dir im Gästezimmer dein Bett jemacht.« Sie machte eine einladende Handbewegung. Das Gästezimmer war das ehemalige Kinderzimmer von Franz, Carls Cousin. Es war ordentlich möbliert mit einem wuchtigen polierten Eichenschrank, einem bequemen Sessel und einem kleinen Tischchen vor dem Fenster. Auf dem Bett lag frische blütenweiße Bettwäsche.

Carl war wieder in Berlin angekommen.

»Komm, Jungchen, raus aus de Federn!« Energisch zog Tante Emilie die beigefarbenen Samtvorhänge auf. Ein grauer trüber Novembertag brach an.

Carl musste sich erst einmal sammeln. Ach ja, er hatte im Bett von Franz geschlafen, der schon verheiratet war und mit seiner Frau Mathilde in die Magazinstraße gezogen war. Für heute Abend war sein Besuch angekündigt worden.

Was war heute? Richtig, Montag, und er war in Berlin und musste zur Berufsschule in die Königgrätzer Straße.

Carl rekelte sich noch einmal kurz und sprang dann aus dem Bett. In der Küche duftete es schon nach frisch gebrühtem Bohnenkaffee. Tante Emilie hatte sogar beim Bäcker an der Ecke frische Brötchen geholt. Wie meine schmecken sie nicht, die Berliner Schrippen, dachte Carl, als er herzhaft hi­neinbiss, aber sie sind nahe dran.

Die U-Bahn-Station Inselbrücke war gleich um die Ecke. Der hohe, vollständig mit hellgrünen Fliesen gekachelte Untergrundbahnhof mit dem riesigen Korbbogengewölbe, der sechseinhalb Meter unter der Spree verlief, beeindruckte Carl jedes Mal, wenn er die Treppe hinunterging. Zahlreiche tropfenförmige elektrische Lampen flankierten, von der Decke hängend, auf gerader Linie links und rechts den Bahnsteig, auf dem sich ein ebenfalls in gleicher Farbe gekacheltes Schaffnerhäuschen befand, an dem außen ein Trinkwasserbecken angebracht war. Alle Rahmenelemente waren in Dunkelgrün gehalten, auch die vielen Werbetafeln an den Wänden links und rechts waren in dieser Farbe eingefasst. Carl war fasziniert von dem Bauwerk.

Außer ihm waren an diesem frühen Morgen, die Bahnhofsuhr zeigte kurz nach 7 Uhr, schon etliche andere Menschen unterwegs. Männer fuhren mit ihrer Aktentasche unterm Arm ins Büro, in Gedanken schon bei der nächsten Steuerabrechnung oder dem unvermeidlichen Antritt beim Chef. Aber auch einige Frauen, die arbeiten mussten, fuhren, adrett gekleidet, zu ihren schlecht bezahlten Stellen als Haushaltshilfe, Sekretärin, Fabrikarbeiterin, Verkäuferin oder Krankenschwester.

Carl fuhr mit der Linie A westlich in Richtung Wilhelmplatz in Charlottenburg und stieg am Potsdamer Platz aus. Gleich als er die Treppe hochkam, fiel ihm auf, dass die Baustelle am Kempinski Haus Vaterland