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Kreativität ist eine Lebenseinstellung
Kreativität macht glücklich – und sie hilft uns dabei, die Herausforderungen des Lebens zu meistern, im Großen wie im Kleinen. Melanie Raabe, SPIEGEL-Bestsellerautorin und selbst lange auf der Suche nach ihrem „ganz persönlichen Ding“, erklärt in diesem Buch, weshalb wir alle kreativ sind und wie wir die Inspiration finden, um auf das zu stoßen, was uns im Innersten ausmacht und weiterbringt. Dabei geht es um Mut und Beharrlichkeit, Leichtigkeit und Durchhaltevermögen, um Originalität und Schnapsideen, um Produktivität und Prokrastination, ums Scheitern und vor allem: ums Weitermachen, auch wenn ein rauer Wind bläst. Denn Kreativität ist mehr als der gelegentliche Geistesblitz. Kreativität ist eine Lebenseinstellung.
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Zum Buch
Kreativität macht glücklich – und sie hilft uns dabei, die Herausforderungen des Lebens zu meistern, im Großen wie im Kleinen. Melanie Raabe, SPIEGEL-Bestsellerautorin und selbst lange auf der Suche nach ihrem »ganz persönlichen Ding«, erklärt in diesem Buch, weshalb wir alle kreativ sind und wie wir die Inspiration finden, um auf das zu stoßen, was uns im Innersten ausmacht und weiterbringt. Dabei geht es um Mut und Beharrlichkeit, Leichtigkeit und Durchhaltevermögen, um Originalität und Schnapsideen, um Produktivität und Prokrastination, ums Scheitern und vor allem: ums Weitermachen, auch wenn ein rauer Wind bläst. Denn Kreativität ist mehr als der gelegentliche Geistesblitz. Kreativität ist eine Lebenseinstellung.
Zur Autorin
MELANIE RAABE wurde 1981 in Jena geboren. Sie ist gescheiterte Schauspielerin, gescheiterte Tänzerin, gescheiterte Lyrikerin. Erst, als sie damit begann, Prosa zu schreiben, fand sie eine künstlerische Heimat. Für ihre erste Veröffentlichung brauchte sie zwar zehn Jahre und fünf Anläufe, aber ihr offizieller Debütroman DIE FALLE wurde 2015 schließlich zu einem Bestseller. 2016 folgte DIE WAHRHEIT, 2018 DER SCHATTEN und 2019 DIE WÄLDER. Melanie Raabes Werke werden in über 20 Ländern veröffentlicht, mehrere Verfilmungen sind in Arbeit. 2019 erschien DER ABGRUND, eine Hörspielserie aus der Feder der Autorin, die als Fiction Podcast veröffentlicht wurde und Platz 1 der deutschen iTunes-Charts erreichte. Gemeinsam mit Künstlerin Laura Kampf betreibt Melanie Raabe einen wöchentlichen Podcast rund um das Thema Kreativität, »Raabe & Kampf«. Zudem ist sie offizielle Lesebotschafterin der Stiftung Lesen. Melanie Raabe lebt und kreiert in Köln.
MELANIE RAABE
Kreativität
Wie sie uns mutiger, glücklicher und stärker macht
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Copyright © 2020 by btb Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkterstraße 28, 81673 München
Covergestaltung: semper smile, München
Umschlagbild: Arcangel Images (477787)
Illustrationen: Inka Hagen, www.inkahagen.de
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-26255-6V001
www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag
»Practicing any art, no matter how well or badly, is a way to make your soul grow.«
Kurt Vonnegut
»In a time of destruction, create something.«
Maxine Hong Kingston
Vorwort
1
Das Kapitel, in dem wir uns anschauen, was Kreativität eigentlich ist – und wie sie unser Leben schöner und reicher macht
Wie ein kreativer Blick auf die Welt unser Leben verändert
Wieso Kreativität eine Superpower ist, die uns durch schwierige Zeiten hilft
Kreativ im Alltag
2
Das Kapitel, in dem du herausfindest, dass auch in dir ein kleines Genie steckt
Wie du »dein Ding« und damit auch ein Stück weit dich selbst findest
»Und … Action!« – Tricks fürs Anfangen
So findest du deinen eigenen Stil
3
Das Kapitel, in dem wir uns gemeinsam auf den Weg in ein kreativ(er)es Leben machen
Ideenfindung
Techniken
Inspiration
Stille
Disziplin
Authentizität
An Fehlern wachsen
Produktivität
Durchhaltevermögen
Exkurs: Ein Zustand namens Flow und wie man ihn kultiviert
4
Das Kapitel, in dem wir uns mit all den Dingen beschäftigen, die unsere Kreativität hemmen
Erwartungen
Verurteilung & Scham
Angst und ihre Erscheinungsformen
Vergleiche
5
Das Kapitel, in dem wir uns anschauen, wie kreatives Wachstum aussieht – und weshalb der Weg ohnehin immer das Ziel ist
Wachstum und Weiterentwicklung
Kreative Gemeinschaft
Balance finden
6
Das Kapitel, in dem wir uns Gedanken darüber machen, wie professionelles kreatives Arbeiten für uns aussehen könnte, sollten wir unser Hobby zum Beruf machen
Professionalisierung
Endlich frei!
7
Das Kapitel, in dem wir uns mit kreativem Ausdruck jenseits des Künstlerischen befassen und lernen, dass Not erfinderisch macht
Erfindungsreichtum jenseits des Künstlerischen
Kreativität in Krisen
Nachwort
Danke!
Quellen
»Wann haben Sie mit dem Schreiben begonnen?«
Diese Frage wird mir ziemlich häufig gestellt.
Viele Autorinnen und Autoren haben spektakuläre Antworten darauf. Stephen King berichtet in seiner Autobiografie, wie er zunächst die Geschichten aus seinen Lieblingscomics kopierte, schließlich jedoch auf Anraten seiner Mutter eigene schrieb. Da war er in der ersten Klasse.
Ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber mich haben solche Geschichten immer eingeschüchtert. Vielleicht, weil meine eigene im Vergleich so enttäuschend ist.
Auch ich war ein fantasiebegabtes Kind – aber waren wir das nicht alle? Auch ich mochte Geschichten, und auch ich habe mir gerne alles Mögliche ausgedacht – aber haben wir das nicht alle? Aufgeschrieben habe ich meine Ideen in ganz jungen Jahren jedenfalls noch nicht. Ich habe lieber mit den anderen Kindern Hütten gebaut, Fußball gespielt oder bin auf Bäume geklettert. Ich schätze, ich war kein sonderlich beeindruckendes kleines Mädchen, und ich glaube nicht, dass meine Eltern mich rückblickend als besonders kreatives Kind bezeichnen würden.
Kurz: Ich bin das Gegenteil eines Wunderkindes. Auch als ich älter wurde, zeichnete sich noch nicht ab, dass ich einmal erfolgreich Bücher schreiben würde. Ich habe viele verschiedene kreative Dinge ausprobiert. Ich bin zum Beispiel gescheiterte Lyrikerin. (Die weinerlichen Gedichte, die ich als Teenager schrieb, sind mir inzwischen ausgesprochen peinlich.) Ich bin gescheiterte Tänzerin und Schauspielerin. (Wenn ich mir heute die Videoaufnahmen von Stücken anschaue, an denen ich als Jugendliche mitwirkte, möchte ich weinen.) Ich bin gescheiterte Musikerin. (Meinen Gitarrenunterricht hielt ich kein halbes Jahr durch, und wenn ich singe, bitten mich selbst Menschen, die mich innig lieben, sofort wieder damit aufzuhören.)
Ich habe lange dafür gebraucht, herauszufinden, dass ich eine Geschichtenerzählerin bin. Und auch, als ich begriffen hatte, dass das Romanschreiben die Ausdrucksform ist, nach der ich so lange gesucht habe, gab es kein singuläres Ereignis, das mein Leben veränderte, kein fabelhaftes Erweckungserlebnis.
Um einen Verlag zu finden, brauchte ich fünf Anläufe und fast zehn Jahre. Ich bin kein Genie, auf das die Welt gewartet hat. Aber zum Glück muss ich das auch gar nicht sein, um ein kreatives Leben zu führen. Zum Glück kann auch ein eher durchschnittlicher Mensch wie ich sich kreativ ausdrücken, etwas erschaffen – und im Idealfall nicht nur sich selbst, sondern auch anderen Menschen damit Freude bereiten. Wie man das macht? Genau darum geht es in diesem Buch.
Zwei, drei Dinge vorab, bevor wir loslegen.
Kreativität hat viele Formen. Sie durchzieht unser ganzes Leben – und je mehr wir diese Superpower nutzen, desto interessanter, schöner und aufregender wird es. Kreativität kommt in den unterschiedlichsten Bereichen vor. In der Universität und in der Küche, im Labor und im Atelier, in der Werkstatt und in der Kita, im Konzertsaal und im Pflegeheim. Kreativität hilft uns dabei, einen unvergesslichen Kindergeburtstag zu organisieren oder zum Mars zu fliegen, einen Rosengarten anzulegen oder einen einzigartigen Kurzurlaub zu planen. Sie verändert die Welt und bereichert unser tägliches Leben. Daher können die Techniken, die ich für mich entdeckt und die ich im Folgenden notiert habe, für alles Mögliche genutzt werden. Ich selbst verwende sie ja auch nicht nur, um meine Bücher zu schreiben, sondern in allen möglichen Bereichen und vor allem in meinem Alltag.
Für mich ist Kreativität so viel mehr als nur eine zündende Idee hier und da. Kreativität ist ein permanenter, fortlaufender Prozess. Kreativität ist eine Lebenseinstellung. (Eine sehr schöne, sehr sexy Lebenseinstellung, wenn du mich fragst.)
Noch etwas: Ich bin keine Wissenschaftlerin, keine Therapeutin, kein Life Coach. Und dennoch gebe ich seit vielen Jahren Rat in Sachen Kreativität. Nach meinen Lesungen am Signiertisch, online – und seit 2019 auch im Rahmen eines Podcasts. »Raabe & Kampf« ist ein wöchentliches Format, das ich mit meiner Freundin, der Künstlerin, Designerin und Erfinderin Laura Kampf, betreibe, und in dem wir über alles sprechen, was mit Kreativität zu tun hat – und unsere Erfahrungen teilen.
Unsere Podcasts laufen meistens gerade einmal eine knappe Dreiviertelstunde. Am Signiertisch habe ich noch weniger Zeit. Daher bin ich froh, dass ich dieses Buch schreiben konnte. Alles, was ich in meiner bisherigen kreativen Karriere gelernt habe, habe ich hier für dich zusammengefasst. In der Hoffnung, dass dir irgendetwas davon weiterhilft.
Wenn du bereits kreativ arbeitest – sei es beruflich, sei es privat –, dann ist dieses Buch für dich. Wenn du glaubst, dass du überhaupt nicht kreativ bist, es aber gerne wärst, dann ist es erst recht für dich. Denn eines weiß ich ganz sicher: Wir alle sind kreativ. Ob wir uns dessen bewusst sind und unsere Fähigkeiten nutzen oder nicht. Es gibt viele Dinge, die man tun kann, um bessere Ideen zu haben und auf Dauer inspiriert und produktiv zu bleiben. Denn diese Fähigkeiten funktionieren wie ein Muskel, und einen Muskel kann man trainieren. Ich verrate hier, wie ich es angestellt habe – und wie du es tun kannst. Und das macht viel mehr Spaß als der Muskelaufbau im Fitnessstudio. Versprochen.
Das Kapitel, in dem wir uns anschauen, was Kreativität eigentlich ist – und wie sie unser Leben schöner und reicher macht
»I am a great admirer of mystery and magic.Look at this life – all mystery and magic.«
Harry Houdini
Kreative sind etwas ganz Besonderes. Brillante Künstler beispielsweise – oder geniale Erfinder. Leonardo da Vinci. Thomas Edison. Johann Wolfgang von Goethe. Kreative sind selten und außergewöhnlich. Sie ticken nicht wie »normale« Menschen. Sie sind von den Musen geküsste, von den Göttern bevorzugte Geschöpfe.
Kleiner Scherz. Wenn du das Vorwort gelesen hast, weißt du bereits, dass ich nicht so denke. Und das solltest du auch nicht.
Die Wahrheit ist: Kreative sind überhaupt nichts Besonderes. Hochbegabte mögen besonders sein. Aber es braucht keinen genialen Geist, um kreativ zu sein.
Kreativität heißt auch nicht, in einem bestimmten künstlerischen Bereich von Natur aus besonders gut zu sein, vielleicht gut zeichnen oder schön singen zu können. Das ist Talent.
Kreativität ist etwas völlig anderes, und sie ist weder den Künstlerinnen vorbehalten noch den Erfindern.
Kreativität ist weder selten noch elitär.
Und kreativ zu sein heißt auch nicht, den ganzen Tag auf einer Chaiselongue zu liegen und auf den göttlichen Funken der Inspiration zu warten. Inspiration spielt zwar durchaus eine Rolle im kreativen Prozess, aber Handwerk und vor allem Durchhaltevermögen sind genauso wichtig.
Um zu begreifen, was Kreativität ist, sollten wir all die Mythen (und all die einschüchternden Genies), die wir mit diesem Begriff in Verbindung bringen, einen Moment lang vergessen. Lass uns stattdessen eine Reise ins New York City der siebziger Jahre unternehmen. Woran denkst du dabei? Ich denke an Freiheitsliebe, gute Musik und vor allem: wilde Partys! Drogen, Sex und jede Menge Glitzer und Glamour. So stellen sich das die meisten, die diese Zeit nur aus Filmen kennen, doch vor. Rockstars und Models, die im legendären New Yorker Club Studio 54 ausgelassen feiern. Klingt erst einmal großartig. Angesagte Clubs haben allerdings überall auf der Welt und zu jeder Zeit einen gewaltigen Nachteil: Sie sind exklusiv! In New York kam in den hauptsächlich schwarzen »Ghettos« in den Siebzigern daher eine ganz neue Art zu feiern in Mode. In teils abrissreifen Häusern trafen sich diejenigen zu selbst organisierten Partys, die keinen Zugang zu oder kein Interesse an den schicken Clubs in Manhattan hatten. Zur Unterhaltung und zum Anheizen der Menge auf diesen Blockpartys diente eine ganz neue musikalische Form, bei der gereimte Texte in einem bestimmten Rhythmus vorgetragen wurden und die zunächst eine Street Art war: Rap!
Du willst feiern, kommst aber nicht in den Club? Du willst Musik machen, hast aber kein Instrument? Nicht ideal, aber kein Grund, sich aufhalten zu lassen. Wenn du weißt, wie man aus der Not eine Tugend macht, kann es der Anfang von etwas ganz Neuem sein.
Das ist Kreativität.
Lass uns noch einen Trip machen. Dieses Mal nach Schweden, ins Jahr 2018. Das Land hat mit einer für Skandinavien ungewöhnlichen Hitzewelle zu kämpfen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass der menschengemachte Klimawandel voranschreitet, da sind sich viele im Land sicher. Aber was kann man als einzelne Person schon tun?
An einem Freitag im August setzt sich eine fünfzehnjährige Schülerin mit einem selbst gemalten Schild vor das schwedische Parlament – »SKOLSTREJKFÖRKLIMATET« steht darauf –, um für besseren Klimaschutz in ihrem Land zu protestieren. Ein Schulstreik fürs Klima! Darauf war vor ihr noch niemand gekommen. Damit traf Greta Thunberg einen Nerv. So einfach! So wirksam!
Das ist Kreativität.
Und jetzt stell dir Deutschland Ende der Neunziger vor. Genauer: Wiehl, meine Heimatstadt. Ich bin siebzehn, habe unreine Haut, schwärme für Jungs, bei denen ich keine Chance habe, und besuche mit einer Freundin einen Erste-Hilfe-Kurs. Schließlich will ich bald meinen Führerschein machen! Ich lerne alles, was man wissen muss – aber als der Kurs beendet ist, mache ich mir dennoch Sorgen. Könnte ich dieses neue Wissen im Ernstfall überhaupt abrufen? Man muss so vieles bedenken! Einen bewusstlosen Menschen in die stabile Seitenlage zu bringen, bekäme ich vielleicht noch hin. Aber wie um Himmels willen soll ich in einer Ausnahmesituation ein Herz wieder zum Schlagen bringen? Und dabei auch noch genau den richtigen Rhythmus für die Druckmassage finden?
Wie ich inzwischen gelernt habe, wird potenziellen Ersthelferinnen und Ersthelfern mittlerweile beigebracht, bei der Herzdruckmassage an »Staying Alive« von den Bee Gees zu denken. Die hundert Beats pro Minute dieses Klassikers geben den richtigen Takt vor. Dass es in dem Lied inhaltlich darum geht, am Leben zu bleiben, ist ein schöner Nebeneffekt.
Eine womöglich lebensrettende Eselsbrücke für Extremsituationen.
Das ist Kreativität.
Ob es auch eine Stufe darunter geht? Natürlich!
Du bekommst unangemeldet Gäste und kreierst aus den Zutaten, die du noch daheim hast und die scheinbar gar nicht zusammenpassen, ein nie dagewesenes Menü?
Du legst das Lehrbuch beiseite und findest einen ganz neuen Weg, um deinem Nachhilfeschüler dieses mathematische Problem, das er einfach nicht begreift, verständlich zu machen?
Du bist Kostüme von der Stange leid und entwirfst für die nächste Karnevalsparty dein eigenes?
Du erfindest für deine Tochter, die mit Mumps im Bett liegt, eine neue Gute-Nacht-Geschichte?
Das alles ist Kreativität.
Kreativität hat oft in irgendeiner Form mit Problemlösung zu tun. Probleme haben wir erst einmal alle nicht so gerne. Dabei sind sie häufig ein wirkungsvoller Katalysator für Kreativität.
Okay, »Problemlösung«, das klingt erst einmal unsexy. Was haben die Sixtinische Kapelle, Beethovens Fünfte oder ein Roman von Toni Morrison mit Problemlösung zu tun? Nun, natürlich spielen bei der Kunst auch viele andere Themen mit hinein. Aber wenn man einmal genauer hinschaut, wird klar, dass auch die Kunst in gewisser Weise immer mit Problemlösung beschäftigt ist.
Nehmen wir meine Arbeit, das Bücherschreiben. Geschichten zu entwickeln hat viel mit mir zu tun, mit den Dingen, die mich interessieren und anziehen. Aber von der handwerklichen Seite aus betrachtet geht es immer um die Lösung von Problemen. Als Schriftstellerin denke ich permanent über bestimmte Fragen nach. Vor allen Dingen über diese: »Und was passiert als Nächstes?« Neue und interessante Antworten auf diese Frage zu finden ist ein Problem, das es Mal um Mal zu lösen gilt.
Probleme können innovative Ansätze inspirieren. Oft ist es im Nachhinein gar nicht mehr so offensichtlich, dass eine Innovation auf ein bestimmtes Problem zurückgeht. Und so soll es ja auch sein. Ein Beispiel aus dem Showbusiness: Am 13. Dezember 2013 wurde die Musikindustrie von einer Art Erdbeben erschüttert. Beyoncé Knowles hatte ihr brandneues Album veröffentlicht. Das war zunächst einmal nichts Besonderes, das hatte sie zuvor schon viermal getan. Doch dieses Mal war alles anders: Es hatte vorher keine Pressemitteilungen, keine Werbung, keinen Buzz gegeben. Niemand außerhalb des engsten Kreises der Sängerin wusste, dass etwas Neues von ihr erscheinen würde. Ihr fünftes Album, schlicht »Beyoncé« betitelt, war ein Secret Album. Es war einfach plötzlich da. Von einer Sekunde auf die andere online verfügbar. Ungewöhnlich! Noch nie dagwesen! Natürlich brach die Hölle los.
Doch damit nicht genug. Die Künstlerin beschritt auch in der Darreichungsform ihrer Musik neue Wege. Während sie – wie in der Branche üblich – zuvor nur für jede Singleauskopplung aus einem Album ein Musikvideo gedreht hatte, war »Beyoncé« ein Visual Album. Jeder einzelne Song wartete mit einem Musikvideo auf, und die einzelnen Clips verbanden sich zu einem großen Gesamtkunstwerk.
Hatte Beyoncé schlicht Lust, ihre Fans mit einem Album zu überraschen? Und war ihr einfach danach, zu jedem Song ein Video zu machen? Nein und nein. Die Künstlerin hatte zwei Probleme. Zum einen ärgerte sie sich darüber, dass es im Internet-Zeitalter normal geworden war, dass unveröffentlichte Tracks »leakten«, also frühzeitig und illegal online auftauchten. Zum anderen beklagte sie die Tatsache, dass die Menschen in Zeiten von Downloads und Streams keine kompletten Alben mehr hörten, sondern nur noch einzelne Tracks. Es war praktisch unmöglich geworden, Leute dazu zu bringen, ein Werk in seiner Gänze zu hören.
Indem sie »Beyoncé« bis zum letzten Moment komplett geheim hielt, unterband sie Leaks. Und die aufwändig produzierten Videos brachten die Fans dazu, sich mit jedem einzelnen Song zu befassen, statt nur die Singles zu hören.
Problem gelöst.
Die Prozesse in unseren Gehirnen, die wir für diese Art von Problemlösung nutzen, laufen meist im Hintergrund ab.
Indem wir sie uns bewusst machen, können wir lernen, sie gezielt einzusetzen und zu verbessern. Ganz unabhängig davon, ob wir einen Thriller schreiben, die nächste Beyoncé werden oder zum Mars fliegen wollen. Und mit »wir« meine ich uns alle. Jede und jeder von uns ist kreativ. Wir sind es nur nicht alle auf dieselbe Art.
Neulich machte ich, nachdem die Corona-Krise meine ursprünglichen Urlaubspläne über den Haufen geworfen hatte, eine kleine Wandertour an der Saar. Während einer dieser Wanderungen führte mich der Weg an einem Waldkindergarten vorbei. Plötzlich entdeckte ich am Wegesrand einen bunt bemalten Stein im Gras. Ich bückte mich, um zu sehen, was darauf gemalt war – und fand noch einen. Und noch einen. Und noch einen. Der ganze Weg war von ganz unterschiedlich bemalten Steinen gesäumt. Steine mit Mustern. Mit Sonnen. Mit Regenbögen. Mit Marienkäfern. Steine mit Figuren, mit Schrift, mit Bäumen und Sternen. Bestimmt zwanzig Meter weit. Ich war in eine wunderschöne kleine Ausstellung gestolpert. Einfach so. Schließlich stieß ich auf ein Schild:
»ACHTUNG! Liebe Kinder, liebe Eltern, liebe Spaziergänger,bemalt doch zu Hause einen Stein und legt ihn bei eurem nächsten Spaziergang hier dazu. Mal sehen, wie lang unsere Steinschlange in dieser Corona-Zeit wird. Wie weit werden wir es wohl schaffen?! Bleibt gesund und haltet Abstand ;) Macht bitte mit!!!!«
Ich fühlte mich nach der Entdeckung dieser ganz besonderen Outdoor-Ausstellung wie nach einem Lottogewinn. Diese kleinen Kunstwerke haben mich unwahrscheinlich glücklich gemacht. (Und ich vermute, den Künstlerinnen und Künstlern ging es nicht anders.) Mein Tag war nach diesem Moment ein anderer. Mein Blick auf die Welt hatte sich ein kleines bisschen verschoben, ich lächelte unwillkürlich und war gleich einen Hauch zufriedener.
Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Wenn wir etwas kreieren, dann machen wir einen Unterschied. Manchmal für uns, manchmal auch für andere. Ob wir ein Bild erschaffen, das irgendwann im Louvre hängen wird, oder ob wir einen Regenbogen auf einen Stein malen, ist egal.
Wenn wir unsere eigene Schöpferkraft begreifen, wird uns klar, dass die Welt, in der wir leben, nicht statisch, sondern formbar ist. Wie Knetmasse. Wir können unsere Welt gestalten. Wie die Kinder aus dem Waldkindergarten »ihren« Wanderweg.
Und dennoch begegnen mir immer wieder Menschen, die von sich selbst behaupten, absolut nicht kreativ zu sein. Ist das nicht merkwürdig? Da verfügen wir alle über eine ganz besondere Fähigkeit, die uns wahnsinnig dienlich sein kann – aber manche von uns wissen es nicht. Oder sie leugnen sogar, dass sie diese Fähigkeit besitzen. Was schade ist, denn Kreativität macht uns das Leben so viel leichter.
Inwiefern?
Stell dir vor, du bist auf einer einsamen Insel gestrandet. Mit nur einer anderen Person. Frag mich nicht, wie ihr da hingekommen seid, ich möchte nicht in einen Roman abdriften. Auf jeden Fall befindet ihr euch jetzt zu zweit auf einer kargen kleinen Insel mit Sand und Kokospalmen – wie man sich das eben so vorstellt, Robinson-Crusoe-Style. Wen hättest du in dieser Situation am liebsten bei dir? Einen besonders klugen oder einen besonders starken Menschen? Ich würde mich für einen besonders kreativen Menschen entscheiden. Weil ich zum einen glaube, dass ich mit ihm oder ihr am besten in der Lage wäre, die Probleme zu lösen, die auf uns zukommen. Im Handumdrehen. Und zum anderen, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass wir noch dazu eine ausgesprochen unterhaltsame und lustige Zeit hätten, bevor wir wieder von dieser verdammten Insel runterkämen.
Es ist doch so: Alle Erfindungen, von denen wir heute profitieren, kamen durch kreative Akte zustande. Und auch wir selbst lösen ständig kleine oder große Probleme. Und das fühlt sich verdammt gut an – dieser Moment, wenn der Knoten platzt. Dazu kommt die beruhigende Gewissheit, sich selbst helfen zu können. Kreativität hat auch eine sehr pragmatische Seite.
Hinzu kommt Folgendes: Die Tatsache, dass Kreativität gut für unsere geistige und körperliche Gesundheit ist, ist hinreichend belegt. Dass es gesund ist, zu musizieren, haben wir wahrscheinlich alle schon mal gehört. Doch auch Dinge wie stricken oder diese hübschen Malbücher für Erwachsene ausmalen, die es in praktisch jeder Buchhandlung gibt, können uns glücklicher und gesünder machen, Stress abbauen und dafür sorgen, dass wir resilienter werden. Wieso kreativer Output uns so glücklich macht? Das hat vor allem mit zwei Dingen zu tun: mit dem Zustand, in den wir dabei idealerweise geraten, dem Flow. Und mit der Tatsache, dass es in der Natur der Sache liegt, dass am Ende des kreativen Prozesses ein konkretes Ergebnis steht! Das Malbuch ist nicht mehr nur schwarz-weiß, sondern bunt, wir haben ein Knäuel Wolle in einen Schal verwandelt, aus dem Holz in unserem Schuppen einen Tisch gemacht, aus dem Wirrwarr in unserem Kopf einen Brief. Wir sind Menschen. Und als solche lieben wir diese Art von Erfolgserlebnis, so klein es auch sein mag.
Kreativer Ausdruck wirkt wie das Ventil für den Dampfkochtopf. Er hilft uns dabei, uns auszudrücken; das rauszulassen, was raus will. Er hilft uns dabei, unseren Blick auf die Welt zu zeigen – oder überhaupt erst einen klaren Blick auf die Welt zu bekommen. Bedeutsame kreative Akte können ganz klein sein. Es geht nicht darum, täglich eine weltbewegende Idee zu haben, sondern darum, eine einzigartige Perspektive auf die Welt zu entwickeln. Es geht um Fantasie – und ein Stück weit natürlich auch um Achtsamkeit.
Sich der eigenen Kreativität bewusst zu werden kann lebensverändernd sein. In »Die Kunst ein kreatives Leben zu führen« schreibt Autor Frank Berzbach: »Wer sich entscheidet, die Kreativität zum Mittelpunkt seines Lebens zu machen, der tritt einem Orden bei, von dem er gar nicht wusste, dass er existiert.«
Die Kreativität als weltlicher Orden! Ich finde diesen Gedanken wunderschön. Gleichzeitig bin ich der Meinung, dass auch die, die dem Orden nicht beitreten können oder wollen, sondern vielleicht nur hin und wieder als Gäste vorbeischauen möchten, unfassbar profitieren können.
Wenn wir uns mit der eigenen Kreativität beschäftigen und ein paar Techniken erlernen, um sie zu fördern, werden wir plötzlich Dinge (und Möglichkeiten) wahrnehmen, die uns vorher entgangen sind. Das hat etwas Magisches. Unsere Umgebung sieht plötzlich anders aus. Es ist, als täte sich eine neue, aufregendere Welt auf – ganz so, als würden wir gerade völlig unvermutet erfahren, dass wir eine übernatürliche Fähigkeit besitzen, von der wir nichts ahnten. Nur braucht es dafür keinen Brief aus Hogwarts wie bei Harry Potter (obwohl ich ehrlich gesagt immer noch auf meinen warte) und auch keinen Spinnenbiss wie bei Spiderman. Alles, was wir brauchen, haben wir bereits.
Resilienz ist in den letzten Jahren zu einem echten Modebegriff geworden. Meiner Meinung nach völlig zu Recht. Resilienz bezeichnet unsere psychische Widerstandskraft. Unsere Fähigkeit, schwierige Situationen durchzustehen, ohne langfristig Schaden zu nehmen. Wer bitte möchte nicht wissen, wie das geht?
Ich habe, während ich mich ein bisschen eingelesen habe, Folgendes festgestellt: Wenn Fallstudien oder Geschichten besonders resilienter Individuen vorgestellt werden, dann ähneln sie denen besonders kreativer Menschen häufig enorm.
Kreativität und Resilienz sind anscheinend miteinander verwandt.
Und tatsächlich: Die Forschung zum Thema Kreativität und Resilienz legt nahe, dass beides sich wechselseitig beeinflusst. Das heißt: Kreativität ist einerseits Teil von resilientem Verhalten. Und andererseits macht Kreativität auch tatsächlich resilienter.
In ihrem Buch »The Resilient Self« beschreiben Steven J. und Sybil Wolin Resilienz als die Fähigkeit, etwas Konstruktives aus unserem Schmerz zu machen.
Ich finde den Gedanken, dass kreatives Schaffen resilienter macht, ganz wundervoll. Und je mehr ich darüber lese und je mehr ich darüber nachdenke, desto logischer erscheint mir das. Wenn Kreativität die Fähigkeit mit sich bringt, Probleme zu lösen, dann macht es doch Sinn, dass Menschen, die ein besonders kreatives Leben führen, besonders gut in Problemlösung sind. Sie sind durch Übung besser geworden. Sie sind nicht gleich frustriert durch jede kleine Schwierigkeit. Sie sind an Schwierigkeiten gewöhnt. Und dementsprechend sind sie auch besser darauf vorbereitet, mit allem Möglichen umzugehen, das das Leben ihnen vorsetzt.
Zudem sind Menschen, die ihre Kreativität ausleben, es gewohnt, Dinge (und Situationen) nicht einfach hinzunehmen, sondern sie zu gestalten.
In unserer kreativen Arbeit lernen wir so vieles. Wir lernen, Dinge auszuprobieren. Wir lernen, zu scheitern und wieder aufzustehen.
Wir lernen, Dinge und Situationen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.
Wir lernen, dass es für jedes Problem mehr als eine Lösung gibt. Und wir lernen, dass wir in der Lage sind, immer wieder Lösungen für unsere Probleme zu finden.
Was mich in meinem Leben immer und immer wieder inspiriert, sind die Biografien außergewöhnlicher Menschen. Meine liebste Autobiografie ist die von Nelson Mandela, »Der lange Weg zur Freiheit«. Für mich war Mandela immer die faszinierendste Persönlichkeit überhaupt. Die Eckdaten von Mandelas Leben – südafrikanischer Aktivist und späterer Präsident – kennen sicher die meisten von uns. Auch dass er unfassbare siebenundzwanzig Jahre im Gefängnis verbrachte, haben viele schon einmal gehört. Als er das Gefängnis wieder verließ, war Mandela mit einundsiebzig Jahren ein alter Mann. Er hätte bitter sein können. Gebrochen. Stattdessen stand er aufrecht, stattdessen war er voller Energie. Pure Resilienz. Mir fiel, als ich über Nelson Mandela und seine unglaubliche psychische Widerstandskraft (die sicherlich viele unterschiedliche Quellen hatte) nachdachte, etwas wieder ein, das ich vor Jahren in seiner Autobiografie gelesen hatte und das mir im Gedächtnis geblieben war. Nämlich die Tatsache, dass Mandela in der kargen Erde auf Robben Island mit größter Hartnäckigkeit einen kleinen Gemüsegarten anlegte (er musste lange darum kämpfen, überhaupt die Erlaubnis dazu zu erhalten) und Tomaten, Chilis und Zwiebeln anbaute. »Ein Garten war im Gefängnis eines der wenigen Dinge, über die man selbst bestimmen konnte«, schreibt Mandela und erinnert sich daran, dass es ihm eine »einfache, aber dauerhafte Zufriedenheit« geboten habe, einen Samen in die Erde zu legen, das entstehende Pflänzchen zu hegen und zu pflegen und schließlich etwas ernten zu können. Mandela beschrieb das so: »Das Gefühl, der Verwalter dieses kleinen Stückchens Erde zu sein, beinhaltete einen Hauch Freiheit.«
So wie Mandela über seinen Garten denkt, denke ich über alle unsere kreativen Werke. Egal, worin sie bestehen … Sie gehören ganz uns. Wenn wir etwas kreieren, gestalten wir nach unseren Wünschen. Wenn wir etwas kreieren, dann sind wir zufrieden – und wir sind frei. Ich glaube, wenn wir wenigstens einen Bereich in unserem Leben haben, der uns zufrieden macht und uns ein Gefühl von Freiheit gibt, dann kommen wir mit den Herausforderungen des Lebens ein ganz kleines bisschen besser klar – und dieses kleine bisschen kann einen riesigen Unterschied machen.
Glücklicherweise müssen wir dafür keine große Kunst kreieren oder weltbewegende Erfindungen machen. Wir können unser kreatives Potenzial auch in ganz alltäglichen Situationen entfalten.
Ich bin der Meinung, dass Kreativität unser Leben schöner und reicher macht – im Großen wie im Kleinen.
Kreativität ist der Unterschied zwischen einem Blumenstrauß, den du im Laden kaufst, und einem, den du selber bindest … oder pflückst.
Kreativität ist der Unterschied zwischen einer ganz normalen Sprachnachricht auf der Mailbox deiner besten Freundin und einer, die sie zum Lachen bringt.
Wenn wir uns unser Leben als Kunstwerk vorstellen, das es zu gestalten gilt, dann nehmen wir allem gegenüber einen künstlerischen Blick ein. Wenn wir aufmerksam und mit einem Blick für Schönes und Interessantes durch die Welt gehen, dann begegnet es uns überall. Und schließlich bieten sich jeden Tag Hunderte Gelegenheiten für kleine kreative Akte. In der Kommunikation beispielsweise. Wir können alles, was wir mitteilen möchten, auf herkömmliche oder auf kreative Art und Weise sagen. Wir können beispielsweise eine ungewöhnliche Form wählen. Ich habe mal einen Entschuldigungsbrief bekommen. Der wurde mir aber nicht per Post zugestellt oder einfach ausgehändigt, er kam in der Form eines Papierflugzeugs angeflogen. (Ich musste sofort lächeln und war augenblicklich entwaffnet.) Es fällt mir auch jedes Mal positiv auf, wenn kreativ mit eigentlich gängigen Inhalten umgegangen wird. Im Prospekt eines Winzers, den ich mag, fand ich kürzlich diese Beschreibung eines Rieslings:
»feine Sponti-Nase, duftig-feinphänomenal fruchtig-erfrischende Säurezum Reinlegen (Info: für ein Vollbad benötigt man ca. 160 Flaschen)«
Ich musste bei der Info zum Vollbad einfach sofort schmunzeln! Keine große Sache, schon klar. Aber ein bisschen Humor, eine unerwartete Wendung in einem ansonsten herkömmlichen Prospekt … und schon ist die Welt ein klein wenig bunter.
Eine Freundin von mir hat eine Schiefertafel bei sich im Flur aufgehängt. Jedes Mal, wenn ich bei ihr bin, steht ein anderes schönes Zitat darauf. Oder sie hat etwas gezeichnet. Ich stelle mir vor, wie sie morgens nach dem Zähneputzen mit Kreide an diese Tafel tritt, sie auswischt, kurz überlegt, was sie heute mit ihr anstellen will und loslegt. Was für ein hübsches kleines Ritual!
Ich mag so etwas.
Als ich einst bei einem befreundeten Paar zu Besuch war, stellte ich fest, dass sie ein Spiel herumstehen hatten, das ich noch aus meiner Kindheit kannte: Es besteht aus einem Plastikkrokodil mit weit geöffnetem Maul. Man kann abwechselnd auf die Zähne des Krokodils drücken – und irgendwann schnappt es zu. Ich fand dieses Spiel als Kind wahnsinnig aufregend. Besagtes Pärchen verwendet es allerdings nicht zum Zeitvertreib, sondern um Streits über Kleinigkeiten, wie die Frage, wer den Müll rausbringen muss, zu vermeiden. Wenn sie sich uneinig sind, holen sie das Krokodil heraus, spielen eine Runde – und wer »geschnappt« wird, bringt ohne zu murren den Müll weg. Plastikkrokodile können Beziehungen retten! Wenn das keine kreative Problemlösung ist, dann weiß ich auch nicht.
Es gibt Menschen, die all die winzigen Möglichkeiten, kreativ zu werden, ganz automatisch nutzen. Oft haben sie etwas Spielerisches und mögen kleine Albernheiten. Wenn eine besonders öde Sitzung oder ein ungeliebter Vortrag ansteht, werden sie vielleicht vorschlagen, Bullshit-Bingo zu spielen, oder ihren ganz eigenen Zeitvertreib erfinden, um sich die Langeweile zu vertreiben. Wenn sie in den Himmel schauen, dann sehen sie nicht Wolken, sondern Schildkröten, Einhörner oder Kaninchen im Sprung.
Besonders kreative Menschen sehen nicht nur was ist, sondern was sein könnte. Sie denken häufiger »Was wäre, wenn …?« Aus dieser Frage können kreative Werke und außergewöhnliche Erlebnisse resultieren.
Für die meisten von uns findet ein Konzert in einer Konzerthalle statt. Aber was, wenn wir sehr früh aufstünden, uns Campingstühle schnappten und in den Wald führen, um uns ein Vogelkonzert anzuhören?
Die Menschen in meinem Umfeld, bei denen die Fähigkeit, kreative Möglichkeiten zu erkennen, besonders ausgeprägt ist, empfinden ganz Alltägliches als aufregend und besonders. Kein Wunder, dass sie meistens ziemlich glücklich sind. Sie brauchen weniger dafür als andere.
Ich nenne das Mikrokreativität.
Wir werden nicht jeden Tag eine weltbewegende Idee haben – aber vielleicht einen kleinen Einfall, der uns oder anderen eine Freude macht. Vielleicht setzen wir uns an den Schreibtisch und schreiben von Hand einen langen, schönen Brief an unsere Oma. Vielleicht verzieren wir ihn mit Blumen, die wir zwischen den Seiten des dicksten Wälzers in unserem Bücherregal getrocknet haben. Vielleicht nehmen wir uns ein Beispiel an den Kindern in unserem Umfeld, die Erwachsenen häufig Bilder malen. Vielleicht versehen wir den Einkaufszettel, mit dem wir unseren Mitbewohner in den Supermarkt schicken, mit Zeichnungen statt mit Worten. Vielleicht kreieren wir aber auch mit den Lebensmitteln, die wir noch im Haus haben, ein ganz neues Gericht. Oder wir richten eine altbekannte Speise auf ganz neue Art an! (Haute Cuisine hübsch aussehen zu lassen ist leicht, aber probier das mal mit einer einfachen Erbsensuppe oder einem Käsebrötchen!) Oder wir überraschen unseren Freund mit einem Gedicht. Oder einem kleinen, rasch auf der Akustikgitarre komponierten Lied. Vielleicht schreiben wir auch einfach einen witzigen Tweet oder knipsen ein schönes Foto für Instagram. All das sind kleine kreative Akte.
Einer meiner Lieblingsschauspieler ist – seit meiner Kindheit – Bill Murray. Als Kind habe ich seine Filme wahnsinnig gerne gesehen. Im Fernsehen oder auf VHS. »Ghostbusters«, »Und täglich grüßt das Murmeltier«, »Die Geister, die ich rief« – all das eben. Und als Erwachsene habe ich ihn dann in Filmen wie »Lost In Translation« bewundert. Irgendwie hatte ich immer eine Schwäche für Bill Murrays Humor und sein knautschiges Gesicht. Und ich hatte immer das Gefühl, dass Bill Murray im echten Leben bestimmt ein cooler Typ ist. (Es ist natürlich kein Zufall, dass der Hund der Protagonistin aus meinem vierten Roman »Die Wälder«, der im Buch eine sehr wichtige Rolle spielt, Bill Murray heißt – »Billy« für seine Freunde.)
Irgendwann stellte ich durch völligen Zufall fest, dass es online jede Menge verrückte Geschichten über Bill Murray gibt. Wie diese hier, die jemand auf Facebook postete und die auf BuzzFeed Verbreitung fand: »Ich aß bei Wendy’s zu Mittag, als Bill Murray sich an meinen Tisch setzte, eine Fritte klaute, sie in meinen Milchshake dippte und sie aufaß. Dann schaute er mich an, sagte ›Niemand wird dir glauben‹ und ging wieder.«
Ich musste sehr lachen über diese Geschichte. Was für ein irrer kleiner Stunt. Nun bin ich die Erste, die folgenden Satz unterschreiben würde: Du sollst nicht alles glauben, was im Internet steht. Dennoch war ich angefixt und fing an, Bill Murray gezielt zu googeln. Dabei stellte ich fest, dass es zahllose solcher Storys über ihn gibt (manche fotografisch oder sonst wie dokumentiert) – und sogar eine Website, die sie sammelt. Hier ein paar meiner Favoriten:
Bill Murray taucht uneingeladen bei einem Junggesellenabschied auf und gibt dem Bräutigam in spe Ratschläge fürs Leben.
Bill Murray spielt in einer Kneipe spontan den Bartender und schenkt an alle Tequilashots aus – unabhängig davon, was sie bestellt haben.
Bill Murray wird von ein paar jungen Leuten zu einer Party bei irgendwem daheim eingeladen. Er nimmt die Einladung an, feiert und trinkt mit ihnen. Bevor er wieder geht, spült er aber noch das ganze Geschirr, das sich in der Spüle der Studentenbude stapelt.
Bill Murray kommt an der Baustelle einer New Yorker Bibliothek vorbei, setzt sich einen Bauarbeiterhelm auf und liest den Arbeitern Gedichte vor.
Oft sind wir ein bisschen in unserem Trott gefangen. Ganz unabhängig davon, ob wir uns für kreative Köpfe halten oder nicht, manchmal scheint der Alltag irgendwie grau. Und genau deswegen mag ich diese Geschichten so gerne. Ich mag das Kindliche, das da mitschwingt. Das Verspielte, die Leichtigkeit. Wenn ich einen Preis für kreativen Lifestyle ausloben könnte, bekäme ihn Bill Murray.
Womit ich nicht dafür plädieren will, öfters mal Partys zu crashen oder für Fremde Gedichte zu rezitieren. Mir geht es darum, dass wir alle immer mal wieder auf kreative Art aus unserem Alltag ausbrechen und uns selbst überraschen. So, wie es uns entspricht.
Auf die schönste Art, kleine kreative Ideen in den eigenen Alltag zu integrieren, stieß ich in den frühen Nuller Jahren: »Random Acts of Kindness«, also eher zufällige freundliche Taten. Ich wurde durch den britischen Comedian, Autor und Filmemacher Danny Wallace darauf aufmerksam, der ein kleines Buch zu dem Thema geschrieben hat: »Random Acts of Kindness: 365 Ways To Make the World A Nicer Place«.
Random Acts of Kindness können relativ offensichtliche Dinge sein: der Kassiererin im Supermarkt ein (angemessenes) Kompliment machen. Einen netten Kommentar hinterlassen, wenn du online etwas gelesen oder gesehen hast, das dir gefallen hat. Ein Kompliment in die Küche schicken, wenn dir das Essen im Restaurant geschmeckt hat.
Natürlich sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Genau darum geht es ja: immer neue kleine Ideen zu finden, mit denen man den Menschen in der eigenen Umgebung den Tag schöner, lustiger, heller oder bunter machen kann. Im Coffeeshop nicht nur den eigenen Kaffee bezah-len, sondern auch den der Person hinter dir, ist ein Klassiker. Einem Unternehmen, das häufig mit Beschwerden zu tun hat (wie die Deutsche Bahn zum Beispiel) ein Lob auszusprechen, wenn etwas besonders gut gelaufen ist, ist ein weiterer.
Im Film »Evan Allmächtig« aus dem Jahr 2007 begegnet die Hauptfigur Evan dem lieben Gott höchstpersönlich. Gott, gespielt von Morgan Freeman, verrät Evan in einer Szene, wie man die Welt verändert: »One act of random kindness at a time.«
Ich finde, da ist was dran. Und selbst wenn nicht – es macht Spaß und ist eine der spannendsten Arten, Kreativität zu üben.
Heimliche »Random Acts of Kindness« sind die besten. Es geht nicht darum, gut dazustehen. Es geht darum, nette kleine Ideen zu haben. Es geht darum, Gelegenheiten und Handlungsspielräume wahrzunehmen, die anderen verborgen bleiben.
Das Kapitel, in dem du herausfindest, dass auch in dir ein kleines Genie steckt
»Write it. Shoot it. Publish it. Crochet it, sauté it, whatever. MAKE.«
Joss Whedon
Wenden wir uns nun einmal der Person zu, um die es hier wirklich geht: dir. Vielleicht lebst du bereits ein kreatives Leben und nutzt dieses Buch hier bloß als Ergänzung. Vielleicht denkst du gerade aber auch so etwas wie: »Wenn wir alle kreativ sind, wieso zeige ich dann bisher keinerlei Anzeichen dafür?«
Nun, ich würde vermuten, dass du einfach noch nicht »dein Ding« gefunden hast. Manche entdecken es früh, andere spät oder gar nicht. Aber bei jedem gibt es etwas. Bei jeder ist da etwas. Es lohnt sich, danach zu suchen. Und ihm nachzugehen. Wir müssen keine »offiziell« anerkannten Künstlerinnen und Künstler werden. Darum geht es nicht, obwohl das natürlich eine Konsequenz dieses Prozesses sein kann. Mir geht es vielmehr darum, dass wir aufblühen, wenn wir uns kreativ ausdrücken und die Talente, die uns in die Wiege gelegt wurden, nutzen.
Manchmal ist es Arbeit, diese eine Sache zu finden, die wir besonders gut können. Das liegt unter anderem daran, dass es nicht nur darauf ankommt, welches Talent wir haben, sondern auch darauf, wie wir es ausschöpfen. Wenn du beispielsweise von Natur aus gut malen und zeichnen kannst, könntest du dich natürlich entscheiden, Malerin zu sein. (Erneut: ob als Hobby oder als Beruf spielt keine Rolle.) Aber du könntest auch feststellen, dass du viel lieber Illustratorin, Grafikerin, Modedesignerin, Street Artist, Bauzeichnerin, Kunstlehrerin oder Tätowiererin sein möchtest. Wenn du schon immer gut mit Sprache umgehen konntest, kannst du natürlich Romane oder Sachbücher schreiben. Du könntest sie aber auch lektorieren oder besprechen. Oder du schreibst Drehbücher, Artikel, Reden, Gebrauchsanweisungen, Liebesbriefe, Tweets, Werbeslogans oder Gags.
Die Möglichkeiten sind endlos. Wichtig ist auch, sich klarzumachen, dass nicht alle Talente so offensichtlich sind, wie wenn jemand schön malen oder singen kann. Ich bin beispielsweise immer wieder beeindruckt von Menschen, die die Fähigkeit besitzen, selbst komplizierte Sachverhalte verständlich zu erklären. Auch das ist ein Talent.
Dafür zu sorgen, dass andere sich wohl und gesehen fühlen, ist ein Talent. Unvergessliche Partys schmeißen zu können, ist ein Talent. Bei organisatorischen Tätigkeiten hundert Dinge gleichzeitig im Blick zu behalten, ist ein Talent. Und so weiter.
Ich habe die Menschen in meinem Umfeld, bei denen immer ganz klar war, was ihr Talent war und dass sie ihm folgen würden, stets beneidet. Beispielsweise diesen einen Schulfreund von mir, der schon als Kind in der Theatergruppe unseres kleinen Ortes brillierte, in deren Leiter er früh einen Mentor fand, und der sich schließlich an einer Schauspielschule bewarb und genommen wurde. Nicht für jeden verläuft die kreative Laufbahn so pfeilgerade.
Meiner Meinung nach sind zwei Dinge ganz entscheidend für unseren kreativen Weg: unsere eigenen Neigungen und Talente. Und unsere Umgebung. Oft glauben wir, dass die Menschen, die auf ihrem kreativen Weg sehr erfolgreich sind, einfach so geboren wurden und in jedem beliebigen Umfeld Erfolg gehabt hätten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht stimmt. Mozart beispielsweise, ein typisches Wunderkind, war zweifelsfrei ein Genie, aber er wurde auch extrem früh von seinem ehrgeizigen und ebenfalls sehr musikalischen Vater gefördert. Ganz ähnlich stand es mit Beyoncé, die in Interviews erzählt, dass sie von ihrem Vater bereits im Grundschulalter regelrecht gedrillt wurde. Und Picassos Vater? War auch Maler, sodass der junge Pablo sich schon früh eine Menge abschauen konnte. Auch mein Schulfreund, der heute als Schauspieler erfolgreich ist, musste ja erst einmal die Gelegenheit bekommen, bereits als Kind irgendwo auf einer Bühne zu stehen und professionelle Anleitung und liebevolle Ermutigung durch einen frühen Mentor zu erfahren.
Es gibt also überhaupt keinen Grund, entmutigt zu sein, wenn du »dein Ding« noch nicht gefunden hast. Dass manche ihren Weg so früh schon kannten, hat nicht nur mit ihnen, sondern auch viel mit ihrem Umfeld zu tun. Sie hatten das Glück, früh günstige Gelegenheiten geboten zu bekommen.
Gelegenheit macht Liebe. Und genauso verhält es sich auch mit unserem kreativen Weg. Zum Glück können wir viele Gelegenheiten selbst schaffen.
Wenn ich meinen eigenen Pfad rückblickend betrachte, fällt mir auf, dass ich viele Irrwege beschritten habe. Es war zwar eigentlich immer klar, dass es mich zu den Büchern und zum Erzählen zog, doch ging ich dieser Neigung zunächst nicht wirklich konzentriert nach. Das hat sicher auch damit zu tun, dass ich mich selbst noch nicht sonderlich gut kannte.
So kam es, dass ich mir – ich war vielleicht zwölf oder dreizehn – in den Kopf setzte, musikalisch zu werden. Ich hatte Poster von Take That im Kinderzimmer, und meine Freundinnen und ich nahmen uns gegenseitig Lieder von Mariah Carey auf Kassette auf. Musik war cool.
Vermutlich lag es genau daran, dass ich plötzlich davon träumte, singen und ein Instrument spielen zu können. Denn mit Talent hatte mein Ausflug in die Welt der Musik ganz bestimmt nichts zu tun. Dementsprechend schnell endete er auch wieder. Die Akustikgitarre, die meine Eltern für mich anschafften, steht heute noch in meinem Keller. Eine Art Mahnmal. Ich liebe Musik, aber ich weiß heute, dass ich absolut nicht dafür geschaffen bin, sie zu machen. Ich bin damals in eine Falle getappt, in die viele Kreative geraten: die Coolness-Falle.
Ja. Musik zu machen ist cool. Auf einer Bühne zu stehen ist cool. Aber unsere Neigungen und Talente richten sich nicht danach, was in unserer Gesellschaft gerade als sexy gilt.
Jeder, der die vergangenen Jahrzehnte nicht fernab jeglicher Zivilisation in einer Höhle verbracht hat, kennt verwirrte Kreative. Denn viele TV-Formate leben von ihnen. Viele Castingshows wären gar nicht denkbar ohne Heerscharen von Menschen, die sich einen Platz im Rampenlicht wünschen – aber eigentlich gar nicht singen können, ja, vielleicht sogar gänzlich unmusikalisch sind. Sie sind lediglich dazu da, die, die tatsächlich etwas können, noch heller strahlen zu lassen. Und um eine boshafte Schadenfreude des Publikums zu befriedigen natürlich. Ich betrachte diese verwirrten Kreativen mit Empathie – nicht zuletzt, weil ich früher selbst eine von ihnen war. Viele von ihnen gehen ihrem Wunsch, Sänger oder Sängerin zu werden, mit riesigem Engagement nach. Sie bringen den Mut auf, vor Jurys zu treten, die für ihre bösartigen bis vernichtenden Kommentare bekannt sind. Sie setzen sich der Gefahr aus, sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Eventuell investieren sie viel Zeit und Geld in Gesangsstunden – obwohl sie keinerlei Talent haben.
Die Fragen, die wir uns – bewusst oder unterbewusst – stellen, und die Antworten, die wir uns selbst darauf geben, formen unser Leben. Verwirrte Kreative konzentrieren sich, so stelle ich es mir vor, auf folgende Fragen: Was bewundere ich an anderen? Wofür bekommen andere Applaus? Wie kann ich bekommen, was die haben?
Das sind die falschen Fragen. Wir erkennen unsere Talente, indem wir auf uns selbst und nicht indem wir auf andere schauen. Und indem wir uns ein paar bessere Fragen stellen und sie ehrlich beantworten. Fragen wie diese:
Was tue ich gerne? Was habe ich schon immer gerne getan?Worin war ich als Kind gut? Welche Tätigkeit würde ich am liebsten jeden Tag ausüben? (Malen? Zeichnen? Kochen? Klavier spielen? Komponieren? Schreiben? Komplizierte mathematische Probleme lösen?) Womit würde ich meine Zeit verbringen, wenn ich kein Geld verdienen müsste? Wie arbeite ich gerne? (Alleine? Mit anderen? Langsam und stetig oder in kreativen Sprints? Geordnet? Intuitiv?) Blühe ich auf, wenn ich multitaske und an verschiedenen Projekten gleichzeitig arbeite? Oder versenke ich mich gerne über einen längeren Zeitraum in eine einzelne Aufgabe?