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Auf noch fremden Planeten, in ferner Zukunft … … entkommt Mirija Endôr aus dem arcanischen Hochsicherheitsgefängnis. In einem zerbrochenen System, in dem die Monarchisten aus ihrer Unterdrückung erwachen, die Resilienz nach Verbündeten sucht und die Mächte der Arcano auf Messersschneide stehen, muss sie erkennen, wem sie wirklich vertrauen kann. Denn als die Rebellen von Mirijas Freiheit erfahren, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Und sie sind nicht die Einzigen, die das Mädchen suchen.
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Seitenzahl: 479
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Copyright 2024 by
Dunkelstern Verlag GbR
Lindenhof 1
76698 Ubstadt-Weiher
http://www.dunkelstern-verlag.de
E-Mail: [email protected]
ISBN:
Alle Rechte vorbehalten
For Sarah.
Who showed me, that I am my own healer.
Inhalt
Triggerwarnung
Prolog
Erster Teil
Pedro
Darèk
Mirija
Jannijc
Jerijco
Nic
Fèrrie
Fee
Silias
Darèk
Rona
Arijc
Nic
Fèrrie
Nino
Mirija
Vrienne
Fèrrie
Mirija
Jannijc
Mirija
Silias
Enijo
Darèk
Nino
Enijo
Mirija
Nic
Enijo
Fèrrie
Rona
Vrienne
Pedro
Filas
Fee
Jerijco
Darèk
Mirija
Pedro
Darèk
Mirija
Nino
Fèrrie
Pedro
Mirija
Jerijco
Nino
Filas
Jannijc
Enijo
Fèrrie
Jerijco
Mirija
Fee
Nic
Arijc
Mirija
Epilog
Glossar
Danksagung
Triggerwarnung
Liebe Lesende,
in diesem Buch werden euch einige Themen begegnen, die potenzielle Trigger sein können.
Wir versuchen im folgenden alle Themen aufzulisten. Bitte achtet auf euch:
- kriegerische Handlungen, Kämpfe
- Mord (Exekutionen)
- angedeuteter Missbrauch
- Attentate
- politische Unruhen
Prolog
Sie spürte sein Herz. Schnell und mächtig klopfte es gegen die junge Brust. Obwohl … jung war Peddy in ihren Augen nicht. Für Mirija war er genauso erwachsen wie Mama und Papa. Was sie nicht wusste – in deren Augen war er lediglich ein Kind.
Überall um sie herum waren Blut, Schreie und Menschen, die weinten. In Zeitlupe betrachtete die Kleine das Geschehen. Hielt die dünnen Arme fest um Pedro Montañas Hals geklammert. Sie war es gewohnt alles langsam zu sehen. Mama sagte immer, das sei ihre Gabe.
»Peddy, wo sind Mama und Papa?«
Sie hörte seinen Atem, das stetige Keuchen der Angst und der Schmerzen. Er zitterte. Und zum allerersten Mal, seit er sie mitten im Park vor ihrem Haus gefunden hatte, dem Park voller Kirschblütenblätter, sah er sie an. Peddy war sehr hübsch, wie Mirija fand. Eines Tages würde sie ihn heiraten, da war sie sich sicher.
Tränen ließen seine Augen leuchten und er schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf.
»Ich weiß es nicht«, presste er hervor, »ich weiß es nicht, kleiner Stern.«
Peddy schien zu Atem kommen zu müssen, denn er drückte sich in einen Hauseingang. Unwohl sah Mirija über ihre Schulter. Die Gegend, in der sie sich befanden, kam ihr bekannt vor, sehr bekannt sogar und doch wusste sie nicht wo sie waren. Das gegenüberliegende Haus war halb eingestürzt, die restlichen, einst weißen, Grundmauern schwarz verfärbt. Eine Blutspur bahnte sich einen verschlungenen Weg vom Hauseingang zu einer am Boden liegenden Person. Mirija legte den Kopf schief. Es war eine Frau, die sich rein gar nicht bewegte. Bis heute hatte sie noch nie so etwas gesehen. Bäuchlings, von Blut durchtränkt. Es machte ihr Angst.
Im Gegensatz zu dem Dröhnen, den Geschossen und Bomben – mittlerweile hatte sie sich an den ständigen Lärm gewöhnt. Innerlich leer starrte sie auf die tote Frau.
»Mirija … «
»Ich hab Mama alleine gelassen.«
»Was?« Peddy versuchte ihr Gesicht zu sich zu drehen. Sie wehrte sich. Ihr Stimme quietschte und die Tränen ließen die Leiche vor ihren Augen verschwimmen. Langsam formte sich die fremde Frau zu ihrer Mutter und das kleine Mädchen sah sie vor sich. Gestochen scharf, trotz der Tränen. »Ich hab Mama alleine gelassen!« Mit den Fäusten fing sie an gegen Peddys Brust zu schlagen. »Mama! Ich will zu Mama!«
Der Junge fluchte, versuchte sie festzuhalten, ließ sogar sein Schwert verschwinden, um sie besser im Griff zu haben. Sie riss sich los und landete unsanft auf den weißen Pflastersteinen. Ihre Handflächen waren nun ebenso aufgeschürft und rot verfärbt, wie die Spalten des Pflasters. Erst jetzt erkannte sie die Blutlachen. Ein schriller Schrei entkam ihrer Kehle und sie spürte den Stich, der durch ihre Knie fuhr kaum, als sie sich erschrocken aufrappelte.
»Mirija!« Peddy griff nach vorne. Mirija dachte gar nicht daran auf ihn zu hören. Sie musste ihrer Mama helfen.
Mama.
Die goldenen Locken klebten ihr strähnig im verweinten Gesicht, als sie sich umdrehte.
»Mirija!«
Eine Schwertspitze schnitt ihre Haarsträhne in zwei, als Peddy sie grob zurückzog. Ein Schrei folgte. Ein Schrei, der in Mirija alles zusammenzog, ihr den Atem und die Kraft über ihren Körper raubte, den Mut ihre Stimme zu erheben. Völlig entsetzt sah sie zu Peddy auf, der mit leerem Gesicht auf die Knie sackte. Das einst schöne Hemd hatte nun zusätzlich zu den Blutflecken einen tiefen Schnitt in der Brust. Und es färbte sich nach und nach rot.
Ihre Blicke begegneten sich. Petrol und rotbraun.
Peddy hatte die Kraft zu sprechen verloren. Seine Lippen formten ein Wort, welches das Mädchen irgendwie zum Leben erweckte.
Lauf.
Die Angreiferin holte aus.
»Nein!« Mirija stieß sich vom Boden ab und rannte der Frau geradewegs zwischen die Beine. Sie schwankte und als die Kleine nicht losließ, verlor sie das Gleichgewicht. Inzwischen war in Peddys Händen ein Stab aus purem Kristall gewachsen und Entschlossenheit lag in seinem Blick, als das Schwert auf die Frau hinabfuhr.
Erschrocken wandte Mirija das Gesicht ab, dennoch wurde ihre rechte Gesichtshälfte mit Blut bespritzt. Über die Leiche der Frau hinweg sahen sich das Mädchen und Peddy an. Ein Zucken ließ die Kleine an seiner Schulter vorbeiblicken. Er folgte ihrem Blick.
»Lauf«, keuchte er, als er sich wieder zu ihr wandte. »Lauf, kleiner Stern.«
Unsicher sah sie zwischen ihrem besten Freund, Aufpasser und Bruder und den Angreifern hin und her. Es waren viele. Wie viele, wusste sie nicht genau, aber mehr als fünf. Die bösen Menschen kamen auf sie zu.
Sie rührte sich nicht. Ihr Körper war wie eingefroren.
Plötzlich packte Peddy sie energisch an den Schultern. Seine Finger bohrten sich in ihr Fleisch, sodass es ihr die Tränen in die Augen trieb.
»Jetzt lauf!« Wut mischte sich in seine sonst so liebliche Stimme. Und diese Wut, erweckte etwas in Mirija, dass sie aufstehen ließ. Er war wütend. Wütend auf sie, weil es ihre Schuld war. Es war ihre Schuld…
Ich werde ihn niemals allein lassen. Niemals. Ich habe schon Mama allein gelassen. Ich werde für immer bei Peddy bleiben.
»Verschwinde!«
Irritiert zuckten Mirijas Brauen. Was? Warum? Warum will er, dass ich gehe. Will er nicht, dass ich bei ihm bleibe? Warum hat er mich dann festgehalten?
Irgendetwas hatten diese Worte in ihrem Innerem ausgelöst.
Sie machte einen Schritt nach hinten. Dann noch einen. Und noch einen. Peddy nicht aus den Augen lassend.
»Geh weg! Verschwinde! Du musst von hier weg! Lauf!!!«, schrie er schluchzend.
Er wollte also nicht, dass sie bei ihm blieb … er wollte sie nicht. Tränen zierten ihr kleines, feines Gesicht und das Mädchen schluchzte auf.
Was war mit Peddy los? Warum wollte er sie auf einmal nicht mehr bei sich haben? Er hatte ihr versprochen bei ihr zu bleiben. Gerade noch, im Park voller Kirschblüten. Kurz nachdem sie Jerijco verloren hatte.
Er wollte sie nicht mehr. Sie war allein. In Peddys Augen lag so viel Schmerz, dass Mirija sich abwandte und lief, nicht wissend wohin. Dutzende Male sah sie hinter sich, wurde langsamer, überlegte, ob sie zurücklaufen sollte zu ihrem Peddy, doch ein tiefes Wissen, ein Verständnis in ihr hinderte sie daran.
Sie rannte weiter. Immer weiter und weiter. Duckte sich unter Kämpfenden hindurch, nahm Abkürzungen durch Parks, zerkratzte sich die feine Haut und lief. Tränen und Rotz verklebten ihr Gesicht. Und dann plötzlich fand sie sich auf einem ruhigen Platz wieder. Es war still.
Allein kauerte eine Person in der Mitte, vor einem Springbrunnen, welcher rotes Wasser spie. Der Mann wiegte jemanden in seinen Armen.
Mirija hielt die Luft an, ehe sie glücklich aufschrie.
»Onkel Lars!«
***
Sofort erkannte das kleine Mädchen den Weg, den Onkel Lars einschlug. Die Gestalt, die er in seinen Armen gehalten hatte, war sein ältester Sohn gewesen. Raoul. Seine dunklen Augen hatten in den Himmel gestarrt und die weißblonden Locken waren voller Blut gewesen. Leute rannten geduckt über die Straßen. Jedes Mal drückte sich Lars nahe an die Hausmauern, Baumstämme oder Statuensockel. Das Schwert leuchtete in seiner Hand, die Kristalle am Heft ein helles Violett.
Ein gellender Schrei ertönte und auf einmal stürmte eine zuckende, lichterloh flammende Gestalt zwischen den dunklen Häuserreihen hervor. Bevor Mirija erkennen konnte, um wen es sich handelte, hatte sich Lars mit einer eleganten Drehung in den Schutz eines Baumes geduckt. Sanft, aber bestimmt drückte er ihr Gesicht an seine Brust, sodass sie nicht sah, wie jemand bei lebendigem Leib verbrannte.
Das Gelächter, welches darauf folgte irritierte die Kleine, dennoch wehrte sie sich nicht gegen Onkel Lars. Als sie weiterliefen, sah sie aus dem Augenwinkel, wie ein paar Leute um den sich windenden Feuerball standen und sich vor Lachen krümmten.
Irgendwann hielten sie inne und Lars drehte das Mädchen herum, sodass sie gezwungen war ihn anzusehen.
»Mirija … verstehst du schon, was es bedeutet tot zu sein?«
»Mama hat mir mal gesagt, man schläft für immer und wacht nie wieder auf. Aber ich glaub es ist nicht wie schlafen.«
»Man kann es damit vergleichen … « Er zögerte, bevor er weitersprach und seine hellen, grauen Augen bohrten sich in Mirijas Erinnerungen. Das ebenmäßige, spitze Gesicht wirkte kränklich bleich im Licht der entfernten Laternen und einzelne silberweiße Strähnen hingen ihm in die gerade Stirn.
»Ich glaube, dass sehr viele, die wir kennen tot sind, verstehst du?«
»Mhm … «
»Ich glaube auch, dass deine Eltern tot sind.« Die letzten Worte betonte er nachsichtig und langsam. Nach einigen Sekunden des Nachdenkens nickte das Mädchen.
»Und meine Brüder?«
»Ich weiß es nicht, aber ich glaube sie ebenfalls.«
Allmählich schien sie ihm zu schwer zu werden und er setzte sie vor sich ab und ging in die Hocke.
»Wie … wie würdest du es finden, wenn wir von hier weglaufen, kleiner Stern? Du und ich … wir gehen dorthin, wo es dir gefällt.«
»Und Mama und Papa kommen nicht mit?«
»Mama und Papa können nicht mehr mitkommen.«
»Aber … « Tränen stiegen ihr in die Augen und ihre Stimme wurde schrill. »Aber ich will zu Mama!«
»Shhh … « Eilig nahm Lars sie in den Arm und wiegte sie beruhigend. Den Blick panisch in die Ferne gerichtet, wartend, ob ein Angreifer kam, der Mirijas Stimme gehört hatte.
»Hör mir zu, deine Eltern können nicht mitkommen. Und Raoul und Louis können auch nicht mitkommen, was hältst du davon, wenn wir zusammen gehen? Ich spiele deinen Papa und du spielst meine Tochter?«
Das Mädchen wischte sich schluchzend die Tränen von den Wangen. »A-aber du hast doch gar keine Tochter.«
»Wer sagt denn, dass ich nicht gerne eine Tochter hätte?« Und dann lächelte er schief und zum ersten Mal, seit dieser schreckliche Alptraum begonnen hatte, fühlte sich Mirija beschützt.
»Und wo gehen wir hin?«
»Wohin du willst.«
»Dann würde ich gerne nach Helu, zum Meer.«
»Dann gehen wir nach Helu, zum Meer«, antwortete er und strich ihr schmerzvoll lächelnd übers Gesicht. »Ich pass schon auf dich auf, kleiner Stern.«
Mirija nickte und ihr Schicksal war besiegelt. Zwar verstand sie noch nicht ganz, dass Onkel Lars beschlossen hatte sie zu adoptieren und großzuziehen, da sonst niemand mehr lebte, dennoch hatten sich seine Worte tief in ihr verankert. Bis in ihr jugendliches Alter glaubte sie, der Mann mit den grauen Augen sei ihr Papa.
***
Als sie zum Hauptplatz gelangten, war es wieder ungewöhnlich still. Er war übersät von Leichen. Nur der Boden und das Luftportal, welche in ihren gewohnten strahlenden Farben leuchteten, schienen unverändert zu sein.
Gekonnt setzte Onkel Lars seine Schritte und als Mirija einen Blick nach unten wagte, sah sie, dass seine Stiefel schon dunkelrot verfärbt waren.
Plötzlich wankte er und drückte sie fester an sich.
»Sieh nicht hin«, keuchte er und niemand sollte erfahren, ob er es zu sich selbst sagte oder zu dem Mädchen. Kurz schien sie zu spüren, wie ihn die Kraft verließ. Er riss sich zusammen und ging weiter. Emotionslos blickte Mirija über seine Schulter und sah Onkel Lenny reglos auf dem Platz liegen. Er hatte die Augen geöffnet und ein Drang durchfuhr sie, sich von Onkel Lars loszureißen und ihm die Augen zu schließen. Jedoch gingen sie weiter auf das Bodenportal zu. Mirija erkannte schon den leuchtend gelben, runden Abschnitt.
»Gleich sind wir da«, flüsterte er. In dem Moment, als seine Stimme verklang, ließ ihn eine andere erstarren.
»Hallo Lars.«
Lars Jonsån keuchte voller Entsetzten, wirbelte herum und noch nie hatte das Mädchen den sonst ruhigen und distanzierten Freund ihrer Eltern so aufgebracht gesehen.
Die Kleine folgte seinem Blick, schlang die Arme enger um seinen Hals und sah einen großen, schlanken, dunkel wirkenden Mann. Wie in einem Alptraum, aus dem sie schreiend aufwachte, um sich dann in die Arme ihrer Mutter oder ihres Vaters zu schmiegen, ging er auf sie zu.
Und Mirija wusste, das war Arijc.
Onkel Lars drehte sich um und rannte.
Das gelbe Portal kam näher.
Mirija sah über seine Schulter hinweg den Mann etwas hochheben. Er zielte.
Sie schrie auf. Ein einziger, gellender Schrei.
Dann ertönte der Schuss und ein Stoß ließ sie zusammen mit Onkel Lars fallen.
Unsanft schlug ihr Kopf auf und hätte sie nicht solche Angst gehabt, hätte sie angefangen zu weinen.
Das gelbe Portal nach Helu war nur wenige Meter entfernt.
Die Kleine drückte sich mit ihren Handflächen vom Boden ab und kroch zu Onkel Lars. Seine Lippen wirkten unnatürlich rot und erst, als ebenso roter Speichel über sein Kinn lief, verstand Mirija, dass etwas nicht stimmte.
Lars packte das Mädchen am Arm und zog sie zu sich, bis sich ihre Gesichter ganz nahe waren.
Hinter ihm kam Arijc auf sie zu.
»Ich werde dich finden, kleiner Stern. Geh nach Helu. Ich werde dich finden.«
Seine Augen strahlten silbern, waren voller Tränen. So schön, dass sie sich auf ewig in Mirija einbrannten. Dann legte er ihr eine kühle Hand in den Nacken, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und sah sie wieder an.
»Und jetzt lauf.«
Und das tat sie. Sie lief. Ihr Leben als Alienor zurücklassend. Und als Arijc auch auf sie schoss, prallten die Kugeln ab, denn Lars hatte sie geschützt. Mit einer Gabe, die ein Schutzschild erschaffen konnte. Mirija verschwand in einem leuchtenden Strom von Gelb, Onkel Lars nicht aus den Augen lassend, bis die Farben ihn undeutlich werden ließen.
Ich werde dich finden, kleiner Stern.
Ich werde dich finden.
***
Lars Jonsån wartete, bis sich der gelbe Lichtstrom auflöste und Enijos und Jariškas Tochter verschwunden war. Dort, wo gerade eben noch ihre kleinen Füße den Portalboden berührt hatten, wirbelte noch feiner, heluianischer Sand.
Er hüstelte. Kältestöße ließen seinen Körper zucken und der ungewöhnliche Druck zwischen den Schulterblättern wurde stetig heißer. Instinktiv tastete er auf seiner Brust nach einem Einschussloch, obwohl er wusste, dass dieser Verräter Arijc ihm in den Rücken geschossen hatte. Die Kugel war nicht durchgegangen.
Den Hütern sei Dank, dachte Lars. Wenn die Kugel seinen Körper durchbohrt hätte, wäre vielleicht auch Mirija gestorben. Hätte er es geschafft ein weiteres Kind tot zu sehen? Nach seinen eigenen? Nach Raoul?
Oh, Raoul. Oh, Louis … der Schmerz ließ seinen Körper sich zusammenziehen und er stöhnte. Anouk …
Arijc, hinter ihm lachte. Lachte, weil er glaubte, dass Lars physische Schmerzen hatte. Weder spürte er die Wunde, noch die Kugel in seinem Körper. Nur den Verlust. Von beiden Kindern und seiner Frau. Louis war tot. Wie alle anderen.
Dieser kurze Trost, diese Hoffnung, zusammen mit Enijos Tochter fliehen zu können, hatte ihn irgendwie am Leben gehalten. Jetzt war es zu spät.
Aber sie lebte. Mirija war entkommen. Wenigstens eines von all den Kindern.
Als er Arijcs Blick im Rücken spürte, wälzte er sich ächzend herum, um seinem alten Freund in die Augen zu blicken.
Stumm starrten sie sich an. Arijcs Züge eine einzige diabolische Grimasse. Doch da war auch etwas anderes. Unsicherheit. Die ungewohnt goldenen Augen zuckten zu dem heluianischen Portal.
Dann blitzte etwas Helles auf und Lars´ Kinn hob sich mit der Spitze seiner Schwertklinge.
»Wessen Kind war sie?«
Gehässig fing der Alienor an zu lachen.
»Sag schon! Wem gehört sie?«
»Sie ist kein Tier …«
Der Schwarzhaarige schnaubte über Lars´ nichtssagende, philosophische Art. »War sie deine? Hast du eine Tochter nach Raoul bekommen?«
»Dir geht die Zeit aus. Ich sterbe.«
Arijc ging langsam in die Hocke und zog Lars an dessen Hemdkragen nah an sich heran. Die Kälte des Schwertes verschwand.
»Du elender Scheißkerl. Rede schon. Was bringt es dir noch zu schweigen?«
»Alles.« Schmal lächelte er. Wissend, dass es Arijc quälte.
Hochnäsig hob dieser das Kinn. »Willst du gar nicht wissen, weshalb ich dich so hinterhältig erschossen habe?«
Lars sah an ihm vorbei zu Lennarts Leiche. Er hatte einen perfekten Blick darauf.
Nun werde ich euch allen wohl in den Tod folgen, dachte er. Zumindest sehe ich meine Familie wieder. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen. Dann blickte er in die Züge seines ehemaligen besten Freundes. Wissend, dass dieses schlanke Gesicht, das sie alle hintergangen hatte, das letzte sein würde, was er zu sehen bekam. Sein röchelnder Atem wurde schwächer und rhythmischer. Die Ränder seiner Sicht fingen an zu verschwimmen und er lächelte.
»Weil du mich am meisten fürchtest.«
Lars Jonsåns Kopf kippte nach hinten und sein alter Freund schluckte. Angewidert über die wahren Worte ließ er das Hemd los. Der Alienor sackte zu Boden, die grauen Augen gen Himmel gerichtet, wie die seines ältesten Sohnes vor ihm.
***
»Das könnt ihr nicht machen! Ich bin Kauuner! Hey!«
Mirija drängte sich tiefer in die Ecke des Transporters, als zwei Soldaten einen Jungen brutal hineinzogen. Dieser landete mit einem lauten Rumpeln knappe drei Meter vor ihr und blieb stöhnend liegen. Dann schleiften die Soldaten ihn unsanft über den Boden und ketteten ihn an dieselbe Wand wie Mirija.
Er hatte pechschwarzes Haar, welches ihm wirr und dicht vom Kopf stand. Als er sah, dass die Soldaten dabei waren, wieder aus dem Transporter zu steigen, wurde seine Stimme schrill.
»Nein, bitte! Nein! Bitte, tut mir das nicht an! Ihr habt kein Recht mich zu versklaven!« Ächzend, und offenbar unter Schmerzen, stand er auf und taumelte, als die Ketten ihn zurückhielten. »Bitte! Ich komme von Kauun! Bitte glaubt mir! Ich bin nach Helu geflüchtet. Geflüchtet!«
Der Transporter setzte sich in Gang und der Junge verlor das Gleichgewicht. Brach zusammen. Sein Schluchzen erfüllte den Raum.
Mirija schluckte und als er sich dann auch noch umwandte und sie zum allerersten Mal sein Gesicht unscharf im diesigen Raum erkannte, rannen ihr die Tränen über die Wangen. Die Neonröhren über ihnen flackerten. Sein braunes Gesicht wirkte selbst in diesem Totenlicht nicht kalt.
Ängstlich sah das kleine Mädchen zu den anderen Kindern und Erwachsenen, die sich an die Wände lehnten. All ihre Züge wirkten tot, eisern und voller Hoffnungslosigkeit.
Auch dieser Junge war traurig und verzweifelt, doch da lag etwas in seinen tiefdunklen Augen, das Mirija keine Angst machte. Es waren warme Augen. Voller Liebe.
Keiner sprach. Nie sprach jemand in diesem Transporter. Nie hatte sich jemand gewehrt.
Der Atem des Kauuners ging schwer. Sein Kopf zuckte, als würde er ihn schütteln, voller Unverständnis und Unbegreiflichkeit.
Er schniefte. Rotz ließ seine schlanke Nasenspitze und Lippen glitzern. Dann wischte er sein Gesicht an der Schulter ab. Die Kleidung war dem Mädchen nicht vertraut. Sie musste typsich kauunisch sein.
Neugierig beobachtete sie ihn, wie er schließlich noch immer weinend, den Kopf hob und seine Umgebung betrachtete. Inzwischen hatte sein hysterisches Schluchzen abgenommen, war einer Schnappatmung gewichen. Als er erkannte, dass er von niemandem ein Wort hören würde, rutschte er, den Kopf gesenkt, an die Wand und versuchte seinen Atem zu beruhigen.
Mirija schlang die Arme ein wenig enger um ihre Knie. Diese Bewegung ließ den Jungen aufblicken und er sah ihr urplötzlich direkt in die Augen.
Diese Aufmerksamkeit ließ das Mädchen schnell fortblicken und sich noch kleiner machen. Durch den Schleier ihrer dunkelblonden Locken erkannte sie, dass der Junge wegsah, und wagte es langsam wieder den Kopf zu wenden.
So saßen sie lange Zeit da. Stumm nebeneinander. Bis der Junge sie erneut musterte. »Wie alt bist du?«
Aus großen Augen sah Mirija ihn an. Es sprach wirklich jemand mit ihr. Und das auch noch auf eine freundliche Weise! Kaum sichtbar öffnete sie den Mund und als ihre Stimme Worte formte, wurde ihr bewusst, dass sie sie das letzte Mal zum Schreien und Weinen verwendet hatte.
»Ich weiß nicht.«
»Du weißt nicht, wie alt du bist?«
Verunsichert schüttelte sie den Kopf, was ihre Locken umherwirbeln ließ. »Vier oder fünf oder so. Ich weiß nicht … ich habe es vergessen …« In Wirklichkeit konnte sie nur abschätzen, wie alt sie war, weil sie einem Gespräch der Leute gelauscht hatte, die einmal ein wenig Nahrung in den Transporter gebracht hatten.
»Was ist passiert?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Und wie alt bist du?«
»Vierzehn.«
»Dann bist du ja schon richtig alt«, flüsterte Mirija ehrfürchtig, was dem Jungen ein schwaches Lächeln entlockte. »Naja, nur neun oder zehn Jahre älter als du.«
»Stimmt. In so vielen Jahren bin ich dann auch alt.«
Diesmal musste der Junge wirklich lachen und in seinen Augen lag eine Wärme, wie Mirija sie noch nie gesehen hatte. Vorsichtig rutschte er bisschen näher zu ihr, gespannt beobachtend, ob es sie verunsichern würde.
»Wie heißt du?«, fragte die Kleine.
Der Junge schielte zu den anderen Gefangenen, dann legte er sich einen Zeigefinger an die Lippen und lehnte sich zu ihr herunter. »Das sage ich hier besser nicht.«
»Warum?«
»Ein Name kann ein wichtiges Druckmittel sein.«
»Was ist ein Mittel?«
»Das erkläre ich dir, wenn uns niemand zuhört. Trotzdem finde ich brauchen wir Namen füreinander.«
Eifrig nickte Mirija.
Der Junge überlegte und betrachtete sie. Dann blieben seine warmen Augen an ihrem Hals hängen. Er nahm den Sternenanhänger ihrer Kette kurz zwischen die Finger.
»Ich nenne dich Sternchen. Wie gefällt dir der Name?«
Ein Strahlen ließ Mirijas Gesicht leuchten. »Sehr gut. Und dich nenne ich … «
Fieberhaft überlegte sie, aber ihr fiel nichts ein.
»Hast du einen Bruder, Sternchen?«
Sie dachte nach. Irgendetwas regte sich bei diesem Gedanken in ihr. Ein sommersprossiges Gesicht, grüne Augen, ein Mann mit schwarzen Locken und olivfarbenem Gesicht … waren das ihre Brüder gewesen? Ein merkwürdiges Gefühl in ihr sagte ihr, dass sie so etwas wie Brüder kannte. Alles wirbelte und drehte sich in ihrem Kopf. Vermischte sich und wurde zu einer unförmigen Masse. Erst Jahre später sollte sie sich Fragmente aus ihrer Vergangenheit zusammenreimen können. Der Meinung sein, dass sie einst Brüder gehabt hatte, eine Familie, einen Vater mit grauen Augen. Ganz klar sollte sie sie vor sich sehen, mit dem Gedanken, alles über ihre verlorene Kindheit zu wissen … eine Geschichte.
Eine Geschichte, die sie für sich selbst, für ihr Herz, erfunden hatte.
»Ich weiß nicht.«
Nachdenklich sah sie der Junge an. Dann, etwas verlegen, auf seine Hände hinunter. »Ich … Ich hatte eine kleine Schwester. Und hätte gerne wieder eine. Wenn du einen Bruder haben möchtest, kann ich sehr gerne einer für dich sein. Dann passe ich auf dich auf und bin immer für dich da, wenn du mich brauchst. Sowas macht ein Bruder …«
»Versprochen?« Mirija hob die Hand, um deren Gelenk eine schwere Fessel hing und streckte dem Jungen den kleinen Finger hin.
Schmunzelnd sah er von ihr zu der kleinen Hand. Dann hakte er seinen Finger in ihren. Tief und merkwürdig vertraut sahen sie sich an. Nicht wissend, dass sie einander lieben würden, wie sonst niemanden. »Versprochen.«
Wenige Stunden später, Mirija nannte den Jungen bis dahin schlicht Bruder, flüsterte er ihr seinen Namen ins Ohr. Darèk. Wie schön dieses Wort klang …
Seine Arme hielten sie fest, während sie ihre eigenen um seinen Hals schlang. Sie wurden versteigert. Und da völliges Chaos herrschte und sie einer der ersten Latuks auf allen acht Planeten waren, gab es noch kein System.
Mirija sollte nach Kauun kommen – da ein kauunischer Sklavenhändler sich viel von diesem Kind versprach. Darèk widersprach, schrie und brüllte, dass das Mädchen nur mit ihm zum Verkauf stand. Auch wenn das bedeutete, dass er ein Sklave auf seinem eigenen Heimatplaneten sein würde.
Sie hatten es sich versprochen.
Nichts würde sie trennen.
Bruder und Schwester.
***
Mènco fort. Darèk tot. Ben erschossen.
Starr blickte Mirija die steinerne Wand vor sich an. Die dunklen Locken hingen ihr offen über die Schultern, ihre Spitzen berührten den Boden, auf welchem sie zusammengekauert saß. Immer und immer wieder sah sie es vor sich. Hörte es. Spürte es, tief in ihrem Herzen.
Mèncos schriller Schrei, als sie sich nicht mehr länger hatten festhalten können. Die dunklen, weit aufgerissenen Augen. Die Wächter und Soldaten, die ihn fortzerrten. Fort von ihr. Lebte er? Hatte sie ihn nicht in Omnia gesehen?
Darèks lebloser Körper, welcher friedlich und schön, mit verschränkten Händen, auf dem Bett lag.
Bens leichtes Aufatmen, in der Sekunde, als die Kugel seinen Kopf durchdrungen hatte, sein Körper nicht mehr als eine leblose Puppe.
Überall sah sie die Jungen. Tagsüber an den Steinwänden ihrer Zelle. Nachts vor ihren geschlossenen Augen.
Sie hatte sich verloren. Verloren in einem dumpfen, betäubenden Schmerz, der sie auffraß. Verloren in einer Leere, die sich aus ihrem Inneren ausbreitete. Eine Leere, die sie stumm um sich herblicken ließ, ihre Wangen nass hielt. Die Augen geschwollen, die Lippen rot.
Keine klaren Gedanken formten sich in ihrem Kopf und selbst der Umstand, dass sie in der Piastik gefangen saß, war ihr egal geworden. Das größte, sicherste Gefängnis des Systems.
Ein Schimmer glitzerte am Rande ihrer Wahrnehmung, doch sie reagierte nicht mal mehr darauf. Es waren mit Sicherheit nur Mènco, Ben und Darèk, die sie anstarrten, ohne etwas zu sagen.
Als dann eine Stimme durch den Raum dröhnte, schreckte sie auf.
»Hallo, kleiner Stern.«
Ein Mann stand vor ihr. Ein Heluianer. Jung, höchsten Mitte zwanzig, was sie sofort schmerzhaft an Darèk erinnerte. Er hatte nussbraune, verschmitzte Augen, ein sommersprossiges Gesicht und tiefdunkle, frech abstehende Locken. Er war bildhübsch. Eine vage Erinnerung keimte in ihr auf. Ähnelte dieser Traum nicht dem Jungen, welcher offenbar ihr Bruder war? Jannijc? Die Ähnlichkeit war vorhanden … die Stimme war ihr völlig fremd.
Dann glitt ihr Blick leer und desinteressiert auf seine silberne Kleidung. Es war nur ein Traum, zwar ein merkwürdiger, aber ein Traum.
»Wie geht es dir?«, fragte er und lächelte ein freundliches, sonnengleiches Lächeln.
Hatte sie nicht früher auf diese Weiße gelächelt? War das nicht ihr Lächeln?
Etwas in ihr brüllte auf sie ein, sie solle reagieren und irgendwie formten ihre Lippen Worte. »Wer bist du?«
Der Mann lächelte noch breiter. »Dein Onkel. Joijo Endôr. Ich bin dein Schutzgeist.«
Er ging auf sie zu und hockte sich vor ihr hin. Sanft streckte er eine Hand nach ihr aus, doch in dem Moment, als seine Finger ihr Knie hätten berühren sollen, glitten sie hindurch. Sie spürte die konzentrierte Energie.
Mirija sog scharf die Luft ein, sah ihn fokussiert an. Aufmerksam und stechend. Wie früher. Bevor sie antworten oder fragen konnte sprach er weiter, ihr Gesicht zärtlich betrachtend.
»Ich wurde geschickt.«
»Von wem?«
»Von deinem Vater. Enijo Endôr.«
Erster Teil
Und manchmal
wirst du einen Moment erst schätzen können,
wenn er längst eine Erinnerung geworden ist.
Auszug aus den Botschaften von Anuša.
Pedro
Helu, Halbâc
Zeitmarke 7944.289
Pedro Montaña ging gelangweilt seinem Vorgesetzten hinterher, dem Statthalter von Threos. Gerade erklärte ihm dieser alles über die Stadt. Diese Stadt – der junge Arcano hasste sie jetzt schon – galt als eine der ärmsten und zwielichtigsten von ganz Kauun. Arijc Callôs hatte sich schon etwas dabei gedacht ihn hier her zu schicken. Mit Sicherheit.
Trostlos schweifte Pedro mit den Gedanken ab und erinnerte sich an seine Kindheit, als Arijc zusammen mit den anderen öfters mit ihm gespielt hatte. Ja, sogar auf ihn aufgepasst hatte, so wie er dann für deren Kinder Babysitter spielen musste.
Sein Vorgesetzter sprach gerade von Autorität gegenüber den Latuks, als ein Stoß den Amegooner aus seinen Gedanken riss und an sich hinabblicken ließ. In seinen Armen hatte er instinktiv die brusthohe Person festgehalten, damit sie nicht fiel.
Ein Kind.
Ein Mädchen.
… Mirija.
Die Welten blieben stehen. Da war sie. Seine Mirija. Sein kleiner Stern.
Nein, das konnte nicht sein. Sie war tot. Er hatte sie nicht länger beschützen können.
Ein Blitz schoss durch seine Brust und erneut spürte er die Schwertklinge seine Haut zerschneiden. Die Narbe würde für immer sichtbar bleiben.
Aber … da war sie wahrhaftig! Ihre petrolfarbenen Augen sahen zu ihm empor, das Gesicht zu einem frechen Grinsen verzogen, der Kopf leicht schief gelegt.
Ihre Locken waren dunkler geworden, doch durchmischt von sonnengegerbten Strähnen. Die Haut dreckig, die Kleidung an ihrem Leib ärmlich. Ein rotes Tuch war um den Arm gebunden, dann fiel sein Blick auf ihr ihren Hals.
Eine Nummer. Eingraviert.
Was?
Dann sah er nochmals in ihre Augen und durchlebte die Vergangenheit des Mädchens. Er sah sich selbst, blutig, zerschunden, schreiend, die schwarzen Locken wirbelnd, dann Lars, wie er fiel und gelbes flutendes Licht.
Erneut Krieg und ein Junge, höchstens vierzehn oder fünfzehn, ein Wüsten-Kauuner. Ab diesem Moment kam nur noch er vor und zwei zanoonische Kinder. Ein Mädchen und ein Junge. Mirijas Leben in Threos. Mirijas Leben als Latuks.
Pedro keuchte und kehrte in die Wirklichkeit zurück. Es war kaum eine Sekunde vergangen. Sein Vorgesetzter wirbelte herum und öffnete gerade den Mund, um das Mädchen scharf anzufahren, als dieses anfing zu kichern. Dann sagte sie: »Du siehst ja aus wie mein Bruder!« Lachte ihr Sonnenscheinlächeln, das Lächeln, welches Pedro seit Anbeginn kannte, drehte sich herum und verschwand so schnell, wie sie gekommen war.
»Und genau das meinte ich mit Autorität. Lassen Sie sich nichts gefallen, Leutnant. Haben Sie verstanden? Leutnant!«
Der junge Arcano starrte fassungslos auf den Punkt, wo Mirija verschwunden war. Er konnte sein Lächeln nicht verstecken, als er sich seinem Vorgesetzten zuwandte. »Ja, Sir.«
Irritiert verzog er das Gesicht, als er Pedros Grinsen sah, ignoriert es und wandte sich um.
Dieser hörte den ganzen Tag nicht mehr auf, glücklich zu sein. Mirija lebte. Er würde es der Resilienz mitteilen. Mirija lebte.
Sie war nicht tot …
***
»Du weißt, was zu tun ist, Enrique.«
Regen trommelte in gleichmäßigen Takt gegen die Windschutzscheibe, welche die Insassen des alten, verbeulten Wagens von der grauen, trostlosen Welt außerhalb trennte.
Fein schimmernd umspielte Pedros Atem seine Lippen, als er, aus seinen Tagträumen geweckt, zu der Person im Fahrersitz blickte. Der Mann nahm einen weiteren, teilnahmslosen Zug seiner Zigarre, als hätte er nichts mit alldem zu tun.
Pedro spürte den eiskalten, lackierten, hölzernen Griff des Koffers an seiner Haut und legte die Finger noch enger um die dafür vorgesehenen Einkerbungen.
Dann stieß er die Tür der Beifahrerseite auf und trat hinaus in den stetigen Nieselregen Helus. Der Kontrast zu Kauun, diesem abscheulichen Planeten, auf welchem er jahrelang dahinvegetiert hatte, überrumpelte ihn jeden Tag aufs Neue. Im Gegensatz zu dem Wüstenplaneten, auf welchem die Einwohner starrköpfig gegen jede Modernisierung rebellierten, war Helu der Inbegriff des Fortschritts und stetiger Industrialisierung. In Wirklichkeit ein hässlicher Planet. Nur weil er hauptsächlich aus Meer bestand, machte ihn das nicht schöner. Egal in welche Stadt man kam; an jeder Straßenecke standen Fabriken, alles war auf Geld auslegt. Wassertürme und hohe Schornsteine mit Rauchsäulen zerstörten den Anblick des Himmels. Zusätzlich schien selbst in der Wärmezeit alles grau und fahl. Obwohl Pedro Threos nicht vermisste und Omnia schon gar nicht, fehlte ihm auf Helu die wundersame Magie der Historik.
Die Straße vor ihm, welche nach wenigen Metern in einen Gehsteig mündete, war voller Schlamm und Dreck. Die eigentliche Fahrbahn war dadurch kaum mehr auszumachen.
Das Cafe hinter dem Gehsteig wirkte warm und einladend. Als er durch die Tür trat, bimmelte eine hohe Klingel, deren Klang ein endloses Echo in Pedros Erinnerung hinterließ. Sich einbrannte. Sodass er diese Szene nie mehr vergessen sollte.
Steif trat er an die Bar und zog sich mit einer einzigen, eleganten Bewegung auf den hüfthohen, ledernen Hocker. Den Koffer legte er sachte vor sich ab.
»Was soll´s sein?« Eine Kellnerin, mit brünetten Haaren ging mit einer Hand den Tresen abwischend an der Bar entlang, bis sie vor ihm Halt machte. Auf ihrem Namensschild stand Anija. Müdigkeit und Genervtheit lagen in ihren Augen, während auch ihre Stimme, lethargisch wie sie war, Pedro für immer in Erinnerung blieb.
»Einen großen Kaffee, bitte. Schwarz.«
Sie lächelte ein erzwungenes Lächeln, nickte und drehte ihm träge den Rücken zu. »Auch was zu essen?«
»Habt ihr einfach Toast mit Rührei?«
»Nur weil wir auf Helu sind, heißt das nicht, dass wir alles mit Fisch essen. Willst du Speck dazu?«
»Nein, bitte nicht.«
»Ivo! Einmal Toast mit Rührei! Ich schreibs gleich auf!«
Ein Grummeln ertönte aus der Küche und während Pedro angespannt an seinem heißen Kaffee nippte, ihn dann wieder abstellte, da er sich an der Oberlippe verbrannte, betrachtete er die restlichen Gäste.
Direkt an der Fensterscheibe zum Gehsteig hin, waren ein Mann und eine Frau in ein Gespräch vertieft.
Weiter rechts von ihm an der Bar nickte ein alter Mann alle paar Sekunden über seinem Getränk ein, die Wangen und plumpe Nase rot. Er grunzte unappetitlich.
Es war angespannt still. Pedro bezweifelte, dass es an dem Lokal oder den anderen Gästen lag.
Er war es. Sein Kopf. Seine Nerven.
Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Räuspernd nahm er noch einen Schluck von seinem Kaffee.
Diesmal trinkbar.
Angespannt richtete er sich Hemd – und Jackenärmel. Eine alte Gewohnheit, da er sich für das frühere Arcano – Tatoo schämte, welches nun zu einer Schlange geworden war. Der Tätowierer hatte leider statt einer Bezahlung den Tod bekommen. Die Gefahr, dass der Kerl ihn hätte verraten können, war zu groß gewesen.
Verkrampft versuchte er an etwas anderes zu denken und fuhr mit zittrigen Fingern die Holzmaserung des Tresens nach. Eine unscheinbare Form davon erinnerte ihn an das Wappen der Nachbarstadt Threos‘ und sofort suchten seine Gedanken Schutz in der Vergangenheit.
Im Gegensatz zu dem Leben, welches er auf dem Wüstenplaneten geführt hatte, war dieses hier auf Helu so … fortschrittlich. Die Autos waren von einer besseren Marke, weil dieser Planet das Herstellungszentrum der Motoren für das ganze System war. Betonierte Straßen waren etwas völlig normales. Wenn ein Helu unwissentlich nach Kauun kam, würde er wohl dem Schock verfallen, dass die Wüstenbewohner sich aufgrund der konstanten Sandstürme gar nicht mehr die Arbeit machten, etwas zu restaurieren oder zu reparieren. Kauun war geboren worden, um langsam und stetig in sich zu verfallen. Helu hingegen, um immer moderner zu werden. Wasser und Sand … der größte Kontrast.
Die Klingel ertönte. Schritte. Leicht und kindlich.
Ein kleines Mädchen, mit blonden, dunkel durchmischten, taillenlangen Locken kam im Gallopschritt auf die Bar zu und zog sich umständlich auf einen Barhocker hoch. Kurz ertappte sich Pedro dabei, ihr helfen zu wollen.
Den Schulranzen hängte sie zu ihren Knien an einen Haken. »Hallo Anija!«
Das erste Mal sah er eine Bewegung im Gesicht der Kellnerin, welches nun nicht mehr müde sondern erfreut wirkte.
»Hey, Kira. Solls das übliche sein? Wie ist es denn in der Schule?«
»Ja, bitte. Und einen Tee. Den bitteren mit der Zitrone, den du mir letztes Mal gegeben hast.«
»Einen Schwarztee. So solls sein. He Ivo! Einmal den Haferbrei mit Früchten á la Kira!«
Das tiefe Grummeln des Koches ertönte wieder aus der Küche, welcher bloß durch ein kleines, rechteckiges Fenster hinter der Theke zu sehen war. »Fürs Goldlöckchen gibt´s etwas Besonderes. Heute bist du früh dran, Kleine!«
Die Stimme ohne Körper schien näher zu treten, doch Pedro sollte den Koch dieses Cafès niemals zu Gesicht bekommen.
»Ja, Mama musste ein wenig früher zur Arbeit. Da bin ich auch früher weg.«
»Wie geht´s deinem Papa?«, fragte Anija und wischte den ohnehin schon blanken Tresen ab.
»Hatte heute Nachtschicht. Der kommt wahrscheinlich erst in einer Stunde heim.«
Pedros Magen krampfte sich zusammen und er bezweifelte, dass er das Rührei, welches ihm Anija sogleich servierte essen konnte.
Er zwang sich dazu.
Dann noch einen bitteren Schluck Kaffee.
Wie alltäglich alles hier war. Als durchschnittlicher Bürger bekam man die ganzen Qualen, die er als Statthalter gesehen hatte, gar nicht mit. Seine letzten Jahre waren überfüllt mit Tod, Sklaverei und Autorität gewesen. Und nun sah er hier eine Szene, die völlig normal für jede Person sein musste. Obwohl er im letzten Jahr schon viele solche normale Dinge erlebt hatte … er kam einfach nicht damit zurecht.
Insgeheim hatte Pedro gehofft, das Mädchen sei Waise. Die Kleine war in ihre eigenen Gedanken versunken und spielte mit dem kleinen Papieranhänger ihres Teebeutels. Anija ging wieder träge die Bar auf und ab, fragte kurz den betrunkenen Mann etwas.
Das einzige hörbare Geräusch war das grelle Klimpern des Geschirrs in der Küche.
Pedros Schultern knackten, als er sie vor und zurück rollte. Kaum merklich schielte er aus dem Augenwinkel zu dem Paar am Fenster.
Die Frau mit dem roten Kurzhaarschnitt, hatte ihm den Rücken zugekehrt. Sonst hätte sie den Amegooner wahrscheinlich erkannt. Wie riskant diese ganze Sache in Wirklichkeit war …
Der Mann – ein Heluianer mit dunklen Locken, blauen Augen und Sommersprossen, die sein Gesicht markant wirken ließen – hatte zwar den perfekten Blick auf die Bar, schenkte Pedro jedoch keine Beachtung.
Stanislav Elsôn. In einer Besprechung mit Lucia O‘Toole. Die Frau war ein hohes Tier und Vermittlerin der Mechaniker-Abteilung der Resilienz, welche ihre Motorteile, von der Elsôn – GmbH kauften.
Pedro hatte eine Sache schon immer gut gekonnt – wenn er wollte. Nicht auffallen, als durchschnittlicher Kerl rüberkommen, der einfach existierte.
Er nahm noch einen letzten Schluck seines Kaffees und legte genügend Geld auf den Tresen. Seine Hände waren schweißnass, als sie über den Koffer glitten und unauffällig einen Schalter aktivierten. Mit den Fingerspitzen schob er den Teller von sich weg und rutschte vom Hocker.
»Auf Wiedersehen. Lang lebe das Regime«, sagte er, tippte sich an die Krempe seines Hutes und wickelte sich den Mantel enger um den Leib, als er in den Regen hinaustrat.
Die Stimmen der Leute im Cafè, die seinen Gruß monoton wiederholten hörte er, ehe die des Mädchens erklang.
»Sir, Sie haben Ihren … «
Das Ende des Satzes vernahm er nicht mehr, denn er saß schon im Auto.
Durch die Scheiben sah er nur noch, wie das Mädchen neugierig zum Koffer ging und Stanislav Elsôn, sowie Lucia O‘Toole panisch aufsprangen.
Als der alte, verbeulte Wagen durch die schlammigen Straßen fuhr und unabsichtlich Passanten mit Dreck bespritzte, flog das Cafè in die Luft. Und Pedro erinnerte sich für immer daran, dass dieses kleine Mädchen, mit ihren blond durchmischten Locken, Mirija geähnelt hatte.
Darèk
Eteraveno
keine Daten vorhanden
Keuchend, mit Schmerzen, als würde ein Blitz seinen Körper durchkreuzen, wachte er auf. Um sich herum Sterne. Rote, Blaue, Gelbe. Sonst alles weiß.
Er blinzelte. Einmal, zweimal, doch die Sterne verschwanden nicht. Dann setzte er sich auf.
Der Boden war aus dunklen Holzdielen, alt und morsch. Als er die Füße daraufstellte, knarrten sie nicht. Warm spürte er noch die Matratze des Bettes in seinem Rücken, welches inmitten des Raumes stand. Die Wände waren heruntergekommen, teilweise eingebrochen und aus Sandstein. Die Fenster lächelten ihm dunkel entgegen, wie ein zahnloser Mund. Dahinter verbarg sich nur eine helle Masse.
Darèk erhob sich, schob ein feines Tuch zur Seite, welches ohne jegliche Bestimmung im Raum hing. Vorsichtig streckte er den Kopf aus dem Fenster und atmete dicke, schwere Luft ein. Unter und über ihm, lediglich weißer Nebel.
Was war das hier?
Er ließ das Fenster hinter sich und legte den Kopf in den Nacken. Die Decke war mehrere Meter hoch und glich einem riesigen Zelt, welches mit bunten Sternen bedruckt war. Seile, für ihn unerreichbar, spannten ein verworrenes Netz über ihm.
Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Ein Hauchen, ein Stöhnen des Windes, viel zu beklemmend, um normal hätte sein zu können.
Vorsichtig ging er aus der Tür, welche nicht mehr als ein rechteckiges, mit einem Tuch verhangenes, Loch war. Draußen tobte ein Sturm. Eine Art Terrasse aus denselben Holzdielen, wie denen im Inneren, schien sich um das Haus oder was auch immer es war, zu ziehen. Als er dem runden Weg folgte, verlor er sich im Nebel und ein Instinkt hinderte ihn am Weitergehen.
Wind zerrte an seinen Haaren und ließ sie vor seinem Gesicht herumtanzen. Sein Blick fiel auf ein Seil, welches der einzige Weg fort von diesem Zelt zu sein schien. Mit Leichtigkeit balancierte er darüber, ignorierte den Sturm, welcher ihm drohte zu fallen. Gerade als er glaubte das Gleichgewicht zu verlieren, fanden seine Füße wieder Halt.
Verwirrt blickte er sich um.
Wo befand er sich? Es schien ein Schiff zu sein. Metallern offen, mit vielen Relingen, einem Mast, an dem lose ein Segel in der Brise wehte. Komischerweise war der Wind sofort weniger geworden war, als er das Seil verlassen hatte. Darèk ging Richtung Bug. Auch hier wurde der Nebel nicht lichter. Egal wohin er sah – nichts.
Als er mit dem Rücken gegen etwas stieß, entfuhr ihm ein schriller Schrei und er wirbelte herum. Keuchend, wich er zurück, als ihm zwei starre Augen entgegenblickten. Vor ihm stand reglos eine Frau. Ein paar helle Strähnen hingen bewegungslos in der Luft. Starr, wie der Rest des Körpers. Als wäre sie mitten in der Bewegung eingefroren.
Er wich noch mehr zurück, immer weiter und weiter, fort von diesem Wahnsinn, in dem er sich befand. Das musste ein Traum sein, bestimmt!
»Hallo.«
Darèk wandte sich um. Anscheinend führte ein Weg von dem Schiff – über die Planke. Sie war ihm aufgefallen, aber dahinter wirkte alles nur noch schlimmer.
Von der Planke traten drei Gestalten auf ihn zu. Zwei Männer, eine Frau.
»Du bist neu hier«, sagte die Stimme, welche zu einem der Männer gehörte. Breites, braungebranntes Gesicht, honigbraune kurze Locken und blitzende, grüne Augen. Sommersprossen überzogen seine Nase.
Darèk wusste nicht, was er sagen sollte oder wollte. Er wusste ja nicht einmal, weshalb ihm all das hier komisch vorkam. Er wusste gar nichts mehr. Eine Intuition formte Worte in seinem Mund.
»Wo bin ich hier?«
Die Frau, welche mit ihren brünetten Haaren und grünen Augen dem Mann sehr glich, ließ sich auf einem der metallenen Fässer nieder und lächelte ihn an. Es war ein trauriges, wenn auch sympathisches Lächeln.
»Du bist auf Eteraveno.«
Darèk schluckte, wusste nichts mit dieser Information anzufangen. »Und das heißt?«
»Komm mit«, meinte nun der andere Mann. Schwarze zurückgegeelte Haare, ein blasses Gesicht mit breiten Wangenknochen und intensive blauen Augen. Als er sich abwandte, folgten ihm auch die anderen beiden.
Darèk zögerte. Wo, verdammt, war er hier? Wieso kannte er nichts, wieso wusste er gar nichts? Als hätte es kein Davor gegeben?
Ein helles, sonniges Lachen schallte durch den Nebel und über das Schiffsdeck. Etwas in ihm wollte diesem Lachen folgen, als eine warnende Stimme zu ihm herüberklang. Es war die des Schwarzhaarigen.
»Folge ihm nicht. Es macht alles schlimmer. Wenn du Antworten willst, komm mit.«
Unsicher gab sich Darèk der Erkenntnis geschlagen, dass er die Hilfe dieser Fremden annehmen musste und folgte ihnen über die Planke.
Danach eröffnete sich ihm erneut eine völlig andere Welt. Es war eine Straße, ebenso menschenleer, wie alles. Dunkle Backsteinhäuser mit eisernen Leitern an ihren Mauern, erhoben sich zu seinen Seiten. Leere Lokale, deren Namen in goldenen Lettern auf Hängeschildern über den Türen standen. Eiserne Treppengeländer, welche neben den Hauseingängen noch in untere Stockwerke der Gebäude führten. Salziger Geschmack lag in der Luft und in der Ferne bildete sich Darèk ein, das Rauschen der See zu hören. Mehrere dutzend Meter vor ihnen, verlor sich die düsterwirkende Straße erneut im Nebel.
Die drei Fremden führten ihn in das Ecklokal eines Hochhauses mit drei Stockwerken. Auf dem Schild über der Tür stand Speakeasy.
Sie lotsten ihn durch das kleine Café, zu einem Hintereingang und dann dunkle Treppen hinunter. Während ihres ganzen Weges, sprachen sie kein einziges Wort. Der brünette Mann öffnete schwungvoll eine doppelflügelige Tür und atmete lange und erleichtert aus, als er in eine rundangelegte, dunkle Bar trat.
»Ich hol mir nur nen Drink«, sagte der Brünette und schwang sich über den Tresen, »führt ihn derweil nach hinten.«
Die Frau deutete mit dem Kinn zu einer hohen, fahlen, ebenfalls doppelflügeligen Tür und wartete bis er an ihr vorbeigegangen war. Erst dann folgten ihm die anderen beiden. Die zwei Fremden in seinem Rücken wissend, tat er unwillig wie ihm geheißen war, öffnete die Tür und trat hindurch.
Ein kleiner Raum, wie eine Art Büro, offenbarte sich ihm. In der einen Ecke eine Couch, dort ein Boxsack, links von ihm ein Billiardtisch, hinten an der Wand ein Arbeitstisch. Mehrere elegante Holzsäulen durchbrachen den Raum und ließen ihn kleiner wirken als er war, jedoch auch gemütlicher.
»Setz dich«, sagte die Frau, wieder mit ihrem freundlichen, reservierten Lächeln und deutete auf die mit rotem Samt überzogene Couch. Angespannt ließ er sich darauf nieder, neben ihm der Schwarzhaarige.
Keiner sprach ein Wort, bis der Brünette eintrat. In der Hand einen bläulich schimmernden Drink. Die Frau hatte sich in einem Ohrensessel schräg gegenüber der Couch niedergelassen. Der ihr offensichtlich Verwandte holte den rollenden Schreibtischstuhl hervor und setzte sich darauf, die Lehne nach vorne gerichtet.
Neugierig betrachtete er Darèk, sich leicht hin und her drehend. »Du hast bestimmt viele Fragen«, sagte er schließlich und nahm einen großen Schluck, wodurch das kleine, breite Glas schon wieder fast leer war.
Darèk nickte angespannt. »Also … wo bin ich?«
»Eteraveno«, sprach der Schwarzhaarige ruhig neben ihm.
Der Neue nickte wieder. Überlegte, was er noch fragen sollte und ließ es dann bleiben, hoffend, dass die anderen anfingen zu sprechen.
Sie taten es.
»Also, du scheinst Yellow zu heißen«, meinte die Frau und deutete auf seine Brust. Darèk blickte verwirrt an sich herab. Er trug ein safrangelbes Trägershirt und wirklich – auf seiner linken Brust stand fein säuberlich ein einziges Wort.
Yellow.
»Ich bin Grey«, sprach die Frau weiter. »das ist Green und der nette Kerl neben dir, Blue.«
Green hob grüßend sein Glas und Blue schenkte ihm ein kurzes Lächeln.
Yellow, er hieß Yellow. Das sagte ihm gar nichts …
»Und wer genau seid ihr? Was ist das für ein Ort?«
Blue neben ihm seufzte. Seine blauen Augen blitzten bekümmert. »Hier zu sein bedeutet nichts Gutes. Einmal angekommen …« er verlor sich kurz in der Ferne, »kommst du kaum wieder weg.«
Anscheinend schien Grey ihm seine verwirrten Gedanken angesehen zu haben, denn der Klang ihrer Stimme war beschwichtigend.
»Ich weiß du hast viele Fragen. Wir können dir selbst nur einen Bruchteil davon beantworten. Wir sind anscheinend dasselbe wie du, denn auch wir tragen Kleidung passend zu unseren Namen.«
Erst jetzt fiel Darèk auf, dass sie bodenlange Mäntel in gedämpften Farben trugen. Dazu schwarze Hosen und Stiefel, wie er. Nur er besaß keinen Mantel dieser Art.
»Was wir wissen, ist nicht viel. Hier auf Eteraveno landen Personen, die nicht bei vollem Bewusstsein sind. Komapatienten, Kranke, die zwischen der Realität und Traumwelt hin und her glitschen, Eingefrorene…«
»Eingefrorene?«, fragte Darèk, denn ein ungutes Gefühl, sagte ihm, dass er zu dieser Kategorie gehörte.
»Leute können eingefroren werden. Meist von Kopfgeldjägern, wenn sie ihre Ware von A nach B bringen oder man ummodifiziert wurde«, erklärte Blue, stand auf und verschwand aus dem Raum, um kurz danach mit einem Drink wieder aufzutauchen. Einen zweiten reichte er Grey, die ihn lächelnd entgegennahm. In ihrem Blick lag Zärtlichkeit, als sie Blue hinterher sah, welcher sich wieder neben dem sprachlosen Darèk niederließ.
Mehrmals öffnete dieser den Mund, bloß um ihn wieder zu schließen. »Ihr wollt mir also erklären, dass ich entweder von einem Kopfgeldjäger eingefroren wurde, weil ich seine Ware bin oder ich … was meint ihr mit ummodifiziert?«
»Wir wurden ummodifiziert«, sagte Green. »Wir glauben, dass irgendetwas mit unseren Körpern gemacht wurde, wir für irgendetwas – wie soll ich es sagen – verwendet werden.«
»Woran erkennt ihr das?«
»Jahrelange Erfahrung«, sagte Blue trocken.
Grey seufzte über Blues knappe Antwort. »Wir vermuten es, da wir uns in unregelmäßigen Abständen meist alle drei gelichzeitig nicht hier aufhalten. So oft kann man nicht von einem Kopfgeldjäger eingefroren werden, ich meine, dann wären wir wirklich beschissene Verbrecher. Wenn wir Komapatient wären, hätten sie uns nach so langer Zeit schon die Maschinen abgestellt und wenn wir krank wären … tja, nach all den Jahren wären wir mit Sicherheit an dieser Krankheit gestorben. Wie schon gesagt, wir vermuten nur. Es gibt ein paar andere, die dasselbe erleben wie wir. Bei den restlichen hier ist es anders.«
»Und was ist mit dieser blonden Frau?«
»Oh, du meinst die am Schiffsdeck?«, fragte Green mit hochgezogenen Brauen. »Das ist Elsa. Sie ist krank. Tödlich. Hab mir nicht gemerkt was sie hat.« Er machte eine respektlose, wegwerfende Geste mit der Hand. »Auf alle Fälle ist das eine von denen, die immer zwischen Koma und Realität herumglitscht. Wenn sie gerade in der Realität wach ist, dann friert sie hier in Eteraveno ein. War das grad logisch?«
Darèk nickte langsam. »Irgendwie ja.«
»Und es gibt noch einen Unterschied«, warf Blue ein, diesmal etwas anwesender, »Elsa, zum Beispiel, weiß wer sie ist. Also Kranke, wie sie, die öfter die – nennen wir es Welten – wechseln, können sich an einiges erinnern. An wirklich wichtiges, wie zum Beispiel ihren Namen, wie alt sie ungefähr sind. Ebenso wie jene, welche von Kopfgeldjägern kurz eingefroren worden sind und auch Komapatienten. Diese erinnern sich zwar nicht an viel, aber an das Wichtigste.«
»Eingefrorene erinnern sich am Besten, dann kommen die Kranken und dann die Komapatienten«, warf Grey ein.
Erneut bemerkte Darèk, dass er nichts über sich wusste.
»Ja, aber - «
»Du erinnerst dich an nichts«, beendete Green wissend den Satz und breitete einladend die Arme aus. »Willkommen im Club.«
»Und deswegen, glauben wir, dass wir zu einer anderen Kategorie gehören«, sagte Blue.
»Ich dachte wir wären auch eingefroren.«
»Jedoch aus einem anderen Grund«, sagte Grey und nahm noch einen Schluck von dem blauen Getränk. »Alle die sich an nichts erinnern, an gar nichts, wie wir, sind wie wir gekleidet. Wir sind nach einer Farbe benannt und verschwinden immer wieder von hier, aber nicht ganz. Nicht, wie die Kranken oder Komapatienten, welche irgendwann in der anderen Welt sterben, ich meine irgendwann holt einen auch das Alter ein. Oder die Ware der Kopfgeldjäger; hier und da passiert es uns, dass wir öfter auf ein und dieselbe Person treffen. Sie sieht dann anders aus als beim vorherigen Mal, andere Kleidung oder älter. Wir altern nicht.«
»Die haben etwas mit unseren Körpern gemacht«, murmelte Blue in sein Glas hinein. Dann schnellte sein Kopf zu Darèk, in seinen azurblauen Augen ein Blick, den er nicht deuten konnte. »Schlägt dein Herz?«
»Was?«
»Ob du noch lebst!«
»Das ist das Hauptmerkmal«, wisperte Greens Stimme und er setzte sich in seinem Stuhl auf. »Schau selbst nach. Dann hast du den Beweis.«
Darèk starrte sie wie versteinert an. Ob sein Herz schlug? Natürlich, ansonsten würde er nicht hier sitzen können. Doch bevor er sich versah, schnellte Grey vor und ihre eisige Hand legte sich auf seine linke Brustseite. »Er ist tot. Tschuldigung, dein Gehabe ging mir auf die Nerven. Fühl mal selbst, oder glaubst du mir nicht? Es ist immer so. Die, die gekleidet sind wie wir, sind tot«, sagte sie.
Darèk legte seine Hand auf die Brust und wartete. Wartete.
Nichts. Seine Lippen zitterten, als er zu Grey und Green aufsah.
Blue lachte knapp auf und nahm noch einen Schluck seines Getränks. Green schmunzelte selbstgefällig. »Wie ich schon sagte: Willkommen im Club!«
»Was … was bedeutet das?«, stammelte Darèk. »Wie kann ich leben, wenn ich tot bin?«
Blue zuckte mit den Schultern. »In dieser Welt ist alles anders. Gewöhn dich daran.«
Mirija
Eliaat II., Piastik
Zeitmarke 7944.293
Stumm starrte Mirija die baumelnde Leiche in der gegenüberliegende Zelle an. Sie fragte sich, wie lange die Wächter noch benötigen würden, um Stellas toten Körper zu entdecken.
Die kristallenen Gitterstäbe an denen ihre Stirn lehnte waren aufgrund ihrer Körpertemperatur schon warm geworden. Als sie etwas ihr Gewicht verlagerte, spürte sie die eisige Kälte der unberührten Stellen. Fest hielt sie die Stäbe mit ihren Händen umklammert.
Mirija hatte nicht mitbekommen, wann sich ihre Genossin erhängt hatte, ebenso wenig wie sie es angestellt hatte. Oder besser gesagt womit.
Das Warum wunderte sie nicht.
Hier in der Piastik, dem obersten und sichersten Gefängnis der Arcano, beziehungsweise früher der Alienor, raubte es einem den Verstand, wenn man nicht stark genug war. Vor langer Zeit, in einem anderen Leben, wäre Mirija es vielleicht gewesen, mittlerweile war sie daran zerbrochen. Eigentlich war sie erst richtig zerbrochen, als Ben – der Letzte von ihren Liebsten – erschossen worden war.
Stellas Leichnam erinnerte sie erneut an all das Schreckliche und der dumpfe Schmerz, ließ sie nach Atem ringen. Raubte ihr die Kraft, während sie langsam zu Boden sank.
»Ich kannte sie …«
Die Gefangene wandte sich nicht zu ihrem Onkel um, der nun neben sie an die Gitterstäbe trat und auf den Gang hinausblickte. Er hätte genauso gut durch die kristallene Sperre, welche Mirija von ihrem Leben trennte, gehen können, aber er blieb bei ihr.
Joijo betrachtete Stellas Leichnam.
»Sie wollte es so«, gab das Mädchen ihrem Schutzgeist als Antwort, ignorierte den stechenden Schmerz, die Tränen die Stellas Leichnam ausgelöst hatten und ließ weiterhin nicht den Gang aus den Augen.
Bald würde er kommen. Dieser amegoonische Mann, den sie alle fünfzig Tage abführten. Und wieder zurückbrachten. Caspar Jordån würde ihn begleiten. Warum und wohin wusste sie nicht, eigentlich interessierte es sie auch nicht, jedoch war es das einzig Spannende, das hier passierte.
Und dann hörte Mirija ihn. Ihren lebendigen Onkel. Der ihren toten Onkel nicht sehen konnte. Caspar Halvar Jordån. Die rechte Hand des Obersten Befehlshaber.
Nie ging er an ihrer Zelle vorbei, wenn er zu diesem amegoonischen Gefangenen kam. Aber auf dem Rückweg.
Schreie, eisiges Lachen und eine laute Stimme. Wer auch immer dieser Mann war – er hatte die sturste, trotzigste und eigensinnigste Persönlichkeit die Mirija je untergekommen war. Die Stimme wurde lauter und lauter und ihre Finger verkrampften sich um die Gitterstäbe.
»Ich schwöre dir Jordån. Eines Tages wenn ich hier rauskomme – «
»Du kommst hier nicht raus, du naiver Trottel. Das sage ich dir nun schon seit elf Jahren! Wann wirst du es verstehen?«
»Ich komme hier raus und wenn ich dir bis zu deinem Tod mit meinem Worten auf den Sack gehe, du Verräter. Du beschissenes Schwein. Ich schwöre, ich reiße – «
»Jaja, du reißt mir mein Herz heraus.« Genau bei diesen Worten waren sie auf Mirijas Höhe. An der Spitze der Gruppe schritt Caspar Jordån, wie immer völlig in weiß gekleidet, was in diesem trüben Gefängnis nicht unpassender sein könnte. Mit ein paar Meter Abstand zwei Wächter, die den amegoonsichen Gefangenen führten. Vor, hinter und neben ihnen weitere vier, die mit erhobenen Waffen auf den Häftling zielten.
Mirija kannte seinen Namen nicht. Joijo tat es und wollte ihn nicht verraten.
»Du wirst es noch früh genug erfahren«, war seine einzige Antwort darauf.
Der namenlose Häftling war ein Mann Mitte vierzig, der aber um einiges älter aussah. Sie beneidete ihn um die Lebensenergie, die ihr schon lange geraubt worden war. Sein wildgelocktes schwarzes Haar, von grauen und weißen Strähnen durchzogen. Die olivefarbene Haut fahl vom fehlenden Sonnenlicht. Die bernsteinfarbenen Augen loderten in Jordåns Rücken.
Dessen Stiefelabsätze klackten taktvoll. Sein weißer Umhang umspielte seine Knöchel. Das blutrote Innenfutter leuchtete. Mirija durchbrach die Diskussion. Unauffällig klang ihre sonst so temperamentvolle Stimme. Beinahe heiser. Abwesend strich sie mit den Fingern über ihren Hals, dort wo ihre Sklavennummer eintätowiert war. Der stumpfe Blick ihrer einst leuchtenden Augen auf der hängenden Leiche.
»Sir. Minister, Sir.«
Sie sah, wie ihr Onkel kurz zögerte – nur an einem Zucken seiner Gesichtsmuskulatur – und er war schon an ihr vorbei, als sie weitersprach. »Ich glaube sie werden eine Zelle leeren müssen.«
Nun befand sich der amegoonische Häftling vor ihr und warf ihr einen scharfen Blick zu. So durchdringend, dass sie für einen kurzen Moment Angst bekam, dass er Joijo hinter ihr hatte stehen sehen. Aber das war unmöglich. Er war nur für seine Nichte sichtbar. Mirija nickte an ihm vorbei zu Stellas hängender Leiche. Der Namenlose blickte nach links und seine höhnische Stimme hallte von den Gefängniswänden wider.
»Oh hey, Cassy. Sieh nur. Da hat sich eine erhängt, weil sie deinen verräterischen Anblick nicht mehr ertragen ko – Moment. Das ist – du Schwein. Das ist Stella! Du mieses Schwein!« Die Stimme des Namenlosen schien für einen kurzen Moment ihre Selbstsicherheit zu verlieren. Entsetzten verunstaltete sein Gesicht, als er sich zu ihrem Onkel lehnte.
Dieser wandte sich um und trat ein paar Schritte zurück. Caspar Jordån schnippte in die Richtung eines Wächters. »Veranlassen Sie, dass diese Zelle geräumt wird.«
Dann ging er weiter, gefolgt von diesem von Hass zerfressene Menschen, dessen Namen Mirija nicht kannte. Bloß, dass er schon seit dem Bluttag hier saß und ihren Onkel von früher kannte, wusste sie. Denn manchmal, aber nur manchmal, nannte er ihn Cassy, wie gerade eben.
***
Die Schritte, welche durch die Gänge hallten, waren Mirijas Ohren fremd. Sie kannte sie alle, wusste genau welcher Schritt zu wem gehörte, doch dieser … dieser hier war neu.
Federleicht rollte sie sich von ihrer Pritsche. Ihre nackten Füße lautlos, als sie den steinernen, eisigen Boden berührten. Die Gefangene kniff die Augen zusammen.
Wer war das?
Langsam erhob sie sich.
Leutnant Naima Misca kam in ihr Blickfeld und kurz danach ein fremder Mann.
Die Zeit blieb stehen.
Mirija erhielt täglich eine Spritze gegen ihre alienorischen Kräfte, wodurch sie noch immer nicht wusste, welche sie besaß.
Sie trat an die Gitterstäbe, sah dem Mann direkt in die Augen.
Er war groß. Milchigweißes Gesicht, umrahmt von dunkelrotem, wirren Haar. Nie hätte sie ihn einem bestimmten Planeten zuordnen können. Eher schien er, als würde er gar nicht aus dem Kristall-System stammen. Es waren seine Augen. Sie strahlten in den Farben der Galaxie. Blau, grün und violett. Weiße, wirre Tätowierungen verzierten seine Arme.
Er sah sie direkt an. Plötzlich direkt vor ihr. Die Luft hinter ihm schimmerte. Durch die Gitterstäbe griff er nach ihrer Hand und legte ihr etwas zwischen die Finger. Dann zwinkerte er und die Zeit verlief wieder normal. Erneut stand er hinter der Wächterin. Im nächsten Moment war er fort. Seine Schritte hallten nach.
Mirija zog die Brauen zusammen. Unfähig zu sprechen. Zu atmen. Sie fröstelte und schlang die Arme enger um sich, spielte unruhig mit den Spitzen ihrer langen Locken. Verwundert öffnete sie ihre Finger.
Ein Zettel.
Wenn du hier raus willst, nicke, wenn ich das nächste Mal vorbeikomme. Ich weiß einen Weg. Und ich bin deiner Familie etwas schuldig.
Sirius.
»Joijo?«, hauchte sie ins Nichts ihrer Zelle. »Wer war das?«
Augenblicklich spürte sie, wie die Luft neben ihr kribbelte und heißer wurde und im nächsten Moment stand ihr Onkel neben ihr. Dieser reckte leicht das Kinn. Sein Blick verdüsterte sich.
»Sirius. Linus Sirius. Dank ihm, hast du deinen Vater verloren.«
Tagebucheintrag von Mirija Pavleja Endôr
7944.293, Piastik