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Auf noch fremden Planeten in ferner Zukunft … Reist Jerijco mit seinen Freunden zurück nach Omina um seinen Bruder aus den tödlichen Fängen des arcanischen Regimes zu befreien. Ein letztes Mal stehen sich die verfeindeten Seiten gegenüber, bevor ein Kampf um Leben und Tod entbrennt. Doch Arijc Callôs schmiedet Pläne Omina untergehen zu lassen. Und mit ihr alle die sich dort befinden …
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Seitenzahl: 417
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Copyright 2025 by
Dunkelstern Verlag GbR
Lindenhof 1
76698 Ubstadt-Weiher
http://www.dunkelstern-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Cover und Satz: Bleeding Colours Coverdesign
Kapitelzierde: Ariana Tuma
Lektorat: Lektorat Mitternachtsfunke
Korrektorat: Sarah Räbel
ISBN: 978-3-98947-041-5
Alle Rechte vorbehalten
Ungekürzte Taschenbuchausgabe
Für Mama.
Denn jede Mutter würde alles für ihr Kind tun.
Inhalt
Prolog
Arean
Jannijc
Jerijco
Filas
Fèrrie
Arean
Tinka
Nic
Arean
Tinka
Rona
Enijo
Fee
Nino
Arean
Mirija
Arijc
Tinka
Fee
Renèe
Rona
Arijc
Silias
Jannijc
Fèrrie
Tinka
Pedro
Fee
Enijo
Jannijc
Arean
Jerijco
Nino
Enijo
Pedro
Rona
Mirija
Jerijco
Enijo
Silias
Jannijc
Jerijco
Fee
Filas
Pedro
Renèe
Silias
Nic
Jerijco
Nino
Caspar
Tinka
Jannijc
Fèrrie
Rona
Mirija
Pedro
Enijo
Nic
Jerijco
Epilog
Glossar
Danksagung
Prolog
Jerijcos Finger krallten sich so stark in Mirijas Handfläche, dass er sich nicht sicher war, ob ihre Tränen von der Angst herrührten, oder weil er ihr wehtat. Aber Mirija war die Einzige, die die klammernde Panik, welche er verspürte, verringerte.
Nicht mal ihre Mutter verbesserte die Situation, denn ihre grünbraunen Augen, welche sonst immer so beruhigend wirkten, waren schreckgeweitet und voller Tränen.
Ihre schlanken, hellen Finger umklammerten eine Pistole – Jerijco kannten den groben Unterschied zwischen den wichtigsten Waffen; sein Vater hatte es ihm, Mirija und Jannijc erklärt.
Sie saßen zusammengekauert neben der Eingangstür, mucksmäuschenstill, so wie Mama es ihnen gesagt hatte. Raue Stimmen drangen vom kleinen Park zu ihnen herein und der Junge dachte an seinen gelben Bagger, den er liegenlassen hatte. Er wusste auch genau wo. Direkt neben Areans Fußball.
Sie hatten alles liegen lassen müssen, als die Männer und Frauen gekommen waren. Alle hatten geschrien, panisch nach ihnen gesucht. Jerijco wusste nicht mehr, wie oft er von irgendeinem Erwachsenen ungewollt hochgehoben und weitergereicht worden war, so schnell, dass es noch immer unter den Armen wehtat. Irgendwann waren er und Mirija bei ihrer Mutter gelandet. Noch immer hörte er ihre schrille Stimme, als sie beide kniend fest umklammert hielt, den Blick panisch suchend auf die Siedlung gerichtet.
»Wo ist Jannijc?«
Doch darauf gab es keine Antwort. Der älteste Sohn war im Getümmel der Angst verschwunden. Das letzte Mal hatten sie ihn heute in der Früh gesehen, bevor er in die Schule gegangen war.
Der Junge spürte die Wärme seiner Mutter, als er sich fester an sie drückte und Mirija stärker an sich zog.
Jariškas Arm legte sich um ihre Kinder und sie drückte beiden einen Kuss auf die Stirn, vergrub ihr Gesicht in vollen Locken; brünett und blond. In einigen Jahren würde das brünett zu dunkelbraun werden, der Haarfarbe ihres Mannes, welchen sie nie wieder sehen sollte und der Blondton ihrer Tochter zu ihrer eigenen haselnussbraunen Tönung.
Es war das letzte Mal, dass sie den Duft ihrer Kinder roch. Das letzte Mal, dass sie die Wärme der Menschen spürte, denen sie das Leben geschenkt hatte.
Jerijco hob den Kopf und sah in die Augen seiner Mutter. Alle sagten immer, seine hätten ihre Farbe, nur ihre braunen Sprenkel, hatte er nicht vererbt bekommen.
Es war das letzte Mal, dass er in die Augen seiner Mutter blickte.
Dann wurde die Tür eingetreten.
Sie sahen Jerijco, Mirija und ihre Mutter nicht sofort, die Tür flog auf und krachte gegen Jariška. Sie nutzte die Chance, diesen kurzen Moment, packte die Zwillinge, stieß sie aus dem Haus und schoss auf die Eindringlinge.
Jerijco stolperte mit Mirija an der Hand die Eingangstreppen hinab. Seine Schwester reagierte schneller, als ihre Mutter ihnen nachrief fortzulaufen. Er nahm es ruhiger als das Mädchen hin, dass ihre Mutter dazu fähig war, drei Personen einfach niederzuschießen. Jerijco blickte starr auf den Leichnam der Frau, der im Türeingang lag. Genau dort, wo er wenige Sekunden zuvor gestanden war.
Die Zwillinge liefen, sahen beide ein letztes Mal zu ihrer Mutter, deren schlanke Gestalt schemenhaft im Vorraum ihres Zuhauses zu sehen war.
Jariška nutzte eine Sekunde um über die Schulter zu blicken. Eine kleine Sekunde, um ihre Kinder in Sicherheit zu wissen. Die kleine Sekunde hätte ihr zum Verhängnis werden können. Wurde es aber nicht.
Eine andere hingegen schon. Eine kleine Sekunde der Unachtsamkeit, als sie sich einbildete, die Stimme einer ihrer Liebsten außerhalb des Hauses zu hören. Diese Unachtsamkeit, war ihr Tod.
***
Jannijc war ein braver Junge … meistens.
Er tat auch immer, was seine Eltern sagten … meistens.
Jetzt waren seine Eltern nicht da, um ihm zu sagen, was er tun sollte. Ganz vorsichtig, hob er die dicke Decke, die er über sich und seinen Bruder gelegt hatte, damit sie im Boot unentdeckt blieben. Langgezogene Schreie und das Stöhnen von Personen die blutverschmiert auf dem Boden lagen, waren das Einzige gewesen, was er in den letzten Stunden vernommen hatte. Ein kleiner, heller Lichtstrahl einer Laterne durchbrach die Dunkelheit der Nacht und ließ das verweinte Gesicht seines Bruders leuchten.
Er blinzelte durch die schmale Öffnung in der Decke. Direkt unter ihm schwappte das schwarze Wasser eines Flusses, der durch die Stadt floss und der Rest der Sicht war durch die anderen dunklen Boote verdeckt. Hier erkannten sie gar nichts.
Einzig den Himmel, indem sie auch gegeneinander kämpften.
Jerijco neben ihm wimmerte.
»Shhh. Schauen wir mal da drüben«, versuchte Jannijc seinen kleinen Bruder zu beruhigen.
»Glaubst du da sind Mama und Papa? Mama war ganz alleine Zuhause.«
Jannijc wusste es nicht. Seine Eltern hatte er heute das letzte Mal beim Frühstück gesehen. Dann war er in die Schule gegangen, welche geräumt worden war, als die Glocken angefangen hatten zu läuten. Eigentlich hätten sie alle in einer Zweierreihe das Schulgebäude verlassen müssen, doch Laila hatten ihn einfach an der Hand gepackt und geschrien, sie müssten zu ihren Eltern. Laila hatte er auf dem Weg nach Hause verloren und ein paar Straßen vor ihrer Siedlung war ihm Jerijco in die Arme gelaufen. Mirija sei plötzlich weg gewesen, das war das Einzige, was er aus seinem Bruder herausgebracht hatte. Bilder zuckten durch sein achtjähriges Gehirn, das plötzlich mit Dingen konfrontiert war, die es nicht verstand.
Mama alleine mit einer Pistole gegen mehrere Personen, die ihr Haus gestürmt hatten. Das waren Jerijcos Worte gewesen. Er sah ihre Mutter vor sich, verstand nicht, was das heißen konnte. Dennoch wusste er es irgendwie. Ganz, ganz tief in seinem Innersten.
Er und Jerijco hätten heimgehen können, allerdings hinderte etwas Jannijc daran. War es die Vernunft oder die Angst davor, was er sehen würde? Er wusste es nicht. Eine Sache wusste er; dass er Angst hatte, doch der Vernünftigere sein musste, denn der Jüngere war erst vier.
»Ich weiß nicht«, flüsterte er. »Vielleicht«, setzte er hinzu um seinen Bruder nicht grundlos aufzuregen. »Vielleicht sind sie Zuhause. Aber ich glaube nicht, dass wir heimgehen sollten.«
Vorsichtig robbte er zum Ende des Bootes und wagte einen Blick aufs Ufer. Von hier waren sie gekommen, hier rannten auch die meisten vorbei. Aufgeregt atmete er auf, als er schwach eine vertraute Gestalt erkannte.
Onkel Filas kämpfte gerade gegen einen anderen Alienor. Die Schwerter klirrten und spien Funken als sie aufeinandertrafen.
In der Schule hatten sie gelernt, dass die Schwerter der Alienor eigentlich nicht dafür gedacht waren sich zu berühren.
Jannijc hatte noch nie einen echten Kampf gesehen und sah Onkel Filas beeindruckt dabei zu. Er erwischte seinen Gegner am Bein und dieser stolperte. Dann hob der Eliaataner das Schwert und …
Der Junge keuchte, als ihm klar wurde, was der Alienor gemacht hatte. Den Hütern sei Dank traute sich Jerijco erst jetzt hinauszuschauen. Als er Onkel Filas erblickte sprang er aufgeregt auf, wodurch ihr Versteck verraten wurde. Das Boot schwankte und sein kleiner Bruder sprang auf festen Boden hinaus.
»Jerijco, warte!«
»Jannijc, Achtung!«, brüllte Onkel Filas und Jannijcs Blick fiel auf einen Mann der direkt auf sie zukam. Mit einem Schwert.
Sein kleiner Bruder schrie auf und rannte in die gegengesetzte Richtung fort.
»Jerijco!«, rief der Ältere panisch und sprang ebenfalls vom Boot.
***
Brünette Locken fielen Jerijco ins verweinte Gesicht und er wischte seine Tränen am Arm seines Bruders ab, dessen Hand er Schutz suchend umklammerte. Er wollte groß sein, das Schluchzen unterdrücken, doch dann spürte er die Leere, die in ihm existierte und die die Worte von Onkel Cassy hinterließen.
Eure Eltern und Mirija sind gestorben.
Jannijc sah mit leerem Blick an ihrem Onkel vorbei. Vorbei an all den anderen Leuten, die auf sie starrten, als die neue rechte Hand des Obersten Befehlshabers neben ihnen stehengeblieben war.
Onkel Cassy, der Gehilfe und Freund des schwarzgekleideten Mannes, welcher auf den Treppen des Anhörungssaals des Hauptgebäudes stand, sodass ihn alle sehen konnten.
Jerijco wich den silbrigblauen Augen seines Onkels aus, welcher ihn schmerzerfüllt ansah. Und als er die Hand nach ihm ausstreckte, trat der kleine Junge einen Schritt fort. Das letzte Mal, dass er so berührt worden war, war von seiner Mama gewesen.
Mama …
Warum war sie nicht da? Sie war immer da. Wenn er weinte, hielt sie ihn, also wo war sie? Sie tröstete ihn. Sie war immer da. Er konnte auf sie vertrauen, auf sie zählen. Sie war seine Mama.
Sie wusste, was zu tun war, wenn ihm seine Emotionen zu viel wurden. Aber jetzt war nur Onkel Cassy da. Onkel Cassy wusste das nicht. Er tat so, als ob er es wüsste.
All diese Gedanken zuckten durch Jerijco hindurch, als der Mann mit den silbrigblauen Augen, welcher nun zu diesem schwarzgekleideten Mann stand, eine Hand auf Jerijcos Arm legte.
Eine Emotion – der Junge war sich sicher, dass seine Mama gewusst hätte, was zu tun war – stieg in ihm hoch. Etwas, das ihm den Atem raubte, sein Blut zum Kochen brachte, ihn die Lippen aufeinanderpressen ließ. Jede kleinste Berührung seines Onkels, jeder Millimeter seiner Haut auf Jerijcos brannte wie Lava.
Onkel Cassy sollte nicht so tun, als wäre er seine Mama. Er wollte seine echte Mama. Aber sie war nicht da. Warum war sie nicht da? Sie hatte ihn in Stich gelassen. Er hatte gedacht, er könne ihr vertrauen. Wenn er seiner Mama nicht vertrauen konnte, wem dann? Er konnte niemandem vertrauen.
Und dieser letzte Gedanke, ließ Jerijco zerplatzen, mit einer Emotion in sich, die seinen Charakter ab sofort beherrschen sollte.
Reine, blanke Wut.
»Fass mich nicht an!«
Obwohl er mit seinen vier Jahren noch nicht viel Kraft hatte, stieß er seinen Onkel beinahe um, der mit so einen Ausbruch nicht gerechnet hatte.
Schockiert und schuldig sah er von Jerijco zu Jannijc, der den Mann emotionslos ansah und nichts gegen seinen Bruder tat, welcher immer weiter schluchzend auf Capsar einschlug.
»Ich hasse dich!«, kreischte Jerijco immer und immer wieder. Irgendwann legte sich eine olivfarbene Hand auf die zerbrechliche Schulter des Jungen und Peddy zog ihn an sich.
Hunderte Augenpaare waren auf diese Szene gerichtet, bis der selbsternannte Oberste Befehlshaber seine Stimmer hob und Caspar aufforderte zu ihm zu treten.
Arean, der schweigend und mit starrem Blick hinter seinem Vater gestanden hatte, hob leicht den Kopf und suchte ängstlich Caspars Augen, langte nach seinen Händen, welche sein Vater sanft aber bestimmt abwimmelte.
Dann verschwand der Zanooner in der Menge der gefangengenommen Alienor und ließ seinen Sohn zurück, welcher verloren um sich blickte. Seine silbrigblauen Augen füllten sich mit Tränen. Er sah zu Peddy, dessen Hemd mehr dunkelrot als weiß war und mit Jerijco beschäftigt war, dann zu Jannijc. Die Cousins sahen sich lange an. Arean wischte sich mit dem Handballen die Tränen vom Gesicht, hoffend, dass sein älterer Cousin ihn in die Arme nehmen würde, doch Jannijcs Blick blieb vollkommen leer. Eine Leere, die er in kurzer Zeit durch Sarkasmus und Hohn ersetzen würde, um nicht völlig zu zerbrechen.
Eine Leere, in der in diesem Moment einzig ein Bild Platz hatte. Eigentlich zwei, zusammengemischt. Die Leiche seiner Mutter im Wohnzimmer, welche er gesehen hatte, als er seinem sterbenden Vater das Versprechen abgenommen hatte, auf seine Geschwister aufzupassen.
Und Mirija war tot.
Er hatte versagt.
***
Zu wissen, dass man vergisst, war schlimmer, als einfach zu vergessen. Überhaupt wenn man merkt, wie Bilder im eigenen Kopf verändert wurden und man nach wenigen Minuten wusste, dass diese Erinnerungen einst andere gewesen waren.
Wenn man auf Bildschirmen an der gegenüberliegenden Wand sah, dass die eigenen Erinnerungen als Video abgespielt wurden. Dieses Video plötzlich stockte und sich auf einmal veränderte.
Arean zitterte am ganzen Körper, spürte diese merkwürdige Maschine auf seinem Kopf und suchte die Augen seines Vaters, welcher neben Arijc – so hieß dieser schreckliche Mann – stand. Die Hände auf die Lippen gelegt, den Blick auf die Kinder, welche alle aufgereiht auf provisorisch zusammengebastelten Tragen angebunden waren, an Kabeln angeschlossen, die ihre Erinnerungen manipulierten.
»Papa?«
Caspars Kopf ruckte sofort zu seinem Sohn und innerhalb einer Sekunde beugte er sich über ihn. »Geht es dir gut, mein Schatz? Tut dir etwas weh?«
»Ich will zu Mama …«
Arean konnte sich nicht bewegen und so sah er nur kurz den hellen Hinterkopf seines Papas, dann ein Lächeln, als dieser sich wieder umwandte. Es war ein merkwürdiges Lächeln. Irgendwie machte es Arean Angst. Große Angst. Er wollte keine Angst vor seinem Papa haben.
Im nächsten Moment war seine Mama bei ihm und Arean fühlte sich wieder sicher.
Ihre warmen Hände strichen über seinen Wangen.
»Geh anstelle von mir zu Laila. Versuch ihr, das hier irgendwie zu erklären.«
Arean fand es merkwürdig, wie die Stimme seiner Mama klang, wenn sie mit Papa sprach. Sonst war sie immer viel netter.
Sein Papa, schien sich nichts dabei zu denken, gab Arean zwar einen Kuss auf die Stirn, aber er wirkte dabei so angespannt.
»Du bist ganz stark, mein Schatz. Du brauchst keine Angst haben. Ich bin gleich wieder bei dir.«
Als sein Papa aus seinem Sichtfeld verschwand, fiel Arean auf, dass er anders aussah, sich anders bewegte.
Immer war er gut drauf gewesen, hatte gelacht, hatte cool gewirkt. Jetzt nicht mehr.
Arean sah in die braunen Augen seiner Mama, welche sein Gesicht zu betrachten schien. Ewig könnte er sie ansehen. Sie war mit Abstand das Schönste, was er jemals gesehen hatte. Aber sie wirkte traurig.
»Bist du traurig, Mama?«
Sie presste die Lippen zusammen, strich unaufhörlich mit den Fingern seine Gesichtszüge nach. Ein zitterndes Lächeln erreichte ihre Lippen und sie schien sein Gesicht noch intensiver zu betrachten, als hätte sie Angst es irgendwann zu vergessen.
»Ein bisschen«, flüsterte sie.
»Warum?«
»Weil viele gestorben sind, die ich liebe, mein Schatz. Aber du bist da.« Ihre Stimme stockte und plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen, die sie sofort versuchte fortzuwischen. Sie lachte schluchzend auf, sah ihn wieder an und ließ ihren Tränen freien Lauf. »Du bist da und das ist das Wichtigste auf den Welten.«
Dann weinte sie hemmungslos und legte den Kopf auf die zarte Brust ihres sechsjährigen Sohnes, drückte ihn so fest an sich, wie die Gurte die ihm umgeschnallt waren, es zuließen und hörte auf sein Herz.
Auf das schlagende Herz ihres Sohnes.
Erster
Teil
Für immer ist eine Lüge
Auszug aus den Botschaften von Ellef.
Arean
Eliaat I., Omnia
Zeitmarke 7945.267
Nieselregen benetzte den schwarzen Stoff des Arcanomantels. Das Innenfutter leuchtete, schimmerte grün im reflektierten Licht des Nebels, welcher alles um sich herum verschluckte.
Arean Bijan Jordån fühlte sich genau so. Als würde er verschluckt werden, im Nichts. In einer Welt, in der alles gleich aussah, alles weiß, aussichtslos. Egal in welche Richtung man sich wandte, nirgends gab es einen sichtbaren Ausweg, alles endete im Ungewissen.
Seine Schritte, lang und elegant, in den schwarzen Lackstiefeln der Arcano, waren perfekt gesetzt, so wie er es gelernt hatte. So wie er auch gelernt hatte, sein Leben lang die Wahrheit zu verschweigen und wegzusehen, zu akzeptieren, alles einfach hinzunehmen.
Obwohl er gerade achtzehn war, wichen weitaus ältere und autoritärere Personen seiner schlanken Gestalt aus. Trotz seines lieblichen, unschuldigen Gesichts, sah man die Härte, welche sich in den letzten zwei Jahren darauf gebildet und die schönen, ebenmäßigen Züge verunstaltet hatte.
Die gläsernen Umrisse des Himmelhafens kamen schemenhaft im weißen Nebel zum Vorschein. Eine Sirene ging los. Meist bedeutete das, ungewolltes Eindringen fremder Schiffe durch das Portal.
Arean lief weiter. Das blonde Haar triefnass in seinem blassen Gesicht klebend. Er verlangsamte seine Schritte nicht. Der Andrang in den Gängen des Hafens war stark. Zusätzlich irritierend war, dass alle Böden und Wände aus Glas oder perfekt poliert waren, welches das Gefühl der Menschenmasse über und unter einem verstärkte.
Selten wich er aus, den Blick seiner silbrigblauen Augen stur nach vorne gerichtet, außer, wenn sture Generäle nicht nachgaben und in ihm ausschließlich ein kleines, arrogantes Kind sahen. Ein Kind, das er schon lange nicht mehr war.
Kein einziges Mal berührte er auch nur den Stoff einer anderen Uniform.
Im Hangar dreizehn verlangsamten sich seine Schritte, bis er einige Meter entfernt, vor dem schnittigen schwarzen Schiff der Inquisition zum Stillstand kam.
Er wusste noch immer nicht, weshalb er hierher gerufen worden war.
Die Rampe öffnete sich.
Drei Personen traten heraus.
… nur drei.
Als er Jannijcs dunklen Lockenkopf sah, atmete er auf. Leicht, kaum merklich. Lediglich seine Lippen öffneten sich sachte, die Brust hob sich wenige Millimeter. Mehr erlaubte er sich nicht. Mehr war in diesem Regime nicht erlaubt.
Jannijc wirkte … zerbrochen. Es war nicht sein Körper, der litt … es war mehr seine Seele.
Arean hatte sich genauso wie Jannijc und Laila an so gut wie alles erinnern können. Die Gehirnwäsche, die sie als Kinder bekommen hatten, war umsonst gewesen.
Und somit erinnerte sich Arean auch glasklar an den Moment, als er seinem Cousin im Anhörungsaal vor zwölf Jahren gegenübergestanden hatte. Seine Nähe und Liebe gebraucht hätte, doch Jannijc war nicht dazu fähig gewesen ihm etwas zu geben, von dem er nicht einmal für sich selbst genügend hatte.
Die Cousins sahen sich lange an. Dann gab sich Arean einen Ruck und ging auf den Älteren zu, welcher wie versteinter in der Halle stand und den Blick nicht von ihm abwandte.
Kurz vor ihm hielt er an, wahrte diese Art Sicherheitsabstand, den er immer zu Jannijc eingehalten hatte. Diesen Abstand, der sie beide davor bewahrte, ihre Gefühle zu fühlen. Emotionen, die über die Jahre so zahlreich geworden waren, dass wenn sie die Tore dafür öffneten, sie beide einfach daran zerbrechen würden. Und so ließen sie die Tore zu. Und behielten den Abstand. Der Abstand, der damals vor zwölf Jahren im Anhörungssaal geboren worden war.
Etwas berührte Arean, als er Jannijc ansah. Nämlich sein Cousin selbst. Er weinte.
Jannijc weinte. Stumm. Still. Unauffällig.
Doch er weinte. Mit Schmerz in seinen braunen Augen.
»Ich habe versagt«, brachte er krächzend heraus und zuckte beinahe schon fassungslos und ungläubig mit den Schultern. »Schon wieder. Ich bin der beschissenste Bruder der Welten.«
Arean wusste nicht, was er sagen sollte, steckte die Hände noch tiefer in seine Hosentaschen und wich dem Blick seines Cousins aus. So wie er es immer getan hatte, um den Abstand zu bewahren.
Er spürte, wie Jannijc nach Zuneigung suchte. Nach Liebe. Wie sollte Arean ihm das geben können, wenn er nicht einmal genug für sich selbst hatte? Wenn er nichts davon für sich selbst hatte?
So wie Jannijc damals im Anhörungssaal …
Schließlich holte der Jüngere tief Luft, sah auf, fuhr sich durchs feuchte Haar und rang sich ein Lächeln ab. »Sag das nicht. Du bist kein schlechter Bruder.«
Der Inquisitor lachte kühl, hatte wohl keine andere Antwort erwartet. Was wollte er hören? Was brauchte er? Eine Umarmung? Ihn sagen hören, dass er ihn liebte, auch wenn sie beide nie fähig gewesen waren es sich zu zeigen?
Was erwartete Jannijc von ihm, plötzlich, nach all den Jahren des Abstands zwischen ihnen.
Als sich der Ältere ihm wieder zuwandte, war sein Blick voller Hohn wie immer und seine Stimme erfüllt von Kälte.
»Glaubst du, wir werden jemals richtig miteinander auskommen? Ich meine persönlich?«
Arean sah ihn mit leeren Augen an. Schüttelte den Kopf. »Ich befürchte nicht.«
Dann hörten sie auch schon die Soldaten im Gleichschritt einmarschieren, das Klicken der Waffen.
Arean hob die schlanken, geschwungenen Augenbrauen und zuckte mit den Schultern.
Zwar hatte er es nicht geahnt, aber es verwunderte ihn nicht. Ihre Glückssträhne hatte schon viel zu lange angehalten.
Er trat einen Schritt vor, lehnte sich zu Jannijc, bis sich ihre Gesichter beinahe berührten. »Und doch enden wir beide immer zusammen.«
Der Jüngere drehte sich um, sodass die Cousins Schulter an Schulter standen. Und gleichzeitig hoben sie die Hände, als sie von arcanischen Soldaten umzingelt und inhaftiert wurden.
Jannijc
Eliaat I., Omnia
Zeitmarke 7945.267
»Ein Mitglied der Inquisition …«
Der oberste General des Soldatentrupps, welcher die Waffen auf sie gerichtet hielt, spuckte Jannijc ins Gesicht. »Was für eine Schande, für das arcanische Regime!«
Dieser schloss für einen kurzen Moment die Augen, presste die Lippen aufeinander und versuchte sich zu beherrschen. Absolut jede Faser seines Körpers, wollte zurückspucken, völlig ausrasten, doch irgendetwas in ihm hinderte ihn daran.
Die Kraft … die Kraft fehlte. Es war, als wäre ein Funke seiner Seele erloschen. Wann konnte er nicht sagen. Als er Mirija erneut hatte gefangen nehmen müssen? Als er Jerijco erneut – wie damals in Omnia vor zwei Jahren – weggeschickt hatte? Als … bei dem nächsten Gedanken, zog sich sein ganzer Rumpf zusammen, sein Herz hörte auf zu schlagen, sein Atem stockte.
Als … er seinen Vater wieder gesehen hatte? Nach zwölf Jahren! Seinen Vater.
Ich werde dich finden. Ich komme wieder. Wieder. Wieder …
Er war hier. Zurück. Lebte. Er war wirklich wiedergekommen …
Und er, Jannijc, hatte ihn gefunden. Er versuchte die ganze Zeit über einen kühlen Kopf zu bewahren, sich zusammenzureißen.
Handschellen wurden ihnen angelegt.
»Im Namen des arcanischen Regimes, sind Sie Leutnant Jannijc Joijo Endôr und Sie, Leutnant Arean Bijan Jordån aufgrund von illegaler Zusammenarbeit mit der Resilienz festgenommen. Sie haben beide das Recht zu schweigen. Alles was sie jetzt sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden.«
Jannijc lachte auf, was ihm einen irritierten Blick des Generals einbrachte.
Viele wandten sich verwundert um, als ein ganzer Trupp bloß zwei Männer eskortierte. Noch mehr entsetzte sie es, wer diese zwei Männer waren. Arcano. Ein Leutnant und ein Inquisitor, dessen weiße Uniform blutdurchtränkt war. Ihm selbst schien es körperlich gut zu gehen. Doch wer immer sich zu diesen beiden jungen Männern umwandte, sah, dass sie innerlich zerbrochen waren. Voller Leere.
Man zwang sie in ein vergittertes Auto, vor und hinter ihnen je drei Soldaten, einer davon der Fahrer.
Der Weg ins Justizzentrum fühlte sich ewig an, auch wenn es keine zehn Minuten Fahrt sein konnten. Keine Sekunde wurden er und Arean aus den Augen gelassen, kein einziges Mal einer der fünf Gewehrläufe gesenkt.
Arean starrte stur auf den Sitz vor sich. Jannijcs Blick verlor sich im diesigen Licht der Laternen, welche gespenstisch goldene runde Kugeln im Nebel waren.
Über ihnen am Nachthimmel, wurde der weiße Nebelschleier von unregelmäßigen roten und blauen Lichtern durchkreuzt. Schiffe, Transporter oder anderes, das keine Landebahn zu haben schien. Es wirkte, als hätten die Piloten keine Ahnung, wohin sie flogen … oder es gab einen Luftkampf. Was Jannijc bezweifelte – weshalb auch?
Tausende Gedanken kreisten in seinem Kopf. Es gab so viele verschiedene Geschichten. Zu viele.
Da war sein Vater. Seine Geschwister. Mirijas Gesichtsausdruck, als er auf Helu aus dem Schiff gestiegen war, um sie erneut zu hintergehen. Jerijcos blanke Wut während dem Kämpfen. Beim Kosmos, wie er sich verändert hatte! Nie zuvor hatte Jannijc Angst vor seinem Bruder gehabt. Es war doch Jerijco! Der Kleine!
Dann Pedro. Der für so lange Zeit für tot erklärt worden war. Niemals würde Jannijc vergessen, wie Pedro gefoltert, wie ihm das Ohr abgeschnitten worden war …
Filas Castillen, welchen er zuletzt im Exekutionszentrum gesehen hatte, als er Caspar ins Bein geschossen hatte. Von Castillen wanderten seine Gedanken zu Laila. Wo war sie? Ging es ihr gut? War sie auch inhaftiert worden? Ihr durfte nichts geschehen! Niemals. Nie …
Nicht der wunderschönen Magherite …
Plötzlich brannten seine Augen. Noch mehr als in den letzten Stunden, in welchen er geweint hatte. Er hatte Angst zu weinen. Auf dem Weg zurück nach Omnia, hatte er lange genug Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wann er zuletzt so richtig geweint hatte. Nicht nur Tränen in den Augen gehabt, sondern richtig geweint. Und die Antwort hatte ihn zutiefst entsetzt.
Als seine Eltern gestorben waren.
Vor zwölf Jahren.
Und der Moment, als er nach all dieser Zeit des Alleinseins in die Augen seines Vaters geblickt hatte, hatte ihn in sein achtjähriges, verzweifeltes Ich zurückversetzt.
In den hilflosen, kleinen Jungen, der er tief in seinem Innersten seit diesem Moment – seit dem Bluttag – immer gewesen war.
Jannijcs Augen füllten sich mit Tränen, als er schweigend aus dem Heckfenster blickte und einsah, dass es vorbei war.
Es war aus und vorbei.
Irgendetwas in seinem Gehirn ließ es nicht zu, dass er sich die endgültigen Endszenarien vorstellte. Vielleicht war es sein Überlebensinstinkt. Vielleicht sein Ego. Vielleicht das Wissen, dass es sehr schwer sein konnte, ihn zu töten.
Ein bestimmter Gedanke ließ ihn nicht los. Was würde mit seiner Familie passieren?
… Caspar. Tinka. Und Alinija.
Oh, beim Kosmos …
Jannijc wurde aus seinen Gedanken gerissen, als die Autotür geöffnet und er grob herausgezerrt wurde. Und wirklich … sie befanden sich vor dem Justizministerium.
Alles war verschwommen. Sein Leben, als wäre er kein Teil mehr davon. Als würde alles in Zeitlupe und in Zeitraffer gleichzeitig geschehen und als könne er keine Umrisse um sich herum wahrnehmen.
Sein Blick war leer geradeaus gerichtet. Vage nahm er helle Gänge, mit unzähligen Türen wahr, spürte Arean die ganze Zeit über neben sich. Hörte das Zischen von Türen und das schnappende Geräusch von Verrieglungen. Bis etwas Rotes seine Wahrnehmung erreichte. Zuerst war es ein kupferner verschwommener Fleck, als würde er durch eine trübe Scheibe starren. Dann nahm es Gestalt an. Es war Haar. Lang und offen. Schwarze Kleidung. Nicht die offizielle arcanische Uniform. Mehr der legere Abklatsch davon. Die Kleidung, die man in der Schule tragen musste oder bei Videokonferenzen von zuhause aus.
Es war schöne Kleidung. Schwarz, langärmlig und enganliegend aus einem weichen, bequemen Stoff.
Die rot-schwarze Gestalt blickte über die Schulter und Jannijc spürte erst, dass er vor Schock und Verzweiflung stehengeblieben war, als ihm der Lauf des Gewehrs in den Rücken gestoßen wurde.
Er stolperte Laila entgegen, welche keine Sekunde den Blick von ihm genommen hatte.
Sie sahen sich nur an. Tauschten in diesen Sekunden, alle Emotionen aus, für welche sie keine Worte hatten.
Oh wie sehr er sie doch liebte. Ja, er liebte sie. Spätestens jetzt musste er es sich eingestehen.
Ihre Augen. Je länger er sich darin verlor, desto mehr fühlte er. Desto mehr fühlte er seine Emotionen, seine Seele, sein Herz.
Laila war die einzige Person, die in ihm wieder sein altes Ich hervorrief. Die ihn in dieser schrecklichen Welt, die sie beide zu hassen gelernt hatten, Einsicht und Verständnis schenkte.
Sie hatten alles um sich herum entliebt. Zusammen. Und hatten sich in ihrem Zusammenhalt verliebt.
Und in diesem Moment, als er Laila in ihre tintenblauen Augen sah, atmete er tief ein. So tief, wie er noch nie geatmet hatte, als wäre seit seiner Kindheit knapp unter seinem Brustbein eine stählerne Platte gewesen, die ihn daran gehindert hatte.
Beim Ausatmen lächelte er. Er lächelte und es war so ehrlich, wie es in seiner unschuldigen Kindheit gewesen war.
Es war einfach ein befreites Lächeln.
Da war sie. Das Mädchen, das er liebte. Zwar würden sie beide sterben, aber solange sie bis zum Ende beieinander waren, war alles gut. Alles war gut.
»Es tut mir leid«, flüsterte er, jedoch lag keine Reue in seiner Stimme, eher Erleichterung. Lailas Gesichtsausdruck berührte ihn, als sie die stetigen Tränen in seinen Augen sah. Er ließ sich nicht beirren, sprach zum ersten Mal wieder aus seinem Herzen. »Doch ich kann endlich wieder fühlen. Jetzt kann ich es wieder. Und ich fühle, Laila.«
Sie sah ihn an. Dann stiegen die Tränen in ihre wunderschönen Augen und sie atmete ungläubig auf, was sich in ein schwaches Lachen entwickelte.
Ihre schlanken Brauen zuckten, die Lippen zitterten. »Jannijc … «
Ein Gewehrlauf stieß die beiden auseinander.
»Euch ist es untersagt zu sprechen. Tretet in die Portale.«
Jannijc und Laila ließen sich nicht aus den Augen. Das Mädchen lachte und er lachte mit ihr. Lichter schossen hoch und die Verräter des Regimes wurden durch die Portale in den Gerichtssaal geschickt. In dreimeterhohe bruchsichere Kristallröhren.
Jannijc suchte Lailas Blick. Und sie den seinen. Ein Lächeln legte sich auf ihrer beider Lippen. Und obwohl sie getrennt waren, waren sie zusammen.
Bis zum Schluss.
Jerijco
Helu, Zwischen den Wolken
Zeitmarke 7945.267
Sanft betrachtete Jerijco das Gesicht seiner Schwester. Ihre Züge … sie sah aus wie Jannijc.
Schwer atmete der Junge durch die Nase ein und hob den Blick, starrte der blechernen Schiffswand entgegen. Hielt Mirijas Hand fest in seiner.
Sein Ziel, sie zu finden, hatte er erreicht. Und nun war das Unfassbare geschehen. Irgendwann innerhalb des letzten Jahres hatte er nicht mehr damit gerechnet, dass es überhaupt jemals so weit kommen würde, dass er zu seinem nächsten Plan vorrücken könne.
Jannijc zu retten.
Zuerst Mirija finden. Dann seinen Bruder retten.
Ja … Jerijco wusste, tief in sich drin, dass er Jannijc nicht retten musste. Und doch musste er irgendwas unternehmen.
Er atmete tief ein und aus. Seine meergrünen Augen legten sich wieder auf die Schwester.
Schritte durchbrachen seine Gedanken.
Nic.
»Jerijco? Tut mir leid euch zu stören. Wir erreichen bald das Portal. Silias und mir wäre es lieber, wenn du das Reden mit den Wächtern übernimmst.«
Der Heluianer hob sachte das Kinn, rührte sich kaum. Nic trat näher, strich sich über die ramponierte rebellische Diplomatenuniform. »Wie geht es ihr?«
»Sie schläft.«
Der Blonde machte einen Schritt. Und noch einen. Bis er neben Jerijco stand. Der Junge sah zu seinem Freund hoch. Das schwache gelbliche Licht der Argonlampen umspielten sein blondes zottiges Haar mit einem roten Schimmer. Seine ebenmäßigen Züge schlohweiß. Die himmelblauen Augen auf Mirijas Gesicht gerichtet. Ihr Ausdruck ließ Jerijco die Brauen zusammenziehen.
»Nic?«
»Bitte?«
»Die letzten zwei Jahre … was war dein Grund? Dein Ansporn, sie finden zu wollen?«
Nur langsam hob der Blonde den Blick und lächelte.
»Ich habe ihr versprochen, sie zu befreien. Vor einer gefühlten Ewigkeit. Auf einem Dach in Threos.«
»Wie gut kanntest du sie eigentlich, bevor ihr getrennt wurdet?«
»Gut genug.«
»Wofür?«
»Alles.« Eine kühle Hand legte sich auf Jerijcos Schulter, drückte sanft zu. Dann verließ Nic den Raum und verschwand im Cockpit.
Nachdenklich richtete sich der junge Soldat auf und dachte über Nics Worte nach.
Und da – urplötzlich – doch so spät, packte Jerijco das schlechte Gewissen und er dachte an seinen Vater.
Hatten sie ihn und Peddy im Stich gelassen? Ging es ihm gut? Der junge Soldat verspürte eine unglaubliche Zuneigung und Gleichgültigkeit zugleich gegenüber diesem Mann, der sich als Enijo Endôr vorgestellt hatte.
Enijo Endôr. Sein Vater.
Sollte er nicht anders für ihn fühlen?
»Jerijco!«
Diesmal war es Silias. Es war keine Bitte, sondern eine Aufforderung. Nic wäre nochmal gekommen, um ihn ruhig zu fragen, ob er ihnen helfen könne. Silias tat sowas nicht.
Im Cockpit hob der Eliaataner sofort den Kopf. Sein kupfernes Haar wirbelte herum. Mit einem einzigen Nicken bedeutete er dem Heluianer sich neben ihn, auf den Co-Piloten-Sessel, zu setzten.
Sie näherten sich dem Portal.
Im silbernen Licht der Monde, versteckt zwischen dicken Regenwolken, warteten sie leuchtend und still in ihren Regenbogenfarben. Jerijcos Augen legten sich auf das orangefarbene Portal.
»Wie genau ist dein Plan, Jerijco?«, fragte Nic.
»Spontanität. Das ist mein Plan.«
Der Zanooner seufzte und wechselte hinter dem Rücken des Soldaten einen besorgten Blick mit Silias.
Der Bord-Kommunikator knisterte. »Zielort?«
Entnervt verzog Jerijco das Gesicht zu einer Grimasse und sah aus der Frontscheibe hinaus. Neben Eliaats Portal schwebte eine kleine dunkel Fläche mit einer eisernen Kajüte, deren Inneres leuchtete. Unscharf erkannte er eine Gestalt.
Jerijcos ,von Hornhaut überzogenen, Hände huschten flink über die Konsole. »Omnia«, antwortete er.
Im Cockpit war es mucksmäuschenstill. Jeder der Jungen hielt gespannt die Luft an.
»Wie lautet Ihr Rufzeichen?«
Hektisch beugten er sich über die Monitore auf der Konsole, als er die Identifizierungsnummer und den Namen des Schiffes suchten. Er verfluchte sich, dass er sich nicht eher darauf vorbereitet hatte. Mirija hatte seine Konzentration geschwächt. Und die Müdigkeit … seine Augen brannten wie die des eisigen Feuers auf Blagoo.
»Cassady 07483.«
Jerijcos Lippen schwebten über dem Kommunikator, abwartend. Er spürte Silias‘ und Nics brennende Blicke auf sich.
»Warum antwortet der Kerl nicht«, fragte Nic nervös und nestelte an seinen Ohrringen herum.
Des Eliaataners Finger krallten sich in den Stoff seiner Anzugshose.
»Keine Freigabe vorhanden«, ertönte es krächzend aus der Konsole und Silias saß plötzlich kerzengerade.
»Lass uns umkehren.«
»Zu spät«, murmelte Jerijco und kaute auf seiner Unterlippe herum. »Wenn wir jetzt nen Rückzieher machen sind wir tot. Dann schicken sie Jäger, weil sie Verdacht schöpfen.«
Scharf blickte er aus der Frontscheibe auf die kleine schwebende Plattform. Ja, es war ein fürchterlicher Plan. Alles. Von der Idee bis zur nicht geplanten Durchführung. »Die Freigabe sollte im System vorhanden sein. Wir haben es eilig. Wir werden erwartet. Es sollte schon längst grünes Licht für uns geben.«
Schon sein Leben lang war er Risiken eingegangen, hatte am Rande der Grenze getanzt. Nie war er hingefallen – er sah die Exekution der Arcano vor zwei Jahren nicht als Fehler – was, wenn dies hier das erste Mal wäre, dass wirklich etwas schief ging?
Der Kommunikator knisterte erneut, kein Wort ertönte. Auf der Konsole fing eine Lampe an zu brennen. Jerijco kniff die Brauen zusammen. Zwar hatte er die Grundausbildung als Pilot, aber war er nie zuvor einen Frachter wie diesen hier geflogen. Ebenso wenig Nic und Silias.
»Was ist das?« Nics Augen weiteten sich und er blickte die anderen beiden ängstlich an.
»Scheiße«, zischte der Eliaataner und beugte sich vor, um die halbexistenten Beschriftungen der Lampen zu identifizieren. Ihr Atem wurde zu einem schwachen Keuchen, als die Jungen ängstlich aus der Frontscheibe blickten.
»Warum werden wir gescannt?«
Jerijco, Nic und Silias schrien auf und wirbelten herum. Mirija lehnte leichenblass mit tiefdunklen Augenringen und Schweißperlen auf der Stirn im Türrahmen zum Cockpit, drückte sich weg, nur um sich kurz darauf an Nic festzuklammern und dann mit zitternden Armen zur Konsole zu wanken.
»Mirija. leg dich sofort wieder hin. Tu mir den Gefallen, ja?« sanft zog Nic sie zurück. Ihre petrolfarbenen Augen huschten über die blinkenden Lämpchen, über die Konsolen, raus aus der Frontscheibe zum Portal. Ihre Hand legte sich auf Jerijcos Schulter. »Frag ihn, warum er uns scannt.«
Jerijco schluckte, spürte die Hand seiner Zwillingsschwester und ein wohliges Gefühl überkam ihn. Vertrauen. Eine Emotion, welche er selten gegenüber einer Person verspürte. Er tat das, was sie ihm sagte ohne es zu hinterfragen.
»Hier Cassady. Warum scannen Sie uns?«
»Sicherheitsmaßnahmen.«
Mirija stöhnte auf. Ob aufgrund von Schmerzen oder Genervtheit konnte Jerijco nicht sagen. Sie beugte sich über die Konsole, lehnte beinahe schon auf ihrem Bruder und antwortete knapp:
»Sie lassen uns jetzt gefälligst durch. Wir kommen von LeVegâ und haben Talea Derant verletzt an Bord. Ja das ist ein Frachtschiff, nicht autorisiert, aber nur weil es das einzige noch vorhandene Schiff war. Alle anderen sind tot. Lassen Sie uns durch oder die Oberste Inquisitorin wird sterben. Erklären Sie das dann dem Obersten Befehlshaber persönlich.«
Stille.
Nic und Silias starrten Mirija erstaunt an. Jerijco grinste in sich hinein.
»Wenn der Depp nicht antwortet, flieg einfach«, murmelte das Mädchen.
Der Heluianer lachte dreist und drückte den Schubhebel vor. »Und deshalb sind wir Zwillinge.«
Das Schiff vibrierte, als Jerijco es geradeaus steuerte. Der Wächter raunzte irgendetwas durch den Kommunikator aber er ignorierte ihn. Orangefarbenes Licht umgab sie, tauchte das Cockpit in gleißende Helligkeit. Es ruckelte und schüttelte sie durch. Dann wurden sie in endlose regnerische Dunkelheit ausgespuckt. Unter ihnen, unter einer dicken Nebelschicht verborgen … Omnia.
Die Lichter der Stadt drangen in schwachen, dunstigen Punkten zu ihnen herauf.
Es war, als wären sie hier oben in unschuldiger Sicherheit, während unter ihnen die ungewisse Gefahr lauerte.
Und sie alle vier wusste – so war es auch.
Mirija war die Erste, die die Stille brach. »Und was habt ihr jetzt vor?«
Nic lachte. »Diese Frage stelle ich mir, seit ich euch drei kennengelernt habe. Mirija … dein Bruder plant genauso wenig voraus wie du.«
»Hey! Hast du ein Problem damit?«, fuhr Jerijco ihn sofort an und seine meergrünen Augen funkelten.
Nic hob abwehrend die Hände und obwohl er seinem Kollegen antwortete, lagen seine himmelblauen Augen bloß auf dem Mädchen. »Ich meine ja nur …«
Die Alienor erwiderte seinen Blick und lächelte. Ihr Lächeln hatte etwas zutiefst Zufriedenes, als wäre sie mit sich selbst im Reinen. Als wäre sie bei sich selbst angekommen. Sie beruhigte Jerijco. Erst jetzt merkte er, dass auch Silias Mirija ansah. Alle drei Jungen blickten zu dem Mädchen.
Es war das erste Mal, seit zwei Jahren; seit sie sich das Versprechen gegeben hatten, Mirija zu suchen und zu finden, dass sie auch wirklich vor der lebendigen, echten Version standen und ihre Köpfe Zeit hatten diese Information zu verarbeiten.
Sie wirkte überwältigt, überfordert mit dieser Situation, aber überspielte es gut. Jerijco merkte, wie sich seine Schwester nicht sicher war, wem sie sich als erstes widmen sollte. Ihre Augen lagen jedoch allein auf Nic. Und Jerijco verstand es. Obwohl es ihn vielleicht auch kränkte. Er und seine Schwester kannten sich in Wirklichkeit kaum. Mit Nic hatte sie von ihnen drei am meisten durchgemacht.
Schließlich rang sie sich ein Lächeln ab und fuhr sich durch die kurzen Locken. Errötete ein wenig. Nic senkte ebenfalls den Blick.
»Du hast längere Haare«, meinte sie schließlich, hob kurz die Hand, als wolle sie ihm durch die blonden Strähnen fahren, hielt rechtzeitig inne und zog sie zurück.
Nic biss auf der Unterlippe herum. Das tat er immer, wenn er mit Mädchen flirtete.
»Und du kürzere«, sagte der Blonde schließlich.
»Steht dir.«
»Dir auch. Ehrlich gesagt, viel besser als die Langen.«
Mirija errötete erneut und zupfte an einer widerspenstigen Locke herum, die ihr andauernd ins Gesicht fiel.
Silias verdrehte die Augen und fuhr die Tasten auf der Konsole nach.
»Danke …«, murmelte sie und ihre Augen fixierten Nics freie Arme. »Du hast ja lauter Tattoos! Die hattest du früher aber nicht, oder?«
»Nein, nein! Die sind in den letzten zwei Jahren entstanden.«
»Haben sie Bedeutungen?«
»Ja, jedes einzelne«, meinte Nic lächelnd und sah Mirija eindringlich an.
»Oh, bei den Hütern!«, unterbrach sie Silias. »Sollen wir euch alleine lassen? Wollt ihr euch vielleicht ein Zimmer nehmen?«
Nic und Mirija zuckten zusammen, sichtlich peinlich berührt. Hektisch schüttelte das Mädchen den Kopf und drehte den Pilotensessel, in welchem Silias saß, um, sodass er gezwungen war sie anzusehen.
»Ich bin nur so überwältig euch alle zu sehen. Mit Jerijco habe ich ja vorhin auf Helu gesprochen, aber dich und Nic … ihr … ich, ich habe euch das letzte Mal … ja, das letzte Mal, habe ich euch hier in Omnia gesehen. Oh bei den Meeren, was für eine Ironie. Du warst einfach fort. In der Menge. Damals in diesem Gefängnis, als alle ausgebrochen sind und dann war da Nic! Nic, du konntest nicht entkommen und du hast mir deinen Armreif gegeben, damit ich mich freikaufen kann. Dann war ich zurück auf Threos und dort, da sind alle gestorben und dann war ich in der Piastik …
Silias, all die Zeit dachte ich, dass du tot wärst. Dass du in der Menge damals umgekommen sein musst. Zwar habe ich zwischendurch gehört, dass du lebst, aber ich konnte es nicht glauben. Ich … es ist so surreal, dass du hier sitzt. So wie immer. Du siehst noch genauso aus, wie ich dich in Erinnerung hatte!«
Sie lachte auf. Richtig freudig, wie ein kleines Kind. »Ihr alle lebt! Ich dachte so lange, dass ich alleine sei. Aber ihr lebt alle!«
Dann brach sie in Tränen aus. So plötzlich, dass die Jungen sichtlich damit überfordert waren. Jerijco von allen am meisten. Gefühle waren absolut nicht sein Ding. Auch wenn es seine Schwester – die er eigentlich erst kennenlernen musste – war, die weinte.
Silias war sich völlig unsicher, wie er reagieren sollte. Jerijco merkte, wie er aufstehen und Mirija umarmen wollte. Die Scheu hinderte ihn.
Nic war es, der nach der ersten Überraschung, das Mädchen in den Arm nahm und dafür von dem Eliaataner einen giftigen Blick erntete.
Mirija lachte und weinte. Alles in einem. Und drückte sich fest an Nics Schulter. Schließlich stieß sie sich kichernd weg. »Verdammt. Seit wann bist du so groß? Du warst fast kleiner als ich!«
»Das ist nicht wahr«, antwortete Nic lachend. »Wir waren mindestens gleich groß! Silias sag es ihr, du hast uns vor zwei Jahren nebeneinander gesehen. Ich war größer!«
Der Eliaataner verdrehte erneut die Augen.
»Silias!« Nic stieß ihn empört lachend an und dieser gab sich geschlagen.
»Mindestens gleichgroß.«
»Nein! Ich war immer schon größer, als Mirija. Du willst mich nur ärgern«, meinte er an das Mädchen gewandt, die verwegen kicherte.
»Habe ich das jemals nicht gemacht?«
Mirija und Nic wechselten einen Blick, bei dem sich Jerijco nicht so ganz sicher war, was er davon halten sollte. Was er jedoch mit Sicherheit wusste war, dass er sich ausgeschlossen fühlte. Nun spürte er den Unterschied zwischen ihren gemeinsamen Bindungen zu Mirija. Denn er hatte gar keine und Nic mit Abstand die Stärkste.
Ein grelles Licht blendete sie alle so urplötzlich, dass sie fluchend und aufstöhnend die Arme vor dir Gesichter hoben.
Jerijco blinzelte zu Silias hinüber, dessen Gesicht totenbleich im Scheinwerferlicht wirkte, seine lindgrünen Augen gespenstisch hell.
»Scheiße!«, brüllte er und Mirija lehnte sich über ihn und den Pilotensessel, drückte den Steuerknüppel hinab.
»Runter! Runter in den Nebel!«
Wenige Sekunden später hatte sich das Mädchen den Platz als Pilotin ergattert, um sie herum weißer Dunst.
»Die haben uns. Die haben uns! Jerijco, wo soll ich hin? Scheiße, wo sind wir überhaupt!«
»Häng sie ab!«, drängte Nic und klopfte ihr hektisch auf die Schulter.
»Ja, was glaubst du, was ich hier versuche? Mit ihnen Freundschaft zu schließen? Ich könnt echt gut nen Copiloten gebrauchen, Jungs. Seid keine Statuen!«
»Nic, mach du«, keuchte Jerijco und übergab Nic seinen Platz. Er war kein Pilot. Er war Soldat. Rebell. Eines Tages ein Anführer. Alles, nur kein Pilot. Das Wort Anführer hallte in seinem Inneren nach. Und er führte an …
»Mirija flieg weiter runter. Ich muss bloß einmal die Umrisse der Stadt sehen.«
Seine Schwester tat, wie ihr geheißen. Der Nebel blieb schrecklich dicht, die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren gegen den Regen und einmal krachten sie beinahe in einen Tempelturm, welchen Nic gerade noch durch ein Ausweichmanöver rettete.
»Jerijco, langsam wäre es an der Zeit, dass du genug gesehen hast«, presste er atemlos hervor.
»Nic, wie siehts hinter uns aus?«, fragte Mirija.
»Drei Schiffe.«
»Drei?«, riefen die Anderen aus einem Mund.
»Drei …«, seufzte Nic, »wir müssen hoch. Mirija geh hoch, keine Chance, dass wir es durch Omnias Türme schaffen.«
»Wo verdammt nochmal sind wir, Bruderherz?«
Dieses Wort ließ Jerijcos Lippen erfreut zucken, doch er versuchte sich zu konzentrieren. Er scannte seine Erinnerungen. Sekunden vergingen, in denen das Schiff durch die Luft sauste.
»Jerijco!« Nics blaue Augen funkelten.
Nun beugte sich der Heluianer nochmal über die Konsole. Rot durchzuckte den Nebel rechts von ihnen, leuchtete wie ein farbiger Blitz.
»Was war das, verdammt nochmal?«, fluchte Mirija.
»Sie schießen auf uns. Vier Schiffe. Ich höre es«, murmelte Silias und hielt sich an der Lehne des Copiloten-Sessels fest.
»Nein, das geht nicht. Auf dem Radar sind nur drei Schi … es sind vier. Es sind vier geworden!«
»Geh nochmal runter, Mirija«, sagte Jerijco konzentriert.
»Nein!«, protestierte Nic.
Das Mädchen blickte kurz über ihre Schulter. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen sich die Zwillinge an. Mirija nickte.
»Wir sollten jetzt über dem Meer sein«, flüsterte Jerijco dicht an ihrem Ohr. »Knapp hinter dem Hauptgebäude. Wir waren schon dort, wo wir hinwollten. Flieg noch tiefer. Nur ein bisschen.«
Kurz darauf peitschte weiße Gischt auf die Frontscheibe. Die Schüsse hinter ihnen hielten an.
»Die haben uns im Visier!«, brüllte Nic.
Und im nächsten Moment verlor Jerijco den Halt und er uns Silias wurden gegen die Rückwand des Cockpits geschleudert, Mirija und Nic in die Pilotensessel gedrückt.
Das Mädchen flog einen perfekten Looping, alle hielten sich panisch an den Gurten fest, die sie sich hätten anlegen müssen, was sie nun zutiefst bereuten. Mit einem flinken Linksdreher befanden sie sich wieder in der Waagerechten und Mirija flog tief genug, sodass die Rückseite des legendären Hauptgebäudes Omnias in Sichtweite kam. In der Ferne leuchteten unscharf die Portale im Nebel.
»Was tust du?« brüllte Silias und krallte sich an Mirijas Sitz. Jerijco verstand sofort, was der Eliaataner meinte.
Sie flog an der steinernen Klippe entlang. Direkt über ihnen musste sich Omnias Hauptgebäude befinden. Die Augen des Mädchens zuckten, dann ein unerwartetes Manöver nach rechts und es wurde dunkel um sie herum. Das einzig Hörbare ein begeisterter Aufschrei Mirijas.
Ruckelnd stießen sie an Höhlenwände und Jerijco fand sich kurz darauf, schmerzhaft verrenkt, auf Silias liegen, der keuchend hustete und sich die Seite rieb.
Nic stöhnte und hielt sich die Hände an die Stirn, die er sich an der Konsole gestoßen hatte. Nur Mirija schien völlig begeistert, gurtete sich ab und erhob sich.
»Seht ihr? Ich sagte doch, dass es immer irgendwo so eine Höhle gibt!«
»Das hast du nicht gesagt«, murmelte Silias und das Mädchen hielt ihm und Jerijco die Hand zum Aufhelfen hin.
»Nicht? Dann habe ich es mir bloß gedacht. Meistens denke ich zu schnell.« Sie lachte. »Na los, Jungs. Lasst uns ein paar Leute retten.«
Filas
Helu, LeVegâ
Zeitmarke 7945.267
Räuspernd steckte Filas den Kommunikator zurück in seine Jackentasche und zippte sie zu. »Cassy ist in zirka einer halben Stunde da. Ich habe ihm unsere Koordinaten geschickt. Er holt uns auf dem Dach des Hauses hier ab.«
Enijo, dessen kantiges Gesicht müde und eingefallen in den goldenen, eisernen Straßenlaternen wirkte, sah ihn plötzlich aus sehr wachen Augen an.
»Shades?«, fragte er und der ungläubige Ton in seiner Stimme rührte Filas beinahe. Auch irritierte es ihn ein wenig, Caspars Jugendspitznamen zu hören. »Shades holt uns ab?«
Peddy hob den Blick unter seiner Kappe. Seine Energie verflüchtigte sich bei Caspars Erwähnung, er streckte die Schultern, hob sachte das Kinn. Schwach lehnte der Mann gegen eine zertrümmerte Hauswand, die rechte Seite seines Kopfes von Blut überströmt. Anscheinend wirkte das Adrenalin noch immer und er spürte den Schmerz des abgehakten Ohres kaum.
»Wenn Caspar uns abholt, geht’s nach Omnia«, murmelte Peddy.
Filas nickte und trat einen Schritt näher an die Männer heran. Sie befanden sich am anderen Ende der Stadt, in einer der hinterlistigen, dunkelsten Gegenden, in welcher jede Ecke von Exkrementen und Essenresten übersäht war, an denen sich die Ratten erfreuten.
Pedro nahm schweigend einen weiteren Schluck an seinem Kaffee, den er sich von einem alten Straßenautomaten geholt hatte. Der Mann schien innerlich zu brodeln. Plötzlich zerdrückte er den Pappbecher in seiner Hand und warf ihn wütend in ein Eck, welches die Dunkelheit verschlang.
»Ich gehe mit Sicherheit nicht nach Omnia, okay?«
»Peddy …« Enijo hob die Hand. Kurz bevor sie Pedros Schulter berührte, stand dieser auf und wich zurück.
»Nein. Nein! Von dir nehme ich keinen Rat mehr an. Du hättest mich Talea töten lassen sollen!«
»Psst, Peddy, willst du alle hier auf uns aufmerksam machen?«, zischte Filas und spürte, wie auch in ihm die Wut aufkeimte, als er sich über Pedros unachtsame Art ärgerte. Was wollte der Junge jetzt schon wieder? Natürlich! Wer wollte schon nach Omnia? Dennoch gab es Prioritäten. Die Arcano hatten Jannijc gefangen genommen und die drei Männer hatten aufgeschnappt, dass auch von Laila und Arean die Rede gewesen war.
»Mir ist es völlig egal, was ihr vorhabt, schaut mich an! Ich brauche verdammt nochmal einen Arzt! Wenn Caspar wieder zurück nach Omnia fliegt, na gut! Ich mach da nicht mit. Ich werde ihm sagen, dass er mich gefälligst in Zanoon absetzten kann.«
»Toll, willst du gleich die genauen Koordinaten hier herumschreien?«
»Okay, soll ich?« Provozierend streckte Pedro die Arme von sich, auf den Lippen ein panisches Lächeln. Zuerst wäre Filas beinahe darauf eingestiegen, dann sah er die pure Angst in seinen rotbraunen Augen und wurde sich bewusst, dass er der Ältere war.
Natürlich kannte er diese Angst. Die Furcht vor der unausweichlichen Gefahr. Vor dem Schmerz.
Dennoch war Enijo wie immer der Erste, der beschwichtigend die Hand auf Pedros Schulter legte.
»Peddy … ich weiß es. Wir verstehen dich. Glaube mir. Aber es würde uns freuen, wenn du mit uns kommst. Was ist ein Abenteuer ohne Pedro Montaña, welcher die Arcano jahrelang so richtig verarscht hat?«
In einer anderen Situation hätte der Amegooner vielleicht gelacht, in jener, sah er Enijo bloß kühl an. »Mir fehlt ein scheiß Ohr, Enijo. Ich bin verstümmelt und muss jetzt auch noch mit dir darüber diskutieren? Ist das dein Ernst? Ist das euer Ernst?« Als keiner der beiden Alienor antwortete, seufzte er schließlich herzzerreißend, schüttelte den Kopf und wandte sich von ihnen ab. Er angelte sich an den untersten Sprossen der Feuerleiter eines Backsteinwohnhauses hoch und stieg die eisernen, teils verrostete Treppen empor, welche bei jedem seiner Schritte ein unzuverlässiges Geräusch hinterließen.
Enijo schnippte seine Zigarette weg und rieb sich erschöpft das Gesicht, während er sich an die Hauswand lehnte. Ein paar stille Sekunden starrte er seine Stiefelspitzen an. Filas, welcher ihn die ganze Zeit beobachtet hatte, hoffend, dass der Heluianer irgendetwas zuerst sagte und sich fragend, was dieses geschwungene Tattoo auf Enijos Jochbein zu bedeuteten hatte. Sehr wahrscheinlich hatte er es aus Sababtita.
Ruhig sahen sich die alten Kollegen an.
»Warst du seit damals je in Omnia?«, fragte Enijo leise und Filas spürte augenblicklich alle schrecklichen Emotionen von vor zwei Jahren in sich aufkeimen, als er gegen Arijc und Caspar gekämpft hatte.
Es wäre das erste Mal, dass er das alte Pilotenass seit damals sehen würde.
»Einmal«, antwortete er. »Als ich Silias rausholen wollte und noch Nic und Jerijco dazubekommen habe.« Er versuchte sich ein Lächeln abzuringen, dass Enijo mit einem Nicken bestätigte.
»Glaubst du, wenn wir mit Shades mitfliegen … glaubst du, wir sehen dann alle wieder?«
Sofort wusste Filas, was Enijo meinte und auch ihm zog sich bei diesem Gedanken sorgenvoll das Herz zusammen. Laila wäre dort …
Sie war bei Caspar und Tinka aufgewachsen, ebenso wie Rosana und Alfredo.
»Wenn du mit alle unsere Kinder meinst, die wir seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen haben, dann ja. Ja, die werden wir wieder sehen.«
»Jannijc ist gerade zwanzig geworden«, murmelte Enijo mit leerem Blick und zündete sich noch eine Zigarette an. »Zwanzig … Und die Zwillinge werden bald siebzehn.«
Die ganze Zigarette lang, sagte keiner der beiden ein Wort, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Jeder ein kleines Stücken verloren.
Schließlich schnipste Enijo den Zigarettenstummel wieder fort, trat ihn ausnahmsweise mal aus, nickte Filas zu und beide angelten sich die Feuerleiter empor.
Mit jedem Schritt höher hinauf, wurde dem Eliaataner bewusster, dass sie sich dem Dach näherten. Und dort würde Caspar sie abholen.