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Mit Beginn des Ukraine-Kriegs ist eine bislang wenig beachtete christliche Konfession in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt: das orthodoxe Christentum. Obwohl sie mit ca. 300 Millionen Angehörigen die zweitgrößte christliche Gemeinschaft der Welt darstellt, ist sie den meisten Menschen in Westeuropa fremd: Welche Bedeutung haben die orthodoxen Kirchen, welche Rolle spielen sie in den aktuellen politischen Konflikten und was sind die historischen Hintergründe? Gerhard Schweizer führt fundiert und leicht lesbar in die Geschichte des orthodoxen Christentums ein und skizziert die Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart. Sein Buch hilft, nicht nur den politischen, sondern auch den religiösen Aspekt des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine 2022 zu verstehen.
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Seitenzahl: 320
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Gerhard Schweizer
Kreuz und Schwert
Geschichte, Glaube und Politik der orthodoxen Kirchen
F ü r B r i g i t t e
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Die Bibelverse wurden, soweit nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes. Vollständige deutsche Ausgabe © Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005
Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand, Schwäbisch Hall
Umschlagmotiv: © pingvin57 / shutterstock.com
E-Book-Konvertierung: ZeroSoft SRL
ISBN Print 978-3-451-39562-8
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83962-7
Orthodoxes Christentum – und die offenen Fragen. Überraschungen in den letzten Jahrzehnten
Religion und Politik in Russland. Das Beispiel einer aktuellen Krise
Orthodoxe Kirchen und ihr Verständnis von Religion. Der westeuropäische Blick auf eine noch immer wenig bekannte Konfession
Orthodoxes Christentum mit wachsender Mitgliederzahl. Der Gegensatz zu Religionen in Westeuropa
Die Krise vieler Religionen. Ein Blick über die Kulturgrenzen hinaus
Wie die verschiedenen Kirchen entstanden. Eine konfliktreiche Entwicklung seit der Antike
Die Anfänge. Was das Christentum erfolgreich machte
Im Besitz der alleinigen Wahrheit. Die Grundmuster aller religiösen Spaltungen
Die Spannungen zwischen Rom und Konstantinopel. Papst und Patriarch als Rivalen
Das katholische Rom und das orthodoxe Konstantinopel. Zentren einer dauerhaften Kirchenspaltung
Die Unterordnung der Frauen. Ein Problem nicht nur für die orthodoxen Kirchen
Vom Mittelalter in die Neuzeit. Der andere Strukturwandel der orthodoxen Kirche
Kiew, ein erstes Zentrum slawischer Orthodoxie. Wie die Gemeinschaft der „Rus“ entstanden ist
Aus Konstantinopel wird Istanbul. Der Verlust der „Mitte“ für die orthodoxe Kirche
Moskau als das „Dritte Rom“. Der slawische Anspruch auf das allein gültige Christentum
Moskau und Sankt Petersburg. Die halbe Moderne durch eine neue Hauptstadt
Die Verteidigung der russischen Orthodoxie im Krim-Krieg. Ein „Heiliger Krieg“ und der imperialistische Hintergrund
Das „Unchristliche“ der russisch-orthodoxen Kirche. Dostojewski und Tolstoi als prominente religiöse Kritiker
Warum keine Reformation und keine Aufklärung? Die anderen politischen Rahmenbedingungen in Osteuropa
Griechisch-orthodoxe Christen und die Moderne. Probleme bis in die Gegenwart
Die Wallfahrt nach Tinos und die griechische Unabhängigkeit. Eine ambivalente Wechselbeziehung
Zurück nach Konstantinopel. Das religiös-politische Traumziel vieler Griechen – und wieder ein Krieg
Die vielen Verwandlungen der Hagia Sophia. Ein immer neuer Konflikt mit der Türkei
Griechische Passion und der wieder gekreuzigte Christus. Der religiöse Kritiker Nikos Kazantzakis
Ein nur scheinbar säkularer Staat. Ungelöste Probleme bis heute
Der Umbruch durch den Zerfall Jugoslawiens. Explosiver religiöser Nationalismus
Die Schlacht auf dem Amselfeld vor 600 Jahren. Ein nationaler Mythos mit verheerenden Folgen
Die schwer lösbaren Konflikte. Weit zurückliegende Ursachen
Sarajevo, das „Jerusalem des Balkan“. Eine trügerische Harmonie im noch kommunistischen Jugoslawien
Erster religiös-politischer Bürgerkrieg. Schwerpunkt Bosnien-Herzegowina
Zweiter religiös-politischer Bürgerkrieg. Die Kosovo-Krise und andere weiter schwelende Konflikte
Zerstörungswut und Triumph. Gravierende Nachwirkungen der Bürgerkriege
Die Krise in Russland. Religion nach dem Ende der Sowjetunion
Wird Moskau wieder das „Dritte Rom“? Zurück in eine frühere Machtposition in neuer Form
Die wundersame Wandlung des Wladimir Putin. Vom russisch-orthodoxen Kommunisten zum russisch-orthodoxen Christen
Die Inszenierung des Religiösen. Weiterhin offene Fragen zum Phänomen Putin
Die „Heimkehr“ des Alexander Solschenizyn. Ein prominenter Schriftsteller als ambivalenter Christ
„Gotteslästerung“ oder konstruktive Kritik? Die Protestaktion der Gruppe „Pussy Riot“ in der Christ-Erlöser-Kathedrale
Russland und die Ukraine. Ethnische und religiöse Hintergründe eines Konflikts
Kiew als „Geburtsort“ russischer Orthodoxie? Ein religiöser Mythos und das strittige Problem
Kreuz und Schwert. Ein Denkmal in Moskau mit religiös-politischer Botschaft
Die Ukraine nicht „russisch“ genug. Eine Radikalisierung
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Religiöse und nationalistische Ideologie untrennbar verbunden
Die Zukunft des orthodoxen Christentums. Von der Abgrenzung zum Dialog?
Die historische Kluft zwischen „Ost“ und „West“. Versuche einer Annäherung
Die Trennlinien in der Gegenwart. Weiterhin Konflikte im Verständnis von „Kirche“ und „Moderne“
Anhang
Anmerkungen
Literaturhinweise
Zeittafel
Namensregister
Über den Autor
Im Mai des Jahres 2000 wurde die Weltöffentlichkeit durch eine Nachricht aus Moskau überrascht: Wladimir Putin, der als der neue Präsident Russlands in sein Amt eingeführt wurde, ließ diesem politischen Ritual einen Gottesdienst folgen. Was war die Überraschung? Bisher hatten uns in Westeuropa zwar schon genügend Informationen über eine sprunghaft gewachsene Religiosität in Russland erreicht, aber im ehemals kommunistischen Staat hatte sich noch kein ranghoher Politiker demonstrativ von der einst staatlich verordneten Doktrin des Atheismus abgewandt.
Der Gottesdienst für den neuen Staatspräsidenten fand symbolträchtig in jener Kathedrale des Kreml statt, die einst den russischen Großfürsten und Zaren als Ort für private Andachten gedient hatte. Putin küsste Alexej II., dem damals amtierenden Patriarchen von Moskau und Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, die Hand, und er zündete feierlich – durch das Fernsehen auffällig dokumentiert – eine Kerze am Altar an. Wie das? Putin war noch ein Jahrzehnt zuvor der Chef des sowjetischen Inlands-Geheimdienstes gewesen, er musste sich also in dieser Eigenschaft zu dem damals verordneten Atheismus kommunistischer Führungskräfte bekannt haben. Nun aber ließ er sich in seiner neuen politischen Funktion durch den höchsten geistlichen Würdenträger segnen. In der Weltöffentlichkeit wird seither gerätselt, ob der Atheist Putin tatsächlich Christ geworden ist oder ob er seither nur aus taktischen Erwägungen demonstrativ als Christ auftritt.
Im selben Jahr 2000 erreichte die Weltöffentlichkeit eine weitere überraschende Nachricht aus Russland. In Moskau fand ein Konzil des Patriarchats statt, in dem die Sozialdoktrin mit folgender Aussage veröffentlicht wurde: Das Verhältnis zwischen öffentlicher Regierungsgewalt und Kirche sei mit jenem von Körper und Seele des Menschen zu vergleichen. Die Kirche verstehe sich als die große geistige Kraft, der die russische Nation ihre Existenz verdanke und ohne die Russland nicht bestehen könne.1 Solche Äußerungen eines Bischofskonzils bedeuten, dass es keine Trennung zwischen Staat und Kirche, Politik und Religion mehr geben könne, sondern dass beide eine organische Einheit seien. Die Konsequenz: Die russisch-orthodoxe Konfession müsse wieder in den Rang der Staatsreligion erhoben werden, wie dies einst unter der Herrschaft der Zaren gewesen sei. Eine derartige Botschaft signalisierte aber nicht nur eine radikale Position gegen die einstige Diktatur des Sowjetkommunismus, unter deren Herrschaft Religionen weitgehend in ihrem Einfluss zurückgedrängt wurden. Dies bedeutete auch eine aggressive Kampfansage an die säkularen Demokratien westlicher Staaten, in denen es eine solch enge Verbindung von Staat und Kirche nicht mehr gibt.
In diesen Zusammenhang passt auch ein Denkmal nahe dem Kreml: eine 16 Meter hohe Statue aus Bronze, ein bärtiger Mann in der Kleidung eines Fürsten des frühen Mittelalters – dieser Fürst hält in der rechten Hand ein mächtiges Kreuz, die linke Hand ist auf den Knauf eines Schwertes gestützt. Die Statue wurde 2016 auf Geheiß von Wladimir Putin errichtet. Bei der Einweihung hielt Putin eine Rede, ihm folgte Kyrill I., der seit 2009 amtierende Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche. Eine Prozession von Bischöfen und Popen in farbenprächtigem Ornat gab der Veranstaltung eine betont sakrale Atmosphäre. Welche Botschaft verbinden Präsident Putin und Patriarch Kyrill mit einer solch pompösen Zeremonie vor dieser Statue? Die Symbole von Kreuz und Schwert erinnern an die Propaganda von Kreuzzügen im Mittelalter. Aber im 21. Jahrhundert?
Eine derartige Entwicklung in Russland lässt die These zu: Trotz aller Unterdrückung ist bei einem größeren Teil des Volkes der Glaube an die Autorität einer dominierenden russisch-orthodoxen Staatskirche erhalten geblieben – oder zumindest die Sehnsucht danach. Die Fakten sprechen für sich. Kaum war der politische Zwang durch die kommunistischen Machthaber verschwunden, änderten sich deutlich die Strukturen. Die Zahl der kirchlich registrierten Mitglieder hatte sich im Zeitraum der Jahre 1991 bis 2008 von 31 auf 72 Prozent mehr als verdoppelt.2 Und die Zahl theologischer Seminare und Akademien stieg von 1991 bis 2016 von 3 auf über 50. Im Gegensatz dazu gab nur noch jeder vierte russische Einwohner an, Religion spiele in seinem Leben keine Rolle.3 Ich selbst konnte bei meinen Aufenthalten in Moskau – 1972 sowie 1979 unter kommunistischer Herrschaft und 2017 in der postsowjetischen Ära – den gravierenden Unterschied bereits im äußeren Erscheinungsbild bemerken: 2017 gab es zahlreiche neu gebaute Kirchen, deren Gottesdienste besonders auch von jüngeren Leuten gut besucht wurden.
Am 24. Februar 2022 wurde die Weltöffentlichkeit wieder von einer Nachricht überrascht, welche die bisher stärkste Irritation bedeutet. Es ist der brutale Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine – ein Krieg, dessen Ursachen und dessen Auswirkungen auf ganz Europa inzwischen von den Medien weltweit diskutiert werden. Aber meist steht hierbei die politische Problematik im Vordergrund mit der Auffassung: Putin wolle nach dem dramatischen Zerfall der Sowjetunion wieder ein Großrussisches Reich wie zur Zeit der Zaren herstellen, und hierbei betrachte er den Staat Ukraine, der sich aus dem russischen Einfluss lösen wolle, als unverzichtbaren Teil Russlands. Dieser Krieg hat jedoch auch eine sehr starke religiöse Motivation, die in den westlichen Medien meist nur beiläufig erwähnt und damit unterschätzt wird.
Wenn wir diesen Krieg an zentralen Führungspersönlichkeiten Russlands festmachen wollen, dann dürfen wir den Blick nicht allein auf den Präsidenten Wladimir Putin richten. Ebenso wichtig ist Patriarch Kyrill. Das mächtige Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche hatte schon zu Beginn des Krieges gegen die Ukraine im Februar 2022 Putin als starken politischen Führer und die enge „Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche“ gelobt. Außerdem hatte er die Gegner als Anhänger „böser Mächte“ diskriminiert.4 Aber der Patriarch radikalisierte seine religiöse Rhetorik sieben Monate später noch erheblich. Im September verkündete er bei einem Gottesdienst in Moskau: Alle russischen Soldaten, die im Kampf gegen die abtrünnigen Ukrainer sterben, würden ins Paradies gelangen. Denn ein solches Opfer in der Schlacht wasche alle Sünden ab. Gott vergebe jenen, die für ein heiliges Ziel kämpfen, alle Sünden.5 Eine derartige Rhetorik des ranghöchsten russischen Geistlichen erinnert fatal an die Aufrufe zur Zeit der Kreuzzüge, die im Mittelalter stattgefunden haben, und an die Parolen späterer Glaubenskriege bis hin zum Dreißigjährigen Krieg. Mehr noch: Eine solche Rhetorik weist sogar eine beklemmende Parallele zur Propaganda muslimischer Glaubenskämpfer, der Dschihadisten, auf. Für Islamisten dieser Art wird ja jeder, der im Krieg gegen „Ungläubige“ stirbt, zum geheiligten Märtyrer, und ihm öffnet Gott den Weg ins Paradies, selbst wenn er zuvor ein großer Sünder gewesen ist.
Westlich aufgeklärte Europäer muss es irritieren, dass eine solche Religiosität unter Christen sogar noch im 21. Jahrhundert wesentlich die Politik beeinflussen kann. Entsprechend haben sich in Westeuropa auch zahlreiche Christen – ob nun katholisch, evangelisch oder orthodox – entschieden von Aussagen des Patriarchen Kyrill distanziert. Aber spätestens seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine dringt ins westeuropäische Bewusstsein die Tatsache, dass nicht nur radikale Islamisten mit ihren verheerenden Attentaten zu einer Gefahr für ganz Europa werden können, sondern ebenso radikale Christen im Bündnis mit einer mächtigen Diktatur.
Ein solcher Krieg, der die Weltöffentlichkeit zutiefst beunruhigt, bietet den aktuellen Anlass, ein Buch über Religion und Politik der orthodoxen Kirchen zu schreiben. Allerdings gilt es hierbei zu zeigen, dass es falsch wäre, die Darstellung vorrangig auf die russisch-orthodoxe Kirche zu konzentrieren und ihre Entwicklung schon als „typisch“ für die Situation aller anderen orthodoxen Kirchen anzusehen. Wir würden damit die geistige Vielfalt dieser Konfession ignorieren, die sich in unterschiedlichen Ländern unter unterschiedlichen sozialen und politischen Rahmenbedingungen entfaltet. Westeuropäer dürfen nicht jenen Fehler machen, den viele bei ihrem Blick auf den Islam immer wieder erneut begehen. Viele sprechen von dem Islam und ignorieren die Vielfalt, die den islamischen Kulturraum in sehr unterschiedliche Entwicklungen auffächert. Und sie stellen damit den Islam unter einen fatalen Generalverdacht. Ja, mehr noch: Sie zeigen erst dann ein größeres Interesse am Islam, wenn er als eine große Bedrohung für den „Westen“ empfunden wird. Und erst dann wird das Bedürfnis geweckt, den Islam zu „verstehen“. Eine ähnliche Haltung droht nun gegenüber der Religion orthodox gläubiger Christen, über deren kulturelle Grundlagen bisher nur wenige Westeuropäer ausreichend Bescheid wissen.
Im vorliegenden Buch versuche ich, die orthodoxe Konfession des Christentums in ihrer Vielfalt darzustellen. Aber ich bin mir bewusst, dass ich diese Konfession nicht unvoreingenommen wahrnehme. Auch dieses Problem eines außenstehenden Beobachters gilt es zu thematisieren.
Kirchen und Klöster mit goldenen Kuppeln, dazu Ikonen aus dem späten Mittelalter, dazu eine Liturgie von Priestern und Mönchen im byzantinischen Ritus, der sich seit einem Jahrtausend kaum geändert hat. Es sind idealtypisch verdichtete Eindrücke meiner Reisen in Osteuropa. In diesem Zusammenhang deutet sich bereits an, dass mir die orthodoxe Konfession fremder ist als die katholische oder evangelische. Und damit möchte ich zuerst auf meinen persönlichen Ausgangspunkt eingehen. Ich sehe allerdings meine eigene Position nicht nur als eine individuelle Befindlichkeit an. Im Gegenteil, sie erscheint mir als eine weit verbreitete Wahrnehmung. Für viele Westeuropäer handelt es sich beim orthodoxen Christentum um eine noch immer wenig bekannte Konfession.
Es hat lange gedauert, bis ich osteuropäische Länder besuchte. In den 1960er Jahren hatte ich, ein Student der Empirischen Kulturwissenschaft und Geschichte, zunächst etliche Staaten in Nordafrika und dann quer durch Asien über die Türkei, Iran, Afghanistan, Pakistan, Nepal, Indien bis Burma und Kambodscha bereist. Hierbei reizte es mich, völlig fremde Kulturen und deren Religionen mit den Strukturen in Westeuropa zu vergleichen. Aber wenn ich hierbei Islam, Hinduismus, Buddhismus und fernöstliche Religionen dem Christentum gegenüberstellte, dann geschah dies unter folgendem Aspekt: Im Christentum berücksichtigte ich vor allem die katholische und die evangelische Konfession, dagegen betrachtete ich das orthodoxe Christentum eher beiläufig und schätzte es nur als im Kern eng verwandt mit dem Katholizismus ein. Dafür gibt es einen sehr naheliegenden Grund. In häufigen Gesprächen mit Protestanten und Katholiken hatte ich schon in früher Jugend Gelegenheit, mich mit ihnen über weltanschauliche Probleme auseinanderzusetzen – Probleme, die mit der westeuropäischen Geschichte, mit den Konflikten der Reformation und der Aufklärung, verknüpft sind. Die orthodoxe Konfession dagegen gehörte für mich zwar nominell auch zum Kulturraum des „christlichen Abendlands“, aber mir fehlte lange Zeit der Kontakt mit Christen orthodoxer Konfession. Dies galt besonders für die Christen des osteuropäischen Raums, wo sie bis 1989 unter kommunistischer Herrschaft lebten. Dort war es für Einzelreisende aus Westeuropa schwierig, private Gespräche mit ihnen zu führen. Ich ertappte mich dabei, dass ich mich in meinen Büchern zum Thema Christentum über viele Jahre hauptsächlich mit den Problemen katholischer und evangelischer Religiosität analytisch auseinandersetzte. Dagegen erschien mir der Kulturraum der orthodoxen Konfession viel weniger bedeutend für die aktuelle Entwicklung des Christentums.
1969 bereiste ich ausgiebig Griechenland und damit erstmals einen Staat mit vorwiegend christlich-orthodoxer Bevölkerung. Aber trotz der dort vielen Begegnungen mit Menschen und ihrer Kultur konnte ich mir noch nicht vorstellen, dass sich sogar in einem christlichen Kulturraum – und nicht nur bei islamischen Fundamentalisten – Religion und Politik intensiv vermischen und zu explosiven Konflikten führen können. Eine derartig schockierende Erfahrung machte ich erstmals 1989. Damals rückte mir, rückte uns Westeuropäern insgesamt, die ferne orthodoxe Konfession plötzlich schmerzend „nahe“. 1989 hatte der serbische Diktator Slobodan Milošević im zerfallenen Staat Jugoslawien einen brutalen Angriffskrieg gegen die „abtrünnigen“ Teilstaaten geführt, und in diesem Krieg hatte sich der ehemals kommunistische Politiker eng mit den Bischöfen der serbisch-orthodoxen Kirche verbündet. Es war ein brutaler Krieg, in dem sich ein extremer serbischer Nationalismus mit einer aggressiven Dogmatik der Kirche vermischte, und eine ähnlich gefährliche Vermischung zeigte sich dann auch bei den Gegnern von Milošević, so den Katholiken in Kroatien sowie den Muslimen in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo. Es war eine Entwicklung, wie sie sich 2022 ähnlich unter dem russischen Diktator Wladimir Putin durch seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt. 1989 war die serbisch-orthodoxe Kirche und 2022 war die russisch-orthodoxe Kirche religiös-politisch durch ihr aggressives Vorgehen in das Licht der Weltöffentlichkeit gerückt.
Am Beispiel beider Kriege wurde deutlich: Für viele Europäer und Amerikaner ist das nur wenig bekannte „Fremde“ erst dann interessant geworden, nachdem es ihnen „nahe“ gerückt war und als extrem bedrohlich erschien. Sprunghaft ist dann erst das Bedürfnis gewachsen, über die Struktur des orthodoxen Christentums mehr zu erfahren. Und hier zeigt sich auf beklemmende Weise die Parallele zum 11. September 2001, als islamistische Attentäter das World Trade Center in New York und das Pentagon nahe Washington attackierten. Sprunghaft war auch damals in den USA wie in Europa das Interesse am Islam gewachsen, entsprechend rasch hatte in den Medien die Zahl der Analysen zugenommen, seriöse Darstellungen einerseits, propagandistische Hetze andererseits.
Obwohl ich versuche, im vorliegenden Buch die orthodoxe Konfession des Christentums in ihrer Vielfalt darzustellen, bin ich mir wie gesagt bewusst, dass ich nicht unvoreingenommen „das Fremde“ wahrnehme. Zu meinen markanten Eindrücken gehören die vielen Gespräche mit Christen der orthodoxen Konfession, in denen oft dieselbe Erklärung wiederkehrte – und die mich in ihrer dogmatischen Intoleranz überraschte: Allein ihre Glaubensrichtung könne beanspruchen, die Kirche in ihrer ursprünglichen Reinheit zu verkörpern, alle anderen Konfessionen hätten sich von dieser Kirche abgespalten, so die Katholiken, erst recht die Protestanten. Katholiken wie Protestanten hätten sich im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder erneut dem Zeitgeist angepasst und entsprechend ihre Dogmen verändert. Die orthodoxe Kirche dagegen sei dem ursprünglichen Glauben treu geblieben. Solche Erklärungen, die mich an die geistige Grundhaltung des Mittelalters erinnern, bekam ich in verschiedenen Ländern Osteuropas vielfach mit nur unterschiedlichen Varianten zu hören. Zwar denken derartig auch manche Katholiken und Protestanten in Westeuropa und in Amerika, aber sie bilden eine Minderheit, die wir unter dem Begriff „Fundamentalisten“ einstufen.
Besonders denkwürdig war für mich in diesem Zusammenhang ein Gespräch, das ich in Rumänien mit einem Priester führte. Wir standen vor dem Kloster Voroneţ, einem der bedeutendsten Moldau-Klöster, und betrachteten an den Außenmauern die farbenprächtigen Wandbilder, die um das Jahr 1490 im byzantinischen Stil entstanden sind und dem Kloster den ehrenden Beinamen „Sixtinische Kapelle des Ostens“ eingetragen haben. Wir konzentrierten uns schließlich auf ein spezielles Wandbild, in dem auf großer Fläche das Jüngste Gericht dargestellt ist. Auf der linken Seite sind jene von den Toten Auferstandenen abgebildet, die als „Rechtgläubige“ ins Paradies gelangen, auf der rechten Seite die „Ungläubigen“, die für ein Weiterleben im Flammenmeer der Hölle bestimmt sind. Die Verdammten sind an ihrer Kleidung als muslimische Türken oder als Juden wie als Christen erkennbar, die sich gegen den orthodoxen Glauben schwer versündigt haben. Ähnliche Darstellungen finden sich zwar auch an mittelalterlichen Kirchen Westeuropas, aber dort werden sie seit der Epoche der Aufklärung im 18. Jahrhundert von vielen Betrachtern, so auch von mir, als spezifischer Ausdruck eines längst vergangenen Zeitalters betrachtet. Der Priester jedoch, mit dem ich sprach, sah in diesem monumentalen Wandbild eine Botschaft gerade auch für unsere Gegenwart mit ihren vielen „modernen“ Anfechtungen. Ich lobte nur die künstlerische Qualität des Wandbilds, mein Gesprächspartner betonte die Warnung, die er für die Gläubigen der Gegenwart sah.
In diesem Zusammenhang sagte der Priester zudem: Allein die Christen der orthodoxen Konfession hätten sich den unverfälschten Glauben bewahrt, aber die Katholiken könne man wenigstens noch als halbe Christen bezeichnen, die Protestanten dagegen hätten nur noch wenig mit dem Geist der wahren Kirche zu tun. Ob ich Katholik sei? Nein, ich sei Protestant. Oh … Der Priester wirkte sichtlich verlegen. Aber nach wenigen Sekunden lächelte er und sagte: Ich sei trotzdem willkommen, man müsse sich über alle Unterschiede hinweg verständigen können. Er erklärte, wie wichtig es sei, einen Dialog zu führen. Insofern machte er auch deutlich, dass nicht alle „Irrenden“ für die Hölle bestimmt seien. Aber unverrückbar blieb für ihn: Allein die orthodoxe Kirche sei im Besitz der „ganzen“ Wahrheit, die anderen Konfessionen könnten – müssten – von der Haltung der Orthodoxen lernen. Eine solche Ambivalenz erlebte ich immer wieder: Selbst viele der strenggläubigen orthodoxen Christen begegneten mir, dem andersgläubigen und skeptisch abwägenden Ausländer, meist freundlich, ja gastfreundlich. Hier siegte anscheinend spontane Sympathie über vorgegebene Traditionen. Sie grenzen sich eher gegen Andersgläubige im eigenen Land ab, weil vor allem deren anderes Denken eine echte Herausforderung für vorgegebene Traditionen bedeutet.
Wie repräsentativ sind solche Erklärungen mit entschiedener Abgrenzung gegen fremde Konfessionen sowie Religionen? Und wie viel Prozent der Bevölkerung antworten so? Ich traf allerdings auch auf Menschen, die beim Thema Religion abwinkten. Bei ihnen war nicht klar, ob sie überhaupt einer Kirche angehören. Klar schien nur zu sein, dass sie kein Bedürfnis haben, sich auf eine Diskussion über religiöse Fragen einzulassen. Aber die Überraschung ist dann bei einem Blick auf Statistiken (davon im nächsten Abschnitt mehr), dass in ehemals kommunistischen Ländern die Mehrheit der Menschen keine Sympathie für den bisher offiziell verordneten Atheismus empfindet, sondern sich ausdrücklich zu einer Religion bekennt. Wie ist dieser Widerspruch zu verstehen?
Wie viele Mitglieder zählt die orthodoxe Konfession? Es gibt hier verschiedene Daten. Im Jahr 2002 waren in der Statistik rund 215 Millionen orthodoxe Christen weltweit registriert.6 Aber zwei Jahrzehnte später, 2022, ist die Zahl auf rund 300 Millionen gestiegen, und damit gilt die orthodoxe Konfession nach jener der Katholiken als die zweitgrößte christliche Gemeinschaft in der Welt.7 Die Ursache bildet der politische Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer kommunistischen Vasallenstaaten im Jahr 1989. Innerhalb kurzer Zeit sind überall dort Christen wieder offiziell in die Öffentlichkeit getreten, die unter den Diktaturen in Osteuropa ein Schattendasein geführt hatten. Dazu kamen Menschen, die sich erst jetzt zu der wieder massiv geförderten Religion bekennen.
Dass sich in Russland die Zahl der kirchlich registrierten Mitglieder im Zeitraum von 1991 allein schon bis 2008 von 31 auf 72 Prozent nahezu verdoppelt hat, habe ich bereits erwähnt. Ähnlich ist die Situation aber auch in anderen Staaten mit kommunistischer Vergangenheit, die sich von der Sowjetunion unabhängig gemacht haben. So etwa im Nachbarstaat Belarus, „Weißrussland“. Dort sind 73 Prozent der Bevölkerung als russisch-orthodox registriert, 9 Prozent als katholisch und nur 14 Prozent als atheistisch. Ähnlich in Bulgarien: Dort bekennen sich zwei Drittel der Menschen zur bulgarisch-orthodoxen Konfession, nur 13 Prozent definieren sich weiterhin als Atheisten. In Rumänien sind sogar 95 Prozent Mitglieder einer Kirche, davon 86 Prozent mit rumänisch-orthodoxer Konfession, rund 5 Prozent als Katholiken. Und in Serbien bezeichnen sich 84 Prozent als orthodoxe Christen, nur 16 Prozent definieren sich weiterhin als Atheisten. Bei Serbien kommt allerdings hinzu, dass neben der Auseinandersetzung mit dem atheistischen Kommunismus ein bis heute unbewältigter Konflikt mit dem türkisch-osmanischen Islam eine explosive Dynamik besitzt. Letzteres gilt auch für Griechenland, einem demokratisch orientierten Staat ohne kommunistische Vergangenheit. Auch bei den Griechen ist die Erinnerung an die islamische Fremdherrschaft bis heute ein Problem mit beträchtlichem Einfluss auf das religiöse Verhalten. Und hier stoßen wir auf die erstaunliche Tatsache, dass sogar 98 Prozent der Bevölkerung als Mitglieder der griechisch-orthodoxen Kirche registriert sind.
Wieder anders ist die Problematik in der Ukraine, einem unabhängig gewordenen Staat, für den die einstige Herrschaft der russischen Zaren und später der russischen Kommunisten einen unbewältigten Konflikt bildet. In der Ukraine sind 61 Prozent der Menschen kirchlich gebunden, davon bekennen sich 49 Prozent zur orthodoxen Kirche mit Patriarchat in Kiew, 13 Prozent zur orthodoxen Kirche mit Patriarchat in Moskau, der Rest der Gläubigen zur katholischen Kirche. Nachdem jedoch die Spannungen mit Russland weiter gewachsen sind, hat sich die ukrainische Bevölkerung gerade in ihrem orthodoxen Glauben noch weiter aufgefächert. In einer solchen Entwicklung ist dann auch schon neben den nationalistischen Streitpunkten jener religiös-politische Konflikt angelegt, der 2022 zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine geführt hat.8
Die hier genannten Zahlen von Menschen, die sich zur orthodoxen Konfession bekennen, überraschen. In Staaten Westeuropas hatte eine derartige Situation zuletzt Ende des 19. Jahrhunderts registriert werden können. Inzwischen ist in Westeuropa die Zahl kirchlich gebundener Mitglieder so stark gesunken, dass in manchen Staaten mehr als die Hälfte der Bevölkerung offiziell „ohne religiöses Bekenntnis“ ist. Für Deutschland gilt dies seit dem Sommer 2022. Aber es gibt in diesem Zusammenhang auch Fragezeichen zu setzen. Im Internet stieß ich bei meinen Recherchen beispielsweise zu Bulgarien auf folgende Überschrift: „39 Prozent der Christen glauben an Gott.“ Dies sei das Ergebnis einer von bulgarischen Soziologen 2019 durchgeführten Befragung. Und weiter: Nur jeder vierte Einwohner Bulgariens habe Vertrauen in die Institution Kirche. Viele der Befragten gaben trotzdem an, orthodoxe Christen zu sein. Wie ist ein solcher Widerspruch zu erklären? Hier komme ich wieder auf meine eigene Erfahrungen zurück, dass eine Reihe meiner Gesprächspartner in Griechenland, Rumänien, im zerfallenden Jugoslawien wie auch in Moskau bei dem Thema Religion kaum Interesse zeigte, aber sich letztlich doch als orthodoxe Christen bezeichnete. Die Zugehörigkeit zu einer kirchlichen Gemeinschaft scheint für sie ein wichtiges Zeichen ihrer Identität, ihrer Einbindung in fest strukturierte Traditionen und soziale Gefüge zu sein. Und ein derartiges Gefühl von Zugehörigkeit kann zur Folge haben, dass man sich mehr oder weniger von andersgläubigen, andersdenkenden Gruppierungen abgrenzt. Die Frage ist, wie sehr sich ein solcher Befund bei nahezu allen Ländern der orthodoxen Konfession feststellen lässt.
Wie soll man diese starke Kluft von West- und Osteuropa im religiösen Verhalten bewerten? Was ist das Besondere, was das für uns Irritierende an Osteuropa? Im vorliegenden Buch versuche ich, wie schon betont, die langwierige und konfliktreiche Entwicklung von Religion und Politik der einzelnen orthodoxen Kirchen darzustellen. Einen Schwerpunkt bilden hierbei die Vorgänge im 20. und im frühen 21. Jahrhundert. Aber es wäre einseitig, in diesem Zusammenhang vorrangig auf die Exzesse einiger nationaler orthodoxer Kirchen und der mit ihnen verbündeten Politiker einzugehen. Es gilt auch zu zeigen, was den kulturellen Reichtum der einzelnen Großräume ausmacht. Herausragend ist hierbei die byzantinische Kultur. Sie hat einerseits in der Antike wesentlich zum Aufstieg der abendländischen Zivilisation beigetragen – und sie hat selbst nach der Eroberung von Konstantinopel 1453 durch die Türken weiterhin Einfluss auf fremde Kulturen ausgeübt, so auf die slawische, sogar auf die islamische Kultur. Damit verbunden stellt sich aber die Frage: Wieso konnte es dazu kommen, dass die religiösen und sozialen Strukturen der orthodoxen Christenheit uns in Westeuropa im Verlauf der letzten Jahrhunderte immer fremder geworden sind?
Allerdings dürfen wir die Krise des orthodoxen Christentums nicht isoliert als ein spezielles Problem betrachten. Zum einen gibt es ja fundamentalistische Entwicklungen im Christentum insgesamt, zum andern auch im Islam, dort sogar massiver, ja, auch im Hinduismus und Buddhismus. Die Krise des orthodoxen Christentums ist also Teilaspekt einer Krise vieler Religionen, die sich nur verschieden intensiv und unter verschiedenen Rahmenbedingungen äußert. Deutlich wird hierbei, dass das Thema Religion weiterhin im Weltgeschehen eine erhebliche Rolle spielt, wenngleich zahlreiche Menschen in Westeuropa diese Bedeutung unterschätzen. Oder wie es der Politikwissenschaftler Hannes Vorhofer formuliert, der im Februar 2023 über die rapid wachsende Religionskrise des säkularen Staates Israel berichtete:
„Für Westeuropäer schien klar, dass die Religion an Bedeutung verliert. Diesem Bild entsprechen aber bestimmte Phänomene nicht, die nicht nur in Israel, sondern auch im Rest der Welt zu beobachten sind. Die Entwicklung im postsowjetischen Russland, in Polen, Brasilien und zum Teil in den USA ähneln sich. Im akademischen Diskurs wird die These einer Rückkehr der Religion lebhaft diskutiert.“9
Religionskrise als wachsende Gefahr zum Teil auch in den USA … Diesen Aspekt müssen wir im Zusammenhang mit der Entwicklung im postsowjetischen Russland und den kulturell verwandten Staaten zumindest in groben Umrissen berücksichtigen. Schließlich üben die USA als Großmacht einen noch wesentlich stärkeren Einfluss auf die Weltpolitik aus als Russland, das erst wieder einen größeren Einfluss anstrebt. Kreuz und Schwert … Mit solchen Parolen treten evangelikale Prediger publikumswirksam in der US-amerikanischen Öffentlichkeit auf, und sie meinen mit ihrer Botschaft einen „Kreuzzug“, „crusade“, gegen „Ungläubige“, ob nun gegen jene in fremden Religionen oder gar der eigenen Konfession, weil jene einen säkularen, „gottlosen“ Staat befürworten. Ein fundamentalistisch gläubiger Präsident wie George W. Bush hat solche Schlagworte übernommen mit außenpolitisch fatalen Folgen, Donald Trump mit verhängnisvollen Konsequenzen für die Innenpolitik. Solche Schlagworte sind austauschbar – weltweit. Patriarch Kyrill und der mit ihm verbündete Präsident Putin bilden hier nur eine speziell „russische“ Variante. Ob nun „West“ oder „Ost“: An solchen Entwicklungen zeigt sich, wie gefährlich es ist, wenn eine fundamentalistisch geprägte Religiosität Einfluss auf die Politik nimmt.
Ob eine derartige „Rückkehr der Religion“ vor allem Anlass zu Pessimismus bietet oder ob sich mit den Umbrüchen auch Chancen für neue Perspektiven eröffnen, ist darüber hinaus Thema des vorliegenden Buches. Und in diesem Zusammenhang wird auch die Frage zu erörtern sein, ob durch eine weiter wachsende Krise nicht nur im westlichen Kulturraum, sondern ebenso bei den orthodoxen Christen die Zahl der offiziell registrierten Mitglieder bald wieder sinken könnte.
Mit den Anfängen des Christentums verbinden sich etliche Fragen. Mehr als ein Jahrhundert hat es gedauert, dass die christlichen Gemeinden überhaupt eine Gemeinschaft mit dem Begriff „Kirche“ bilden konnten. Und mehr als zwei bis drei Jahrhunderte lang waren die Christen von der römischen Obrigkeit verfolgt worden und sind immer wieder erneut in ihrer Existenz bedroht gewesen. Wieso also konnte sich ausgerechnet aus einer derart unterdrückten Anhängerschaft die Gemeinschaft einer Weltreligion entwickeln? Und wieso konnten die Christen eine Mitgliederzahl erreichen, die jene aller anderen Religionen bis heute übertrifft?
Bevor ich zu dem Problem komme, weshalb sich das Christentum in verschiedene Kirchen spaltete, muss ich auf die übergeordneten Fragen eingehen. Das Christentum hatte von Anfang an in seiner Lehre ein Element, das in die damalige Welt etwas revolutionär Neues brachte. Jesus hat nicht nur eine Freiheit verkündet, die eine Erlösung auf religiöser Ebene verheißt. Seine Botschaft enthält darüber hinaus auch eine gesellschaftliche Dimension: Jesus hat den sozial Benachteiligten und Verachteten eine bis dahin unbekannte Würde gegeben. Dies zeigt sich in vielen seiner Aussprüche und Gleichnisse, die nach den Ergebnissen quellenkritischer Forschung auf Jesus selbst zurückgehen.
Ein oft zitiertes Beispiel dieser Botschaft Jesu findet sich im Matthäus-Evangelium, Kapitel 25, Verse 31 bis 46. Dort wird visionär der Tag des Jüngsten Gerichts geschildert, an dem Jesus als Richter über das Schicksal der Auferstandenen entscheidet. Zu jenen, die für ein Leben im Paradies bestimmt sind, sagt er:
„Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gereicht; ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mich bekleidet; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.“ (Mt 25,35-36)
Die Auferstandenen, die für das Paradies bestimmt sind, antworteten Jesus: Sie seien ihm doch nie persönlich begegnet. Jesus als Weltenrichter aber verkündete ihnen: „Was immer ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40) Und zu jenen Auferstandenen, die für die Hölle bestimmt sind, sagt er: „Was immer ihr einem dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.“ (Mt 25,45)
Der Apostel Paulus, der später wegweisende Theologe des Christentums, hat in seinen Briefen an verschiedene Gemeinden dieselbe Auffassung geäußert. Besonders markant ist in diesem Zusammenhang eine Botschaft an die Galater (Einwohner der römischen Provinz Galatia), Kapitel 3, Vers 28: „Da gibt es nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, da gibt es nicht Mann und Frau. Denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“ Hier sind sämtliche bisherigen sozialen Hierarchien aufgehoben. Und gerade mit dieser Botschaft hat Jesus und später sein wichtigster Theologe Paulus vor allem bei Menschen mit sozial niederem Stand Interesse geweckt. Ihnen bot sich nun eine bisher nicht gekannte Perspektive von „Erlösung“. Eine solche Botschaft war für damalige Verhältnisse revolutionär, denn bei den Juden wie auch bei anderen Völkern der europäischen und asiatischen Antike galten Menschen „niederen Standes“ und erst recht Sklaven – ja, auch Frauen – als geistig wie moralisch minderwertig, sie besaßen daher keine politischen Rechte. Sogar Philosophen wie Platon und Aristoteles vertraten eine solche Ansicht.10
Die Christenten verkündeten, ein Sklave besitze vor Gott die gleiche Würde wie ein Kaiser, entscheidend sei allein der Glaube und das moralisch richtige Handeln. Diese Botschaft bedeutete eine akute Herausforderung für die Gesellschaftsordnung des Römischen Reiches. Die Machthaber verfolgten die Christen, weil diese es ablehnten, die bestehende Hierarchie von Hoch und Niedrig anzuerkennen. Entsprechend verweigerten sie dem „göttlichen“ Kaiser auf der Spitze der Gesellschaftspyramide das vorgeschriebene rituelle Opfer. Der römische Staat unterdrückte die Christen dagegen nicht wegen ihres Glaubens an Christus, denn aus der Sicht der Polytheisten, die ohnehin an viele Gottheiten glaubten, kam es auf einen Gott mehr oder weniger nicht an.
Im Jahr 311 veränderte sich die Situation allerdings grundlegend. In diesem Jahr kam durch Kaiser Galerius ein Edikt zustande, das allen Religionsgemeinschaften im Römischen Reich Glaubensfreiheit gewährte. Dies kam vor allem den Christen zugute, die inzwischen durch ihre stark gewachsene Mitgliederzahl zu einer immer größeren Herausforderung für die Machthaber geworden waren. Darauf reagierte vor allem Kaiser Konstantin I., der 311 nach dem Tod des Kaisers Galerius der dominierende Regent gegen die politischen Rivalen war. Im Jahr 313 bekräftigte er das Toleranzedikt durch wegweisende Maßnahmen für die Christen (Näheres darüber im Abschnitt Die Spannungen zwischen Rom und Konstantinopel). Er pflegte engen Kontakt mit christlichen Geistlichen und Bischöfen. Kurz vor seinem Tod, im Jahr 337, ließ er sich taufen. In der Folge bekannten sich alle römischen Kaiser zum Christentum (mit Ausnahme des Kaisers Julian Apostata, der nur kurz von 361 bis 363 regierte). Wie war das möglich? Und unter welchen Bedingungen konnte nun das lang ersehnte Ziel einer organisatorisch gefestigten Kirche verwirklicht werden?
Die Machthaber des Römischen Reiches hatten spätestens seit Kaiser Konstantin begriffen, dass man eine so stark angewachsene Glaubensgemeinschaft wie die der Christen nicht mehr ignorieren konnte und es strategisch sinnvoll war, sie in das Staatsgefüge zu integrieren. Eine ideologische Hilfe hatte hier bereits der Apostel Paulus in einem Brief an die Epheser, Kapitel 6, Verse 5 bis 9, geliefert mit den Worten:
„Ihr Sklaven, gehorcht eueren irdischen Herren […]. Dient bereitwillig, als gelte es dem Herrn und nicht den Menschen. Ihr wisst ja, dass jeder, wenn er Gutes tut, vom Herrn Vergeltung empfängt, sei er Sklave oder Freier. Ihr Herren, behandelt sie in gleicher Weise; lasst das Drohen! Ihr wisst ja, dass ihr denselben Herrn im Himmel habt wie sie und dass es bei ihm kein Ansehen der Person gibt.“
Dies konnte in der Tat als eine Stütze für die Machthaber verstanden werden, denn Paulus hatte verkündet: Die soziale Hierarchie sei zwar im Jenseits grundsätzlich aufgehoben, aber es genüge im Diesseits, die hierarchischen Unterschiede durch gutes Verhalten zu mildern. Aus der Sicht der römischen Machthaber bedeutete dies: Das Christentum war nützlich, weil es nun geeignet erschien, soziale Widersprüche zu mildern, sogar mehr als es die bisher anerkannten und in ihrem Einfluss geschwächten Religionen vermocht hatten.
Unter solch geänderten Bedingungen konnte auch die bisher lockere Gemeinschaft der Christen die organisatorisch gefestigte Gemeinschaft einer Kirche bilden. Aber am Anfang zeigte sich, dass dies mit erheblichen Problemen verbunden war.
Der Begriff „Kirche“ ist erst mehrere Jahrzehnte nach dem Tod Jesu entstanden. Und dies geschah nicht in Jerusalem, wo das Christentum seinen Anfang genommen hatte, sondern in Antiochia, der damaligen Hauptstadt der römischen Provinz Syria. In Antiochia hatten die Gebetshäuser der christlichen Gemeinde erstmals den Namen „kyriakon“ erhalten. Es ist ein griechischer Begriff, der sich mit „Haus des Herrn“ übersetzen lässt – und aus dem sich später das Wort „Kirche“ in unserem modernen Sinn geformt hat. Dass der Begriff aus dem Griechischen stammt, war nahezu zwangsläufig. Griechisch war die überregionale Sprache für die Bewohner im östlichen Teil des Römischen Reiches, wesentlich stärker verbreitet als das Aramäische, das Jesus und die Juden in Palästina sprachen. Griechisch predigte auch der hellenistisch gebildete Jude Paulus, der ja von Palästina über Griechenland bis Italien reiste. Paulus war es auch, der den jüdischen Begriff „Messias“, „der Gesalbte“, als Signatur für den verheißenen Erlöser der Menschheit in den griechischen Begriff „Christos“ übersetzte. Hierbei verfestigte sich dann für die Anhänger der neuen Religion die Bezeichnung „Christen“.
Warum geschah dies in Antiochia und nicht in Jerusalem? Nach der Hinrichtung Jesu in Jerusalem war es für seine Anhänger lebensgefährlich geworden, weiterhin im jüdisch besiedelten Teil des Römischen Reiches zu leben. Und so wurde für die Christen das neue Zentrum Antiochia, die Hauptstadt der römischen Provinz Syria. Antiochia war damals im Unterschied zum provinziellen und vorrangig jüdisch bevölkerten Jerusalem eine Metropole mit nahezu einer halben Million Einwohner. In Antiochia lebten Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen und Religionen, deren Bildungsschicht durch die urbane Kultur des Hellenismus geprägt war. Und dort war auch die erste große christliche Gemeinde aus Nichtjuden entstanden. In Antiochia – nicht in Jerusalem wurden die vier Evangelien geschrieben, ebenso war eine Reihe Briefe des Apostels Paulus dort verfasst worden. Die Autoren der Evangelien waren nicht, wie lange Zeit in der christlichen Tradition überliefert wurde, ehemalige Jünger Jesu gewesen, sondern ehemalige „Heiden“, die sich zum Christentum bekehrt hatten.11 Entsprechend war ihr Glaube stark durch Traditionen griechisch-römischen Denkens beeinflusst, entsprechend veränderte sich in ihren schriftlichen Zeugnissen jüdisches Denken – und entsprechend entstand aus diesem Prozess ein erster großer Streit zwischen „Judenchristen“ und „Heidenchristen“ über die Frage, wer Jesus Christus wirklich gewesen ist und was er lehrte. Angesichts solcher Gegensätze begann sich die junge Kirche bereits in zwei Fronten zu spalten – und schon zu dieser frühen Zeit wurde es schwierig, das Ideal der „einen Kirche“ und ihrer unveränderbaren Lehre aufrecht zu erhalten.
Für die Judenchristen war es gemäß ihrer jüdischen Tradition völlig undenkbar, dass Jesus als „Sohn Gottes“ halb Mensch, halb Gott sei, dass also „Gott“ in Form des Heiligen Geistes die Jungfrau Maria befruchtet habe. Judenchristen verwenden zwar für Jesus ebenfalls den Begriff „Sohn Gottes“, aber sie verbanden damit die Vorstellung, dass Jesus wegen seiner Sendung als Messias Gott religiös besonders nahe stehe. Der Titel besagt also aus jüdischer Sicht nicht, dass Jesus mehr als ein Mensch sei.12 Jesus habe als der bloß menschliche Sohn von Maria und Josef erst bei seiner Taufe im Jordan durch Johannes den Täufer den Heiligen Geist empfangen. Daher lehnten Judenchristen die „heidnisch“ beeinflusste Theologie des Apostels Paulus entschieden ab.13 „Heidnische“ Beeinflussung sahen Judenchristen vor allem darin, dass Paulus seine Briefe vorwiegend an die Christen des griechisch-römischen Kulturraums richtete, denen aus ihren bisherigen Religionen die Vorstellung geläufig war, dass Gott mit Menschenfrauen einen Sohn zeugte. Paulus formulierte seine Botschaft von der „Gottesnähe Jesu“ deshalb in der Weise, dass die Christen ohne jüdischen Hintergrund die theologische Essenz besser verstehen konnten. Und der Erfolg gab ihm Recht: Die Heidenchristen stellten im Verlauf von nur einem Jahrhundert die überwiegende Mehrheit unter den Bekehrten.
Der Konflikt zwischen Judenchristen und Heidenchristen äußerte sich auffallend gerade auch in den Briefen des Apostels Paulus. So etwa in einem Brief an den Christen Titus:
„Denn es gibt viele, die sich nicht unterordnen, Schwätzer und Verführer […]. Ihnen muss man den Mund stopfen, da sie ganze Hausgemeinschaften durch ihre ungehörigen Lehren zerstören, […] so sind sie abscheuliche und widerspenstige Menschen, unbrauchbar zu jeder guten Tat.“ (Titus 1,10-16)
Diese und andere Briefe des Paulus an christliche Gemeinden im Römischen Reich waren noch vor den Evangelien entstanden und gehören damit zu den frühesten schriftlichen Zeugnissen einer gerade erst sich formenden Religion. Paulus kritisierte hier scharf Juden, die sich zum Christentum bekehrt hatten, und bekannte sich zu jenen Christen, die zuvor „Heiden“ gewesen waren. Solche Briefe von Paulus zeigen also, dass sich schon rund zwanzig Jahre nach dem Tod Jesu eine erste Spaltung in Glaubensfragen anbahnte. Und Paulus verteidigte seine unversöhnlich aggressive Haltung mit folgenden Worten in einem Brief an die Galater, Christen der römischen Provinz Galatia: