Kriegstüchtigkeit & neue US-Atomraketen? NEIN DANKE! -  - E-Book

Kriegstüchtigkeit & neue US-Atomraketen? NEIN DANKE! E-Book

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Gerechter Frieden« = Krieg bis zum (End-)Sieg?

Artur Pech

Frau von der Leyen spricht gerne vom »gerechten Frieden« für die Ukraine. Viele von gleichem Schrot und Korn tun es ihr gleich. Dafür brauche es nur mehr Waffen für die Ukraine– also mehr Krieg, mehr Verwüstungen, mehr Tote… bis zum Sieg über Russland. So hat es das EU-Parlament beschlossen: »den Sieg der Ukraine zu sichern«. »Alle EU-Mitgliedstaaten und NATO-Verbündeten« sind aufgefordert, »jährlich mindestens 0,25 % ihres BIP für die militärische Unterstützung der Ukraine aufzuwenden«.

Für die Bundesrepublik Deutschland wären das jährlich 10Mrd. € allein für die Kriegsführung in der Ukraine. 28Milliarden Euro hat die deutsche Regierung bereits zur Verfügung gestellt, beziehungsweise für die kommenden Jahre zugesagt, was der Hauptgrund für die Auseinandersetzungen um Einsparungen im Bundeshaushalt 2025 ist. Die Erzählung vom »gerechten Frieden« soll uns allen den »Krieg bis zum Sieg« nur schmackhafter machen. Denn die Frage: »Wollt Ihr den totalen Krieg?« ist vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte immer noch nicht mehrheitsfähig.

Seit Jahrzehnten gilt die Auffassung, Frieden müsse mehr sein, als die Abwesenheit von Krieg. Das ist und bleibt richtig. Wer dieses »mehr« aber als Rechtfertigung dieses Stellvertreterkrieges bis zum »gerechten Frieden« missbraucht, hat vergessen: Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. Und zum Thema »Gerechtigkeit« nur zwei Gedanken.

Der eine: Wer immer Putin durch Krieg zum Teufel schicken und erst danach über Frieden mit Russland nachdenken will, sollte nicht vergessen: Der hat die (atomaren) Mittel, uns alle mitzunehmen. Das entschuldigt nichts, macht aber das Problem derer deutlich, die den Krieg gewinnen wollen. Da gilt dann nicht mehr nur im übertragenen Sinne: »Fiat iustitia et pereat mundus« (Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde). Wie gerecht kann eine Politik sein, die das durch Krieg und »Stellvertreterkriege« heraufbeschwört?

Der andere: »Welche ›legitimen Interessen‹ der jeweils anderen Seite sind zu respektieren von Staaten(blöcken), die in der Lage sind, sich gegenseitig zu vernichten?« Was kann im Angesicht einer möglichen Allesvernichtung in einem Atomkrieg noch als »gerechter« Kriegsgrund gelten?

Den Verfechtern des »gerechten Friedens« und den ihnen dienenden Medien ist es gelungen, diese Fragen aus dem öffentlichen Diskurs zu verdrängen.

Kriege werden erst aufhören, »wenn die kapitalistische Wirtschaftsordnung beseitigt ist oder wenn die Größe der durch die militär-technische Entwicklung erforderlichen Opfer an Menschen und Geld und die durch die Rüstungen hervorgerufene Empörung der Völker zur Beseitigung dieses Systems treibt«.

Die Allesvernichtung in einem atomaren Inferno ist das größtmögliche Opfer und eine höchst akute Gefahr. Diese Erkenntnis in das öffentliche Bewusstsein zu heben und nicht zuzulassen, dass sie durch die Kriegsformel vom »gerechten« Frieden vernebelt wird, ist eine Voraussetzung für das gemeinsame Überleben und letztlich dafür, dass die Empörung der Völker zur Beseitigung dieses Systems treiben kann.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 377

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Einwurf von Links

In gemeinsamer Sache

Herzlichen Glückwunsch Beate!

Unsere langjährige Mitherausgeberin, Autorin und Redakteurin Beate Landefeld ist im September 80 geworden. Wir gratulieren ihr ganz herzlich auch von dieser Stelle und verweisen unsere Leser:innen auf das Buch, das wir aus diesem Anlass herausgegeben haben und den Auszug daraus. (siehe Seite 18 f.)

Dank und Anerkennung aus Jena

„Lieber Lothar, meinen herzlichen Dank für Deine Aufmerksamkeit anlässlich des 10. August 2024 und für die ebenso überraschende wie erfreuliche Würdigung in den MB, womit ich auch Raimund Ernst für seinen Beitrag danke. Der Rückblick auf unsere persönliche Beziehung sowie damit die Mitwirkung an den MB gehört zu den für mich wichtigen und erfreulichen Posten in einer nun – aus Alters- und familiären Gründen – zurückgezogenen Lebensweise. Bei dieser Gelegenheit meine Anerkennung für den andauernden wesentlichen und anspruchsvollen Beitrag, den die MB in akut krisenhaften und bedrückenden Zeiten und ihren Perspektiven leisten.

Mit den besten Wünschen und herzlichen Grüßen an Dich und Deine Mitstreiter.

Ludwig (Elm)“

»Von anderen gelesen« – 1

Das »Was tun?! Netzwerk« hat in seinem August-Newsletter den »Einwurf von links« von Artur Pech zum Thema »Gerechter Frieden« aus dieser Ausgabe der Marxistischen Blätter im Vorabdruck veröffentlicht.

»Von anderen gelesen« – 2

Auch das gewerkschaftsforum.de hat wieder einen Artikel aus den Marxistischen Blättern verbreitet. In seinem Newsletter vom 16. August nämlich den Artikel von Klaus Jünschke »Für eine Gesellschaft ohne Gefängnisse«. https://gewerkschaftsforum.de/fuer-eine-gesellschaft-ohne-gefaengnisse/#more-20354

»Von anderen gelesen« – 3

Der Verein demokratischer JuristInnen (vdj) wies seine Mitglieder im Info 7/2024 auf die Marxistischen Blätter hin und verlinkte gleich zum Inhaltsverzeichnis Schwerpunkt »Abolitionismus«

Mit dem Thema »Abolitionismus«, der grundsätzlichen Kritik am strafenden Staat, befasst sich das neueste Heft der »Marxistischen Blätter«. Aus unterschiedlichen Perspektiven werden Strafsystem, Gefängnisse und Polizei in elf Schwerpunktbeiträgen unter die Lupe genommen. Der breite Themenspielraum umfasst die Utopie einer »Gesellschaft ohne Gefängnisse«, die Armutsgefahr von Gefangenen, aber auch Momente von Freiheit hinter Gittern beim Gefangenentheater aufBruch. Damit setzt das Heft den zaghaften Entkriminalisierungsvorschlägen der Bundesregierung ein grundsätzliches Nachdenken über das Strafen entgegen.

Zahl des Monats: Platz 4,5 von 5

Die Marxistischen Blätter rangieren in der organisationspolitischen Prioritätenliste der derzeitigen DKP-Führung auf Platz 4,5 von 5 (also ganz weit hinten!). So zu lesen im Referat der 6. PV-Tagung 2024. Vor dem Hintergrund der gewaltigen Herausforderungen, vor denen alle marxistischen Kräfte und auch die DKP unbestritten stehen, stellt sich die Frage, ob die Marxistischen Blätter hier richtig eingestuft sind bzw. auch die Frage, wie dieses »Down-Ranking« begründet wird. LoG

Kommentare

Die Rückkehr der (Atom-)Raketen

Fred Schmid (isw)

Eher beiläufig gaben Kanzler Scholz und Präsident Biden am Rande der NATO-Jubiläumskonferenz im Juli 2024 in Washington bekannt, dass ab 2026 auf deutschem Boden wieder Mittelstrecken-Raketen aufgestellt werden, und zwar Cruise missiles vom Typ »Tomahawk« mit einer Reichweite von etwa 2.500 – also bis tief nach Russland hinein. Dazu ist die Installation von SM 6-Flugabwehr-Raketen mit einer Reichweite von 370 km und 3,5-facher Schallgeschwindigkeit plus neue Hyperschall-Raketen verabschiedet.

Die Marschflugkörper können konventionelle wie atomare Sprengköpfe tragen. Angeblich werden sie nur konventionell bestückt, was ein Beschwichtigungsmanöver sein dürfte. Denn kein Militär schießt eine konventionelle Rakete 2.500 km weit, nur um ein Loch in einen Bunker zu sprengen. Zudem kann keine deutsche Behörde die Bestückung überprüfen, da die Raketen auf US-Militäreinrichtungs-Geländen in Deutschland stationiert werden, auf denen deutsches Hoheitsrecht endet.

Auf Deutschland fällt die erste Bombe

Wenn es noch eines Beweises für die enge Verzahnung des deutschen Militär-Industrie-Komplexes mit dem Militär- und Kriegsgeflecht der USA bedurfte, hier ist er: Die neuen Mittelstrecken-Raketen werden in Europa diesmal allein in Deutschland stationiert. Mit den neuen Raketen wird das Pulverfass Deutschland weiter hochexplosiv aufgeladen. Sie kommen zu den deutschen Atombombern mit US-Atombomben auf dem Fliegerhorst Büchel dazu, zur Ramstein Air Base, der größten US-Luftwaffenbasis im Ausland, zur Kommandozentrale für US-Drohnen-Killer- und Kampfeinsätze insbesondere im Nahen Osten und in Afrika, zu diversen US-Hauptquartieren, Truppenübungsplätzen, usw. usf. Kein Land der Welt ist so intensiv und massiv mit US-Soldateska und -Militäreinrichtungen bestückt, wie Deutschland.

Wann immer es in Europa zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, wäre Deutschland im Fokus. Kein Zweifel: Auf Deutschland fällt die erste Bombe! Unser Land würde zum atomaren Schlachtfeld. Die USA aber würden dagegen von Mittelstrecken-Raketen nicht erreicht.

Die ganz große Raketenkoalition aus Ampel-Regierung und CDU/CSU-Opposition sieht darin kein Problem. Sie giert geradezu nach den neuen Waffen. Das SPD-Präsidium preist sie gar als Friedenstauben speziell für Kinder (s. u.). Der SPD-Vorsitzende Klingbeil ließ noch in der Sommerpause im Eilverfahren eine Zustimmungserklärung durch das SPD-Präsidium peitschen, um die Diskussion in der Partei im Keim zu ersticken. Ihm selbst wird Affinität zum MIK nachgesagt. Jahrelang war er in den Präsidien der Rüstungs-Lobbyorganisationen Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik und Förderkreis Deutsches Heer aktiv.

In dem SPD-Präsidiumsbeschluss heißt es u. a. »Als SPD übernehmen wir Verantwortung dafür, dass kein Kind, das heute in Deutschland geboren wird, wieder Krieg erleben muss. Die Vereinbarung der SPD-geführten Bundesregierung mit der US-Administration, ab 2026 US-amerikanische Raketen mit größerer Reichweite in Deutschland zu stationieren, ist dafür ein wichtiger Baustein.«

Erstschlag-Option

Weshalb sind die geplanten Mittelstrecken so gefährlich? Sie würden für Russland eine tödliche Bedrohung darstellen: aufgrund der geringen Vorwarnzeit und der Zielgenauigkeit dieser Systeme. …

Das kann zu neuen Szenarien des »führbaren Atomkrieges« verleiten, wie sie die USA nach dem Abwurf der Atombomben immer wieder anstrebten. Durch präventive »chirurgische Erstschläge«, so genannte Enthauptungsschläge, sollen militärische Kommandozentralen vernichtet und die gegnerischen Atomraketen noch am Boden bzw. noch in den Silos zerstört werden. Die wenigen übrigen Raketen, die vom Angegriffenen noch auf die Flugbahn gebracht werden können, sollen dann durch die Raketen-Abwehrsysteme abgefangen und unschädlich gemacht werden.Die Raketenabwehr ist kein defensives System, sondern Teil einer atomaren Offensivstrategie.

»Fähigkeitslücke« oder ­Gedächtnis-Lücke

Der Vorwand für den einseitigen Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag1: Russland habe gegen den Vertrag verstoßen, indem es neue Raketenstellungen installiert habe. Beweise? Keine!An der Beweislage hat sich bis heute nichts geändert. Häufig werden die in Kaliningrad installierten Iskander-Raketen als »Beweise« angeführt, auch von den »Militärexperten« der Stiftung Wissenschaft und Politik (Claudia Major) und Bundeswehr-Professoren (z. B. Carlo Masala) wird das immer wieder erzählt. Es ist schon peinlich, wenn so genannte »Militärexperten« offensichtlich nicht zwischen Kurzstrecken-Raketen bis 500 KM – z. B. die in Kaliningrad installierte Iskander – und Mittelstrecken-Raketen unterscheiden können.

Zudem: Zu etwaigen Verstößen gab es im INF-Vertrag klare Verifizierungsmechanismen, die von den USA nicht genutzt wurden. So schreibt die NaturwissenschaftlerInnen-Initiative: »Wenn es Verletzungen des INF-Abkommens gegeben haben sollte, hatte das INF-Vertragswerk dazu klare Regelungen. Die entsprechende Kommission der beiden Unterzeichnerstaaten muss einberufen werden. Dieses ist seit 2017 nicht mehr geschehen. Propagandistische Anklagen helfen nicht weiter und lenken von den wahren Motiven ungehemmter Aufrüstung ab.« (natwiss.de, 22.10.18). Und die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik wies bereits im März 2018 darauf hin: »Um die gegenseitigen Vorwürfe auszuräumen, wären wechselseitige Informationen und Inspektionen notwendig. Dazu müsste das 2001 beendete INF-Inspektionsregime reaktiviert und modifiziert werden« (SWP-aktuell, 15. März 2018).

2001 ist auch das Jahr, in dem die USA einseitig den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic-Missile: Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen) kündigten und in der Folgezeit mit der Errichtung von ABM-Stellungen in Europa begannen. Die USA verweigerten jede Inspektion vor Ort.

Eine russische Vertragsverletzung wird einfach behauptet und daraus eine »Fähigkeitslücke« (Scholz) der westlichen Raketenrüstung abgeleitet, die wieder einmal zur »Nachrüstung« herhalten soll. Als Juso-Fuktionär und Nachrüstungsgegner in den 1980er Jahren, wusste Scholz es besser, was von solchen behaupteten Waffen-»Lücken« zu halten ist. Schade, dass sich bei ihm da eine Gedächtnislücke auftut.

Leicht gekürzt aus: Die Rückkehr der (Atom-) Raketen (isw-muenchen.de)

1 Im INF-Abkommen (Intermediate-Range Nuclear Forces) verpflichteten sich die beiden atomaren Supermächte auf Entwicklung, Besitz und die Stationierung landgestützter Atomraketen (damals Pershing II und cruise missiles »Tomahawk«) mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern zu verzichten. Der INF-Vertrag war bislang das einzige Abkommen, das zu einer realen Atom-Abrüstung geführt hat; insgesamt 2692 Raketen wurden verschrottet. Die Atomkriegs-Gefahr in Europa schien weitgehend gebannt, bis der damalige US-Präsident Donald Trump am 20. Oktober 2018 einseitig den INF-Vertrag kündigte; zum 1. Februar 2019 stiegen die USA aus dem Vertragswerk aus. Russland zog nach.

Das politische Mandat als Antwort auf die multiple Krise

Ulrike Eifler

Die aktuellen Kriegsentwicklungen müssen in eine Welt eingeordnet werden, in der sich die verschiedenen Krisen nicht unverbunden und unabhängig voneinander entwickeln, sondern ineinandergreifen und sich gegenseitig verstärken. Die Gewerkschaften müssen darauf mit der Wahrnehmung des politischen Mandates reagieren und dieses vollumfänglich ausbuchstabieren – ebenso umfänglich wie sich die Krisen vor uns ausbreiten. Eine bloße Beschränkung auf die tariflichen Kernfelder – deren Bearbeitung ohne Zweifel wichtig ist – würde der Komplexität der gesellschaftlichen Krisensituation jedoch nicht gerecht werden.

Die Wahrnehmung des friedenspolitischen Mandats durch die Gewerkschaften spielt dabei eine ganz entscheidende Rolle. Denn der Aufrüstungskurs der Bundesregierung ist auf mindestens sechs unterschiedlichen Ebenen ein Generalangriff auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnabhängigen und ihrer Familien.

Warum? Weil erstens die Tarifpolitik durch den Krieg in der Ukraine vor besondere Herausforderungen gestellt wird. Bereits in den ersten Monaten des Ukraine-Krieges hat sich gezeigt, dass der inflationsbedingte Kaufkraftverlust tarifpolitisch nur schwer auszugleichen war. Der Anstieg der Löhne ist 2022 nahezu unverändert geblieben, der Anstieg der Preise aber hat sich vervielfacht.

Zweitens: Geht die Aufrüstung derart unvermittelt weiter, wird die Umverteilung von unten nach oben weiter voranschreiten und die Armut sehr wahrscheinlich zunehmen. Im Zuge der Haushaltsberatungen bereitet die Bundesregierung Sozialkürzungen vor. In internen Gesprächen soll Christian Lindner bereits die notwendigen »Brutalitäten in den Sozialsystemen« eingefordert haben. Die Diskussionen über Bürgergeld, Kindergrundsicherung oder Rente waren erst der Anfang – mit großer Wahrscheinlichkeit werden wir weitere Einschnitte zu erwarten haben. Dass dabei selbst vor der Nutzung des Goebbels-Zitates – »Kanonen statt Butter« – nicht zurückgeschreckt wird, ist eine neue Qualität, die von den Gewerkschaften mit Nachdruck zurückgewiesen werden muss.

Drittens: Aufrüstung und Krieg werden die ökologische Zerstörung beschleunigen … Allein der F-35-Kampfjet stößt pro Stunde mehr CO2 aus, als ein Deutscher im Jahr verursacht. Mit jedem Euro, den die Bundesregierung für die Aufrüstung der Bundeswehr genehmigt, treibt sie die negative Klimabilanz in die Höhe.

Viertens: Die IG Metall fordert in den nächsten zehn Jahren insgesamt 600 Milliarden Euro für die Gestaltung der Transformation, für Klimaschutzanpassungen und den Aufbau der Infrastruktur. Die Bundesregierung aber dreht gerade jeden Stein im Haushalt zweimal um, um weitere Millionen in die Rüstung zu stecken. Wo also soll das Geld für den ökologischen Industrieumbau herkommen? Gleiches gilt für den Erhalt der öffentlichen Infrastruktur – es ist zu befürchten, dass der Teil der Infrastruktur, der für die militaristische Zeitenwende notwendig ist, wie Straßen, Brücken und Lazarette, ausgebaut werden wird, während der Teil weiter verfallen wird, der für die Zivilgesellschaft zentral ist wie Schulen, Kindergärten und öffentliche Krankenhäuser.

Fünftens: Der Aufrüstungskurs führt zu einer Einschränkung der Demokratie. Schon jetzt wird deutlich, dass die Unterordnung aller gesellschaftlichen Sphären unter die außenpolitische Linie der Bundesregierung den öffentlichen Meinungskorridor verengt. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, wir könnten in den Betrieben die Mitbestimmung ausweiten, während die Gesellschaft immer autoritärer wird. Hinzu kommt, dass sich schon jetzt abzeichnet, dass das Bündnis von Regierung und Industrie einen Angriff auf demokratische Grundrechte nach sich ziehen könnte. Der Chef des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, forderte bereits »eine Kriegswirtschaft«, Notstands-Paragraphen und den Einsatz der Bundeswehr im Landesinneren. Dass eine Unterordnung weiter Teile der Gesellschaft unter die außenpolitische Linie der Bundesregierung – und nichts anderes meint Kriegswirtschaft – auch zu einer Unterdrückung von Tarifverhandlungen und Streikrecht führen kann, machte Verkehrsminister Volker Wissing deutlich, als er erklärte, dass im Kontext des Ukraine-Krieges der Streik bei der Deutschen Bahn nicht zum Sicherheitsrisiko werden dürfe. Warnung sollte aber vor allem der Blick in die Geschichte sein: Während UNSERE Gewerkschaften unter Hitler zerschlagen wurden, entwickelten sich IHRE Rüstungsunternehmen zu nationalsozialistischen Musterbetrieben. Historisch sticht die Rüstungsindustrie durch ihre besondere Kooperationsbereitschaft mit dem deutschen Faschismus und eine eifrige Bereitwilligkeit, an Tod und Zerstörung verdienen zu wollen, hervor.

Und sechstens: Mit all dem schwächt der Aufrüstungskurs der Bundesregierung die Gewerkschaften. Die Konzertierte Aktion war der offensichtlichste Versuch, diese bei der Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen zu disziplinieren. Aber auch darüber hinaus ist klar: In einer gesellschaftlichen Atmosphäre von Sozialabbau, Inflation, wachsender Verunsicherung und Rechtsruck werden nicht die Forderungen der Gewerkschaften, sondern die der Arbeitgeber Auftrieb bekommen, was die Kampfkraft der Gewerkschaften untergraben wird.

Die Friedensfrage wird für die Gewerkschaften also immer wichtiger. Mehr als zweihundert Kriege und bewaffnete Konflikte gibt es derzeit weltweit. Besonders nah sind der furchtbare Krieg in der Ukraine und der abscheuliche Krieg gegen die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza. Insbesondere die Diskussion über die Bombardierung Gaza wird in den deutschen Gewerkschaften ausgesprochen umstritten geführt. Dabei war richtig, dass die Gewerkschaften nach 1945 – als der Mantel des Schweigens über die Verbrechen des Faschismus ausgebreitet werden sollte – nicht geschwiegen haben. Es war richtig, dass sie die Diskussion über Kriegsverbrechen und Holocaust eingefordert haben. Und es war richtig, dass sie durch den Aufbau von Patenschaften nach Israel eine wertvolle Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit geleistet haben. Aber heute dürfen sie nicht schweigend daneben stehen, wenn eine ultrarechte Regierung eine Kollektivbestrafung an der palästinensischen Bevölkerung vornimmt – heute müssen sie an der Seite der israelischen Friedensbewegung und an der Seite ihrer palästinensischen Kolleginnen und Kollegen stehen, die ein Ende der Bombardierungen in Gaza fordern.

Aus all diesen Gründen ist es notwendig, dass die Gewerkschaften ihr gesellschaftspolitisches Mandat wahrnehmen, dass sie es nicht nur sozial- und wirtschaftspolitisch ausfüllen, sondern auch friedenspolitisch, ökologiepolitisch und demokratiepolitisch. Die multiple Krisensituation – oder wie Ingar Solty es nennt: die Sechs-Dimensionenkrise – erfordert es, dass die Gewerkschaften die gesellschaftlichen Entwicklungen in ihrer Gesamtheit betrachten, dass sie die Zusammenhänge sehen und das politische Mandat als ein inhaltlich allumfassendes Mandat definieren.

Kein Interesse an Demokratie

Macron wurde abgewählt – und ignoriert das geflissentlich

Valentin Zill

Wie absurd die viel bemühte Dichotomie bürgerlicher »Demokratie« vs. »Autoritarismus« ist, zeigt sich in Frankreich gerade wie unter einem Brennglas.

Zur Erinnerung: Bei der EU-Wahl am 9. Juni 2024 hatten dort die drei faschistischen Parteien Rassemblement national (RN), Reconquête und Union Populaire Républicaine (UPR) zusammen fast 40 Prozent der Stimmen geholt. Der große Verlierer war die Liste Besoin d’Europe, auf der Renaissance antrat, die Partei von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Sie bekam weniger als 15 Prozent der Stimmen – nicht einmal halb so viele wie RN. Noch am Wahlabend kam Macron einer Forderung der Partei Marine Le Pens nach und verkündete die Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen am 30. Juni und 7. Juli.

Mit diesem Schritt, ausgeheckt im kleinen Kreis, erschreckte er sogar enge Vertraute. Über die Motive wurde gerätselt. War Macron tatsächlich so vermessen, zu glauben, er könne diese Wahl trotz der krachenden Niederlage so kurz vorher gewinnen? Wünschte er sich einen RN-Sieg – weil er mit einer faschistischen Mehrheit im Parlament gut leben kann, oder in der geschichtsvergessenen Annahme, das rechte Pack werde sich selbst entzaubern, wenn es bis zur Präsidentschaftswahl 2027 die Regierung stellte? Sicher ist, dass Macron die Zersplitterung der – mehr oder weniger – linken Kräfte ausnutzen wollte mit seiner Überrumpelungstaktik. Die Parteien hatten keine Woche Zeit, ihre Kandidaten aufzustellen. »Und im Übrigen wünsche ich der Linken viel Glück dabei, sich zu vereinigen«, höhnte Macron.

In Rekordzeit beschlossen La France insoumise (Lfi), die Französische Kom­mu­nis­tische Partei (PCF), die ehemals sozialdemokratische Parti socialiste (PS), Les Écologistes und diverse Kleinparteien, gemeinsam zur Wahl der Nationalversammlung anzutreten. Die Nouveau Front populaire (NFP), »Neue Volksfront«, sollte einen RN-Sieg verhindern, indem jeweils nur ein Kandidat der teilnehmenden Parteien je Wahlkreis antrat.

Die Unzufriedenheit über Macrons Politik ist immens. 2017 und 2022 wählten ihn die Franzosen als kleineres Übel zum Staatspräsidenten, um einen Sieg Marine Le Pens zu verhindern. Beide Male bedankte er sich bei linken Wählern, beide Male versprach er, nicht zu vergessen, wem er seine Siege verdankt. Dafür zeigte er sich in homöopathischen Dosen erkenntlich: gar nicht. Macron verschärfte die Umverteilung von unten nach oben und machte sich daran, die letzten Reste des Sozialstaats zu zerstören. Die Armut wuchs massiv, die Vermögen der 500 reichsten Franzosen auch, um 115 Prozent in sieben Jahren. Seine per Dekret erlassene »Rentenreform« trieb Millionen Franzosen auf die Straße, monatelang. Weitere Schweinereien hat er bereits angekündigt: einen Großangriff auf die Arbeitslosenversicherung, eine »Arbeitsmarktreform« und drastische Haushaltskürzungen, um den EU-Grenzwert für Haushaltsdefizite bis 2027 wieder einzuhalten.

An dieser Unzufriedenheit setzte NFP mit einem Sofortprogramm für die ersten 100 Tage nach einer Regierungsübernahme an. Die Forderungen darin sind kurz, knapp und konkret: Die Abschaffung der »Rentenreform«, eine Erhöhung des Mindestlohns auf 1.600 Euro pro Monat, die Einführung eines automatischen Inflationsausgleichs für Löhne und Gehälter und eine Deckelung der Preise für Nahrungsmittel, Energie und Treibstoff sind zentrale Punkte. NFP positionierte sich damit als Alternative zur Regierungspolitik und RN. Das gilt nicht für alle wichtigen Fragen. In der essenziellen Frage des Ukraine-Kriegs sind die Unterschiede zwischen allen relevanten Parteien Frankreichs gering: Macron will Soldaten und Mittelstreckenwaffen nach Kiew schicken, NFP Blauhelmsoldaten statt französischer plus »notwendige Waffen«, RN zwar keine Soldaten und keine Raketen, die Russland treffen können – sein Vorsitzender Jordan Bardella hatte aber versprochen, die »Unterstützung« der Ukraine fortzuführen.

Das Sofortprogramm überzeugte viele. Entgegen sämtlichen Umfragen vor der Wahl wurde RN nur drittstärkste Kraft, Macrons Partei verlor weniger Stimmen als prognostiziert, und NFP gewann die Wahl. 193 der 577 Sitze der Nationalversammlung gingen an NFP. 289 wären nötig für eine stabile Regierungsmehrheit.

In der Fünften Republik ist es Usus, dass die stärkste Parlamentsfraktion den Premierminister stellt. Auch dann, wenn sie über keine absolute Mehrheit verfügt. Wie 2022, als Macron seine Parteifreundin Élisabeth Borne zur Premierministerin ernannte. Eine NFP-Minderheitenregierung stünde, so wackelig sie wäre – sie könnte jederzeit per Misstrauensvotum abgesetzt werden –, Macrons »Reformvorhaben« im Weg.

Deshalb ignoriert Macron den Sieg der NFP geflissentlich. Trotz erheblicher politischer Differenzen und nach entsprechend harten Debatten hat sich das Bündnis Ende Juli darauf geeinigt, Lucie Castets für das Amt der Premierministerin vorzuschlagen. Die 37-jährige war bis 2011 Mitglied der PS, ist seitdem parteilos und berät aktuell die Pariser Bürgermeistern Anne Hidalgo in Finanzfragen. Der Präsident spielt auf Zeit. Bis nach den Olympischen Spielen soll eine »technische Regierung« an der Macht bleiben, geführt vom bisherigen Premierminister Gabriel Attal. Macron nannte nicht einmal Castets Namen, als er wenige Stunden nach dessen Bekanntgabe schwadronierte, es gehe nicht um eine Personalie, sondern darum, Ende August eine breite Mehrheit im Parlament zu finden, die handlungsfähig sei und dem Land Stabilität gebe. Das könnte klappen, sollte NFP sich spalten lassen und RN mitmachen.

Mit »Handlungsfähigkeit« meint Macron das Ignorieren des Wählerwillens, mit »Stabilität« das zuverlässige Umsetzen der Wünsche des »Arbeitgeberverbands« MEDEF. Nach sieben Jahren Macronie ist nicht mehr viel übrig von der bürgerlichen Demokratie in Frankreich. Gesetze lässt der Präsident im Zweifelsfall am Parlament vorbei dekretieren. Das Demonstrationsrecht hat er sturmreif geschossen, den Sozialstaat so weit gestutzt, dass Millionen Franzosen damit beschäftigt sind, ihr blankes Überleben zu sichern. Unangenehme Wahlergebnisse ignoriert er schlicht. Die bürgerliche Demokratie braucht keine Faschisten, um abgeschafft zu werden. Dieses Geschäft betreibt Macron selbst, noch stärker als seine Vorgänger, die Frankreich Schritt für Schritt nach rechts geführt, kaputtgespart und ausgeplündert haben. Linke Kräfte haben dem zu wenig entgegengesetzt. Immer mehr Franzosen halten faschistische Parteien für »Alternativen« zur herrschenden Politik. RN kann sich entspannt zurücklehnen und zuschauen, wie Macron ihm noch mehr Wähler zutreibt. Die Uhr tickt. Wenn Macron fertig ist, übernimmt Le Pen.

Wählen zu gehen lohnt sich nicht, hat Macron den Franzosen beigebracht. Wer die Demokratie retten möchte, muss jetzt auf die Straße – gegen die Faschisten, gegen die Macronisten, gegen die Bürgerlichen. Frankreichs herrschende Klasse hat offenkundig kein Interesse mehr daran, sie zu erhalten.

Die Europawahlen aus Sicht eines US-Linken

Greg Godels

Die jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament haben die etablierten europäischen Parteien und ihre internationalen Freunde und Verbündeten schockiert. Die 720 Mitglieder zählende europäische Legislative war weitgehend das Dienstmädchen der Technokraten in Brüssel, die die wirtschaftliche und soziale Richtung der Europäischen Union bestimmen. Seit ihrer Gründung hat die EU ein stabiles, verlässliches Gesicht der kapitalistischen Herrschaft gezeigt, das auf Marktfundamentalismus, der Minimierung von Markteingriffen und der Verlangsamung oder gar Umkehrung des Wachstums des öffentlichen Sektors beruht. Die breite rechte und linke Mitte – die traditionellen wirtschaftsfreundlichen, liberalen und sozialdemokratischen Parteien – haben sich bei der Durchsetzung dieser Agenda geeinigt.

Angesichts der Demoralisierung oder des Niedergangs der antikapitalistischen Linken hat es kaum Widerstand gegen den Vormarsch des EU-Programms gegeben.

In die Lücke, die eine marginale oder jetzt zaghafte antikapitalistische Linke hinterlassen hat, ist eine neue Welle von Rechtspopulisten getreten, die sich darauf vorbereiten, die wachsende Massenunzufriedenheit mit dem Kapitalismus des 21. Jahrhunderts und seinen politischen Verwaltern auszunutzen. Die wirtschaftlichen Rückschläge, der stagnierende oder sinkende Lebensstandard, die unzureichende Sozial- und Beschäftigungssicherheit, die Ungleichheit, der soziale Unfrieden und die Vertreibung, die die europäischen Arbeitnehmer erleiden, schreien nach einem politischen Ausdruck. Rechte Opportunisten antworteten auf diese Rufe gerne mit hohlem Nationalismus, ungezielten Schuldzuweisungen und kulturellem Antielitismus.

In ganz Europa wetteifern neue und umgestaltete Parteien wie die Freiheitspartei Österreichs, die Nationale Sammlungsbewegung Frankreichs, die Alternative für Deutschland, die Fidesz-Partei Ungarns, die Lega Italiens und die Brüder für Italien, die Partei für die Freiheit der Niederlande, die Vox Spaniens und viele andere darum, den von der antikapitalistischen Linken geräumten oder vernachlässigten Raum der radikalen Opposition zu füllen. Während die europäischen kommunistischen Parteien immer auf eine weitaus stärkere Proteststimme außerhalb ihrer Kernmitgliedschaft zählen konnten, geht die Proteststimme jetzt standardmäßig an die populistische Rechte.

Um die rechtspopulistische Flut einzudämmen, haben verschiedene Strategen neue Bündnisse, Vereinbarungen zur Machtteilung und sogar technokratische Regierungen ausgearbeitet. Neue »linke« populistische Parteien – Syriza, PODEMOS, France Insoumise – entstanden, um die Unterstützung der gleichen Massenwut und Frustration zu erhalten, die von der populistischen Rechten ausgenutzt wird. Doch keiner dieser vermeintlichen Antworten auf den Rechtspopulismus ist es gelungen, dessen Vormarsch einzudämmen oder umzukehren. Die Wahlen zum Europäischen Parlament Mitte Juni haben in vielerlei Hinsicht einen neuen Höhepunkt für den Rechtspopulismus markiert. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland – den beiden Ankern des Eurozonenprojekts – hat die Rechte spektakuläre Zugewinne erzielt …

In Deutschland wurde die rechtsextreme, halbpopulistische Alternative für Deutschland (AfD) zur zweitstärksten Partei hinter den Christdemokraten und erhielt mehr Stimmen als jede der einzelnen Parteien der Regierungskoalition. Die kriegsbegeisterten Grünen wurden bei dieser Wahl besonders hart getroffen und verloren neun Sitze.

Obwohl die AfD weniger als die RN versucht hat, sich von faschistoiden Hinterlassenschaften zu säubern, erhält sie dennoch viel Unterstützung von Protestwählern aus der Arbeiterklasse. Die ARD-Umfrage ergab, dass »ganze 44 % die AfD aus Enttäuschung über andere Parteien gewählt haben«.

Und so ist auch ein Großteil der Wählerunterstützung für die populistische Rechte zu verstehen. Die traditionelle Rechte hat ihre Unterstützung seit langem aus dem Bürgertum, den kleinen Unternehmen und den Berufsschichten bezogen: diejenigen, die ihren Status in einer kapitalistischen Gesellschaft schützen. Die populistische Rechte, die diesen Ansatz noch einen Schritt weiter verfolgt – durch Nostalgie, unangebrachte Schuldzuweisungen, falschen Anti-Elitismus und das falsche Versprechen eines lebensverändernden Wandels – appelliert an die Massen: diejenigen, die der kapitalistischen Gesellschaft entfremdet sind. Wenn man die Menschen nicht zynisch für ihre schlechten Entscheidungen abtun oder sie hochmütig für ihr schlechtes Urteilsvermögen schelten will, muss man zu dem Schluss kommen, dass die bestehenden linken Parteien die Massen im Stich gelassen, ihre Glaubwürdigkeit verloren und die Führung bei den populären Themen aufgegeben haben, so dass der Rechtspopulismus die Lücke füllen konnte …

Sie tun es heute, weil die französische Kommunistische Partei ihre historische Rolle als Vorkämpferin der Arbeiterklasse aufgegeben hat und weder den Arbeitern zuhört noch ihre Interessen an die Spitze ihrer Agenda stellt. Die italienische Partei hat sich vor fünfunddreißig Jahren selbst aufgelöst und den Weg für jahrzehntelange politische Farce und falschen Populismus in der italienischen Politik geebnet. Und die kapitalistische Plünderung der ehemaligen sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik hat die Saat der Verzweiflung gepflanzt, aus der die AfD entstanden ist.

Aber es muss nicht so sein. Die unerzählte Geschichte der Wahlen zum Europäischen Parlament offenbart eine Welt der Möglichkeiten.

Die beeindruckenden Zugewinne der Linken in Griechenland und Deutschland wurden von den Medien geflissentlich übersehen. In beiden Fällen zogen Arbeiterparteien, prinzipientreuer Sozialismus, kämpferischer Antiimperialismus und das Versprechen auf Frieden die Wähler an. Während die schwachbrüstige, entkoffeinierte Linke mit der Angst vor der Rechten und der Verteidigung der Außenpolitik der Europäischen Union Wahlkampf machte, überraschten die griechische Kommunistische Partei und eine neue, radikale deutsche Partei die Beobachter mit deutlichen Zugewinnen.

Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) konnte ihren Stimmenanteil im Vergleich zu den letzten Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2019 fast verdoppeln. Auch die Ergebnisse lagen deutlich über den Parlamentsanteilen des letzten Jahres. Ihre Stärke zeigte sich vor allem in Attika und in städtischen Gebieten und Arbeitervierteln. Diese Gewinne wurden aufgrund der prinzipiellen Haltung der KKE erzielt, obwohl sie gegen den kapitalistischen und kriegerischen EU-Trend schwamm, den alle anderen Parteien teilen. Die KKE zeigt, dass es möglich ist, den Rechtspopulismus zu besiegen, indem man echte, mutige und radikale Antworten auf die Verzweiflung der arbeitenden Menschen gibt.

In Deutschland hat sich der linke Flügel der Partei Die Linke – der an der Arbeiterklasse orientierte, antiimperialistische Flügel – schließlich abgesetzt und eine neue Partei gegründet, die sich offen gegen die Agenda der Europäischen Union, ihren institutionalisierten Kapitalismus und ihre Kriegspolitik wendet. Die neue Partei, die von der unabhängigen Sahra Wagenknecht geführt wird, wurde vor fünf Monaten schnell organisiert und erhielt bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 6,2 % der Stimmen. Die stets kompromissbereite, zentristisch orientierte Partei Die Linke wurde mit 2,7 % der Stimmen abgeschmettert. Umfragen der ARD zeigen, dass die neue Partei 400.000 Stimmen von Die Linke, 500.000 Stimmen von den Sozialdemokraten und 140.000 Stimmen von der AfD erhalten hat. In einigen Teilen Ostdeutschlands erreichte die neue Partei, die sich noch einen tragfähigen Namen geben muss, sogar 15 % der Stimmen.

Vielleicht besser als jedes Ergebnis hat die neue Partei der Vorstellung, man müsse die populistische Rechte aufhalten, indem man sich zur Verteidigung eines maroden Kapitalismus in der Mitte sammelt, einen schockierenden Schlag versetzt. Wie Lenin uns daran erinnert: »Zwei Fragen haben jetzt Vorrang vor allen anderen politischen Fragen – die Frage des Brotes und die Frage des Friedens.« Wagenknechts neue Partei gab den Fragen den Vorrang, indem sie die wirtschaftliche Malaise und die Inflation in Deutschland sowie den tödlichen Krieg in der Ukraine angriff. Wir sollten die Entwicklung der neuen Partei aufmerksam verfolgen.

Die Kommunistische Partei Österreichs und die Arbeiterpartei Belgiens haben durch die Berücksichtigung der Interessen der Arbeiterklasse ebenfalls Gewinne gegen die rechtspopulistische Welle erzielt.

Es sollte klar sein, dass sich die hohle Taktik, dem Rechtspopulismus entgegenzutreten, indem man sich an die Parteien der Mitte anlehnt, als bankrott erweist. Die Vorstellung, dass die Wähler mit einer »Einheitsfront gegen die Bösen« von den populistischen Angebern weggelockt werden können, hat es nicht geschafft, die Menschen von ihrem verzweifelten Bedürfnis nach Brot und Frieden zu überzeugen.

Diese Beispiele zeigen einen prinzipienfesten, bewährten Ansatz für das Problem der populistischen Rechten, einen Ansatz, der weder auf einen Rückzug in die Mitte noch auf eine falsche, unhaltbare, unwirksame »Einheitsfront« zurückgreift. Der Durst nach Veränderung ist da.

https://mltoday.com/lessons-of-the-european-elections/

Amtsfiction bei Gericht

Arnold Schölzel

Am 18. Juli wies das Verwaltungsgericht Berlin eine Klage des Verlags 8. Mai GmbH, in dem die Tageszeitung »junge Welt« erscheint, gegen das Bundesinnenministerium ab. Der Verlag wollte erwirken, dass jW in den Jahresberichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (VS), das dem Innenministerium untersteht, nicht mehr genannt wird. Seit 1998 taucht jW als einzige Tageszeitung darin auf. Lange Zeit fehlten dem Verlag und der jW-Genossenschaft, die Mehrheitsgesellschafter der GmbH ist, die finanziellen Mittel, um ein erwartbar langwieriges und kostspieliges Verfahren zu beginnen. Denn der Schaden ist beträchtlich und beabsichtigt: Lehrer verwenden jW-Text nicht mehr im Unterricht, Bibliotheken sortieren die Zeitung aus, Werbekunden springen ab, die Bahn untersagt jW-Werbung auf ihrem Gelände. In seinem Buch über den Verfassungsschutz (Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik, 2024) zitiert der Publizist und frühere SPD-Politiker Mathias Brodkorb den konservativen Staatsrechtler Dietrich Murswiek: »Mit einem Feind diskutiert man nicht, man bekämpft ihn. Dies ist nicht nur die faktische Wirkung der Erwähnung einer Organisation im VS-Bericht; es ist ihre beabsichtigte Funktion.« Der Politikwissenschaftler Jürgen Seifert definierte das Ziel des VS in den 70er Jahren in diesem Sinn als »hoheitliche Verrufserklärung«.

Darum geht es auch 50 Jahre später. 2021 hatte die Fraktion der Partei Die Linke, namentlich die Abgeordnete Sevim Dağdelen, eine kleine Anfrage an die Bundesregierung zur Erwähnung der Tageszeitung im VS-Bericht gerichtet. Die 18 Seiten umfassende Antwort vom 5. Mai 2021 ließ an Klarheit und Dreistigkeit nichts zu wünschen übrig. Die zentrale Auskunft lautete: Wegen ihrer »Wirkmächtigkeit« und ihrer »linksextremistischen Politikvorstellungen« solle der Zeitung der »Nährboden« entzogen werden. Im Klartext: jW vertritt missliebige politische Ansichten und gewinnt entgegen allen Trends an Auflage (im Durchschnitt täglich mehr als 21.000 verkaufte Exemplare auf Papier und im Internet). Dem soll der VS zunächst durch wirtschaftliche Schädigung Einhalt gebieten. Eine Abwägung, ob diesem staatlichen Vorgehen der Artikel 5 des Grundgesetzes entgegensteht (»Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.«), fand nicht statt. Schließlich ist es Auftrag des VS, »Bestrebungen« zu überwachen und von ihm als »Verfassungsfeind« Abgestempelte aus der öffentlichen Meinungsbildung, d. h. aus demokratischen Debatten, auszuschließen. Antidemokratismus im Sinne der Regierung eines Obrigkeitsstaates ist seine Kernaufgabe.

Bei Medien bevorzugen VS und Ministerium einen juristischen Trick: Sie tun so, als ob es sich bei ihnen nicht um Presseerzeugnisse handelt, die Schutz nach Artikel 5 Grundgesetz beanspruchen können, und definieren sie um. Das war zum Beispiel beim Vorgehen gegen das faschistische Magazin »Compact« am 16. Juli der Fall: Verboten wurden die Unternehmen, in denen die Zeitschrift erscheint, auf Grundlage des Vereinsgesetzes. Artikel 5? Wozu beachten? Grundrechte stehen im Zeichen der »Zeitenwende« beim deutschen Staat noch weniger hoch im Kurs als in weniger kriselnden Zeiten. Am 14. August hob das Bundesverwaltungsgericht das »Compact«-Verbot teilweise und bis zur Hauptverhandlung auf, es kann wieder erscheinen. Die Berufung auf das Vereinsrecht wurde dabei nicht beanstandet, das Gericht fragte allein nach der Verhältnismäßigkeit.

Eine Zeitung ist jedenfalls für Behörden der Bundesrepublik nicht unbedingt eine Zeitung, auch wenn sie täglich als journalistisches Produkt auf dem Markt auftritt. Also setzt der VS im Bericht für 2023 tatsachenwidrig die Behauptung in die Welt: »Die Tageszeitung ›junge Welt‹ (jW) strebt die Errichtung einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaftsordnung nach klassischem marxistisch-leninistischem Verständnis an.« So macht ein deutsches Gesinnungspolizeigehirn einer Zeitung im Handumdrehen zu einer politischen Gruppierung – im 19. Jahrhundert hieß das »Schwefelbande«. Denn, jW sei »mehr als ein Informationsmedium«. Und: »Sie wirkt als politischer Faktor und schafft Reichweite durch Aktivitäten wie zum Beispiel die Durchführung der alljährlichen Rosa-Luxemburg-Konferenz.« Was zu beweisen war.

In den Schriftsätzen des Ministeriums und seiner Anwälte war der Ton schärfer als im VS-Traktat, die Behauptungen entsprechend wilder. Die Zeitung, der Verlag und die Genossenschaft als Haupteigentümerin sind demnach nämlich »linksextremistische« Personenzusammenschlüsse mit umstürzlerischer Agenda. Das leitet der VS aus dem Marxismus ab, der jW erklärtermaßen als Kompass zum Verständnis inländischer wie weltweiter Vorgänge dient. Dabei verstößt laut Bundesregierung, meinte sie jedenfalls schon 2021, bereits die von vielen Sozialwissenschaftlern oder Gewerkschaftern geteilte Feststellung einer Klassenspaltung der Gesellschaft gegen das Menschenwürdegebot des Grundgesetzes.

Im letzten Schriftsatz der Geheimdienstanwälte, der den jW-Verlag einen Tag vor dem Gerichtstermin erreichte, wurde es noch durchgeknallter: Wenn die Zeitung die BRD als kapitalistisch und imperialistisch beschreibe, sei das eine »Diffamierung«. Zudem verwende jW Vokabular wie »Arbeiterklasse«, »Klassenkampf« und »Klassenjustiz«. Was es selbstverständlich alles nicht gibt.

Gegen Amtsfiction dieser Art ist – außer mit Satire – schwer anzukommen, wie sich beim Termin im Verwaltungsgericht Berlin am 18. Juli zeigte. Der Vorsitzende der 1. Kammer und Vizepräsident des Gerichts, Wilfried Peters, erklärte nämlich, dass die Aussagen über die Zeitung in den VS-Berichten zu Recht getroffen wurden und die Zeitung »richtig eingeordnet« sei. Zur Begründung führte er unter anderem aus, dass Lenin, auf den sich die Zeitung positiv beziehe, »die freiheitliche demokratische Grundordnung bekämpft« habe. Die Zeitung habe zudem ein positives Bild der DDR. Die »Intention« von jW sei eine andere als die anderer Zeitungen, wenn sie etwa Veranstaltungen wie die Rosa-Luxemburg-Konferenz ausrichte. Es gehe um politische Aktivität und »die politische Überwindung des Kapitalismus im Klassenkampf«. Das seien »Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung«. Außerdem biete die Zeitung eine Plattform für Personen, die politisch motivierte Gewalt befürworten. Davon distanziere sich die Zeitung nicht.

Den Streitwert des Verfahrens setzte das Gericht auf 115.000 Euro fest. Eine Berufung wurde nicht zugelassen, die Zulässigkeit einer Revision kann beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg überprüft werden. Das Gericht hatte bereits im Jahr 2022 einen Eilantrag in der Sache abgelehnt. Bis zum 19. August lag keine schriftliche Urteilsbegründung des Richters vor.

Die Doomsday-Uhr tickt

Noam Chomsky

Die gegenwärtige Politik, wohl auch die von Trump, besteht darin, China einzukreisen – mit … einem Ring aus den Gebieten Süd-Koreas, Taiwans, Japans, Australiens, Neu Seelands, von Singapur; Indien ist ein widerwilliger Teilnehmer des Projekts. Die USA liefern an diese Staaten hoch entwickelte präzisionsgeleitete Raketen, die gegen China gerichtet sind, um uns und die Staaten der Region vor der chinesischen Bedrohung zu verteidigen. In britisch-US-amerikanischer Kooperation hat Australiens eine Flotte von Patrouillen-U-Booten in die Region entsandt. China hat keine U-Boote dieses Standards, es unterhält immer noch laute Diesel-getriebene U-Boote aus den 1970er Jahren. … Derweil erneuern die USA ihre U-Boot-Waffe … Die Doomsday-Clock ist von Minuten zu Sekunden übergegangen …

Es geht um einen drohenden Atomkrieg; und ein Drittel der US-Bevölkerung ist für einen Krieg an der Seite der Ukraine, auch wenn das zu einem Atomkrieg führt … Wie kann jemand … nicht motiviert sein, zu versuchen, all die Prozesse zu stoppen, die auf ein Ende des Experiments ›Menschheit auf der Erde‹ hinauslaufen?

Hoffnung erfahre ich von jungen Menschen, die entschieden dafür eintreten, die (Klima-)Katastrophe abzuwenden; ihr ziviler Ungehorsam zeigt: Sie gehen Risiken ein, bei denen Strafverfolgung droht. Sie stehen auf gegen das Rennen in die Katastrophe für die Menschheit. Viele junge Menschen sind aktiv, sie geben nicht auf. Leider übersehen sie die Gefahr des Krieges, darunter die des nuklearen Winters, die die Nuklearwissenschaftler von den ›Atomic Scientists‹ sehen. Das blendet das Alltagsbewusstsein vieler Menschen aus. Viele Menschen verstehen nicht, was ein Nuklearkrieg ist. Das Land, das den ersten Schlag ausführt, wird ebenfalls zerstört, spätestens durch die Konsequenzen des ›Nuklearen Winters‹… Das hat das Bewusstsein nicht erreicht.

Russland hat ein veraltetes Radar-System. Das bedeutet, dass ein russischer offizieller Verantwortungsträger fast keine Zeit hat, zu reagieren, wenn das Alarm-System einen Angriff anzeigt. Nicht einmal für die Abklärung der Frage, ob es sich um einen Fehlalarm handelt oder um einen realen Angriff. Und es hat in der Vergangenheit viele Warnungen gegeben, hunderte … die Gefahren konnten durch menschliche Einflussnahme abgewendet werden, manchmal sehr nah vor dem Abgrund. Das ist viel gefährlicher geworden, nachdem Trump den Vertrag zum Verbot nuklearer Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag) einseitig beendet hat, nun ist Russland innerhalb von wenigen Minuten in Reichweite von Nato-Raketen.

Nun mit den weiter entwickelten Streitkräften und Waffen, die die USA in Europa stationieren und mit dem gemeinsamen Statement der USA und der Ukraine steigt die Bedrohung weiter an, auch die einer Gefahr aufgrund eines Irrtums … Dies wird von den Menschen, die im Kongress und in den Medien ihre Erklärungen abgeben, übersehen oder auch ausgeblendet … Es gibt viele junge Menschen, die entschieden sind, die Dummheit zu stoppen, ehe es zu spät ist. Wir müssen den Gefahren ein Ende bereiten, bevor sie uns ein Ende bereiten. Das ist die Hoffnung für die Zukunft.

(Aus einem längeren Interview des NewStatesman mit Noam Chomsky, das bereits im Juli 2022 geführt wurde. Wir danken Bernhard Trautvetter für die Transkription und Übersetzung.)

https://www.youtube.com/watch?v=Fb7AD49WIlY

Aktuelles

Beate Landefeld zum 80. Geburtstag

Lothar Geisler/Herbert Lederer

Wer sich heute auch als junger Mensch mal aus marxistischer Sicht mit der Liebe und Erich Fromms Theorie derselben auseinandersetzen möchte, wird nicht auf Anhieb an Beate Landefeld als Autorin denken. Aber im Archiv der Marxistischen Blättern1 einen fundierten, streitbaren Artikel dazu finden, der auch aktuell an Orientierungspotenzial nichts verloren hat. Gleiches gilt für andere Themen, mit denen sich Beate Landefeld in früheren Jahren als Autorin der Marxistischen Blätter ab 1979 befasst hat: Jugendbewegung und »alternative Lebensformen«, »soziale Verteidigung«, »Neofeminismus«, »Frauenbilder in Frauenzeitschriften« oder »Meinungspluralismus und Kommunistische Partei« Auch aus zeitlicher Distanz lohnt es sich noch, diese Artikel zu lesen, die wir aus Anlass des 80. Geburtstages von Beate Landefeld in einen Sammelband aufgenommen haben. Als Geschenk für sie, für uns und Nachgeborene.

Titelseite von »Über Liebe, die Partei & andere brennende Fragen«

Dieses »Best of Beate« umfasst alle ihre Artikel aus den Marxistischen Blättern, – die jüngsten am Anfang, die älteren zum Schluss. Eine Auswahl fiel schwer: Weil Beate Landefeld keine extrovertierte Vielschreiberin ist, – zumal ihre monatliche UZ-Kolumne, ihr eigener Blog und ihr Facebook-Freundeskreis seit Jahren ihre volle Aufmerksamkeit genießen. Hier wie dort zeigt sich, dass sie einen Sinn dafür hat, relevante (!) Fragestellungen konkret (!) aufzugreifen und zum richtigen Zeitpunkt (!) kompetent (!) zu bearbeiten, will heißen: vor dem Schreiben viel zu lesen und zu durchdenken. Das zeichnet die Qualität ihrer Beiträge aus, neben ihrer Fähigkeit, eine wissenschaftsbasierte Weltsicht besonders für Nicht-Akademiker:innen verständlich rüberzubringen. Hier zeigen sich Spuren ihrer Herkunft und Sozialisation – nicht zuletzt ihrer Zusammenarbeit mit Robert Steigerwald, Willi Gerns und Kurt Steinhaus im Herausgeberkreis der Marxistischen Blätter ab 1986 und in der Abteilung »Marxistische Theorie und Bildung« des Parteivorstandes der DKP bis 1989/90. Sie hatte das Zeug, deren Nachfolgerin zu werden.

Beate Landefeld, Jahrgang 1944, das älteste von vier Kindern einer hessischen Bauernfamilie entzog sich bei Kälte und Regen gerne harter Feldarbeit und »täuschte Hausaufgaben vor«, wie sie selbst schreibt. »Während die anderen schufteten, las ich alles, was ich zuhause fand, die Landwirtschaftszeitung, Kitsch- und Schundromane meiner Oma, aber auch ein Dutzend Reclam-Heftchen mit Dramen von Kleist, Goethe, Schiller und anderen Klassikern, die mein Vater als Soldat irgendwo aus einem ausgebombten Haus mitgenommen hatte.« (Mit den »Klassikern« der kommunistischen Bewegung befasste sie sich dann intensiv 1980 im Studienjahr an der internationalen Moskauer Lenin-Schule.)

Wie aus diesem wissensdurstigen und lesehungrigen Kind über die Berufsausbildung als Hotelfachfrau, das Abendgymnasium, das Studium der Literaturwissenschaft und Soziologie, die Aktivität in der Jugend- und Studentenbewegung der 1960er/1970er Jahre die Vorsitzende des MSB-Spartakus, eine überzeugte Marxistin und diskussionsfreudige Kommunistin wurde, die auch nach der Zäsur von 1989/90, sowie dem damit verbundenen Bruch in der eigenen Biografie und dem anhaltenden gesellschaftlichen Gegenwind bei der Stange bzw. der roten Fahne blieb, kann man in ihrem Selbstzeugnis am Ende des Buches nachlesen, detailliert und schnörkellos. So wie auch ihre Artikel sind.

In diesem Selbstzeugnis werden viele ihrer Generation sich und eigene Entwicklungsetappen prototypisch wiederfinden. Und die Nachgeborenen bekommen einen lebendigen Einblick in eine andere Zeit und das Leben einer kämpferischen Persönlichkeit, die sich als Intellektuelle nicht erst der arbeitenden Klasse annähern musste, weil sie aus ihr kommt und aus ihr heraus zur Intellektuellen wurde. Solche Lebensläufe waren im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat DDR der Normalfall, in der kapitalistischen BRD nur in einem kurzen Zeitfenster. Welchen Stellenwert die Teilnahme an den Kämpfen der arbeitenden Klasse für eine auf Emanzipation abzielende Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen hat, kann man in dem Beitrag »Klassenkampf und Persönlichkeitsentwicklung« nachlesen, mit dem Beate Landefeld ihre Publikationstätigkeit in den Marxistischen Blättern begann und mit dem unser Buch endet.

Selbst wer Beate Landefeld lange kennt, mit ihr zusammengearbeitet hat oder sie bei einem Vortrag erleben durfte, wird beim Lesen noch die eine oder andere überraschende Facette ihrer Persönlichkeit und ihres Wirkens als Autorin und Mitherausgeberin der Marxistischen Blätter entdecken. Aber vor allem viel von der Welt erkennen, in der wir leben und die es gemeinsam zu verändern gilt.

(Vorwort zu Beate Landefeld »Über Liebe, die Partei & andere brennende Fragen«, Essen 2024)

1 https://www.marxistische-blaetter.de/de/topic/2.alle-ausgaben-seit-1963.html

Meinungspluralismus und Kommunistische Partei

Beate Landefeld2

Der Begriff des Meinungspluralismus ist in. Wir haben ihn aus der sowjetischen Diskussion übernommen. Dort ist von sozialistischem Pluralismus die Rede, wenn es um die Diskussionen in der sowjetischen Gesellschaft geht, aber auch von Meinungspluralismus in der KPdSU …

Der Diskussionsstand in der KPdSU zum Thema Meinungspluralismus sollte von uns ausgewertet werden. Maßgeblich für uns selbst ist letzten Endes unsere eigene Diskussion. Auch wir reden über Meinungspluralismus, sammeln in der DKP Erfahrungen damit. Vieles ist im Fluss. Was sind unsere eigenen Probleme beim Streit um Meinungspluralismus in der DKP?

Worum streiten wir?

Da gibt es zunächst die Kritik am monolithischen Eindruck, den die DKP früher hinterlassen habe, an mangelnder Offenheit und Öffentlichkeit aller Diskussionsprozesse. Diese Kritik wird von mir überwiegend geteilt. Hätten wir schon früher offener diskutiert, Meinungsverschiedenheiten frühzeitiger ausgetragen, vorhandene Widersprüche ausdiskutiert und nicht zugedeckt, dann hätte sich wohl manche Meinungsverschiedenheit nicht zu einer regelrechten Kluft zwischen ihren Trägern weiterentwickelt, dann gäbe es insgesamt mehr Austausch von Erfahrungen und Ideen, mehr Selbständigkeit im Denken, mehr Klarheit und weniger Verunsicherung in unseren Reihen.

Wenn jedoch diese Kritik an unserem »Monolithismus« vermengt wird mit einer Kritik an der »Geschlossenheit des Marxismus«3 dann kann daraus leicht ein Plädoyer für weltanschaulichen Pluralismus werden, was meinem Marxismusverständnis widersprechen würde.

Verbreitet ist die Auffassung, der Marxismus sei lediglich eine Denk- und Erkenntnismethode. Dies ist er sicherlich auch, aber nicht nur. Lenin hat in seiner kleinen Schrift »Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus« auf klassische Weise beschrieben, was Marxismus ist. Er beschreibt den Marxismus als eine »Lehre«, die nicht verknöchert und abgekapselt ist, die nicht »abseits von der Entwicklung der Heerstraße der Weltzivilisation entstanden« ist.4

Der Marxismus entstand danach als Antwort auf Fragen, die das fortgeschrittene Denken der Menschheit gestellt hatte. Er entstand als direkte und unmittelbare Fortsetzung der Lehren der größten Vertreter der Philosophie, der politischen Ökonomie und des So­zialismus, die vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus kritisch überwunden, das heißt »aufgehoben und bewahrt« wurden. Der Marxismus schuf Grundlagen für die Entwicklung einer wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse und dies in enger Verbindung mit den Organisationen der Arbeiterbewegung.

In den »Drei Quellen …« findet sich der folgende berühmte Satz von Lenin: »Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist, sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren läßt. Sie ist die rechtmäßige Erbin des Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert in Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen politischen Ökonomie und des französischen Sozialismus hervorgebracht hat.«5

War auch Lenin im »monolithischen« Denken befangen? Niemand wird ihm das zutrauen. Geschlossenheit des Marxismus bedeutet eben nicht »Abgeschlossenheit«, sondern theoretische Schlüssigkeit. Der Marxismus ist ein System von wissenschaftlichen Anschauungen und Theorien, das in sich schlüssig ist. Das schließt Offenheit für Veränderungen, für Entwicklungen, für Anstöße von außen nicht nur nicht aus, sondern unbedingt ein. Gerade an dieser Offenheit zeigt sich die Realitätstüchtigkeit des »Systems« Marxismus.

Ist Offenheit Beliebigkeit?

Offenheit ist jedoch etwas anderes als Verlust an Systematik, an Schlüssigkeit. Würden wir dies verwechseln, dann würden wir den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit der marxistischen Theorie aufgeben. Ich halte deshalb auch nichts von Forderungen wie der nach einer »Koexistenz« unterschiedlicher Marxismus-Auffassungen im Rahmen einer modernen kommunistischen Partei.6 Ein Sammelsurium von »Marxismen« ist noch keine marxistische Theorieentwicklung. Diese entsteht erst dann, wenn Anstöße unterschiedlicher Herkunft für eine in sich schlüssige, systematische Theoriebildung verarbeitet werden. In diesem Sinne bleibt der Marxismus auch in seiner Entwicklung ein einheitliches Theoriengebäude. Er ist weder ein Steinbruch, aus dem jeder nehmen kann, was er will, noch eine einfache Addition in sich selbst abgekapselter, unterschiedlicher »Marxismus-Konzeptionen«. Systematik, Offenheit und Dynamik stehen nicht gegeneinander, sondern bedingen einander.