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Im November 2002 hat Judith Butler mit überwältigendem Erfolg die Adorno-Vorlesungen an der Universität Frankfurt gehalten, die nun in einer deutlich erweiterten Fassung als Taschenbuch erscheinen. In ihrer Kritik der ethischen Gewalt geht sie der Frage nach, wie man angesichts einer Theorie des Subjekts, dessen Entstehungsbedingungen sich nie restlos klären lassen, dennoch die Möglichkeit von Verantwortung und Rechenschaft bewahren kann. In Auseinandersetzung mit Adorno, Cavarrero, Foucault, Lévinas und der Psychoanalyse zeigt Butler, daß jede dieser Theorien etwas ethisch Bedeutsames enthält, das sich aus den Grenzen ergibt, die jedem Versuch gezogen sind, Rechenschaft von sich selbst abzulegen: Noch in demjenigen, das wir »ethisches Scheitern« nennen, steckt eine ethische Wertigkeit und Bedeutsamkeit, und die Frage der Ethik erscheint genau an den Grenzen unserer Systeme der Verständlichkeit.
»Mit dem Begriff der ›ethischen Gewalt‹ legt Butler den moralphilosophischen Kern von Adornos Denken frei.« Die literarische Welt
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Seitenzahl: 260
Im November 2002 hat Judith Butler mit überwältigendem Erfolg die Adorno-Vorlesungen an der Universität Frankfurt gehalten, die nun in einer erweiterten Fassung als Taschenbuch erscheinen. In ihrer Kritik der ethischen Gewalt geht sie der Frage nach, wie man angesichts einer Theorie des Subjekts, dessen Entstehungsbedingungen sich nie restlos klären lassen, dennoch die Möglichkeit von Verantwortung und Rechenschaft bewahren kann. In Auseinandersetzung mit Adorno, Cavarero, Foucault, Lévinas und der Psychoanalyse zeigt Butler, dass jede dieser Theorien etwas ethisch Bedeutsames enthält, das sich aus den Grenzen ergibt, die jedem Versuch gezogen sind, Rechenschaft von sich selbst abzulegen: Noch in dem, was wir »ethisches Scheitern« nennen, steckt eine ethische Wertigkeit und Bedeutsamkeit, und die Frage der Ethik erscheint genau an den Grenzen unserer Systeme der Verständlichkeit.
»Mit dem Begriff der ›ethischen Gewalt‹ legt Butler den moralphilosophischen Kern von Adornos Denken frei«. Die literarische Welt
Judith Butler ist Professorin für Rhetorik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of California in Berkeley. Im Suhrkamp Verlag sind erschienen: Haß spricht. Zur Politik des Performativen (2006, es 2414) Gefährdetes Leben. Politische Essays (2005, es 2393); Antigones Verlangen. Verwandtschaft zwischen Leben und Tod (2001, es 2187); Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung (2001, es 1744); Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (1997, es 1737); Das Unbehagen der Geschlechter (1991, es 1722).
Judith Butler
Kritik der ethischen Gewalt
Aus dem Englischen vonReiner Ansén und Michael Adrian
Adorno-Vorlesungen 2002
Institut für Sozialforschung an derJohann Wolfgang Goethe-Universität,Frankfurt am Main
Suhrkamp
Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.
Diese Ausgabe ist gegenüber der 2003 im Hauptprogramm erschienenen Ausgabe stark erweitert. Die Übersetzung orientiert sich dabei an der amerikanischen Ausgabe: Giving an Account of Oneself, Fordham University Press, New York 2005
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© der deutschen Ausgabe: Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2003, 2007
© Judith Butler 2002
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
eISBN 978-3-518-73218-2
www.suhrkamp.de
Danksagung
1. Kapitel: Rechenschaft von sich selbst
Anredeszenen
Foucault’sche Subjekte
Nachhegelianische Erkundungen
»Wer bist du?«
2. Kapitel: Gegen die ethische Gewalt
Grenzen des Urteilens
Psychoanalyse
Das ›Ich‹ und das ›Du‹
3. Kapitel: Verantwortung
Laplanche und Lévinas: Der Vorrang des Anderen
Adorno über das Menschwerden
Foucaults kritische Rechenschaft von sich selbst
Die folgenden Vorträge wurden ursprünglich im Frühjahr 2002 als Spinoza-Vorlesungen an der Philosophischen Fakultät der Universität Amsterdam gehalten. Ich bin Hent de Vries für seine großzügige Einladung und die Möglichkeit, einiges von dem vorliegenden Material mit den Amsterdamer Studierenden durchzuarbeiten, überaus dankbar. Ihren Ausgang nahmen die nachstehenden Überlegungen im Herbst 2001 in einem Seminar an der Princeton University, als ich dort Fellow am Humanities Council war. Von den Diskussionen mit Fakultätsangehörigen und Studenten habe ich dabei ungemein profitiert. Schließlich wurden sie im Herbst 2002 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt in veränderter Form als vom Institut für Sozialforschung veranstaltete Adorno-Vorlesungen vorgetragen. Ich danke Axel Honneth für diese Gelegenheit, einen neuen Zugang zu Adornos Werk zu finden. Auch bin ich den zahlreichen Frankfurter Diskussionspartnern und ihrer intensiven Auseinandersetzung mit den hier aufgeworfenen Fragen zu Dank verpflichtet. In einer früheren und erheblich kürzeren Form erschien dieser Text in den Niederlanden unter dem Titel Giving an Account of Oneself im Verlag Van Gorcum Press (2003) und im selben Jahr als Kritik der ethischen Gewalt in der geschliffenen Übersetzung von Reiner Ansén bei Suhrkamp. Teile des zweiten Kapitels wurden als Aufsatz unter dem Titel »Giving an Account of Oneself« in Diacritics, Bd. 31, Nr. 4, S. 22-40 veröffentlicht.
Mein Dank gilt auch all denen, die verschiedene der hier vorgestellten Ideen gemeinsam mit mir durchgearbeitet haben: Frances Bartkowski, Jay Bernstein, Wendy Brown, Michel Feher, Barbara Johnson, Debra Keates, Paola Marrati, Biddy Martin, Jeff Nunokawa, Denise Riley, Joan W. Scott, Annika Thiem und Niza Yanay. Überaus dankbar bin ich den Studentinnen und Studenten, die im Herbst 2003 die meisten der 8hier erörterten Texte zusammen mit mir in meinem Seminar in Vergleichender Literaturwissenschaft gelesen haben: Sie haben meine Sichtweise herausgefordert und intensive Diskussionen zu vielen der hier betrachteten Gegenstände ausgelöst. Ich danke Jill Stauffer dafür, mir die Bedeutung von Lévinas für die philosophische Ethik deutlich gemacht zu haben, sowie Colleen Pearl, Amy Jamgochian, Stuart Murray, James Salazar, Amy Huber und Annika Thiem für ihre Unterstützung bei der Textredaktion und Anregungen in verschiedenen Phasen des Schreibens. Und schließlich möchte ich mich bei Helen Tatar bedanken, die sich darauf einlässt, mit meinen Sätzen zu ringen, und für die dieses Buch wie ein Bumerang zurückzukehren scheint. Es ist meiner Freundin und Gesprächspartnerin Barbara Johnson gewidmet.
… der Wert eines Gedankens mißt sich an seiner Distanz von der Kontinuität des Bekannten.
Theodor W. Adorno, Minima Moralia
Beginnen möchte ich mit folgender Überlegung: Wie ließe sich die Frage der Moralphilosophie, eine Frage, die mit dem Verhalten, also mit dem Handeln zu tun hat, im heutigen gesellschaftlichen Rahmen stellen? Formuliert man die Frage auf diese Weise, so hat man bereits eine These vorausgesetzt, die These nämlich, dass sich moralische Fragen nicht nur immer schon im Kontext sozialer Beziehungen stellen, sondern dass sich die Form solcher Fragen je nach Kontext ändert, ja, dass der Kontext der Form der Frage in gewisser Weise innewohnt. In seinen Problemen der Moralphilosophie, einer Vorlesung vom Sommer 1963, schreibt Adorno: »Man kann nämlich wohl sagen, daß so etwas wie die moralische Problematik überhaupt immer dann entsteht, wenn jene fraglose und selbstverständliche Vorgegebenheit von sittlichen Normen des Verhaltens im Leben einer Gemeinschaft nicht mehr vorhanden ist.«[2] Diese Behauptung scheint in gewisser Weise die Bedingungen zu beschreiben, unter denen moralische Fragen entstehen, aber Adorno führt seine These noch genauer aus. Er grenzt sich kritisch von Max Scheler ab, der die Zersetzung der ethischen 10Ideen beklagt, worunter er die Zerstörung eines gemeinsamen und gemeinschaftlichen moralischen Ethos versteht. Adorno weigert sich, diesen Verlust zu betrauern, da das kollektive Ethos seiner Befürchtung nach unausweichlich ein konservatives ist und eine falsche Einheit setzt, welche die Schwierigkeiten und Diskontinuitäten jedes zeitgenössischen Ethos zu unterdrücken sucht. Nicht dass es je eine Einheit gegeben hätte, die später zerfallen wäre – vielmehr hat es eine Idealisierung, faktisch einen Nationalismus gegeben, der seine Glaubwürdigkeit eingebüßt hat und dem auch kein Glaube mehr geschenkt werden sollte. Daher warnt Adorno vor dem Rückgriff auf die Ethik, der ein Rückgriff auf eine bestimmte Art der Repression und der Gewalt ist. Er schreibt, daß wahrscheinlich nichts zersetzter ist als die Art von Ethik oder von Moral, die fortlebt in Gestalt von kollektiven Vorstellungen, nachdem – wenn ich es hegelianisch und einmal sehr abgekürzt ausdrücken darf: der Weltgeist nicht mehr mit ihnen ist. Wenn der Stand des Bewußtseins der Menschen und auch der Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte sich von diesen kollektiven Vorstellungen entfernt hat, dann nehmen diese Vorstellungen etwas Gewalttätiges und Repressives an; und genau dieser Zwang, der dann in den Sitten liegt, dieses Gewalttätige und Böse in den Sitten, das sie selber in Gegensatz zur Sittlichkeit bringt – und nicht etwa der bloße Verfall der Sitten, wie etwa die Dekadenztheoretiker ihn beklagen –, das nötigt dann allerdings die Philosophie zu solchen Besinnungen, wie die es sind, die wir hier anstellen wollen.«
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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