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Welches Profil muss eine queere Politik haben, die sich als Teil einer Politik gegen den Krieg versteht? Ausgehend von dieser Leitfrage behandelt die amerikanische Philosophin Judith Butler Aspekte einer queeren Friedenspolitik, die "queer" nicht als Identitätskonzept, sondern als Bündnisform zu thematisieren sucht. Judith Butler diskutiert vor diesem Hintergrund folgende Fragen: Welche politische Rolle spielt queere Politik in einer Welt, in der Krieg alltäglich erscheint und viele Völker einem ständigen Bedrohungszustand hoffnungslos ausgeliefert sind? Wie muss sich queere Politik angesichts der globalen Herausforderungen der zunehmenden Militarisierung und fortgesetzten Kolonialisierung neu definieren und ist eine queere Politik denkbar, die nicht zugleich auch eine anti-rassistische Bewegung ist? Wie können wir Bündnissen gegen nationalistische Abschottungspolitik beitreten, wenn diejenigen, für die und mit denen wir kämpfen, unsere Standpunkte nicht immer teilen?
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Seitenzahl: 55
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JUDITH BUTLER
QUEERE BÜNDNISSE UND ANTIKRIEGSPOLITIK
Mit einer Einführung von Andreas Kraßund einer Annotation von Bodo Niendel
Aus dem Englischen von Tatjana Eggeling und Lilian-Astrid Geese
Herausgegeben von Tatjana Eggeling
Männerschwarm Verlag Hamburg 2011
Editorial
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
schon seit einigen Jahren veranstaltet die Initiative Queer Nations in Kooperation mit dem Berliner CSD e.V. zwischen dem lesbisch-schwulen Stadtfest und der CSD-Parade eine Queer Lecture mit einer/m der aktuellen Zivilcouragepreisträger/innen. Im Jahr 2010 hatten wir deshalb Judith Butler zu Gast. Seit Beginn der 1990er Jahre hierzulande vor allem bekannt als scharfsinnige que(e)r denkende Theoretikerin, ist sie zugleich auch eine politische Aktivistin. So präsentierte sie sich in Berlin denn auch als politisch aktive Intellektuelle auf und vertrat in ihrem Vortrag die Notwendigkeit, queere Bündnisse einzugehen, um für entrechteten Minderheiten zu kämpfen und um allen Spaltungsversuchen entlang von kulturellen oder sozialen Unterschieden und auch nationalen und nationalistischen Vereinnahmungen zu widerstehen. Sie plädierte für die Anerkennung und das Aushalten von Unterschieden, für den Versuch, das (noch) Fremde kennenzulernen und zu respektieren und sein Recht der Existenz ebenso zu verteidigen wie das eigene. Queere Bündnisse, so Judith Butler, stellen sich buchstäblich quer zu jenen gesellschaftlichen Normen, die manche kulturelle oder soziale Merkmale als erwünscht, schützens- und lebenswert über andere stellen. Sie sind die zentralen Akteure im Kampf um radikale Demokratie. Indem sie überall den öffentlichen Raum für sich beanspruchen, ihr Recht auf Leben und das aller Entrechteten reklamieren, entlarven sie die Verführungen der (definitions-)Mächtigen als doppelzüngig und als spaltende Gefahr für alle sozialen Bewegungen und letztlich alle Freiheit. Damit nimmt Judith Butler jede/n die Pflicht, den Kampf gegen Entrechtung zu führen und denen entgegenzutreten, die andere abwerten und ausgrenzen, weil sie anders sind und handeln, als das Vertraute, gerade auch, wenn solches in den eigenen Communitys geschieht.
Aus eigener Perspektive konsequent ihren Thesen folgend lehnte Judith Butler den ihr zugedachten Zivilcouragepreis ab, weil sie bei Mitveranstaltern des Berliner CSD rassistische Äußerungen bzw. die Weigerung sah, solchen Äußerungen entgegenzutreten, und löste mit diesem Entschluss einigen Wirbel aus, der weit über Berlin hinaus reichte.
Judith Butlers Vortrag regt zum Nachdenken über die eigenen impliziten Annahmen und Selbstverständlichkeiten an und zur aktiven Auseinandersetzung mit ihnen. Er ist ein streitbarer Beitrag zum Verständnis und Selbstverständnis einer bis weilen unübersichtlichen Welt und aller verschiedenen Teilgruppen, die in ihr miteinander auskommen müssen.
Dem Vortrag ist als Einleitung die Begrüßung von Andreas Kraß vorangestellt. Ihm folgt ein Beitrag von Bodo Niendel, in dem er Judith Butlers Vortrag und ihre Ablehnung des Zivilcouragepreises zum Anlass nimmt für Überlegungen zu den Herausforderungen des Projekts der radikalen Demokratie.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre
Tatjana Eggeling Berlin im Februar 2011
Andreas Krass: «Ein Chor irrt sich gewaltig»
Einführende Worte zum Vortrag von Judith Butler in der Berliner Volksbühne am Freitag, 18. Juni 2010
Liebe Gäste,
«Ein Chor irrt sich gewaltig». So lautet der Titel des Stücks, das heute Abend hier in der Volksbühne gegeben wurde und in dessen Bühnendekoration ich mich gerade befinde. Ich habe das Stück noch nicht gesehen, aber nach allem, was ich bislang darüber gelesen habe, kann es kein besseres Bühnenbild geben für den heutigen Vortrag von Judith Butler, den wir mit Spannung erwarten. Eine Theaterkritikerin schrieb: «Ein Chor kann sich irren – Sophie Rois irrt nie». Sophie Rois, die Hauptdarstellerin des Stücks, hat eben auf dieser Bühne viele verschiedene Rollen gespielt, Männerrollen ebenso wie Frauenrollen. Für eine Schauspielerin ist es kein Problem, zwischen den Geschlechterrollen zu wechseln und für die Zeit, die sie auf der Bühne steht, Frau zu sein oder Mann zu sein oder beides zugleich oder nichts von beidem.
Wie Judith Butler, Professorin für Rhetorik und Komparatistik an der University of California, Berkeley, in ihren Büchern zur Geschlechterforschung geschrieben hat, geht es im Grunde jedem Menschen ähnlich wie einem Schauspieler, der eine Geschlechterrolle spielt. Der Unterschied besteht darin, dass der Mensch im Alltag zunächst keine Wahl hat, welche Rolle er spielt, sondern auf eine Geschlechterrolle verpflichtet ist. Diese wird von der Geburt an beständig eingeübt, sodass der Mensch am Ende nicht mehr den Eindruck hat, dass er eine Geschlechterrolle spielt, sondern dass er ein Geschlecht ist. In diesem Sinne ist die Geschlechterrolle kein Kostüm, das man beliebig aus der Garderobe wählen kann, sondern eine Zwangsjacke, die man so leicht nicht mehr loswird.
Das ist es, was Judith Butler als Performativität des Geschlechts bezeichnet: der Aufführungscharakter der Geschlechterrolle, der als solcher gar nicht mehr wahrgenommen wird. Der heteronormative Chor, der die Einteilung der Menschheit in Frauen und Männer fordert, glaubt, dass er nicht irren kann, aber das ist ein gewaltiger Irrtum. Der heteronormative Chor kann irren, und die Irrtümer werden nicht dadurch richtig, dass sie von vielen gedacht und ausgesprochen und immer aufs Neue wiederholt werden.
Was kann der Mensch gegen seine Festlegung auf eine Geschlechterrolle tun? Wie Judith Butler vorschlägt, ist der Aufführungscharakter des Geschlechts ein guter Ansatzpunkt, um etwas zu verändern, indem man nämlich in die vielen Wiederholungen der Geschlechterrolle immer wieder eine Veränderung einbaut. Steter Tropfen höhlt den Stein, und vielleicht wird es in Zukunft einmal nicht mehr nötig sein, dass der Personalausweis einen Hinweis auf das Geschlecht enthält. Der Eintrag Mensch reicht ja völlig aus. Und auch diese Markierung ist letztlich überflüssig, weil das Menschsein ein unveräußerliches Menschenrecht ist und nicht durch ein Kreuzchen eingesetzt oder aufgehoben werden kann.
Dies ist eine zweite Differenz, gegen die sich Judith Butler in ihrem neuesten Buch ausgesprochen hat (Raster des Kriegs: Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt/M. 2010). Sie kritisiert die Einteilung der Menschen in solche, deren Tod als beklagenswert gilt und solche, deren Tod der Trauer man nicht als wert erachtet. Auch in dieser Hinsicht irrt der heteronormative Chor gewaltig, der mit seinen Schlachtrufen und Klageliedern eine Grenze zieht zwischen Menschen, denen er das Lebensrecht zubilligt, und solchen, denen er es streitig macht. Die Grenze zwischen Menschen erster und zweiter Klasse wird nicht nur entlang des Geschlechts, der Nationalität, der Religion und der ethnischen Zugehörigkeit gezogen, sondern auch entlang der sexuellen Orientierung.
Judith Butler erhält den diesjährigen Zivilcouragepreis auch deswegen, weil sie sich stets gegen die doppelte Gewalt gewendet hat, die vom System der Heteronormativität ausgeht: gegen die frauenfeindliche Einteilung der Menschen in zwei Geschlechter und gegen die homophobe Einteilung der Menschen in Hetero- und Homosexuelle. Im Stück «Ein Chor irrt sich gewaltig» heißt es an einer Stelle: «Das Elend der Sexualität besteht nicht in ihrer Unterdrückung. Im Gegenteil, wir sollen ja dauernd über Sex reden.» Das ist ein wichtiger Punkt. Wir sollen stets bekunden, dass wir die richtige Sexualität haben; und wenn wir die falsche Sexualität haben, dann sollen wir sie bekennen, damit man uns tolerieren kann. Das ist die Schattenseite der Toleranz, dass sie noch immer einen Unterschied macht zwischen Menschen, die der Toleranz bedürfen, und Menschen, die Toleranz gewähren. Auch die gewährte und verweigerte Toleranz ist letztlich ein Modus der Heteronormativität.
Gleichwohl ist das politische Engagement für Toleranz und Gleichberechtigung selbstverständlich lebenswichtig, und die Bundesrepublik Deutschland ist auf diesem Weg inzwischen weit vorangeschritten. Im Jahr 1994 wurde der Paragraph 175 endgültig abgeschafft. Im Jahr 2001 wurde die Eingetragene Lebenspartnerschaft eingeführt. Seit dem Jahr 2006 gibt es ein Gleichbehandlungsgesetz, das Diskriminierung auch aufgrund sexueller Orientierung unter Strafe stellt. Doch sind noch nicht alle Mauern gefallen. Noch immer kann man in der Zeitung lesen (wie gestern in der Süddeutschen Zeitung), dass bei staatlichen Anlässen die Kanzlerin von ihrem «Ehemann» und der Außenminister von seinem «Lebenspartner» begleitet werde. Die Unterscheidung zwischen Ehemann und Lebenspartner hat keinen anderen Grund als jene Gesetzgebung, die die Ehe gegenüber der Lebenspartnerschaft privilegiert. Auch das Gleichbehandlungsgesetz – so wichtig und begrüßenswert es ist – bleibt unvollkommen, solange es Ausnahmen macht. Ist es nicht ein Anachronismus, wenn der katholischen Kirche noch immer das Recht zugebilligt wird, aufgrund ihrer Sexualmoral homosexuelle Angestellte, die ihre Sexualität so selbstverständlich leben wie ihre heterosexuellen Kolleginnen und Kollegen, zu feuern (natürlich nur im Sinne von kündigen – immerhin, auch das ist ein Fortschritt)? Ist es nicht paradox, wenn ausgerechnet ein Antidiskriminierungsgesetz bestimmten Gemeinschaften ein Diskriminierungsrecht zuspricht? Solange man ungestraft die Position vertreten darf, dass gelebte Sexualität zwischen Personen desselben Geschlechts eine Todsünde sei, werden sich Menschen ermuntert und ermächtigt fühlen, Homosexualität mit dem Tod zu bestrafen, indem sie, wie zuletzt in der Nacht vom 12. auf den 13. Juni 2010 an einer Bushaltestelle in Alt-Treptow geschehen, ein schwules Paar angreifen und mit dem Messer niederstechen.
Wir brauchen rechtlichen Schutz und wir brauchen kluge Menschen mit Zivilcourage wie die Philosophin, Literaturwissenschaftlerin, Ethikerin, Feministin und Queer-Theoretikerin Judith Butler, die nun zu uns sprechen wird. Sie wird zu uns sprechen über die Notwendigkeit, dass wir den öffentlichen Raum für uns reklamieren, um unsere Rechte einzufordern – nicht nur jene, die uns bereits zugestanden werden, sondern auch jene, die uns noch vorenthalten werden. Und sie wird zu uns sprechen über die Notwendigkeit, dass wir Allianzen bilden mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, denen unveräußerliche Rechte abgesprochen werden – auch dann, wenn wir uns der Akzeptanz dieser Gruppen nicht sicher sein können.
Liebe Judith, wir freuen uns auf deinen Vortrag. Die Bühne gehört dir.
Judith Butler: Queere Bündnisse und Antikriegspolitik
Ich freue mich, heute Abend hier zu sein, an diesen Tagen des Feierns und in diesem Stadium eines immer wichtiger werdenden politischen Kampfes. Selbstverständlich fühle ich mich geehrt, dass der Berliner CSD meine Arbeit anerkennt, und es ist mir eine echte Freude, an diesen Veranstaltungen teilzunehmen.
Bei diesen Veranstaltungen geht es natürlich um Vergnügen, um Begehren, um die Besetzung des öffentlichen Raumes, den Anspruch, gesehen und gehört zu werden. All dies ist äußerst wichtig für jede Bewegung sexueller oder geschlechtlicher Minderheiten. Also haben wir hier Spaß, lassen unsere Freude hochleben, ermutigen und stärken uns damit für die Zeit, da wir die Feste hinter uns lassen und an unsere Arbeitsplätze oder auf die Straße zurückkehren, wo wir vielleicht Homophobie oder Transphobie begegnen. Zweifellos gewinnen wir hier Stärke, und die Aktivist/innen unter Ihnen werden sie brauchen, wenn sie in der Öffentlichkeit mutig das Recht auf Autonomie verteidigen, gegen Gewalt und für Partizipation beim Aufbau einer radikalen Demokratie kämpfen wollen.
Eine solche Veranstaltung findet in Sälen wie diesem, aber auch auf der Straße statt. Ich möchte heute Abend Überlegungen anstellen, was es heißt, öffentlichen Raum für sich zu beanspruchen, und wie dieses Recht aussehen könnte. Ich glaube, dass dieses Recht, wenn wir es so nennen wollen, uns hilft zu begreifen, warum der Kampf einer entrechteten Minderheit untrennbar verknüpft ist mit dem Kampf aller entrechteten Minderheiten. Deshalb werde ich heute Abend darüber sprechen, dass die Ausübung von Rechten ein sozialer Akt sein muss und wie uns dies auf ein Projekt radikaler Gleichberechtigung verpflichtet – auch wenn wir uns dieser Verpflichtung nicht immer bewusst sind.
Als studierte Philosophin und geprägt durch neue soziale Bewegungen greife ich Werte auf, die schon in politischen Kämpfen artikuliert wurden, und biete einen Weg an, sie zu reflektieren, indem ich herausarbeite, was an diesen Ansprüchen kompliziert ist. Denn ich möchte herausfinden, welche Möglichkeiten wir haben, unsere Ansprüche umzusetzen, und welche Folgen dies hat. Ich möchte mit zwei offensichtlichen Polaritäten beginnen, um zu zeigen, dass der Anspruch auf Freiheit nicht nur ein sozialer Akt ist, sondern auch ein Weg, den öffentlichen Raum zu besetzen und zu transformieren. Ich werde ebenfalls darlegen, dass wir solche Rechte auch beanspruchen müssen, wenn kein Gesetz uns ihre Ausübung garantiert, und dass dies uns zeigt, wie die Inanspruchnahme von Rechten jenseits des rein Juristischen denkbar ist. Denn wenn wir Gesetze machen oder ändern können, so ist dies vor allem deshalb möglich, weil wir uns angemaßt haben, Rechte in Anspruch zu nehmen, die uns niemand gewährt hat, und sie uns selbst gewähren, bevor jemand anderes dies tut. Wir fordern, dass das Gesetz solche Rechte festschreibt und einsetzt. Aber wenn wir das tun, handeln wir politisch und verändern das rechtlichen Grundlagen unseres Lebens. Wir lassen die Politik nicht in einer Gesetzesreform aufgehen, sondern nutzen das Gesetz als ein politisches Instrument unter anderen. Ich möchte zeigen, dass solche Ansprüche auf der Basis relativ uneinheitlicher Allianzen formuliert werden, und diese Allianzen nur dann, wenn sie Forderungen nach innerer Konformität widerstehen, mit ihren Ansprüchen politische Veränderung bewirken können.
Zugehörigkeiten, Allianzen und Spaltungen
Vor kurzem war ich auf einer großen, internationalen Konferenz gegen Homophobie und Transphobie in der Türkei eingeladen. Es war eine besonders wichtige Veranstaltung in der türkischen Hauptstadt Ankara, wo Transgenderpersonen für ihr offenes Auftreten oft bestraft oder geschlagen werden, bisweilen auch von der Polizei, und wo in den letzten Jahren fast monatlich Morde gerade an Transgenderfrauen vorkamen. Mit diesem Beispiel aus der Türkei möchte ich nicht sagen, dass die Türkei «rückständig» ist, wie es mir der Vertreter der dänischen Botschaft schnell vorhielt und was ich ebenso schnell zurückwies. Ich versichere Ihnen, dass solch brutale Morde außerhalb von Los Angeles und Detroit vorkommen, in Wyoming and Louisiana, in Honduras, Buenos Aires, in Belgien, London und auch hier in Deutschland. Ich spreche es an, weil in der Türkei feministische Organisationen in erstaunlichen Allianzen mit queeren, lesbisch-schwulen und Transgenderpersonen gegen Polizeigewalt vorgehen, vereint in ihrem Widerstand gegen Militarismus, Nationalismus und die Formen von Männlichkeit, die diese stützen. So ging nach der Konferenz die Feministin mit der Drag Queen auf die Straße, die Genderqueer- mit den Menschenrechtsaktivist/innen, die Lippenstiftlesben mit ihren bisexuellen und heterosexuellen Freund/innen – an der Demonstration nahmen Säkularist/innen und muslimische Menschen teil. Sie riefen: «Wir werden keine Soldaten! Wir werden niemanden töten!» Der Polizeigewalt gegen Transgenderpersonen zu widerstehen ist auch Widerstand gegen Militärgewalt und die nationalistische Eskalation des Militarismus.
Ein weiteres erstaunliches Erlebnis hatte ich wenige Tage später in Lyon in Frankreich auf einer Konferenz zu Gender und Bildung. Eine bekannte Feministin stellte ihr Buch über die «Illusion» der Transsexualität vor; in die Veranstaltung waren ein paar Transaktivist/innen und queere Verbündete «reingeschneit». Sie verteidigte ihren Standpunkt damit, dass es nicht dasselbe sei, Transsexualität als psychotisch zu bezeichnen und Transsexuelle zu pathologisieren. Es sei ein beschreibender Begriff, der nicht urteile oder etwas vorschreibe. Wie jedoch kann es nicht pathologisierend sein, eine Gruppe von Menschen wegen ihrer besonderen Lebensweise als «psychotisch» zu bezeichnen? Wer hat die Macht, darüber zu entscheiden, und welcher Diskurs befördert eine solche Benennung? Diese Feministin bezeichnete sich selbst als Materialistin, als eine radikale gar, sie stellte sich gegen die Community der Transgenderpersonen, indem sie darauf bestand, dass bestimmte Normen von Männlichkeit und Weiblichkeit die Voraussetzung eines nicht-psychotischen Lebens seien. Woher bezieht sie ihr Wissen über diese Normen und wohin führt sie das? Tatsächlich, was für eine Modalität von Gewalt ist dies? Es ist eine Sache, wenn Psychiater derartige Ansichten vertreten, eine andere, sie auch im «Diagnostischen und statistischen Manual psychischer Störungen (DSM)» zu finden. Etwas vollkommen anderes ist es jedoch, wenn Feminist/innen auf solche Ansichten als «wissenschaftlich» zurückgreifen und sie gegen Gender- und sexuelle Minderheiten vorbringen und damit die Bewegung ernsthaft spalten. In solchen Momenten vergessen wir leicht, dass die Pathologisierung sexueller Minderheiten ihnen fundamentale Freiheiten raubt und den Anspruch auf Gleichbehandlung abspricht! Es ist ein aktiver Akt der Entrechtung und verbindet sich so mit anderen Machtfaktoren, die darüber entscheiden, wessen Leben schützenswert ist und wessen nicht.
In der Türkei ging also die Feminstin mit Transaktivist/innen auf die Straße, während in Lyon die Feministin nicht zur öffentlichen Debatte über meine Arbeit erschien, weil sie befürchtete, im selben Raum mit den Transgenderpersonen zu sitzen, die sie pathologisiert hatte. Es gibt selbstverständlich einen Unterschied zwischen der Kriminalisierung von Queers und Transgenderpersonen, die als solche auftreten – und wir werden noch über ein solches Auftreten sprechen – und ihrer Pathologisierung. Ersteres ist eine moralische Position, die gewöhnlich auf einer falschen Auffassung von öffentlicher Moral beruht. Eine Gruppe von Menschen zu kriminalisieren nimmt ihr nicht nur den Schutz vor der Polizei und anderen Formen öffentlicher Gewalt, sondern versucht auch, die politische Bewegung zu unterminieren, die für Entkriminalisierung und politische Befreiung eintritt. Sich auf das Modell «Krankheit» zu verlegen – konkret das Modell der «Psychose» –, heißt eine pseudowissenschaftliche Erklärung dazu benutzen, um bestimmte Formen der Existenz zu diskreditieren, die niemandem wehtun. Tatsächlich trägt das Modell der Pathologisierung dazu bei, die Befreiungsbewegung zu unterminieren, weil diese Erklärung impliziert, dass sexuelle und Genderminderheiten eher eine «Behandlung» denn Rechte brauchen. Deshalb sollten wir Bemühungen wie denen der spanischen Regierung misstrauisch begegnen, Transsexuellen Rechte einzuräumen, die den Personenkreis pathologisieren, den sie zu schützen vorgeben. Und ebenso sollten wir in den USA und anderen Ländern, in denen das «DSM» gilt, den «Übergangsregelungen» gegenüber misstrauisch sein, die von Transpersonen verlangen, ihren Zustand als pathologisch nachzuweisen, um finanzielle Unterstützung für ihre Transition zu bekommen und um rechtlich als «trans» oder mit welchem auch immer erwünschten Geschlecht anerkannt zu werden.
Wenn Transgenderpersonen sich «pathologisieren» lassen müssen, um ihren Wünschen entsprechend ein lebenswertes Leben führen zu können, dann bedeutet das, dass die Pathologisierung in dem Maß gestärkt wird, wie die Konzessionen zunehmen. Was sind das für Konzessionen, und wie können sie überwunden werden? Unsere Instrumente werden umso stärker, je mehr wir sie nutzen. Es scheint also, dass wir uns Gedanken über die Art des Anspruchs machen müssen, den Transsexualität stellt. Dieser Anspruch bezieht sich auf das Recht, am öffentlichen Leben teilzunehmen, auf die Wahrnehmung dieser besonderen Freiheit, und deshalb ist er mit allen anderen Bewegungen verknüpft, die für das Recht eintreten, ohne Angst vor physischer Gewalt auf die Straße gehen zu können. In Ankara fragte mich eine der Lamba-Aktivistinnen tatsächlich, ob ich in eine reine Frauenbar gehen würde. Ich sagte, ich wüsste nicht, ob ich Zutritt bekäme, und sei auch nicht sicher, ob ich eine derart segregationistische Politik akzeptieren wollte. Sie sagte mir, die Gruppe, die mich eingeladen hätte, habe über diese Frage gesprochen, wohl wissend, dass ich damit das ein oder andere Problem haben könnte. Sie hätten sich für folgende Lösung entschieden: Jede/r, die/der über die Erfahrung verfügt, wie es ist, sich als Frau im öffentlichen Raum zu bewegen, darf in die Bar kommen. Das war eine gute Lösung, doch verlangt sie von Queers und Transgenderpersonen, sich mit Frauen zu identifizieren, und macht dies nicht implizit Frauen zur einzigen Gruppe, die auf Grund ihres Geschlechts diskriminiert wird? Vielleicht müsste man den Vorschlag dahingehend abwandeln, dass biologische Frauen, wer immer sie sein mögen, zu Treffen eingeladen werden, wenn sie wissen, was es heißt, als trans* auf die Straße zu gehen. Tatsächlich können wir die Position des/der Anderen nicht «kennen», und das ist auch kein Problem. Es ist meiner Ansicht nach eine anregende und unvermeidliche Differenz, auf deren Grundlage wir Allianzen und Koalitionen bilden – das, was Jasbir Puar «Assemblagen» nennt.
Impressum
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet die Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.ddb.de abrufbar.
Queer Lectures
Zeitschrift der Initiative Queer Nations e.V., 4. Jg. 2011, Heft 9 Judith Butler: Queere Bündnisse und Antikriegspolitik
Mit einer Einführung von Andreas Kraß und einer Annotation von Bodo Niedel, aus dem Englischen von Tatjana Eggeling und Lilian-Astrid Geese. Herausgegeben von Tatjana Eggeling
Die Vortragsreihe Queer Lectures wird organisiert von Bodo Niendel.
© Männerschwarm Verlag, Hamburg 2011
Umschlaggestaltung: Hermann Schmidt, Neueform, Göttingen,
mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Akademie Waldschlösschen
1. Auflage 2011
ISBN der Printausgabe: 978-3-939542-83-4 ISBN der Ebook-Ausgabe: 978-3-86300-187-2
Männerschwarm Verlag GmbH
Inhalt
Editorial
Andreas Krass: «Ein Chor irrt sich gewaltig»
Judith Butler: Queere Bündnisse und Antikriegspolitik
Zugehörigkeiten, Allianzen und Spaltungen
Gender, Freiheit und Kriminalisierung
Freiheit als soziales Projekt
Radikale Demokratie: Dem Fremden verpflichtet
Der Körper und die Politik
Unfreiwilliger Kontakt – Bedingung für Sozialität und Überleben
Literatur
Bodo Niendel: Ein Ausrufezeichen mit Fragezeichen
Literatur
Die AutorInnen
Judith Butler
Andreas Krass
Bodo Niendel
Queer Lectures
Kuratorium der Initiative Queer Nations e.V.:
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