Kuhls Kosmos - Thor Kunkel - E-Book

Kuhls Kosmos E-Book

Thor Kunkel

0,0

Beschreibung

Silvester 1979. Als der neunzehnjährige Kuhl in einem alpinweißen Dodge Challenger R/T vorfährt und eine feudale Villa in Nassau (Bahamas) anmietet, ahnt niemand, dass er ein in Frankfurt gesuchter, aus dem Stadtteil »Kamerun« stammender Raubmörder ist. Sein bisheriges Leben beschreibt er als ein mieses, billig produziertes B-Movie, doch wie lange wird die Beute reichen, wenn man Mitglied im teuersten Golfclub wird, sich unter greise Millionäre mischt und mit Pornofilmproduzenten verkehrt? Kuhl beschließt, das Ende seines biologischen Films umzuschreiben und ihm auf einer Disco-Party einen galaktischen Showdown zu verpassen … Kuhls Kosmos ist eine Verlierergeschichte mit absehbarem Ausgang und doch ohne die bekannten Klischees. Spannende und amüsante Episoden schildern Kuhls Werdegang. Wilde Schelmenstücke mit Rentnern, mörderische Nachtwächter, scheinbar schlaue Coups und Waffengeschäfte mit amerikanischen GIs. Amüsante Diskussionen auf dem Arbeitsamt, die eines Felix Krull würdig wären, und Filmpläne mit einem alten Pornoproduzenten, der einer Vorliebe für sehr junge Mädchen mit leuchtenden Hautunreinheiten frönt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 391

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Thor Kunkel

Kuhls Kosmos

Roman

Die digitale WerkausgabeZweiter Band

1. eBook Ausgabe 2023

Die Originalausgabe erschien 2008 im PulpMaster-Verlag, Berlin.

Dies ist der 2. Band der digitalen Werkausgabe von Thor Kunkel

© 2023 by Thor Kunkel, Website: thor.kunkel.com

© der eBook-Ausgabe: 2023 Europa Verlag, ein Imprint der Europa Verlage GmbH, München

Cover Design & Concept: Machine

Fotos: Thor Kunkel

Autorenfoto: © Elisabeth Alexander: Thor Kunkel ca. 1979

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-572-6

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

Inhalt

Bücher von Thor Kunkel

Pressestimmen zu diesem Roman

Biografisches

Zum vorläufigen Stand der Ermittlungen

1Einzellerblüte

Das Leben, wie es sein sollte I

Verfallsobjekt Nr. 1

Das Leben, wie es sein sollte II

Fluchtpunkt

Halbzeit oder: Zum bisherigen Stand der Ermittlungen

2Schweres Wasser

Das Leben, wie es sein sollte III

Sein Leben war keine Maxi aus Glitzervinyl

Das Leben, wie es sein sollte IV

Die Kaufhof-Katakombe

Das Leben, wie es sein sollte V

Epilow oder: Zum letzten Stand der Ermittlungen

Anhang: Der Nachlass von Rio Bravo

Exklusive Leseprobe aus dem Roman Ein Brief an Hanny Porter

Bücher von Thor Kunkel

Romane

Das Schwarzlicht-Terrarium

Kuhls Kosmos

Endstufe. Die ungekürzte und unzensierte Originalausgabe

Ein Brief an Hanny Porter

Schaumschwester

Subs (verfilmt als «HERRliche Zeiten»)

Im Garten der Eloi – Geschichte einer hypersensiblen Familie

Welt unter

NEU 2023: Kreuzschmerzen

Sachbücher

Wanderful: Mein neues Leben in den Bergen

Mir blüht ein stiller Garten

Das Wörterbuch der Lügenpresse

Zum Abschuss freigegeben

Der Weg der Maschine

Pressestimmen zu diesem Roman

»Kuhls Kosmos ist die Fortsetzung von Thor Kunkels gigantisch-irrwitzigem Debütroman Das Schwarzlicht-Terrarium aus dem Jahre 2000. Kunkel hat die seltene Gabe, die Tugenden der Sprengmeisterei, der Moralistenkanzel und der Satirebühne in gütlich-virulenter Weise miteinander zu vereinen.« – Literaturwelt.de. Der Blog, 15.10.2008

»Kuhls Kosmos in seiner Version von 2008 ist ein brutaler Killerkosmos. Kuhl ist bewaffnet, und Kuhl schießt. Es ist dem Autor etwas der Humor seines Erstlings verlorengegangen. Obwohl einige Dialoge, wie das seitenlange Ablehnen von Jobangeboten ›aus ethischen Gründen‹ auf dem Arbeitsamt, immer noch sensationell komisch sind. Es ist jetzt alles direkter, schmutziger. Die Lebenserklärungen der Kameruner sind irgendwie auch etwas einfacher: ›Öl, Scheiße und Lügen schwimmen nur deshalb immer oben, weil sie coole Schwimmwesten haben: Angst, Neid und Gier. Nenn es die unverbrüchlichen Gebote der Welt.‹ Und trugen die Kapitel damals noch Motti wie das Cioran-Wort: ›Das Leben! Kombination von Chemie und Bestürzung …‹, so sind die jetzigen etwas schmuckloser so: ›Wir machen keine Lieder für die Ewigkeit. – Boney M.‹« – Volker Weidermann, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, September 2008

»Thor Kunkel schafft es, zwischen Gallus-Viertel und Hauptwache ein völlig fremdes Universum zu inszenieren, das durch seine Überdrehtheit nicht weniger realistisch ist als eine gnadenlos reduzierte Black Community in einem Mosley- Roman. Liebevoll lokalkolorierte Detailtreue (vom überholenden Mercedes aus Offenbach bis zum Autoinnenraumbeflocker bei Opel) wechselt mit visionärer Disco-Space-Atmosphäre. Das alles ist durch brillante Dialoge verbunden, die eine mir bisher unbekannte Erzählqualität haben. Dennoch verliert sich Kuhls Kosmos nicht in den Details, sondern behält eine zwar kaum bemerkbare, aber gut tragende Romanstruktur bei. Ich kann nicht anders als es im Jock-Jargon auszudrücken: Kunkel rulez. Den Feminismus muss frau allerdings ab der Titelseite für 333 Seiten an der Garderobe abgeben, sonst kommt sie nicht am Türsteher vorbei.« – Sabina Schutter, Titel Magazin

»Kuhls Kosmos ist eine brillante Melange: selbstreflektiert, juvenil und actionreich. Kurz: ein wunderbares Stück Literatur zwischen Wahnsinn und ›Pulp Fiction‹- Kino.« – Martin Spieß, Financial Times Deutschland

»… es wimmelt vor Sex, Drogen, Trash und prekären Charakteren. Ein nettes Stück Popliteratur.« – Die Welt, 4.10.08.

»Man kann diesen Roman aber auch anders lesen: als den Roman eines Jungen, der niemals aus ›Kamerun‹ herauskommt, seine Diskoplatten hört und sich in die Illusion einer anderen Welt, in seine utopischen Bahamas hineindenkt. Das nennt man ›längeres Gedankenspiel‹. Dann wird Kuhls Kosmos wirklich zu Kuhls Kosmos, zu den Tagträumereien eines qua Herkunft Gescheiterten, in einer Welt aus Dreck, der sich im Diskorhythmus zu Gold verwandelt, aber die Welt hört trotzdem nicht auf, aus Dreck zu bestehen. Für mich ergibt diese Lesart mehr Sinn. Sie macht aus einer hübschen chronologisch erzählten Geschichte eine beklemmend vertrackte, in der sich die Wirklichkeit nicht einmal mehr in Gedanken überwinden lässt. Ein lohnendes Buch mit vielen gelungenen Schnappschüssen allemal.« – Weblog-Rubrik: Watching the detectives, 21.10.2008

Biografisches

Thor Kunkel, *1963 in Frankfurt/Main, zählt zu den modernen deutschsprachigen Schriftstellern. Sein Debüt Das Schwarzlicht-Terrarium gewann 1999 den Ernst-Willner-Preis (23. Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb). Die FAS zählte den Roman am 17.3.2002 zum Kanon der »25 wirkungsvollsten Bücher der letzten 20 Jahre«. Kunkel studierte bildende Kunst bei dem Popkünstler Thomas Bayrle und arbeitet seit 1985 als kreativer Kopf im Bereich Werbung und Film. Wohnorte, an denen seine Schreibtische standen: London, San Francisco, Amsterdam, El Paso, Frankfurt/Main, Berlin und Hamburg.

Der Bestsellerautor lebt heute in der Schweiz.

Am Anfang wurden wir falsch verstanden.

Wir hatten nie die Absicht, die Leute einem

Inferno auszusetzen, das sie unglücklich macht.

Bitte, niemand ist gezwungen, in eine Disco

zu gehen, geschweige denn dort für immer zu bleiben.

– Dante Arrigo, Innenarchitekt von »Studio 54«, 1979

ZUM VORLÄUFIGEN STAND DER ERMITTLUNGEN

Ich fragte einen Armen, wie es ihm gehe; er antwortete:

Wie einem Stück Seife, ich werde immer weniger.

– Jonathan Swift

An einem farblosen Januartag des Jahres Neunzehnhundertachtzig, zu einem Zeitpunkt, als die Gründer des legendären Studios 54 in New York vor Gericht standen, abwechselnd Volksreden hielten, den Senat beschimpften und die Würde des Präsidenten mit Füßen traten, an diesem Tag wurde Mario Rio Bravo auf dem Griesheimer Friedhof, nicht weit von seinem ehemaligen Arbeitsplatz, einer Chemiefabrik in Mainufernähe, beerdigt. Auch Sonny und Ilse zählten zu der überschaubaren Trauergemeinde. Ilse hatte Klein-Harry, ihren Sohn, bei »Muttern geparkt«, er war ohnehin seit Tagen am Zahnen und hätte nur die Zeremonie gestört. Ein Pfarrer fabulierte von unergründlichen Wegen des Herrn und der Auferstehung im schönsten Kleide.

Sonny konnte sich kaum mehr das Lachen verkneifen, so bizarr empfand er das Katholengeschwafel. Ein Pharmastricher hat die Kurve gekratzt, dachte Sonny. Was war daran unergründlich? Er reckte seinen Hals um zuzusehen, wie sie den Fichtenholzsarg abseilten, doch irgendeine Schulter raubte ihm in letzter Sekunde die Sicht, dabei war er auf seinen höchsten Kloben – den alten Gary-Glitter-Tretern – erschienen!

Ilse schluchzte vor sich hin oder hickste, was auch gepasst hätte, denn sie hatte auf dem Hinweg zum Leichenbegängnis getrunken. Verlaufene Wimperntusche zog sich beidseitig der Nase wie eine Rußspur zum Kinn. Ilses stoßweiser, nach Martini riechender Atem war deutlich zu sehen und Sonny spürte die Wärme in ihrem Körper. Unter dem Mini trug sie schwarze, schillernde Strümpfe. Je länger der Pfarrer sabbelte, umso öfter dachte Sonny daran, sie nach Ende der Vorstellung hinter einem Grabstein im Stehen zu nehmen. Mit dem Tod konfrontiert, hatte er immer eine unerklärliche Geilheit empfunden, als wolle er den grimmen Schnitter verhöhnen.

»Wie lange noch?«, fragte er Rios Mutter, die zufällig neben ihm stand.

»Er ist doch schon weg«, antwortete sie. Ihre Augen nahmen einen trüben, glasigen Ausdruck an, als ob es in ihr dämmere. »Mein Junge ist im Himmel bei unserem Herrn Jesus Christus.«

»Ach so.« Sonny hatte endlich einen freien Blick auf die Grube. Die Kiste war bereits verschwunden, ein Sargträger scharrte genervt mit dem Fuß.

»Glauben Sie das eigentlich wirklich?«, hakte Sonny nach. »Ich meine, vielleicht gibt es da oben ja gar nichts. Kann doch sein. Den lieben Gott ham se auf’m Mond nicht getroffen.«

»Gott wohnt nicht auf dem Mond«, sagte die Mutter, »sondern im Himmel. Bringt man den jungen Leuten denn gar nichts mehr bei?«

Sonny bleckte die Zähne, doch verbiss sich jeden weiteren Kommentar.

Als die Totengräber ihr Handwerk begannen, saß er bereits in Ilses auf Hochglanz poliertem Wagen, den sie im Wendehammer für Begräbniskutschen abgestellt hatte.

»Dumme Schnalle«, Sonny versuchte, den ewig verdrehten Gurt aufzudröseln, »da sieht man’s mal wieder, alles, was ein Loch hat, ist kaputt!«

Ilse runzelte die Stirn, sehr lange sogar, doch dann drehte sie den Zündschlüssel und parkte mit der ihr angeborenen Ruppigkeit aus. Trotz des kinetischen Schubs fühlte sie sich in diesem Moment alt und verbraucht. Eine alleinerziehende, frisch geschiedene Mutter mit einem schlecht gehenden Fitness-Studio am Hals, das war sie rein statistisch gesehen. Auch die Bank saß bisweilen im Nacken, denn in den letzten Monaten hatte sie die Raten für die Hypothek kaum mehr aufbringen können. Sonny hatte sie dagegen gerne am Hals. Obwohl sie ihn ebenso wenig liebte wie ihren Lincoln Continental, so wäre es ihr doch schwergefallen, auf ihn zu verzichten. Als Mann verkörperte er den kleinen Unterschied unter dem Vergrößerungsglas. Selbst wenn sich Liebe nicht in Maßeinheiten ausdrücken ließ, noch gab es keinen Ersatz für Kubikzentimeter, eine Weisheit, die sie einem Muscle-Car-Magazin ihres Exmannes verdankte. Wenn sie ehrlich war, und das war sie nur selten, hatte ihre Ehe nur deshalb Schiffbruch erlitten.

Langsam fuhren sie an der Friedhofsmauer entlang. Vor dem Portal lungerten noch ein paar bräsig wirkende Trauergäste herum, eine etwas größere Menschentraube hatte sich dagegen um einen halb auf dem Gehweg geparkten Laster der US-Army versammelt. Gerade kletterte ein junger, ganz in Weiß gekleideter Schwarzer aus der Kabine, einen riesigen, mit goldenen Bändern geschmückten Trauerkranz in den Händen. Der Typ sah aus, als ginge er zu einem Mafia-Begräbnis.

»Sieh mal, da drüben ist Eddie«, entfuhr es Sonny.

»Und er ist wieder zu spät«, sagte Ilse. »Was meinst du, soll ich anhalten?«

»Aber, baby«, rief Sonny, »ich habe einen Schlussstrich gezogen, hast du das vergessen? Kein erwachsener Mann würde sich mit einem Typen wie Eddie abgeben.«

Die Nasen stur nach vorn gerichtet, rollten sie einfach vorbei.

»Er winkt uns nach, siehst du das?« Ilse warf einen schnellen Blick in den Seitenspiegel des Wagens.

»Kannst du mir eins verraten? Warum muss er sich selbst zu diesem Anlass wie ein Zuhälter kleiden?«

»Das ist sein ghetto style«, kommentierte Sonny, »so sind die nigger halt drauf. Die Kugel, die Rio erwischt hat, trägt er jetzt um den Hals.«

»So?«, schnaubte Ilse. »Dann ist er noch bescheuerter, als ich dachte.«

»He, baby, sag, was du willst, aber es stimmt: Das Miststück von einem Bleiklumpen steckte in einem speaker. Der alte Stompie hat es erst bei den Aufräumarbeiten entdeckt. Meinte neulich, das Knacken, das er um Mitternacht gehört hatte, hätte wohl doch natürliche Ursachen gehabt. Ich meine, er war kurz davor, einen Exorzisten zu rufen. Doch dann hat er die Kugel aus dem M-16-Gewehr gefunden und alles war wieder paletti. Superlow, wenn du mich fragst.«

»Was ist daran superlow?«, fragte Ilse, die Sonnys Disco-Slang insgeheim hasste. »Und woher will Eddie wissen, dass es die Kugel war? In der Zeitung stand, ein G.I. hätte wild um sich geschossen.

Eddie ist ein Hornochse, und wenn du ihm glaubst, dann bist du ein noch größeres Rindvieh!«

»Lass uns mal sachlich bleiben.« Sonny spürte ein Unwetter aufziehen und rückte vorsichtshalber so weit es ging von ihr ab. »Buddha Schmidt hat die Flugbahn der Kugel rekonstruiert.«

»Wie? Doch nicht etwa der große Buddha Schmidt, Saufaus und letzter Baccara-Fan der Nation?«

»Logen, genau der.« Sonny machte eine hilflose Geste.

»Außerdem gibt es noch einen verdammt merkwürdigen Zufall: Die Seite der Box, in der die Kugel steckte, war ja über und über mit Platten beklebt. Und jetzt rate mal, welches Cover die Kugel erwischt hat!«

Ilse zuckte die Achseln.

»›Born to be alive‹«, sagte Sonny. »Die gute Maxi aus Glitzervinyl! Kein Witz. Es waren noch Blutspritzer drauf.«

»Das will nichts heißen.«

»Aber, baby, es war Rios Lieblingsplatte!« Sonny hielt einen Moment inne, denn die Plattenhülle, die Patrick Hernandez vor einem krude gepinselten Seestück zeigte, hatte ihn immer an verdorbene Meeresfrüchte oder Salmonellen erinnert.

»Das ist doch kein Zufall.«

»Rio war zu gut für diese Welt«, seufzte Ilse.

»Da täuschst du dich aber.« Sonny schüttelte entschieden den Kopf. »Rio war creepy, er und sein bester Freund Kuhl, dieses abartige Aas. In der Schule nannten wir sie immer die Gestörten vom Block. Sie waren nicht normal, verstehst du?«

»Hör schon auf.« Ilse begann, linkisch ihre Augen zu wischen. »Rio war schon in Ordnung.«

»In Ordnung?« Sonny zog sein Lid nach unten, so dass sie das Weiße vom Augapfel sehen konnte.

»Kuhl hatte vielleicht einen Schatten, aber Rio hatte einen, der konnte sogar reden. Behauptete er jedenfalls. Eines Abends ist mir Rio auf der Camberger Brücke begegnet, direkt am Schotterpark, wo sie die neuen Gleise verlegen. Es war schon spät und über dem Bahnhof hing dichter Nebel.

Ich hörte auf einmal Schritte und, na ja, da kam er mir entgegen. Das heißt, eigentlich hatte ich gar keine Schritte gehört, sondern Zähneklappern, von weit her schon. ›He, Mann‹, hab ich gesagt, ›wie geht’s‹? Du weißt ja, wie freundlich ich bin. Aber er hat einfach durch mich hindurchgestarrt. War wohl auf trip oder so und da hatte er meistens seinen drei Meter großen unsichtbaren Kumpel im Schlepptau.«

Ilse holte einmal tief Luft, sehr tief sogar.

»Seinen was bitte?«

Sonny schluckte. »Na, dieses … dieses Ding. Er nannte es Gestaltwerther oder so.«

»Sonny!«

»Frag Eddie, wenn du mir nicht glaubst! Wir wussten alle Bescheid.«

»Und da habt ihr nichts getan?«

»Was denn – etwa Rio bei den Bullen verpfeifen? Außerdem hatte er dieses Ding nur erfunden, um sich wichtig zu machen. Ich meine, er hatte ja sonst nicht viel, womit er angeben konnte. Seine Plattensammlung vielleicht, aber das war’s dann auch schon.«

Ilse schüttelte den Kopf. »Kaum ist er unter der Erde, schon ziehst du über ihn her.«

Sonny konnte beim besten Willen keinen Zusammenhang sehen, aber er hatte sich vorgenommen, den abgeklärten Tröster zu spielen.

»Weißt du, baby«, er hauchte ihr einen Kuss in die Armbeuge, »der Tod ist die natürlichste Sache der Welt, er gehört zum Leben. Ich meine, es ist normal, dass wir sterben. Rio hat den Bogen überspannt und ab morgen bringt ihm der Maulwurf die Post, das ist alles.«

»Schluss jetzt«, sagte Ilse. Die ersten Siedlungshäuser vom Kamerun waren in Sicht und ihre Weißwandreifen holperten über die schlecht geteerte Straße. »Und ich dachte, ihr wart Freunde.«

»Freunde?« Sonny schenkte ihr einen mitleidigen Blick. Wenn sie grübelte, war sie unausstehlich. Er nahm sich vor, an irgendeiner Pumpe noch eine Flasche Asti Spumante zu kaufen und ihr gründlich das Gehirn einzuweichen.

»Ein erwachsener Mann hat keine Freunde«, stellte er schließlich klar. Und da er sich auch aufs Süßholzraspeln verstand: »Gäbe es nicht die Frau, die er liebt, er wäre mutterseelenallein auf der Welt.« Beiläufig tätschelte er ihr rechtes Knie. »Ist dir auch so kalt, baby? Wenn wir zu Hause sind, werde ich erst mal den Jacuzi anschmeißen und dich so richtig verwöhnen.«

»Ein andermal«, sagte Ilse. »Manchmal denke ich, ich bin nur mit dir zusammen, weil du am durchtriebensten bist.«

Kann schon sein, dachte Sonny. Über seine Beziehung zu Ilse war er sich restlos im Klaren: Jeden Abend schob er sich eine Brustwarze in den Mund und still und selig vor sich hin nuckelnd, dämmerte er in den Schlaf. Ihre Schwangerschaft war jetzt anderthalb Jahre her und doch benahm er sich noch immer wie der Milchbruder seines Stiefsohns.

Sie hatten gerade eingeparkt, als Sonny einen dunkelgrünen Ford Capri bemerkte. Der Wagen rollte im Schritttempo an ihnen vorbei und hielt dann in der nächstgelegenen Einfahrt. Sonny konnte die Zivis förmlich riechen. Den Jüngeren der beiden kannte er vom Sehen: Schnauzbart, Dauerwellen, Jeansjacke mit Pelzkragen und ockerfarbene Stiefel – eine Geige vor dem Herrn!

Gelegentlich tauchte er im X-Body-Center auf, mühte sich mit einer Langhantel ab und versuchte, Ilse mit Räuberpistolen zu imponieren. Angeblich hatte er die Drogenszene Frankfurts im Griff, Percy Quäl nannten sie ihn.

»Hi.« Sonny machte ein sinnloses, aber allgemein akzeptiertes Finger-über-Kreuz-Zeichen.

»Platzer, Kriminalpolizei«. Der Ältere präsentierte seinen Dienstausweis. »Herr Sonnfried Lattmann? Wir hätten ein paar Fragen an Sie.«

»Dann fragen Sie mal«, sagte Sonny.

»Auf der Wache«, sagte der Bulle. »Ich muss Sie leider bitten, mit uns zu kommen. Es liegt da ein Verdacht gegen Sie vor.«

»Verdacht?«, fragte Ilse. »Hat er schon wieder einen Strafzettel nicht bezahlt?«

»Hallo, Ilse.« Percy Quäl sah verlegen zu Boden. »Dein Freund hier scheint in ein Kapitalverbrechen verwickelt zu sein. Sieht nicht gut aus für ihn.«

»Kapitalverbrechen?« Sonny versuchte ein belämmertes Lächeln. »Aber ich hab doch gar keine Aktien.«

Der Alte schüttelte wie ermattet den Kopf. »Komm schon, der Kommissar wird dir alles erklären.«

»Wahnsinn!«, japste Sonny. »Du, Ilse, ruf die Polizei! Sofort! Das ist Freiheitsberaubung!«

»Spar dir die Fisimatenten!« Percy stieß Sonny unsanft gegen den Wagen. »Du wirst uns freiwillig begleiten, hast du verstanden, du halbe Portion?«

Wie in einer amerikanischen Verballhornungsserie von Recht und Ordnung drehte er Sonny den Arm auf den Rücken und führte ihn ab.

»Es kann länger dauern«, sagte sein Partner. Er wandte sich noch einmal um. »Ich würde sein Abendessen vorsichtshalber warm stellen, Fräulein.«

Sonny, der sich auf einen schweinischen Nachmittag im Jacuzi gefreut hatte, starrte wie betäubt vor sich hin.

»Ich glaub, ich bin im falschen Film«, stellte er fest.

»He, das wird es wohl sein!«

SZENE

Untertitel: Frankfurt am Main, Polizeipräsidium, 3.1.1980

Grelles Licht. Ein orangefarbener Plastikstuhl vor schmuddeliger Raufaser. SONNY, bis auf die Unterhosen ausgezogen, setzt sich auf den Stuhl. Seine Gesichtsmuskulatur imitiert immer wieder drei, vier stereotype Mienen: Heiter. Erwartungsvoll. Verstört. Ungläubig. Einmal winkt er scheu in die Kamera.

SONNY: »Hat mal jemand ’ne Lulle für mich?«

Jemand reicht ihm aus dem OFF eine Zigarette.

SONNY: »Nett von Ihnen. He, Sie – is das ’ne Eintracht-Krawatte?

(Pause) Hab ich gleich gesehen.«

Im OFF fällt eine Tür ins Schloss. SONNYsteckt sich die Zigarette in den Mundwinkel.

SONNY: »Hat hier vielleicht noch jemand Feuer?«

Eine Tür öffnet sich – diesmal energisch – und ein Feuerzeug flammt auf.

SONNY: »Die Firma dankt, Meister.«

Er raucht den ersten Zug auf Lunge und hustet.

SONNY: »Starker Tobak. Roth-Händle?«

Er hält sich die Hand über die Augen, als würde ihn das Licht blenden, und blickt direkt in die Kamera.

»Sie heißen?«, fragte die Stimme.

»Das wissen Sie doch«, sagte Sonny.

»Wohnhaft?«

»In Frankfurt, Kamerun. Mal hier, mal da.«

»Kamerun?«

»He, soll das heißen, Sie haben noch nie von unserem Viertel gehört?« Sonny machte ein paar fahrige Bewegungen. »Kamerun grüßt den Rest der Welt.«

»Was sind Sie von Beruf?«

»Beruf?« Sonny hätte um ein Haar Rammler gesagt, aber er hielt sich zurück.

»Unternehmer«, sagte er dann.

»Und was unternehmen Sie, wenn man fragen darf?«

»Was soll’n das werden, Jungs? Heiteres Beruferaten?«

Sonny suchte nach den passenden Worten. »Ich arbeite in einem Sportstudio, mit gleitender Arbeitszeit, gleich hinter der Opel-Brücke.«

»Heißt das, Sie sind überdurchschnittlich fit?«

»Stimmt.«

»Sie trinken nicht?«

»Keinen Tropfen.«

»Und Sie sind Nichtraucher?«

»Sie haben’s erfasst.«

Die Stimme machte eine kurze Pause.

»Und was tun Sie da gerade?«

Sonny betrachtete die Kippe in seiner Hand. »Schitt.«

»Sie scheinen nervös zu sein.«

»Und wenn? Die Hetzmeute hat mich verschleppt.«

»Gehen Sie noch einer nebenberuflichen Tätigkeit nach?«

»Sind Sie schwerhörig?« Sonny – innerlich und äußerlich ohne jede Perspektive – blinzelte in die Lampen.

»Wollen Sie mir nicht endlich sagen, worum es geht?«

»Lassen Sie es mich einmal salopp formulieren: Haben Sie jemals mit Waffen aus den Beständen der US-Army gehandelt?«

»Waffen?« Sonnys Mund trocknete schlagartig aus.

»Nicht dass ich wüsste.«

»Nicht dass Sie wüssten.« Die Stimme schien sich im Flüsterton mit jemandem auszutauschen.

»Kannten Sie Harry Griggs, den Mann Ihrer Freundin?«

»Flüchtig«, sagte Sonny. »He, wissen Sie, was mir gerade einfällt? Harry hat manchmal Anspielungen gemacht, er könnte Knarren besorgen.«

»Mit Sicherheit sogar. Sehen Sie, Harry Griggs, ein angesehener SPEC-4 der Army, hat uns nach seiner

Ausreise eine fünfseitige Selbstanzeige geschrieben.«

»Tzzz, jetzt bin ich aber überrascht. Ich meine, dass Harry in der Lage war zu schreiben, alle Achtung.«

»Den Komiker-Auftritt können Sie sich sparen. Griggs belastet Sie schwer. Sein Brief schildert im Detail das Unwesen von Waffenschiebern der 1st Armored Division. Einer von denen hat Ihren Freund Rio auf dem Gewissen.«

»Und – haben Sie den schon verhört?«

»Nein. Als Angehöriger der Army wurde Danny Abraham Rosen nach der Tat sofort an die MP überstellt und hat Deutschland inzwischen verlassen.«

»Typisch.« Sonny konnte es nicht lassen zu stänkern. »Einen Killer lasst ihr laufen, aber bei mir macht ihr einen auf Starsky & Hutch!«

»Wo waren Sie am Abend der Schießerei?«

»Im Bett«, sagte Sonny.

»Gibt es dafür einen Zeugen?«

»He, nicht frech werden, ja?«

»Oh, Verzeihung: Gibt es eine Zeugin?«

»Sicher, meine zukünftige Frau, Ilse Griggs.«

»So. Was, glauben Sie, ist in dieser Nacht im Ali Baba’s passiert?«

»Das Übliche.«

»Sie meinen Drogenexzesse und kriminelle Delikte?«

»Ma langsam, Herr Oberhauptkommissar …«

»Nun, wir haben zwei Dutzend Aussagen von Leuten, die behaupten, Danny Rosen habe auf ein – ich zitiere – ›fliegendes Monstrum‹ gefeuert. Eine Zeugin, die sich noch immer in psychiatrischer Behandlung befindet, gab Folgendes zu Protokoll: ›Es schwebte im Trockeneisnebel unter der Decke.

Ich dachte erst, es sei nur ein Gag, aber dann streckte es seine schwarzen Fühler aus und ich spürte den Tau des Todes auf meinem Gesicht.‹ Ich würde sagen, so etwas beschreibt nur jemand, der verdammt high war, oder nicht?«

»Wo Sie recht haben, haben Sie recht.« Sonny nickte zustimmend. »Würde sagen, die Dame hatte eine schwere Hazillula… Hallizuna…«

Halluzination ist ein schwieriges Wort, wenn man in Unterhosen auf einem Plastikstuhl sitzt, geblendet vom Scheinwerferlicht und in der Gegenwart eines Bullenrudels, das einem etwas anhängen will. Sonny nahm neuen Anlauf.

»Für mich klingt das nach dem gepanschten acid, das Rio von Karl Fußmann bezogen hat. Vielleicht hat der eine Lokalrunde geschmissen, wer weiß.«

»Konnte er nicht. Fußmann hatte am 18. Dezember 1979 einen kleinen Unfall, den er nicht überlebt hat. Er ist ohne erkennbaren Grund in die Leitplanke gerast.«

»Ja, stimmt, habe ich ganz vergessen. Ich meinte ja nur.«

»So, so, Sie meinten ja nur.«

»He, waren Sie eigentlich schon mal in Fußmanns Kellerlabor?«

»Das steht auf einem anderen Blatt. Sie sitzen hier, weil wir gerne wüssten, wer in Frankfurt einen Handel mit gestohlenen Waffen betreibt. Über die Hehler gibt es eine interessante Stelle in der Selbstanzeige von Harry Griggs. Hören Sie zu: ›Die Nutte und ihr Zwerg leiteten das Tagesgeschäft.‹ Können Sie sich vorstellen, wen er damit gemeint haben könnte?«

Sonny schob seine Unterlippe leicht vor und schüttelte unendlich langsam den Kopf. »Keine Ahnung, sir, die Beschreibung trifft auf niemanden zu, den ich kenne.«

Worte, wie in Stein gemeißelt. Er hatte den Eindruck, dass jemand hinter vorgehaltener Hand lachte. »Wie Sie wollen. Dass Sie Danny Rosen kennen, haben Sie vorhin schon zugegeben. Kannten Sie nicht auch Anton Kuhlmann?«

»Kuhl, ja, logen1.« Sonny spürte, wie sich das Netz enger zog. »Hör’n Sie mal, Sie machen einen großen Fehler. Wollen Sie, dass ich Herrn Bossi einschalte? Herrn R. Bossi aus München?« Sonny hatte kurz zuvor über den Anwalt der Schönen und Reichen gelesen und hielt Rechtsprechung seitdem für eine Frage des Geldes.

»Was ihr hier macht, ist Folter und Kindesentführung!«

»Ihre Aussage wurde zur Kenntnis genommen, okay?«

Der Polizist räusperte sich. »Was ist mit Private 3rd Class Edgar Logwood, auch Eddie genannt? Haben Sie ihn nicht vorhin auf dem Friedhof getroffen?«

»Stimmt nicht«, ächzte Sonny. »Ich habe kein Wort mit ihm gewechselt.«

»Wie klug von Ihnen.« Die Ironie in der Stimme war nicht zu überhören. »Wir haben nämlich die Anzeige eines Offenbacher Disco-Besitzers: Logwood habe ihn vor drei Monaten mit vorgehaltener Knarre bedroht. Was haben Sie dazu zu sagen?«

»Dass ein Frankfurter einem Offenbacher nie etwas glauben sollte! Das sind alles Kuffnucken!«

Später entschied sich Sonny, Kuhl alle Schuld in die Schuhe zu schieben. »Der Arsch suchte einfach immer und überall Streit.«

»Und deshalb haben Sie ihn später beseitigt?«

»Beseitigt?« Sonnys Stimme klang höher, als würden ihm gewisse Teile gequetscht. »Wie kommen Sie denn da drauf?«

»Nun, hier habe ich ein paar Fakten für Sie.« Außerhalb des Lichtkreises begann jemand geräuschvoll zu blättern.

»Am 19. November wurden zwei einschlägig bekannte Kriminelle in einem Parkhaus erschossen. Kopf- und Herzschuss aus nächster Nähe. Die Tatwaffe: eine 9 Millimeter. Der einzige mutmaßliche Zeuge war damals ein junger Nachtwächter, Ihr Nicht-so-guter-Freund Kuhl. Sehen Sie einen Zusammenhang?«

»Verdammt, nein.«

»Sie mochten diesen Kuhlmann nicht besonders, ist das richtig?«

»Niemand mochte Kuhl«, sagte Sonny. »Es hieß, er hätte seinen Alten auf dem Gewissen. War ’ne richtig miese Geschichte, ich meine, jeder weiß doch, dass was nicht stimmt, wenn ein Toaster in eine Wanne reinplumpst, wo der Vater noch drinsitzt. Kuhl hat darüber sogar Witze gemacht. Sein Alter hätte auf dem Rücken ausgesehen wie ein frittiertes Wienerwald-Hähnchen.«

»Beantworten Sie nur meine Frage!«

»Ich hätte mich nie mit diesem Kotzbrocken einlassen sollen.«

»Das ist das erste ehrliche Wort, das ich von Ihnen höre. Harry Griggs schreibt nämlich, dass Kuhlmann Sie abgelinkt habe. Und dass Sie sauer gewesen seien, richtig sauer. Haben Sie Kuhlmann deshalb um die Ecke gebracht?«

»Harry Mothertrucker Griggs«, Sonnys Hände krallten sich in seine Knie, »so eine Ratte –«

Er brach ab, denn das Tuscheln im Hintergrund machte ihn nervös.

»Jetzt seien Sie mal vernünftig.« Der unsichtbare Inquisitor schien eine neue Schraube gefunden zu haben. »Finden Sie es nicht merkwürdig, dass Leute, die Sie kennen, ganz plötzlich verschwinden?«

»Ich finde eine Menge Dinge merkwürdig, aber ich habe mich an diese Dinge gewöhnt.« Es hatte nichts mit Mitleidstour zu tun, was Sonny jetzt sagte: »Sollte ich eines Tages verschwinden, würde das auch keinen scheren.«

»Aber Sie sind nicht verschwunden, sondern Kuhlmann und zwei Türsteher derselben Diskothek, deren Besitzer wiederum Ihren Namen im Zusammenhang mit einem Raubüberfall nannte. Was für ein merkwürdiger Zufall!«

»Das finden Sie merkwürdig?«, murmelte Sonny. Der Lichtkreis schien sich um ihn zu drehen.

»Sehr sogar. Und dass ein mehrfach ausgezeichneter Spezial-Offizier der US-Army Sie als Drahtzieher einer Waffenschieberbande bezichtigt, das finde ich sogar obermerkwürdig!«

»Ich habe seine Alte gebumst«, platzte Sonny heraus. »Reicht das als Erklärung?«

»Ich bin noch nicht fertig, Sonny-boy.« Die Stimme holte einmal kurz Luft.

»Anton Kuhlmann verschwindet also irgendwann im November. Der Ihnen bekannte Mario Bravo erstattet am 9. Dezember eine Vermisstenanzeige und wird drei Wochen später erschossen. Die Tatwaffe? Eine als gestohlen gemeldete M-16 aus Beständen der USAEUR. Kaliber 5.56. Der Schütze? Wiederum ein Bekannter von Ihnen. Nun frage ich mich, kann es sein, dass die Komplexität dieses Falls meinen Horizont übersteigt, oder klingt das nicht alles ziemlich bizarr?«

Sonny bewegte den Kopf hin und her.

»Ja, ich würde sagen, das Ganze klingt ziemlich bizarr.«

Die Stimme machte eine wohlbemessene Pause.

»Ich weiß das, Sonny. Ich wollte nur hören, ob Sie das auch wissen. Dabei habe ich Ihnen das Allerbizarrste noch gar nicht erzählt. Wir haben gestern eine Waffe im Garten Ihrer Freundin gefunden. Und Einschussspuren neben ihrem Balkon. Wer könnte Sie beide wohl im Visier gehabt haben?«

»Was … wie bitte?« Sonny glaubte, er hätte einen Gehörsturz erlitten.

»Das ist die Waffe.« Jemand reichte Sonny ein gestochen scharfes Schwarzweißfoto. »Eine Benelli mit Schalldämpfer, ein ausgesprochen seltenes Stück.«

Mothertrucker, dachte Sonny. Er musste an die letzte Neujahrsnacht denken, die verdächtigen Geräusche am Fenster und Ilses Verdacht, ihr Ex würde da draußen in der Dunkelheit lauern.

»Zum letzten Mal – «, eine Hand landete plötzlich auf Sonnys Schulter, »packen Sie endlich aus. Wir haben mehr als genug Beweise, um Sie dingfest zu machen.«

»Ding … fest?« Sonny ließ das Foto fallen. »Sie bluffen doch nur«, sagte er dann und stand auf. »Das Ganze ist eine miese Racheaktion von einem frustrierten Typen, um mich in die Pfanne zu hauen! Harry war in dieser Nacht am Durchdrehen, weil ich mit Ilse – na, Sie wissen schon.« Am Rande des Nervenkaspers brachte Sonny noch ein groteskes WINNER-smile zustande. »In der Neujahrsnacht hat er uns mehrfach telefonisch belästigt. Fragen Sie Ilse, wenn Sie mir nicht glauben. Die Waffe, die Sie gefunden haben, gehörte eindeutig Harry.«

»Können Sie beweisen, was Sie da sagen?«

»Denke schon.« Sonny sah zum ersten Mal Licht am Ende des Tunnels. »An der Knarre werden Sie meine Fingerabdrücke nicht finden. Sie haben nichts gegen mich in der Hand, und jetzt möchte ich meinen Anwalt sprechen, und zwar sofort.«

Das Licht ging an und irgendjemand reichte Sonny ein Handtuch.

»Alle Achtung, das waren die vollen zwölf Runden.«

Ein Schnauzbart im Skipulli setzte sich Sonny gegenüber.

»Herbricht«, sagte er. »Kommissar Jörg Herbricht. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld. An der Benelli waren tatsächlich nur die Fingerabdrücke von Griggs. Damit sind Sie raus aus der Reise, das war’s. Wenn Sie sich beeilen, sind Sie zum Abendessen wieder bei Mama …« Erst jetzt bemerkte er die Pfütze unter Sonnys Stuhl.

»Heiliger Strohsack«, sagte Herbricht, »warum haben Sie nichts gesagt?«

Wahrscheinlich dieses peinlichen Vorfalls wegen fühlte er sich verpflichtet, Sonny nicht nur eine Unterhose zu leihen, sondern ihn auch nach Hause zu fahren.

»Es ist der merkwürdigste Fall, den ich je hatte«, sagte Herbricht im Auto. »Eine Menge Leute verschwinden oder werden ermordet. Und wir wissen nicht, was dahintersteckt. Noch mysteriöser, wenn Menschen sich mir nichts, dir nichts in Luft auflösen. Wir gehen davon aus, dass es da draußen noch immer einen Mörder gibt, der frei herumläuft und jederzeit wieder zuschlagen könnte.«

Er streifte Sonny mit einem verdammt scheelen Blick.

»Dass Sie es nicht sind, war mir von Anfang an klar, aber ich wollte Ihnen mal auf den Zahn fühlen.«

»Das haben Sie getan«, fiepte Sonny, »und wie.«

Ein Beamter aus der forensischen Abteilung hatte ihm sein kleines Malheur in einen luftdichten Beutel verpackt; den knautschte er ununterbrochen zusammen.

»Sie waren meine letzte Chance«, sagte Herbricht.

»Außerdem wollte ich mir mal wieder vor Augen führen, dass ich ein abgebrochenes Psychologiestudium mit mir herumschleppe. Ab und zu überkommt es mich dann.«

Er wischte einmal über die beschlagene Scheibe. »Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, ob sich diese Chose je aufklären wird. Es gibt kein Motiv. Da leben ein paar Menschen jahrelang völlig unauffällig in ein und demselben Milieu und plötzlich schlägt der Tod wie mit der Fliegenklatsche dazwischen.

Eine Art Massensterben setzt ein und niemand hat dafür eine Erklärung.« Der Anblick der Galluswarte, die als ein Kameruner Wahrzeichen gilt, ließ ihn einen Moment den Faden verlieren.

Ein Krähenschwarm flatterte um den Turm und plagte die Wartenden an einer Haltestelle mit seinen Kotbömbchen. Sonny lachte kurz auf, als er die grellweißen Tupfen bemerkte.

»Manchmal denke ich, dieser Kuhlmann ist die Schlüsselfigur«, fuhr Herbricht fort. »Ich habe ihn damals, nach dem Blutbad im Parkhaus, gewarnt, aber er wollte nicht hören. Vermutlich hatte er die Täter erkannt und geglaubt, sein Schweigen würde ihn schützen. Dem Anschein nach hatte er sich wohl verkalkuliert.«

»Soll das heißen –«, Sonny suchte nach den passenden Worten, »soll das heißen, auch Kuhl wurde von denen ermordet?«

»Ganz sicher.«

»Und seine Leiche?«

»Vorläufig beurlaubt.« Herbricht schmunzelte vor sich hin. »Entschuldigen Sie, aber so nennen wir das intern, wenn eine Leiche noch nicht aufgetaucht ist.«

»Aber wieso sind Sie so sicher?«

»Es gibt keine andere Erklärung«, apostrophierte der Kommissar.

»Wissen Sie«, fügte er hinzu, »ein Mensch verschwindet nicht wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird. Er zieht nicht einfach ein paar Kreise und dann ist alles wieder still. Wenn ein Mensch verschwindet, hinterlässt das eine Art Ruch in der Luft. Aus einer Todesvermutung wird eine gefühlte Gewissheit und ein erfahrener Kriminalbeamter weiß dann Bescheid. Kuhlmann ist tot, mausetot. Glauben Sie mir.«

1 Frankfurter Slang-Ausdruck aus den 1970er-Jahren für »logisch«.

1Einzellerblüte

Ich wünschte, dass es das Alter

zwischen dreizehn und dreiundzwanzig

nicht gäbe oder dass die Jugend diese

Jahre verschliefe; denn in dieser Zeit

geht es nur darum, Mädchen zu schwängern,

den Alten vor die Köpfe zu stoßen,

es geht nur ums Stehlen und Kämpfen.

– Shakespeare

DAS LEBEN, WIE ES SEIN SOLLTE I

Am letzten Morgen des Jahres 1979 erwachte Kuhl mit dem schlimmsten Brummschädel seines Lebens. Er fühlte sich dehydriert, wie Schrumpelsynthetik aus der Trockenschleuder. Der salzige Geschmack auf seiner Zunge ging in ein fast schmerzhaftes Sodbrennen über, ein Brennen, das jeder vom Kotzen kennt. Batteriesäure, dachte Kuhl. Seine Batterie war jedenfalls heillos hinüber, denn er war letzte Nacht wie nie zuvor unter die Räder gekommen. Automatisch tastete er nach seiner Uhr: Viertel nach fünf, Bahama big time. Sein innerer Taktgeber tickte dagegen noch immer nach den mittleren Breiten.

Jeden Morgen erinnerte ihn das Schlafzimmer erneut an das Gemach eines Paschas: Aus dem Baldachin hingen goldene Troddeln bis auf die satinbezogenen Kissen herab. Die zerwühlte Spielwiese grenzte an einen Whirlpool. Am Beckenrand erkannte er leicht verschwommen einen Spiegel, Geldscheine und die Reste des weißen Pulvers, mit dem er sich die Nase gepudert hatte.

Coca war auf den Bahamas billig wie Läusepuder, nicht zuletzt weil Kolumbien mit seinen schneebedeckten Tälern vor der Haustür lag.

Kuhls Blick wanderte zu einem dunklen Fleck in den Gardinen. Vor Tagen war dort, zwischen den Gazefäden, der Todeskampf einer Fliege zu Ende gegangen. Kuhl fragte sich, wann die kleine Staubfee, die er gelegentlich traf, den Kadaver beseitigen werde. Ob er ihr mal einen Tipp geben sollte? Oder gleich einen Tritt in den Arsch?

Unschlüssig richtete er sich auf. Unten, am Strand, veranstalteten die Wellen das alte Rein und Raus der Gezeiten in einem schäumenden Riesenteller derselben blaugrünen Tinte, die angeblich zwei Drittel der Erde bedeckte. Jeden Morgen klebte zittrige Gischt auf den Felsen, als hätte sich dort Moby Dick oder irgendein anderer Walfisch ergossen.

Hula, dachte Kuhl. Wow, yip, low low low. Die Hula-Bazille hatte er erst kürzlich im Golfklub aufgeschnappt. Ein älterer Snob pflegte es nach jedem halbwegs gelungenen Putt über den Rasen zu brüllen, mit Golferjargon hatte es dennoch wenig zu tun. Kuhl war das Wort auf Anhieb sympathisch gewesen; hatte er doch früher in Frankfurt – aktiv und unter Einsatz seiner Gesundheit – selbst im Winter Hulahemden getragen. Jahrelang war er hula gewesen, ohne von dieser quasi-ontologischen Bedeutung zu wissen. Jetzt war alles hula für ihn: Mädchen, schnelle Autos, exotische Cocktails, selbst Naturkatastrophen, wenn sie denn sein mussten. Die See war auf jeden Fall hula, und selbst wenn es nicht Hawaii war, sondern ein anderer Sandbuckel im Ozean, das Element blieb dasselbe.

Mühsam baute er sich ein paar Kissen ins Kreuz.

Die Villa war voll automatisiert. Angefangen von der elektrisch schließenden Einfahrt bis hin zum beheizbaren Hochdruck-Whirlpool, es lief so ziemlich alles auf einen Knopfdruck hinaus. Über den Palmen wurde es hell. Ein paar Seevögel kreisten schon in der Luft. Wo sie niederstießen, lagen ein paar größere Yachten vor Anker.

Big time, dachte Kuhl.

SZENE

KUHLschwebt vom Bett langsam zur Decke: »Lasst mich euch kurz vom irdischen Glück und den Verheißungen dieser Insel erzählen. Geld scheint sich hier in Luft aufzulösen, vielleicht liegt es an dem feuchtwarmen Klima, vielleicht auch nicht, doch bevor ihr es wisst, habt ihr eine Menge Kohle verplempert. Funky Nassau – oder nighttown, wie die Leute hier sagen – ist ein teures Pflaster. Die Nachkommen der Piraten nehmen es von den Toten, den Halbtoten und den Lebenden, je nachdem.

Selbst Hunde müssen für die Überfahrt zwischen den Inseln bezahlen. Ich war kein armer Hund mehr, jedenfalls hatte ich den Eindruck, die Zwangslage meines Daseins habe sich drastisch gebessert. Mein Leben war plötzlich eine Maxi aus Glitzervinyl und funky Nassau war Disneyland pur. Wenn ich ausging, landete ich stets in einer Disse mit 5-Sterne-Lokal, picobello, wenn ihr wisst, was ich meine, und hinterher gab es high life, worunter ich nicht mehr und nicht weniger als unbegrenzte Nuttenfinanzierung verstand.

Schon der Schlitten in der Einfahrt hatte mich fünfzigtausend gekostet. Ein alpinweißer Dodge Challenger R/T, 70er-Baujahr, genau wie in ›Vanishing Point‹. Der Verkäufer erzählte was von dreihundertfünfundsiebzig satten Pferden, der Wagen sei ein Traum, ›Hengst-Power‹, kein Rost, nirgends, wegen dem trockenen Klima, ein gut erhaltener rostfreier Traum, sagte er immer wieder, aber ich wusste es besser: Der Wagen war ein riesiger, schneeweißer Dildo und ich würde ihn Mama nighttown in den Arsch stecken und sie damit grün und blau prügeln. Tatsächlich hatte ich viel zu tun, ich meine, vielleicht ging ja die halbe Stadt auf den Strich und es hatte sich rumgesprochen, dass ich in einem Palast wohnte und nicht knauserig war.

Es war wirklich wie im Film, nein, wartet, es war so, wie das Leben sein sollte: mellow, super-mellow, super-abnorm-mellow sogar, im Unterschied zu ultra-super-abnorm-low, was die meisten von euch mit Wohlbefinden verwechseln.

All die hässlichen, grauen Störstreifen vor meinen Augen waren verschwunden, das Blockschaltbild hatte aufgehört zu bestehen. Ich lebte plötzlich im Licht, sah Konturen bis auf die zartesten Teile scharf umgrenzt und wunderte mich, wie viele Farben es gab. Glaubt mir, Schönheit war schon immer ein physikalisch-chemisches Erzeugnis und daher eine Frage des Geldes.

Ich weiß nicht, wie viele Lakaien zu meiner Bleibe gehörten, sie waren selten zu sehen, schlichen sich wie Heinzelmännchen ein und brachten die Dinge auf ihre Weise in Ordnung. Top-Service.

Großartige, devote Naturen. Sie wollten wie Dreck behandelt werden und da waren sie bei mir an der richtigen Stelle. Zehn Riesen kostete mich der Zirkus im Monat.

In meinem Vorgarten gab es ein Riesenplanschbecken, ein echter Wohlstandsteich war das, so fünfhunderttausend Liter, gechlort und immer auf achtundzwanzig Grad temperiert. Natürlich war ich bisher nicht einmal geschwommen, aber es war beruhigend, das Ding da draußen stand mir zur Verfügung. Hätte ich reinpissen wollen, vom Beckenrand, es wäre okay gewesen. Ja, es war gut, dass ich hier wohnte, hier auf Paradise Island, und nicht in einem Sozialbauknast in downtown Kamerun, es war gut, dass ich ein Mörder war und kein Fernsehmann, kein Notdienstler, der nur gerufen wurde, um irgendwo eine defekte Röhre aus der Glotze eines verkackten Rentners zu schrauben.

Junge, Junge, in Gedanken spielte ich manchmal durch, was noch alles hätte schieflaufen können. Ich hatte vier Männer erschossen oder genauer gesagt dreieinhalb, dem einen von ihnen hatte ich vorher die rote Gurgel gezogen, mit einem kleinen Skalpell. Glaubt mir, er war schon tot, bevor ich ihm den Gnadenschuss gab, doch auch ohne dies solltet ihr nicht leichtfertig den Stab über mich brechen: Wäre das alles in Kriegszeiten passiert, hätte ich einen staatlichen Auftrag gehabt wie jeder Soldat, ich hätte wahrscheinlich noch einen Orden bekommen. So aber war ich nichts weiter als ein Mörder und ich schätze, die Richter hätten nicht verstanden, dass ich mich in einem lebenslänglichen Kriegszustand sah, einem sozialdarwinistischen Irrsinnssystem, einer elenden Ebene des Determinismus und dass ich wie ein guter Soldat der Evolution gehandelt hatte. Jedes Raubtier muss damit rechnen, an eine noch aggressivere Lebensform zu geraten, und genau das war den Männern, die ich ausradiert hatte, passiert. Leider war die Welt noch nicht reif, um mich zu verstehen, und bevor die Sache zu heiß werden konnte, hatte ich mich still und leise verdünnisiert.

Die Hälfte meiner Beute hatte ich inzwischen verprasst. Vier Wochen, länger würde es nicht mehr reichen. Alle paar Tage fuhr ich zu meiner Bank und wechselte ein paar Scheine, es war kein Risiko, denn für Personen mit ausländischem Wohnsitz gab es hier keine Währungskontrolle. ›A little offshore banking‹, wie der Manager nachsichtig meinte; er wusste, das Geld schmolz hier wie Eis in der Sonne.

Schön, ich hätte es auf ein halbes Jahr strecken können, aber dann wäre es so gewesen wie früher, in meinem Block, wo es auch nur darum ging, irgendwie über die Runden zu kommen.

Vier Wochen also. Ich hatte nicht darum gebeten, geboren zu werden, und wenn es am schönsten ist – na, ihr wisst schon –, sollte man gehen.«

Er hatte nicht den Vorsatz gefasst, sich umzubringen, es hätte nicht zu ihm gepasst, irgendwelche Vorsätze zu fassen und sie dann in die Tat umzusetzen. Seiner Meinung nach reichte es, sich zu öffnen, aus der Deckung zu kommen, zu zeigen, dass man bereit war, der Tod würde schon einen Weg finden. Es war so, als ob man aus dem Haus ginge und daran dächte, dass man nicht mehr zurückkommen werde. Fünf Uhr zwanzig: Schon wieder fünf Minuten vorbei, von einer Gnadenfrist von vier Wochen.

Was soll’s, dachte Kuhl. Alles Organische läuft auf die Zersetzung hinaus: Milch, Käse, Wurst, Menschenfleisch. Was bleibt einem anderes übrig, als in der Zwischenzeit zu schmerzstillenden Mitteln zu greifen?

Zwei dieser Mittel lagen neben ihm: Sie schliefen noch, und wenn er die Bettdecke hob, konnte er die erstklassigen Fleischwaren sehen. Für den rasierten Freudenspender hatte er hundert Dollar bezahlt, die Krusselmütze gab sich mit einem Heckpfennig von achtzig zufrieden; zusammen hatten sie ihm – nach zähem Handeln – einen Freundschaftspreis eingeräumt, doch dann auf seine Kosten wie die Hölle gekokst. Erst als er die blauen Flecken an ihren Armen und Knöcheln entdeckte, begriff er, was er sich da ins Bett geholt hatte: Junkie-Nutten, das alte bummin’ & cummin’… im Dutzend billiger, dachte Kuhl. Deshalb haben Typen wie der Sultan von Brunei so viele Muschis. Alles hängt offenbar mit den Lebenshaltungskosten der Biester zusammen.

Bahama-Mama murmelte etwas im Schlaf, es klang wie ein Fluch.

Kuhl befürchtete, sie würde plötzlich die Augen aufschlagen und ihn als Erstes nach ihrem Namen fragen. Verlegen setzte er seine Sonnenbrille auf, hoffte, es werde ihm helfen, ein paar Erinnerungsmoleküle aufzuwirbeln. Brandy? Brenda? Brezel? Es war wie ein Silbenrätsel, das er nicht lösen konnte – Dämon Wodka! –, er hatte ihren Namen vergessen.

Sie war mager, fast knochig, lean’n’mean – was nicht unbedingt ein Nachteil war für eine Bettakrobatin. Durch die dunklen Gläser erschien ihm ihr rechtes Schulterblatt wie die verkohlte Schwinge eines Engels. Dass sie keiner war, so viel wusste er noch. Eher ein exotischer Vogel, der schrille Laute ausstieß.

Black pussy, dachte er, genauer gesagt süßsaure, angebackene Pflaume, wenn man geschmäcklerisch ist. Er hätte sie auch Kongo-Schlitzficke und Fulanie-Nussknackerin nennen können, denn er hatte für alles bezahlt.

Die blonde Schnalle hatte ihn schließlich zum Orgasmus geritten. Vor allem anderen hatte sie sich vornehm gedrückt. Kuhl stufte sie als F.A.N.T.A. ein – Fuck And Never Touch Again, ein Jock-Terminus für Frauen mit schlechtem Atem. Jedenfalls war sie weit von dem entfernt, was er unter SUPERNUTTE verstand. Er hoffte, sie würde noch vor dem Frühstück verschwinden.

Nutten, die dumme Fragen stellten, waren nicht jedermanns Sache, und sie hatte schon zum Einstand dumme Fragen gestellt. Als er sich ausgezogen hatte, war ihr seine Knarre aufgefallen: Italienerin, das neueste Modell aus Pietro Berettas Stall, extrem hula, wie seine alte Bleispritze, die er ein paar Tage vor seinem Abflug im Main versenkt hatte. Als ob er eine Katze oder ein anderes kleines Tier ertränkt hätte, so kam es ihm immer noch vor. Die neue Bella war noch jungfräulich, roch nach Waffenfett, er konnte es jedenfalls riechen. Der Schlitten, eng gespannt wie eine minderjährige Büchse, lief wie geschmiert. Jeden Morgen spielte er so mit ihr, zielte auf den Fernseher, die Bettpfosten, den Ventilator an der Decke und die Schäfchenwolken am Himmel. Manchmal peilte er auch Seevögel an, Yachten und Propellermaschinen. Genau das hatte er der Blonden gesagt.

Das farbige Mädchen nieste plötzlich im Schlaf. Es war ein kurzes, hartes Niesen, als wäre bei ihr alles verstopft. Er nahm das rote Samtkissen, das er ihr nachts untergeschoben hatte, hielt es vor die Mündung. Das Kissen hatte einige unappetitliche Flecken, aber als Schalldämpfer war es gut zu gebrauchen.

In aller Ruhe zielte er auf ihr Gesicht.

Sie würde nichts merken, rein gar nichts. Der Tod würde sie im Schlaf nehmen, kein Erwachen, kein Wehgeschrei, und nebenbei bemerkt, nicht mal die schlimmste Art, sich von der Welt zu verabschieden. Er war unschlüssig, wo er die Kugel platzieren sollte. Das linke Auge vielleicht, das ohnehin wie ein Veilchen schillerte? In dem Glitzerlidschatten würde ein dunkler Blutquell aufsprudeln, aber sein Sinn für Romantik war eher unterentwickelt. Die beste Stelle erschien ihm die Stirn zu sein, genau die Stelle, wo der Hindu den Gebetsfleck hintupft. Andererseits, die Nasenwurzel bot sich geradezu an – schön breit, nicht zu verfehlen; er zielte, doch ihr Nasenring, ein wirklich brachiales Gerät, lenkte ihn ab. Vielleicht sollte er durch den Nasenring schießen? Ein kleines Kunststück wie im Zirkus?

Plötzlich hatte er selbst den Lauf der Waffe im Mund, es ging alles rasend schnell, er schmeckte Karbit und sein Zeigefinger krümmte sich: KLICK.

Sein Gehirn arbeitete fieberhaft: Er hatte abgedrückt.

Es war mit Abstand das lauteste Geräusch, das er je gehört hatte, und er hielt den Lauf noch immer fest mit den Lippen umschlossen. Er konnte sich nicht erinnern, das Magazin herausgenommen zu haben. Bist du tot? Der Lauf knebelte noch immer seinen Mund wie ein kantiger, metallischer Penis.

Über Kimme und Korn schielte er nach der Digitalanzeige der Uhr, hielt den Atem an.

Erst als aus der Null eine Eins wurde, wusste er, dass er noch lebte: 05.31.

Sein Kiefer entspannte sich, die Hand, seine Hand, hob die Pistole – natürlich fehlte das Magazin, im Knauf gähnte ein rechteckiges Loch. Seine Gedanken kamen allmählich auf Touren.

Erst mal das Magazin, dachte er. Nicht, dass er vorgehabt hätte, den Stunt zu wiederholen, aber es war seine einzige Munition: fünfzehn mickrige Schuss. Mehr hatte der Waffenhändler nicht rausrücken wollen.

Auf Knien suchte er auf dem Fußboden, zwischen lose verstreuten Kleidern, Zeitungen, Plastiktüten und sauceverschmierten Tellern, an denen noch Reiskörner klebten. Unter dem Bett sah es noch wüster aus: Unrat, zerknautschtes Dosenblech, Flaschen und Zigarettenstummel bedeckten den Boden als Ablagerung amoralischen Schlamms im Flussbett der Nacht.

Nichts zu sehen. Er hatte die Suche fast aufgegeben, als er über einen randvollen Aschenbecher stolperte, drei Strohhalme hatten sich zu einem Oktaeder verknotet und mittendrin saß diese riesige Schabe und lutschte an einem Kartoffelchip.

Ich hoffe, dir ist klar, dass ich dich umbringen muss, dachte Kuhl.

Unauffällig suchte er nach einer geeigneten Waffe. Der Panzer sah hart aus, verdammt hart, und die Schnelligkeit dieser Viecher war legendär. Er hatte sich gerade einen klobigen Stöckler geangelt, da sah er das Magazin blauschwarz schimmernd im Schatten der Chipstüte liegen. Er zögerte einen Moment, und dieses Zögern reichte dem Insekt aus, um zu fliehen.

Was soll’s, dachte Kuhl. Da die Villa noch drei weitere Schlafzimmer hatte, würde er einfach umziehen und die Schabe vergessen.

Spiegelbild im Badezimmer: Obwohl der Zustand seines Gebisses jeden Versuch einer ernst gemeinten Säuberung ad absurdum geführt hätte, schaffte er es spielend, sich zehn Minuten die Zähne zu putzen. Schon bald war er nur noch ein schäumendes Gebiss, das ihn schauderhaft angrinste. Kuhl fühlte in sich die Leichtigkeit einer Filmrolle, die ihre letzten Meter abspulte und bereits ahnte, dass die Reise ins weiße Licht gehen werde. Er fühlte sich erleuchtet, vielleicht war es auch einfach nur die Zahncreme, eine Art »Strahler 70«, die nach Menthol schmeckte und ihn high machte.

Am Morgen meines Todes, ha ha … Für seine Verhältnisse sah er blendend aus: Braun gebrannt und mit nassem Haar, kam er sich wie ein halbseidenes GQ-Model vor, eine Mischung aus toughie und Tunte. Ein Hafenfriseur namens Pearly, Ex-US-Marine, hatte ihm den obligatorischen Fünfdollarhaarschnitt verpasst und nebenbei die Knarre vermittelt. Und den Schalldämpfer.

Yip, dachte Kuhl. Erst der Schalldämpfer adelt die Waffe zum Killer-Werkzeug. Viel mehr konnte man von einem guten Friseur nicht erwarten.

Nachdem er ausgiebig geduscht hatte, rasierte er sich den Flaum von der Oberlippe und übergoss sich mit einem schweineteuren Parfüm, das ihm ein anderes Mädchen aufgeschwatzt hatte.