Kultursensitive Frühpädagogik - Jörn Borke - E-Book

Kultursensitive Frühpädagogik E-Book

Jörn Borke

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Beschreibung

Cultural diversity is no longer the exception in kindergartens today, but rather a lived and experienced reality. In today=s day-care centres, parents and children from very different cultural backgrounds come together, and it is not always easy to summon the necessary sensitivity, tolerance, and also respect for different values and standards, different gender roles, and different family and generational relationships. This volume develops educational approaches that are able to do justice to the diversity of today=s day-care centres. The basis for this is provided by comparative developmental psychology, which takes a scientific look at different cultural models of development, different upbringing strategies and differences in children=s social-emotional development, cognitive development, and self-development.

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Der Autor und die Autorin

© Kerstin Seela

Dr. Jörn Borke ist Professor für Entwicklungspsychologie der Kindheit an der Hochschule Magdeburg-Stendal und Vorstandsmitglied im dortigen Kompetenzzentrum Frühe Bildung (KFB). Er verfügt über langjährige Forschungs-, Lehr- und Weiterbildungserfahrungen unter anderem in den Bereichen kulturvergleichende Säuglings- und Kleinkindforschung, Eltern-Kind-Interaktionen sowie kultursensitive Frühpädagogik und Beratung.

Dr. Heidi Keller ist Professorin i. R. an der Universität Osnabrück und Direktorin des Nevet Greenhouse an der Hebrew University in Jerusalem. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Entwicklung von Kindern in unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Auf der Grundlage der Erkenntnisse der kulturvergleichenden Entwicklungspsychologie entwickelt sie Konzepte und Programme für die elementar- und frühpädagogische Praxis. Diverse Preise und Auszeichnungen reflektieren die internationale Anerkennung ihrer Forschung.

Jörn BorkeHeidi Keller

Kultursensitive Frühpädagogik

2., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2., überarbeitete Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher

Umschlagmotiv: pressmaster-Fotolia.com

Print:

ISBN 978-3-17-038682-2

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-038683-9

epub:     ISBN 978-3-17-038684-6

mobi:     ISBN 978-3-17-038685-3

Vorwort der Herausgeberin und der Herausgeber

 

 

 

Die Lehrbuchreihe »Entwicklung und Bildung in der Frühen Kindheit« will Studierenden und Fachkräften das notwendige Grundlagenwissen vermitteln, wie die Bildungsarbeit im Krippen- und Elementarbereich gestaltet werden kann. Die Lehrbücher schlagen eine Brücke zwischen dem aktuellen Stand der einschlägigen wissenschaftlichen Forschungen zu diesem Bereich und ihrer Anwendung in der pädagogischen Arbeit mit Kindern.

Die einzelnen Bände legen zum einen ihren Fokus auf einen ausgewählten Bildungsbereich, z. B. darauf, wie Kinder ihre sozio-emotionalen, sprachlichen, kognitiven, mathematischen oder motorischen Kompetenzen entwickeln. Hierbei ist der Leitgedanke darzustellen, wie die einzelnen Entwicklungsniveaus der Kinder und Bildungsimpulse der pädagogischen Einrichtungen ineinandergreifen und welche Bedeutung dabei den pädagogischen Fachkräften zukommt. Die Reihe enthält zum anderen Bände, die zentrale bereichsübergreifende Probleme der Bildungsarbeit behandeln, deren angemessene Bewältigung maßgeblich zum Gelingen beiträgt. Dazu zählen Fragen, wie pädagogische Fachkräfte ihre professionelle Responsivität den Kindern gegenüber entwickeln, wie sie Gruppen von Kindern stressfrei managen oder mit Multikulturalität, Integration und Inklusion umgehen können. Die einzelnen Bände bündeln fachübergreifend aktuelle Erkenntnisse aus den Bildungswissenschaften wie der Entwicklungspsychologie, Diagnostik sowie Früh- und Sonderpädagogik und bereiten für den Einsatz in der Aus- und Weiterbildung, aber ebenso für die pädagogische Arbeit vor Ort vor. Die Lehrbuchreihe richtet sich sowohl an Studierende, die sich in ihrem Studium mit der Entwicklung und institutionellen Erziehung von Kindern befassen, als auch an die pädagogischen Fachkräfte des Elementar- und Krippenbereichs.

Im vorliegenden Band »Kultursensitive Frühpädagogik« wird ein vielfach nachgefragter frühpädagogischer Ansatz vorgestellt, der den Umgang mit kultureller Vielfalt in den Kindertageseinrichtungen (KiTas) zum Gegenstand hat und in die Bildungsangebote einbezieht. Bei mittlerweile 35 % Kindern mit Migrationshintergrund in den KiTas ist ein offenkundiges Spannungsfeld zwischen den kulturspezifischen Erziehungserwartungen entstanden, die Eltern mit und ohne Migrationshintergrund an die KiTa herantragen und die KiTa-Fachkräfte in ihrer pädagogischen Arbeit vertreten. Dieses Spannungsfeld wird in dem Band kritisch reflektiert und Lösungen in Richtung auf einen kultursensitiven Umgang werden vorgeschlagen. Der Autor Jörn Borke hat als Leiter der Babysprechstunde an der Universität Osnabrück einen umfassenden Einblick in die Erziehungssorgen von Eltern, die sich gerade auch aus der kulturellen Vielfalt ergeben, und Heidi Keller hat als international renommierte Wissenschaftlerin im Bereich der Kultur- und Entwicklungspsychologie maßgeblich zu unserem heutigen differenzierten Verständnis von kulturspezifischen Erziehungszielen und -praktiken beigetragen. Ihr kultursensitiver Ansatz erlaubt es, nicht nur das menschliche Grundbedürfnis nach Autonomie, das in westlichen Industrieländern vor allem wertgeschätzt wird, sondern auch das ebenso menschliche Grundbedürfnis nach Verbundenheit in den Blick zu nehmen und ihre jeweils kulturspezifischen Legierungen klarer identifizieren zu können.

Ein großes Verdienst dieses Buches ist es, die in der (Früh-)Pädagogik favorisierten Ansätze und bildungspolitischen Rahmenvorgaben für die KiTa-Arbeit auf ihre impliziten kulturpsychologischen Vorannahmen kritisch zu hinterfragen und praktikable Möglichkeiten der Öffnung und Erweiterung in Richtung auf eine kultursensitive Pädagogik anzubieten. Dazu werden anhand von prototypischen Situationen des KiTa-Alltags Handlungsalternativen für einen kultursensitiven Umgang mit Kindern und Eltern beschrieben und auch konkrete kultursensitive Bildungsangebote vorgestellt.

Die »Kultursensitive Frühpädagogik« kann Fachkräften ebenso wie Eltern helfen, das Spektrum an kulturspezifischen Erziehungsvorstellungen und -erwartungen von Eltern und kulturspezifischen Verhaltensweisen ihrer Kinder in der KiTa besser verstehen und einordnen zu können. Dadurch kann sowohl der Kontakt mit den Eltern erleichtert als auch deren Bereitschaft erhöht werden, sich auf einen Dialog mit den KiTa-Fachkräften einzulassen. Eine kultursensitive pädagogische Arbeit kann an die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe der Kinder passgenauer anknüpfen und im Sinne der aktuell auch diskutierten inklusiven Bildung einen erfolgreichen Start in das Bildungssystem eröffnen.

Wir freuen uns, dass Jörn Borke und Heidi Keller eine Bearbeitung ihres Buches vorgenommen haben, in der sie die neuesten Entwicklungen und Studien der letzten sechs Jahre nach der Erstveröffentlichung berücksichtigt haben.

 

Münster, Freiburg und Heidelberg im Frühjahr 2020

Manfred Holodynski, Dorothee Gutknecht und Hermann Schöler

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Vorwort der Herausgeberin und der Herausgeber

Einführung

1   Kultur und Entwicklung

1.1   Einleitung

1.2   Kontext und Kultur

1.3   Autonomie und Verbundenheit als menschliche Grundbedürfnisse und kulturelle Werte

1.4   Der Prototyp der

psychologischen Autonomie

als Organisator von Entwicklung

1.5   Der Prototyp der

hierarchischen Verbundenheit

als Organisator von Entwicklung

1.6   Mischformen, Varianten und Risiken

1.7   Unterschiedliche kulturelle Modelle in frühpädagogischen Einrichtungen

1.8   Empfohlene Literatur zur Vertiefung

2   Einordnung zentraler Konzepte, Begriffe und Curricula der Frühpädagogik

2.1   Pädagogische Konzepte

2.1.1   Friedrich Fröbel – die Anfänge des Kindergartens und einer kindzentrierten Sichtweise

2.1.2   Montessoripädagogik

2.1.3   Waldorfpädagogik

2.1.4   Emmi Pikler

2.1.5   Reggio-Pädagogik

2.1.6   Situationsansatz

2.1.7   Resümee

2.2   Der Bildungsbegriff

2.2.1   Definition

2.2.2   Die Wende zur Subjektivität

2.2.3   Aktuelle Bildungsbegriffe in der Frühpädagogik

2.3   Die Bedeutung von kultureller Vielfalt in den fachpolitischen Vorgaben und Rahmenrichtlinien der Frühpädagogik

2.3.1   Der politische Entstehungshintergrund

2.3.2   Die Bedeutung des Aspektes

Umgang mit kultureller Vielfalt

im Rahmenpapier der Jugendministerkonferenz sowie der Kultusministerkonferenz

2.3.3   Die Bedeutung des Aspektes

Umgang mit kultureller Vielfalt

in den Bildungs- und Orientierungsplänen

2.4   Pädagogische Ansätze zum Umgang mit kultureller Vielfalt

2.5   Inklusion

2.6   Empfohlene Literatur zur Vertiefung

3   Kultursensitive Frühpädagogik

3.1   Einleitung

3.2   Kultursensitive Frühpädagogik

3.2.1   Kenntnis

3.2.2   Haltung

3.2.3   Können

3.3   Zentrale Situationen der frühpädagogischen Praxis

3.3.1   Kontakt mit Eltern/Familien

3.3.2   Spielsituationen

3.3.3   Gestaltung von Übergängen/Eingewöhnung

3.3.4   Umgang mit zentralen physiologischen Bedürfnissen

3.3.5   Sprache

3.3.6   Raumgestaltung

3.4   Empfohlene Literatur zur Vertiefung

4   Zusammenfassung und Ausblick

Literatur

Einführung

 

 

 

Vor einiger Zeit ist ein bedeutsamer Perspektivenwechsel in Bezug auf die pädagogische Arbeit in Kindertageseinrichtungen vollzogen worden. Aus der Kinderbetreuung unter dem primären Aspekt der Betreuung wurde ein Bildungsort mit definitivem Bildungsauftrag. Dies ist vor allem auf die Ergebnisse der »Programs for International Student Assessment-Studien« (Programme zur internationalen Schülerbewertung oder kurz PISA-Studien) zurückzuführen. Diese Studien werden von der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) seit dem Jahr 2000 alle drei Jahre durchgeführt. Die Ergebnisse der ersten Untersuchung, bei der deutsche Schülerinnen und Schüler unerwartet schlecht abschnitten, wirkten schockartig auf Bildungspolitik und Öffentlichkeit. Besonders deutlich wurde dabei auch, wie stark in Deutschland das Abschneiden in den Bildungssystemen von der sozialen Herkunft und damit auch vom kulturellen Hintergrund der Kinder und Familien abhängt, was als deutliches Indiz dafür gesehen werden kann, dass die Bildungssysteme nicht gut anschlussfähig an unterschiedliche Hintergründe von Kindern sind. Dies löste eine große Welle von Aktivitäten aus, woraufhin sich die Ergebnisse in den folgenden Jahren tatsächlich auch verbesserten, seit 2012 allerdings eher stagnierten oder teilweise sogar wieder rückläufig waren. Dennoch hat sich die Bedeutung der sozialen Herkunft verringert, wenngleich diese im Vergleich zu vielen anderen Ländern weiterhin recht hoch ist. Und auch die Ergebnisse von Kindern mit Migrationshintergrund haben sich verbessert (BMBF, o. J.). Die Ergebnisse und Entwicklungen zeigen also zum einen, dass sich Verbesserungen ergeben haben, belegen aber zum anderen auch, dass weiterhin Anstrengungen und Reformen notwendig sind. Konkret bezogen auf die Qualität im Bildungsbereich Frühe Bildung, trat zu Beginn des Jahres 2019 zudem das Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung (Gute-KiTa-Gesetz) in Kraft, welches mit einen Fördervolumen von 5,5 Milliarden Euro dazu beitragen soll, die Betreuungsqualität in Kindertagesstätten weiter zu erhöhen (BMFSFJ, 2019a). Daneben besteht eine Debatte bezüglich der Quantität von angebotenen Betreuungsmöglichkeiten. Anfang der 1990er Jahre wurde ein Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für jedes Kind im Alter von drei Jahren bis zum Schuleintritt beschlossen und 1996 auch gesetzlich verankert (§ 24 SGB VIII). Vor allem auch um Eltern bessere Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf anbieten zu können, wurde dann durch das Kinderförderungsgesetz (KiföG) 2008 ein Rechtsanspruch auf einen Platz (in einer Einrichtung oder in einer Kindertagespflegestelle) auch für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr beschlossen, welcher im August 2013 in Kraft trat. In der Zeit von 2008 bis 2018 hat sich die Betreuungsquote von Kindern unter drei Jahren von 17,6 % auf 33,6 % nahezu verdoppelt. Der Wunsch nach einem Betreuungsplatz besteht allerdings bei etwa 45 % der Eltern, so dass, auch wenn in den letzten zehn Jahren 400.000 neue Plätze für Kinder unter drei Jahren neu geschaffen werden konnten und bis Ende 2020 100.000 weitere angeboten werden sollen, es dennoch nach wie vor ein Unterangebot gibt (BMFSFJ, 2019b).

Dieser quantitative Ausbau erfordert eine inhaltliche und qualitative Auseinandersetzung mit diesem frühen Altersbereich in Bezug auf Bildungsmöglichkeiten, die aktuell im Zentrum vieler Debatten steht. Die Qualitätsdebatte ist inzwischen ausgeweitet worden, auch auf die multikulturelle Realität in vielen Tageseinrichtungen. Eine Vielzahl von Ansätzen mit unterschiedlichen Schwerpunkten ist in den letzten Jahren entwickelt worden (für einen Überblick siehe Borke & Schwentesius, 2020; Otto, Schröder & Gernhardt, 2013; Wagner, 2017). Hierbei lassen sich mitunter sehr unterschiedliche Definitionen bzw. Konzeptionen von kultureller Vielfalt finden sowie entsprechend unterschiedliche Herangehensweisen. So gibt es Ansätze, die sich auf eine Betrachtung von Kultur aus einer Perspektive von Ländern und ethnischen Gruppen beziehen (z. B. Beschreibungen zur Arbeit mit Familien mit türkischem Hintergrund [z. B. Leenen, Grosch & Kreidt, 1990] oder auf die Arbeit mit Familien mit Migrationshintergrund generell;  Kap. 2.4). Diese Definition des Kulturbegriffes ist jedoch irreführend, da natürlich auch sehr große Unterschiede zwischen Familien, die im selben Land leben oder aus demselben Land kommen, bestehen. Ländervergleiche können durch die Beschreibung historischer Hintergründe, bestimmter daraus entstandener Werte sowie sprachlicher und religiöser Aspekte nützlich sein, sie sind aber nur sehr bedingt geeignet, das jeweilige kulturelle Verständnis von frühpädagogischen Einrichtungen und kindlichen Bildungsprozessen sowie von elterlichen Erziehungsvorstellungen zu erfassen.

Demgegenüber stehen Ansätze, die die Einzigartigkeit jeder Familie und ihrer Familienkultur betonen. Dabei wird das Beschreiben von Gruppen vermieden, um möglichen Diskriminierungen vorzubeugen (z. B. Mecheril, do Mar Castro Varela, Dirim, Kalpaka & Melter, 2010;  Kap. 2.4). So lässt sich zwar einerseits Sensibilität für das Individuum und die individuelle Familie vermitteln, denn natürlich ist jedes Kind und jede Familie einzigartig; auf der anderen Seite ist jedoch nicht zu übersehen, dass jedes Individuum gleichzeitig wie manch anderes und auch wie alle anderen Individuen ist (so hat Pervin [1987], einem Zitat von Kluckholm & Murray [1953] folgend, den Gegenstandsbereich der Persönlichkeits- und Differenziellen Psychologie definiert). Diese Perspektiven sind ebenfalls notwendig, um kulturelle Vielfalt zu verstehen und frühpädagogischen Fachkräften Erklärungsansätze für kindliches Verhalten und elterliche Vorstellungen und Wünsche sowie Handlungsalternativen zur Verfügung zu stellen. Diese komplexe Situation birgt durchaus auch die Gefahr, sich in Widersprüche zu verstricken. Es wird nämlich zum einen gefordert, das einzelne Kind in seinen Möglichkeiten und Grenzen individuell zu fördern, andererseits wird aber darauf geachtet, dass alle Kinder die gleiche Behandlung erfahren sollen, um Diskriminierungen zu vermeiden. Das kann zu widersprüchlichen Anforderungen an das alltägliche Handeln führen, wenn man jedem Kind individuell begegnen möchte, sich aber bei einer Ungleichbehandlung potenziell einem Diskriminierungsverdacht ausgesetzt sehen kann.1

Der in diesem Buch vorgestellte Ansatz einer kultursensitiven Frühpädagogik bietet eine Möglichkeit zum Umgang mit kultureller Vielfalt, durch die die oben dargestellten Einschränkungen der bisherigen Ansätze aufgehoben werden können. Kulturelle Vielfalt wird über zugrunde liegende sozio-demographische und sozio-ökonomische Hintergründe definiert. Dadurch wird es möglich, kulturelle Kontexte zu definieren, die sich empirisch erfassen und vergleichend analysieren lassen. Aus diesem Wissen heraus können die bisherige Bildungsbiographie bei Eintritt in die frühpädagogische Einrichtung ebenso eingeordnet werden wie die Erwartungen, die Eltern den frühpädagogischen Fachkräften entgegenbringen. Aus den Kenntnissen über den kulturellen Kontext, in dem ein Kind und seine Familie sozialisiert sind, lassen sich konkrete Handlungsmöglichkeiten für die frühpädagogische Arbeit herleiten.

Dabei soll nicht bestritten werden, dass sich selbstverständlich Unterschiede zwischen allen Familien zeigen, und es soll sicherlich keinem »Schubladendenken« Vorschub geleistet werden. Vielmehr bietet der hier dargestellte Ansatz einer kultursensitiven Frühpädagogik Einordnungsmöglichkeiten, die die Komplexität kultureller Vielfalt nicht über Gebühr reduzieren (wie es z. B. bei Ländervergleichen der Fall ist). Der Ansatz soll – unter bewusster Einbeziehung der jeweiligen individuellen familiären Hintergründe, Wünsche und Bedürfnisse – für die frühpädagogische Praxis Handlungsalternativen bezüglich eines differenzierten Umgangs je nach kulturellem Hintergrund bereitstellen. Die Unterschiedlichkeit zwischen Menschen und Gruppen ist dabei Gegenstand einer ressourcenorientierten pädagogischen Haltung. Der in diesem Buch präsentierte Ansatz kann also dazu beitragen, unterschiedliche kulturelle Hintergründe von Kindern und Eltern in der Kindertageseinrichtung besser verstehen und einordnen zu können. Durch dieses Verständnis kann der Kontakt mit den Eltern sowie auch deren Bereitschaft, sich auf den Dialog mit der Kindertageseinrichtung einzulassen, erleichtert werden. Weiterhin kann durch die dargelegten Möglichkeiten eines differenziellen Umgangs mit unterschiedlichen Alltagssituationen ein frühpädagogisches Angebot gestaltet werden, welches für Kinder mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen anschlussfähig ist und ihnen damit einen jeweils für sie passenden Start in das institutionelle Bildungssystem bereiten kann.

Das Buch ist in folgender Weise aufgebaut: Im ersten Teil wird zunächst der Kulturbegriff, wie wir ihn verstehen, erläutert. Daran anschließend werden verschiedene kulturelle Entwicklungspfade mit jeweils unterschiedlichen Konsequenzen für die kindliche Entwicklung, die elterliche Erziehung und die frühpädagogische Arbeit dargestellt. In Teil 2 wird betrachtet, inwiefern sich die jeweiligen Konzepte und Ansätze der Frühpädagogik mit dem hier vertretenen kultursensitiven Ansatz vereinbaren bzw. welche Chancen und Grenzen sich jeweils für eine kultursensitive Arbeit beschreiben lassen. In Teil 3 werden die Grundzüge einer kultursensitiven Frühpädagogik dargestellt und anhand von alltäglichen Situationen der frühpädagogischen Arbeit kultursensitive Handlungs- bzw. Gestaltungsmöglichkeiten beschrieben.

1     Eine solche Situation kann beispielsweise eintreten, wenn Kinder sehr unterschiedliche Spielinteressen und -erfahrungen zeigen, die unter anderem mit ihren kulturell bedingten Vorerfahrungen zusammenhängen können. Die frühpädagogischen Fachkräfte stehen damit möglicherweise zwischen der Herangehensweise, auf die jeweiligen kindlichen Bedürfnisse und Erfahrungen einzugehen und damit Unterschiede im Umgang mit den Kindern bzw. der Gestaltung von Situationen und Abläufen zu ermöglichen, sowie der Maxime, allen Kindern die gleichen Bedingungen anzubieten und keine Kinder von Aktivitäten auszuschließen bzw. ihnen Angebote vorzuenthalten.

1          Kultur und Entwicklung

 

 

 

1.1       Einleitung

In diesem Kapitel wird ein ökokulturelles Modell von Entwicklung dargestellt, das die Hintergründe für die weiter unten ausgeführten Ansätze einer entwicklungspsychologisch fundierten kultursensitiven Frühpädagogik bildet. Damit soll ein Beitrag zu einer differenziell orientierten Pädagogik geleistet werden.

Ausgangspunkt ist die zentrale Annahme, dass alle Menschen mit biologisch angelegten Entwicklungspotenzialen ausgestattet sind, die es ihnen ermöglichen, allgemeine Entwicklungsaufgaben in spezifischen Umwelten zu bewältigen. Die Umwelt hat also einen selektierenden Einfluss auf die Gestaltung und Ergebnisse von Entwicklungsprozessen und damit auf die gesamte Psyche des Menschen. Die jeweiligen umwelt- oder kontextspezifischen Ausprägungen sind an kulturellen Modellen orientiert, die Anpassungen an diese spezifischen Umwelten definieren. Die Entwicklungsaufgaben sind weitgehend universell (z. B. Erikson, 1950; Havighurst, 1972) und können als Teil unseres evolutionären Erbes betrachtet werden. Es wird angenommen, dass sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte Aufgaben gestellt haben, die das Überleben erleichtert haben. So können sich z. B. größere Gruppen erfolgreicher verteidigen und effektiver Nahrungsquellen erschließen. Größere Gruppen erfordern aber andere Kommunikationsmuster als kleine Gruppen, um die Gruppenzusammengehörigkeit zu erhalten. Manche Evolutionspsychologen erklären so z. B. die Entstehung von Sprache: Sprache ermöglichte die Aufrechterhaltung von sozialen Beziehungen in größeren Gruppen (social grooming Hypothese [Sprache als soziale Weiterentwicklung der bei vielen Tierarten üblichen gegenseitigen Fellpflege], Dunbar, 1996). Also mussten sich entsprechende Fähigkeiten und Fertigkeiten herausbilden, die den Erwerb dieser neuen Kompetenzen ermöglichten. Durch die zentrale Bedeutung der Kontexteinflüsse wird die besondere Bedeutung des Lernens für die menschliche Entwicklung deutlich. Das Lernen in Abhängigkeit von Kontextfaktoren ist zwar ein lebenslanger Prozess, dennoch bestehen enge Beziehungen zwischen der Wirksamkeit und der Bedeutsamkeit von Erfahrungen in den jeweiligen Entwicklungsphasen. Gerade das Säuglings- und Kleinkindalter ist eine besondere Entwicklungsphase mit einer hohen Entwicklungsgeschwindigkeit. In den ersten beiden Lebensjahren lernen wir mehr und schneller als in allen anderen Entwicklungsphasen. Aufgrund der komplexen Anforderungen der sozialen Regulation in größeren Gruppen (Geary & Flinn, 2001) und der damit verbundenen Notwendigkeit sozialer Intelligenz entwickelte und vergrößerte sich das menschliche Gehirn. Die ebenfalls evolvierte Zweibeinigkeit des Menschen, welche wiederum den großen Selektionsvorteil mit sich brachte, dass die Hände auch losgelöst von Fortbewegungsaktivitäten benutzt werden können, begrenzte die Ausdehnungsmöglichkeiten des Geburtskanal. Das bedeutet, dass Babys nicht im Mutterleib ausreifen können, da sie dann den Geburtskanal nicht mehr passieren könnten. So kam es dazu, dass die Säuglinge früher und damit unreifer (etwa zwei bis drei Monate vorverlagert) geboren werden. Der Schweizer Biologe, Zoologe und Naturphilosoph Adolf Portmann (1941) hat den Menschen daher als »physiologische Frühgeburt« bezeichnet. Diese besondere Ausgangssituation erfordert ein hohes Maß an postnataler neuronaler Entwicklung und damit eine lange Spanne der unselbstständigen Kindheit. Die, verglichen mit dem Tierreich, relativ lange Zeit der Abhängigkeit ist also ein zentrales Kennzeichen von menschlicher Entwicklung (Bjorklund & Pellegrini, 2002; Tomasello, 2019), ebenso wie die damit zusammenhängende Notwendigkeit des Lernens und Verarbeitens kontextgebundener Informationen als zentraler menschlicher Entwicklungsmotor. Die Plastizität der menschlichen Entwicklung bietet den großen Vorteil, dass sich Menschenkinder sehr flexibel an die unterschiedlichsten Umgebungen erfolgreich anpassen können. Auch für die Zeit bis zum Schuleintritt lässt sich zeigen, dass die Entwicklungsgeschwindigkeit noch sehr hoch ist und Kinder noch relativ leicht große Mengen an Information aufnehmen. Allerdings gibt es eine große natürliche Varianz von Entwicklungsprozessen, was zu ausgeprägten interindividuellen Unterschieden führt (siehe z. B. Borke, Lamm & Schröder, 2019; Largo, 2006; Michaelis, 2006).

1.2       Kontext und Kultur

Zu kaum einem anderen Konzept liegt eine solche Fülle von unterschiedlichen Definitionen vor wie für Kultur. Liest man frühpädagogische Konzeptionen von Kindertageseinrichtungen, wird darin der Begriff Kultur häufig mit künstlerischen Tätigkeiten oder Produkten in Verbindung gebracht, also im weitesten Sinne mit ästhetischer Bildung gleichgesetzt. In weiten Bereichen der empirischen Psychologie wird Kultur mit Land gleichgesetzt. In der öffentlichen Diskussion finden wir häufig Kultur als Religion gefasst, z. B. »die muslimische Kultur«. In der Kulturpsychologie wird Kultur mit Deutungsmustern (Normen, Werten, Einstellungen) und Verhaltensweisen bestimmt. Wir folgen dieser Tradition und verankern Kultur in kontextuellen Merkmalen der Menschen, die diese Deutungsmuster teilen und ähnliche Verhaltensweisen zeigen (Keller, 2011a, 2019a). Die kontextuellen Merkmale bestimmen das soziale Milieu und betreffen in erster Linie

•  das Niveau der formalen (schulischen) Bildung

•  die Organisationsform der Familie

•  die Anzahl der Kinder und

•  das Erstgeburtsalter.

Die Unterscheidungskriterien beziehen sich also nicht auf Länder-, Sprach- oder Religionsunterschiede, sondern auf soziodemographische Merkmale. Menschen, die in solchermaßen definierten ähnlichen sozialen Milieus leben, teilen auch Einstellungen und Verhaltensweisen. Dieser kulturelle Kontext wird als der zentrale Organisator für die Gestaltung des Lebens betrachtet. Kontext und Kultur bilden demnach eine untrennbare Allianz, und die jeweiligen Kontexte erfordern bestimmte Anpassungsleistungen der dort lebenden Menschen, damit sie erfolgreich agieren und sich wohlfühlen können. Kultur wird demnach als das Medium des Menschen aufgefasst, durch welches sich solche Anpassungsleistungen vollziehen können.

Eine solche Verortung von Entwicklung als soziokulturellem Prozess geht zurück auf die kulturanthropologische/psychologische Schule von John W. M. und Beatrice B. Whiting und verbindet diese Annahmen mit zentralen Konzepten der evolutionären Psychologie (Keller, 2007, 2011a). Die Whitings riefen das Harvard-Projekt Six Cultures Study ins Leben, in dem die Entwicklung von Kindern in sechs unterschiedlichen kulturellen Umwelten2 nachgezeichnet wurde (Whiting & Whiting, 1975). Sie beschrieben und verdeutlichten damit detailliert den direkten Bezug zwischen den Bedingungen der spezifischen ökologischen Umwelt, den sozialen Arrangements und der Sozialisation der Nachkommen, der Entwicklung des Kindes bis zum Erwachsenen sowie der Ausgestaltung und Weitergabe der jeweils spezifischen Kultur.

Ähnliche Zusammenhänge werden auch in der Evolutionspsychologie beschrieben; in den sogenannten life history-Ansätzen spielen die Umwelt und die Ressourcen eine zentrale Rolle für die körperliche und psychologische Entwicklung (Belsky, Steinberg & Draper, 1991; Keller, 2010). Nach diesen Ansätzen sind die alltägliche Umgebung und das Alltagsleben sowie die durch diese hergestellte Lernumwelt des Kindes zentral für dessen weitere Entwicklung.

Aus einer Synthese dieser beiden Ansätze (den psychokulturellen und evolutionären Konzeptionen) haben wir das ökokulturelle Modell der Entwicklung entwickelt ( Abb. 1).

Wie oben bereits aufgeführt, lassen sich die ökologische Situation bzw. die Möglichkeiten und Gegebenheiten des jeweiligen Umfeldes, in dem Familien leben, anhand von soziodemographischen Variablen beschreiben, die eng mit den ökonomischen Situationen sowie den sozialen Strukturen verbunden sind (z. B. sozioökonomischer Status [SÖS], Bildungsgrad oder Familienform). Daraus abgeleitet definieren wir Kultur als einen dynamischen und interaktiven Prozess, in dem sich Überzeugungen und Werte herausbilden, die zentral für das Alltagsleben der Menschen in den jeweiligen Kontexten sind (Greenfield, 2004; Keller, 2007, 2016). Kinder nehmen daher geradezu beiläufig die kulturellen Botschaften ihrer Umgebung auf. Auch werden diese durch bewusste und unbewusste Prozesse von den Eltern an die nachfolgende Generation übertragen. Da Entwicklung ein aktiver Prozess ist, werden kulturelle Werte in dem intergenerationellen Geschehen modifiziert. Zudem sind zeithistorische Prozesse wirksam. So lässt sich beispielsweise zeigen, dass mit einem Anstieg der formalen (schulischen) Bildung das Erstgeburtsalter der Frauen steigt, die Anzahl der Kinder zurückgeht und eher die Form der Kleinfamilie bevorzugt gelebt wird (Caldwell, 1982). Kultur bedeutet in diesem Sinne: Anpassungsprozesse an eine bestimmte Umwelt. Diese Anpassungsleistung ist mithin als Teil der menschlichen Natur anzusehen (Keller, 2007; Rogoff, 2003).

Abb. 1: Ökokulturelles Modell der Entwicklung (Keller, 2011a, S. 25; vgl. auch Keller, 2007; Keller & Kärtner, 2013)

Aus diesem Kulturbegriff lässt sich eine differenzielle Betrachtungsweise ableiten, da sich anhand der unterschiedlichen soziodemographischen Profile, die durch diesen Ansatz beschrieben sind, jeweils mit diesen zusammenhängende Werte, Normen und Verhaltenskonzepte unterscheiden lassen (LeVine, Miller, Richman & LeVine, 1996; Keller, 2018). Das Kulturelle Modell in Abbildung 1 stellt also das Verbindungsglied zwischen dem soziokulturellen Kontext und den Sozialisationsvorstellungen und -strategien dar.

Bei diesen Vorstellungen und Strategien spielen zunächst die Sozialisationsziele eine wichtige Rolle. Unter Sozialisationszielen versteht man das gewünschte Entwicklungsergebnis, also Ideen darüber, was von Kindern zu bestimmten Entwicklungsabschnitten erwartet wird. Das kann, wie weiter unten näher ausgeführt, je nach kulturellem Kontext sehr unterschiedliche Vorstellungen beinhalten (Keller, 2011a, 2019a).

Neben Zielen lassen sich Überzeugungen beschreiben, wie diese Ziele erreicht werden können, was dabei unterstützend wirkt oder hinderlich ist, z. B. was ein »gutes Elternverhalten« ist, was eine »gute und förderliche Interaktion« mit Kindern kennzeichnet und beispielsweise auch, was einen »guten Umgang« in frühpädagogischen Einrichtungen ausmacht oder wie sich frühkindliche Bildungsprozesse gestalten sollten. Diese zum Teil bewussten, zum Teil unbewussten Überzeugungen können als parentale (auf die Eltern bezogene) oder pädagogische Ethnotheorien beschrieben werden (Harkness & Super, 1996; Keller, 2011a, 2019a). Sie werden zum Teil unbewusst vermittelt, können aber auch bewusst, z. B. durch die Lektüre von Ratgebern erworben werden.

Sozialisationsziele und Ethnotheorien bilden einen maßgeblichen Hintergrund für das konkrete Verhalten von Eltern/Familienangehörigen, aber auch von pädagogischen Fachkräften. Je nachdem, was als wichtig, erstrebenswert und förderlich gilt, werden manche Verhaltens- und Umgangsweisen eher betont, andere eher vernachlässigt oder gar unterbunden. All dies hat Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung und Bildung. So hängen sowohl der Zeitpunkt als auch die Art und Weise, wie Kinder Entwicklungsaufgaben lösen, damit zusammen, was in dem jeweiligen Umfeld als besonders bedeutsam gilt, was wiederum durch die jeweiligen kulturellen Modelle maßgeblich beeinflusst wird. Die unterschiedlichen Ausprägungen dieser kulturellen Modelle lassen sich vor allen durch das Zusammenspiel und die jeweiligen Ausgestaltungen von zwei zentralen menschlichen Bedürfnissen ordnen: Autonomie und Verbundenheit (bzw. Relationalität).

1.3       Autonomie und Verbundenheit als menschliche Grundbedürfnisse und kulturelle Werte

Als Autonomie ist die Fähigkeit definiert, Kontrolle über das eigene Leben sowie über die eigenen Entscheidungen und Handlungen zu erlangen. Als Verbundenheit ist die psychologische und/oder ökonomische Verwobenheit zwischen Personen definiert. Beide Bedürfnisse sind für alle Menschen wichtig, aber in durchaus unterschiedlichen Formen und Ausgestaltungen. Zudem beeinflussen sich die jeweiligen Bedeutungen von Autonomie und Verbundenheit auch wechselseitig. Eine Lebensgestaltung, die beispielsweise eher durch das Primat individueller Entscheidungen und Kontrolle gekennzeichnet ist (wie dies beim unten ausgeführten Prototyp der psychologischen Autonomie der Fall ist), hat auch Auswirkungen auf die Gestaltung von sozialen Beziehungen. Auch hier spielt die individuelle Kontrolle eine bedeutende Rolle, so dass soziale Beziehungen durch persönliche Entscheidungen gekennzeichnet sind. Das impliziert, dass Beziehungen verhandelt und auch beendet werden können. Beziehungen können demnach auf der einen Seite als psychologisches oder emotionales Band zwischen Personen gefasst werden, auf der anderen Seite kann der Schwerpunkt aber auch eher auf der Betonung von sozialen Verpflichtungen und möglicherweise damit einhergehend auch der ökonomischen Bedeutung von Beziehungen liegen (z. B. der mögliche Beitrag von älteren Kindern zur Unterstützung der Familie). Diese Form von Beziehungen erfordert eine entsprechende Auslegung von Autonomie, nämlich als verantwortliches Handeln im kommunalen Kontext. Im Folgenden sollen zwei prototypische Ausprägungen kultureller Modelle näher dargestellt werden, die auf unterschiedlichen Auslegungen von Autonomie und Verbundenheit basieren. Damit soll der Raum der Möglichkeiten, der sich für die frühpädagogische Praxis ergibt, näher umschrieben werden.

Beim ersten Prototyp kann die sogenannte psychologische Autonomie als Organisator von Verhalten und Erleben betrachtet werden. Zentraler Bezugspunkt ist das Individuum. Stabile Ich-Grenzen sowie ein Sich-Abheben und Unterscheiden von anderen Personen stellen in diesem kulturellen Modell wichtige Voraussetzungen für Gesundheit und Wohlbefinden dar (Chirkov, Ryan, Kim & Kaplan, 2003; Kağıtçıbaşı, 2005). Damit geht ein Selbstkonzept einher, welches sich auf die Ideale der Freiheit und individuellen Unabhängigkeit bezieht, die als typische Lebensphilosophie in weiten Teilen der postindustrialisierten städtischen Welt angesehen werden können (Kağıtçıbaşı, 2017; Markus & Kitayama, 1991).

Beim zweiten Prototyp kann die sogenannte hierarchische Verbundenheit als Organisator von Verhalten und Erleben angesehen werden. Dieser Prototyp findet sich vor allem in ländlichen und wenig industrialisierten Kontexten. Er ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass die Ich-Grenzen zwischen Personen als eher fließend angesehen und erlebt werden und zugleich eine hierarchische Differenzierung von sozialen Strukturen vorhanden ist.

Bezüglich der dimensionalen Ausprägungen dieser beiden Bedürfnisse bestehen in der Literatur durchaus unterschiedliche Debatten (z. B. Deci & Ryan, 1991; Kağıtçıbaşı, 1996; Keller, 2011a, 2018, 2019b; Oysermann, Coon & Kemmelmeier, 2002), auf die an dieser Stelle nicht im Detail eingegangen werden kann. Die unterschiedlichen Ansätze eint, dass sich die Autonomie (teilweise auch als agency bezeichnet) auf individuelle Wünsche, Vorlieben, Präferenzen und Intentionen bezieht. Bezogen auf die oben ausgeführte Definition der Entwicklung von Kindern bzw. Menschen als kulturspezifische Lösung universeller Entwicklungsaufgaben zeigt sich, dass diese Beschreibung der Autonomie, die hier als psychologische Autonomie bezeichnet wird, vor allem für die Menschen der postindustrialisierten städtischen Mittelschicht passend und hilfreich ist. Es finden sich hier folglich auch entsprechende elterliche Verhaltensweisen und Überzeugungen sowie Erwartungen an kindliche Bildungsprozesse und frühpädagogische Einrichtungen, die dem Primat der individuellen Entscheidungen folgen. Die aktuelle frühpädagogische Debatte ist stark von dieser Sichtweise geprägt ( Kap. 2.1 und  Kap. 2.2). Diese Form der Autonomie findet sich kaum in nicht-industrialisierten ländlichen Kontexten, in welchen das formale Bildungsniveau eher niedrig ist, Elternschaft früh einsetzt sowie eher viele Kinder und großfamiliäre Strukturen das Alltagsleben prägen. In diesen Kontexten ist die Bedeutung der Autonomie eng mit dem konkreten Handlungsvollzug verbunden. Ein zentrales Sozialisationsziel ist dabei, dass die Kinder bereits recht früh lernen, Handlungen eigenständig durchzuführen und damit zusammenhängend alltägliche Routinen eigenverantwortlich übernehmen zu können, um auf diese Weise ihren Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten (Ogunnaike & Houser, 2002). Dabei sind ihre Wünsche oder Vorlieben nicht von denen des sozialen Systems zu trennen. Aus diesem Grund soll diese Ausprägung von Autonomie hier als Handlungsautonomie bezeichnet und von der psychologischen Autonomie abgegrenzt werden (Keller, 2011a; Keller & Kärtner, 2013). Die unterschiedlichen Formen der Autonomie haben Auswirkungen darauf, mit welchen Wünschen sich Eltern an frühpädagogische Einrichtungen wenden, sowie auf die Verhaltensweisen und Bedürfnisse der Kinder ( Kap. 3.3.4).

Dem Vorschlag von Kağıtçıbaşı (2017) folgend wird Verbundenheit überwiegend durch die Merkmale Nähe und Getrenntheit und ihre Ausprägungen definiert. Mit Nähe ist die Verbundenheit mit einem sozialen System gemeint, welches durch fließende Grenzen zwischen den Personen gekennzeichnet ist. Getrenntheit bezeichnet die Unabhängigkeit von anderen Personen sowie die damit einhergehenden individuellen Kontrollmöglichkeiten bezüglich Form und Ausgestaltung der sozialen Beziehungen. Getrenntheit bedeutet dabei nicht, dass Beziehungen keine Rolle spielen oder als unwichtig angesehen werden, denn auch Beziehungen stellen ein menschliches Grundbedürfnis dar. Es erscheint daher angemessen, auch bei der Gestaltung von sozialen Beziehungen, wie bei den unterschiedlichen Formen der Autonomie, von verschiedenen Typen auszugehen.

Der Begriff der psychologischen Verbundenheit/Relationalität bezeichnet Strukturen, bei denen die zwischenmenschlichen Beziehungen vor allem durch die innere, mentale Welt und die psychologische Realität des Einzelnen organisiert und bestimmt werden, Beziehungen also, die aufgrund von Vorlieben, Wünschen und Neigungen aufgebaut und gestaltet werden. Im Vergleich dazu bezeichnet der Begriff hierarchische Verbundenheit eine Struktur, in der sich die sozialen Beziehungen durch ein enges Netz aus Verpflichtungen definieren. Diese leiten sich aus familiären und kommunalen Hintergründen ab. Für individuelle Verhandlungen und Ausgestaltungen bezüglich der Art der sozialen Beziehungen sowie über die vorhandene Nähe oder Distanz besteht daher kaum Spielraum und auch wenig Bedürfnis.

Die psychologische Autonomie steht in enger Beziehung zur psychologischen Relationalität, die Handlungsautonomie in enger Beziehung zur hierarchischen Verbundenheit. Psychologische Autonomie und psychologische Relationalität finden sich prototypisch vor allem in der postindustrialisierten städtischen Mittelschicht. Die Betonung von Handlungsautonomie und hierarchischer Verbundenheit ist prototypisch für nicht-industrialisierte ländliche Kontexte.

Die Kontexte, in denen diese unterschiedlichen Ausprägungen von Autonomie und Verbundenheit jeweils adaptiv sind, sind also durch große Unterschiede und teilweise sich gegenseitig ausschließende oder widersprechende Verhaltens- und Wertesysteme gekennzeichnet. Die Prototypen sind aber nicht als zwei Endpunkte einer Dimension zu verstehen, die jeweils gegenteilige Pole repräsentieren. Die Betonung der psychologischen Autonomie ist nicht als das Gegenteil einer Betonung der Handlungsautonomie und die hierarchische Verbundenheit nicht als Gegenteil der psychologischen Relationalität anzusehen. Alle Typen sind jeweils immer vorhanden, allerdings zeigen sich deutlich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Gewichtungen. Dies ist wichtig zu betonen, um dem Missverständnis vorzubeugen, durch die prototypische Beschreibung unterschiedlicher kultureller Kontexte und Entwicklungspfade eine zu große Komplexitätsreduktion und Vereinfachung von kultureller Vielfalt vornehmen zu wollen. Denn auch hier lassen sich unterschiedlichste Erscheinungs- und Mischformen finden und beschreiben (Keller, 2007). Genau genommen hat jeder einzelne Mensch und jede einzelne Familie einen eigenen (sub)kulturellen Hintergrund, da die Kontextbedingungen, in denen Menschen aufgewachsen sind, niemals identisch sein können. Die Beschreibung der beiden Prototypen ist dennoch hilfreich, um das Feld abzustecken, in dem unterschiedliche, kulturell bedingte Entwicklungs-, Erziehungs- und Bildungsformen auftreten und damit auch Thema in frühpädagogischen Einrichtungen werden können. Ihre Kenntnis ist wichtig, um auch Mischformen erkennen und einordnen zu können. Im Folgenden werden diese beiden Prototypen weiter ausgeführt.

1.4       Der Prototyp der psychologischen Autonomie als Organisator von Entwicklung

Die Ausprägung der psychologischen Autonomie findet sich prototypisch in Kontexten der postindustrialisierten städtischen Mittelschicht. Diese sind unter anderem durch eine späte Elternschaft und eher wenige Kinder gekennzeichnet. Eltern sind häufig Mitte bis Ende Dreißig, wenn sie das erste Kind bekommen, und es finden sich selten mehr als ein oder zwei Kinder pro Familie. Meist ist ein hohes Ausmaß an formaler Schulbildung vorhanden, und es gab bereits eine ausgeprägte Phase der beruflichen Orientierung und Etablierung. Kinder sind meist Teil einer neuen und in der Regel geplanten sowie gewünschten Entwicklungsaufgabe. Das Baby nimmt einen zentralen Stellenwert im Leben der Eltern ein, die ihre psychologischen und materiellen Ressourcen auf diese neue Situation ausrichten.

Die Säuglinge und Kleinkinder erfahren in solchen Kontexten viel exklusive, dyadische Aufmerksamkeit. Es gibt viele Situationen, in denen sich die Mutter (oder der Vater) auf einen intensiven Kontakt mit dem Kind einstellt, ohne sich von Umgebungsfaktoren ablenken zu lassen. Bei Säuglingen wird für diesen sozialen Austausch häufig eine Position gestaltet, bei der das Baby auf dem Rücken liegt und die Mutter bzw. der Vater sich über das Baby beugen und Blickkontakt mit dem Kind aufnehmen (Face-to-face-Situation). Über Gesichtsausdruck und Töne können dem Kind dabei Wärme und Anteilnahme vermittelt werden. In diesen Blickkontaktsituationen wiederholen die Eltern die Signale des Babys und reagieren prompt darauf (Papoušek & Papoušek, 1995). Auf diese Weise kann das Kind sich als Verursacher von Reaktionen erleben, wodurch die Umwelt für den Säugling zunehmend vorhersagbarer werden kann. Vor allem wird das Bewusstsein gefördert, ein eigenständiges Wesen zu sein. So konnte beispielsweise gezeigt werden, dass Kinder, die mit drei Monaten vermehrt Face-to-face-Situationen erlebten, sich zu einem höheren Anteil mit 18 Monaten im Spiegel erkannten (also eine Vorstellung davon entwickelt haben, eine eigenständige Person zu sein) als Kinder, die mit drei Monaten andere elterliche Verhaltenssysteme erfahren haben (Keller, 2019a; Keller et al., 2004). In Momenten des Blickkontaktes können also wesentliche Grundlagen der psychologischen Autonomie vermittelt werden.

In diesen Kontexten spielen Objekte/Spielzeug eine wichtige Rolle. Diese werden eingesetzt, damit Kinder schon früh lernen können, sich auch mit einer nichtsozialen Umwelt auseinanderzusetzen, sowie um zu lernen, sich auch alleine beschäftigen und mit sich selbst zufrieden sein zu können. Das Alleinsein-Können stellt einen Wert dar, den Eltern so früh wie möglich anstreben (Keller, 2019a). Dies wird auch bei der Betrachtung der Elternratgeber in postindustrialisierten Ländern deutlich. Viele Ratgeber vermitteln z. B. Strategien, wie es Kinder früh schaffen, im eigenen Bett bzw. im eigenen Zimmer zu schlafen. Nicht alleine sein zu können und sich mit sich selbst beschäftigen zu können, wird als ungünstig für die Selbstentwicklung angesehen, denn für die Entwicklung psychologischer Autonomie hat das Alleinsein-Können eine große Bedeutung.

Im Säuglings- und Kleinkindalter findet sich also eine soziale Umwelt, die in besonderem Ausmaß durch Face-to-face-Situationen und Objektstimulationen gekennzeichnet ist. Dies ist eine Konstellation, die auch als distale Sozialisationsstrategie bezeichnet wird, da der soziale Austausch in erster Linie über die Fernsinne stattfindet (Keller et al., 2009). Die hinzukommende umfangreiche verbal-vokale Kommunikation spiegelt das Bild vom Kind als unabhängigem und autonomem Kommunikationspartner wider. Dazu gehört viel verbale Begleitung, vorwiegend im Frageformat: »Möchtest du alleine sein?« – »Soll die Mama mit dir spielen?« – »Sollen wir heute zum Opa fahren?« Diese frühen Konversationen vermitteln kulturelle Werte und Normen, selbst wenn das Baby den semantischen Gehalt noch nicht verstehen kann. Prosodische Merkmale können Babys aber bereits früh dekodieren.

Zwei strukturelle Dimensionen sind hier besonders wichtig: Elaborationen und Evaluationen.

Elaborationen und Evaluationen

Unter Elaboration kann das Erweitern und Ausschmücken von Gesprächen z. B. durch neue Gesprächsanteile in Form von weiterführenden Fragen, Gedanken und Ideen verstanden werden. Von Anfang an besteht dabei eine Dialogstruktur, die das Baby als gleichberechtigten Partner einbindet. Beispielsweise werden bereits bei präverbalen Interaktionssituationen mit Babys Pausen gemacht, damit diese die Möglichkeit haben zu antworten, und die Eltern beziehen wiederum diese »Antworten« (Blicke, Vokalisationen, Gesten) der Säuglinge in ihre weitere Konversation mit ein (Demuth, 2008).

Mit Evaluation ist die bewertende Kommentierung gemeint. Dabei spielt vor allem das Lob eine bedeutende Rolle, womit die Kinder in ihren Handlungen verstärkt und unterstützt werden. Auch auf diese Weise wird das in diesem kulturellen Modell bedeutsame Streben nach Selbstverwirklichung gefördert.

Es sind also der Alltag und die alltäglichen Erfahrungen, die die kulturellen Botschaften vermitteln und Entwicklungspfade kanalisieren. Die Verhaltensstrategien stehen in Einklang mit den jeweiligen Sozialisationszielen. Fragt man beispielsweise Mütter oder Väter in Kontexten, in denen die psychologische Autonomie eine große Rolle spielt, was Kinder in den ersten drei Lebensjahren entwickeln sollten, dann werden Ziele wie Talente und Interessen entwickeln und eigene Vorstellungen klar ausdrücken als sehr wichtig und Ziele wie soziale Harmonie erhalten, tun was Eltern sagen und ältere Menschen respektieren als eher unwichtig angesehen (Keller, 2011a). Dem Verwirklichen eigener Interessen und Vorlieben kommt eine größere Bedeutung zu als dem Unterordnen unter gemeinschaftliche Wünsche und Strukturen.3 Den Ethnotheorien