Kurz und kopflos - Ralf Kramp - E-Book

Kurz und kopflos E-Book

Kramp Ralf

0,0

Beschreibung

Warum denn nicht mal hinterrücks? Manche Menschen reagieren regelrecht kopflos. Andere fühlen sich manchmal wie erschlagen oder erschossen. Das könnte daran liegen, dass sie gerade zu Mordopfern in einer von Ralf Kramps tiefschwarzen Storys geworden sind. Da gehen die Mörderinnen und Mörder nämlich nicht gerade zimperlich mit ihnen um. Mit Gift, Messer, Revolver und anderen Gerätschaften sorgt der König des Kurzkrimis dafür, dass sie bald keinen Mucks mehr tun. Eins ist sicher: Wer sich diese mordsmäßig munteren Kabinettstückchen in Reimform und Prosa zu Gemüte führt, wird schon mal nicht an Langeweile sterben. Totlachen wäre da schon eher angesagt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 186

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Tief unterm Laub

Spinner

Rabenschwarz

Der neunte Tod

Still und starr

… denn sterben muss David!

Kurz vor Schluss (Kriminalgeschichten)

Malerische Morde

Hart an der Grenze

Ein Viertelpfund Mord (Kriminalgeschichten)

Ein kaltes Haus

Totentänzer

Nacht zusammen (Kriminalgeschichten)

Stimmen im Wald

Voll ins Schwarze (Kriminalgeschichten)

Starker Abgang (Kriminalgeschichten)

Mord und Totlach (Kriminalgeschichten)

Totholz

Schuss mit lustig (Kriminalgeschichten)

Ihr Mord, Mylord

Abendlied

Aus finsterem Himmel

Mord mit Eifelblick

Ralf Kramp, geb. 1963 in Euskirchen, lebt in einem alten Bauernhaus in der Eifel. Für sein Debüt Tief unterm Laub erhielt er 1996 den Förderpreis des Eifel-Literatur-Festivals. Seither erschienen mehrere Kriminalromane und zahlreiche Kurzgeschichten. In Hillesheim in der Eifel unterhält er zusammen mit seiner Frau Monika das »Kriminalhaus« mit dem »Deutschen Krimi-Archiv« (30.000 Bände), dem »Café Sherlock«, einem Krimi-Antiquariat und der »Buchhandlung Lesezeichen«.www.ralfkramp.de · www.kriminalhaus.de

Ralf Kramp

Kurz und kopflos

Kriminelle Kurzgeschichten

Originalausgabe

© 2020 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlagillustration: Ralf Kramp

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-95441-483-3

E-Book-ISBN 978-3-95441-493-2

Für meine Mama,die immer weiß, wer gerade gestorben ist.

Und für meinen Papa,der mir die ersten Witze erzählt hat.

Inhalt

Backe, backe Kuchen, der Mörder hat gerufen

Ausgelöffelt

Kugeln vom Killer

Der Tod und Herr Schmitz

Ein Kneipengespräch

Der Enkeltrick

Ene, mene, Mord

Besser tot als neu geboren

Ein kalkulierter Abgang

Nachbarschaftshilfe

Ganz besondere Qualität

Zum Friedhof

In der Apotheke

Happy birthday, Schäng

Ein entfernter Verwandter

Der Hauch vergangener Tage

All die schönen letzten Worte

Das verschenkte Herz

Schneeflöckchen, Weißröckchen

Rudolf, der rotnasige Rentner

Weihnachtsfeier – Check!

Sei still, du Nacht!

Backe, backe Kuchen, der Mörder hat gerufen!

Wer will seinen Opa backen,

Muss ihn in den Ofen packen.

Eier und Schmalz,

Strick um den Hals,

Weg ist die Luft,

Lockt ein feiner Kuchenduft.

Wer will seine Tante backen,

Muss sie erst in Stücke hacken.

Zucker und Ei,

Gift in den Brei,

Röchelt sie noch,

Schieb sie in das Ofenloch!

Wer will seinen Schwager backen,

Nimmt die Säge mit den Zacken.

Löffel und Topf,

Kugel im Kopf,

Säg ihn schön klein,

Knusprig wird der Schwager sein!

Wer will den Direktor backen,

Lässt ihn unter Wasser sacken.

Butter und Milch,

Rein mit dem Knilch,

Schwemmt er schön auf,

Fertig ist der Chef-Auflauf!

Ausgelöffelt

Jetzt blieb es endlich abends schon wieder deutlich länger hell, und die Temperaturen stiegen. Der Frühling befand sich bereits in spürbarer Nähe. Im Gasthaus »Zur alten Post« hatte Lotte ihren beiden späten Gästen Juppes und Päul mit bedeutungsvoller Geste eine Schüssel Suppe mitten auf den Kneipentisch gestellt. Das Lokal war ansonsten leer, denn Lotte schloss ihre Kneipe am Sonntagabend früher.

Mit einem hörbaren Unterton der Enttäuschung zog Juppes die Schöpfkelle durch die klare Flüssigkeit in der Terrine.

»Wat? Nur Suppe? Nix zu kauen?«

Lotte verschränkte die Arme und nickte entschlossen. »Am Abend soll man gar nicht so viel essen.«

»Och Liebchen«, maulte der alte Päul, »dat is ja alles schön un gut mit deinen dauernden Diäten, aber warum müssen wir denn jetzt auf einmal da mitmachen?«

»Kann ich dir sagen. Guckt euch doch mal eure Bäuche an.«

»Dat sin keine Bäuche«, erwiderte Päul. »Dat nennt man Feinkostgewölbe.«

»Außerdem kommt bald die Sommerzeit. Da wird die Waage zehn Kilo zurückgedreht«, murmelte Juppes und schöpfte sich Suppe auf den Teller. »Da sin ja nicht mal Buchstabennüdelchen drin.«

»Un kein Eierstich.«

Seufzend stellte Lotte noch ein Körbchen mit drei Scheiben Graubrot auf den Tisch. »So, dat muss aber reichen. Bei mir gibt es jetzt mal drei Wochen nur Suppe. Tut euch gut, Jungens.«

»Aber ich passe doch noch in meine Pantoffeln vom letzten Jahr. Außerdem hab ich nicht zugenommen. Ich hab mich nur … auseinandergelebt.«

Aber Lotte blieb eisern. »Nää, nää, Suppe oder gar nix.«

Seufzend fügte sich Päul in sein Schicksal und begann schlürfend die Brühe zu löffeln.

»Bei Suppe«, hob Juppes an, »muss ich immer an die alte Thekla aus der Bahnstraße denken. Die hat auch immer nur Suppe gegessen und ist damit neunundachtzig geworden. Und die wär auch noch neunzig geworden oder sogar hundert, so ein zähes Luder war die.«

Päul rieb sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Och weißte, hundert will ich gar nicht werden.«

»Haste sowieso keinen Einfluss drauf«, sagte Lotte und knibbelte an der Kruste des Graubrots herum. »Wenn et so weit is, isset so weit. Mein Vetter Achim is mit fünfundvierzig gestorben, weil ihm der Bofrost- Wagen über den Finger gefahren ist.«

Juppes stutzte. »Über den Finger?«

»Ja, aber man muss dazu sagen, dass der da gerade in der Nase gebohrt hat.«

Päul bröckelte sein Brot in die Suppe. »Schön sanft muss es auf jeden Fall sein, so wie mein Onkel Raimund, der Busfahrer, vor fünfzehn Jahren. Ganz still und ruhig einschlafen. Nicht so wie seine achtzehn Fahrgäste hinten drin.«

»Jedenfalls war die Thekla ein kerngesundes altes Biest«, fuhr Juppes fort. »Die hätte noch ewig weitergelebt, wenn da nicht eines Tages das mit ihrem Engelbert passiert wäre.«

»Der Engelbert?«, fragte Lotte. »Der ist doch auch steinalt geworden.«

»Auch so um die neunzig. Der hatte ja auch den ruhigsten Job aller Zeiten. Der war ja kein Fallschirmspringer oder Hochseilakrobat, der hat ja in der Stadtverwaltung gesessen.«

Päul musste plötzlich lachen und verschluckte sich dabei. »Wisst ihr, wohin Bombenentschärfer gehen, wenn sie sterben?«

Die beiden anderen schüttelten den Kopf.

»In alle vier Himmelsrichtungen.«

Juppes nahm sich noch einmal Suppe und hielt Lotte dann vorwurfsvoll das leere Brotkörbchen vor die Nase. Mit einem Kopfschütteln ging sie in die Küche und füllte nach. Jetzt waren es nur noch zwei Scheiben Knäckebrot, die sie auf den Tisch stellte.

Juppes fuhr mit seiner Erzählung fort: »Der war also sein ganzes Leben lang jeder Gefahr aus dem Weg gegangen, der Engelbert. Und eigentlich dachten auch alle, der wär kerngesund. Aber als der mal wieder wie jedes halbe Jahr zur Routineuntersuchung gegangen is, sagte der Doktor zu dem: Ich habe keine guten Nachrichten für Sie. Sie sind schwerkrank. Und der Engelbert ist kreideweiß geworden und hat gefragt: O weia, wie lange hab ich denn noch? Wochen? Monate? Ein Jahr? Und der Doktor hat auf die Uhr geguckt und hat angefangen runterzuzählen: Acht … sieben … sechs …«

Lotte zündete sich eine Zigarette an. »Ja, richtig, jetzt fällt mir dat wieder ein. Kam ganz plötzlich, dat mit dem Engelbert.«

»Krebs«, bestätigte Päul. »Überall. Der janze Körper voll Minestrone.«

»Metastasen.«

»Sin dat nicht die griechischen Heldensagen un so?«

»Dat sin Mythen.«

»Nee, dat is doch so en Hartlaubgewächs.«

»Dat is Myrthe! Jetz lass mich mal weitererzählen.«

Lotte wollte auch lieber zur Geschichte zurückkehren. »Un der Tod vom Engelbert hat die Thekla dann umgehauen?«

Juppes schüttelte den Kopf. »Das hat die noch ausgehalten. Wie jesacht, die war frääd. Aber dann kam die Sache mit dem Bestattungshaus.«

»Dieses neue da, was nur drei Monate auf war. Wie hießen die noch? Schrein & Bein? Schaufel & Hobel? Ach nee, Asche & Staub!«

»Genau die. Das waren ganz windige Typen. Und ausgerechnet die hatte die Thekla sich für die Bestattung von ihrem Engelbert ausjesucht. Die hatten immer so Sonderaktionen. Sarg zum Abschied leise Servus. Oder Heiße Preise: Feuerbestattung für wenig Asche.«

Päul nahm sich auch noch einmal Suppe. Als er Knäckebrot hineinbröseln wollte, krachte es, und die Krümel flogen durch die Luft.

Juppes ließ sich davon nicht beirren und fuhr fort: »Das Bestattungshaus hat der Thekla buchstäblich den Rest gegeben. Als die den Engelbert zurechtgemacht haben, also gekämmt, geschminkt und ausgepolstert und so, wie man das eben so macht, da durfte die Thekla sich den noch mal angucken, da in der Leichenhalle in dem Betrieb, und da is die schreiend in Tränen ausgebrochen.«

»Da würd ich auch et ärme Dier kriejen.«

Juppes wedelte mit dem Zeigefinger. »Nee, nee, nee, dat war wegen dem Anzug.«

Lotte sah ihn fragend an.

»Der Engelbert hatte sich gewünscht, dass er unbedingt in einem blauen Anzug bestattet werden sollte. Weil der den nämlich anhatte, als er damals zum ersten Mal mit der Thekla zum Tanztee nach Altenahr gefahren ist. Jetzt war aber das Problem, dass der Anzug dem Engelbert hinten und vor allen Dingen vorne nicht mehr passte. Der hatte nämlich auch so ein … wie haste eben noch gesagt, Päul? … So ein Feinkostgewölbe.«

Mit lautem Geklimper versuchte Juppes auch noch die allerletzten Tröpfchen Suppe aus seinem Teller zu löffeln.

»Also hatten die Bestatter dann kurzerhand dem Engelbert einen schönen schwarzen Anzug angezogen. Da hatte der, glaube ich, sogar zwei Stück von. Die hatten zuerst überlegt, ob sie den in der Uniform von der Feuerwehr bestatten sollen, aber da waren überall so Brandlöcher drin.«

»Aber der war doch bei keinem einzigen Einsatz«, wandte Päul ein.

»Von den Kippen«, sagte Lotte. »Der Engelbert hat ja auch gequalmt.« Sie drückte ihre Zigarette aus.

»Jenau. Also lag der Engelbert jetzt im schwarzen Anzug da. Sah tipptopp aus. Die hatten dem auch mit Kajal die Augenbrauen un den Schnurres noch so ein bisschen schwarz jemalt.«

»Aber die Thekla hat das umgehauen«, murmelte Lotte nachdenklich.

»Das noch nicht. Dat ging ja nicht anders, wegen der Größe vom Anzug und so. Aber am nächsten Tag riefen die Bestatter die Thekla an und sagten: Kommense mal schnell vorbei. Sie werden staunen! Und die Thekla ist da hingewackelt, und als die den Sarg aufgemacht haben, lag der Engelbert da drin, in einem wunderschönen, knallblauen Samtanzug. Sah fast genauso aus wie der Tanzanzug vom Engelbert. Marineblau, auch der Schlips, die Socken, alles blau …«

»Und auch die Augenbrauen und der Schnurres?«, fragte Päul ungläubig.

»Quatsch!« Juppes rieb sich mit dem karierten Taschentuch den Mund sauber und lehnte sich auf dem Kneipenstuhl zurück. Er faltete die Hände über dem Bauch, und es sah fast so aus, als sei er satt geworden.

»Hat das die Thekla dann vielleicht vor Freude umgehauen?«, fragte Lotte vorsichtig.

Juppes schüttelte den Kopf. »Das immer noch nicht. Da stand die noch wie ne Eins. Die war so widerstandsfähig, das glaubst du nicht. Nein, die hat sich gefreut und schon wieder geweint, aber dieses Mal, weil sie so glücklich war mit dem blauen Anzug, und dann hat die die zwei Bestatter seelenfroh angelächelt und hat die gefragt, wie die denn dieses Wunder hingekriegt hätten. Und die zwei Typen haben auch gestrahlt und haben sich angeguckt und sich grinsend zugenickt, und dann hat der eine gesagt: Ach, wissen Sie, es ist ja ein so unglaublicher Glücksfall, dass wir es selber kaum glauben können. Gestern Nachmittag, da haben wir einen zweiten Toten reingekriegt. Auch schon ein betagter Herr. Und wir haben uns gleich an die Arbeit gemacht, und der trug einen schönen blauen Anzug. Da hat die Witwe uns unter Tränen erzählt, dass ihr verstorbener Ehemann eigentlich viel lieber in einem schönen schwarzen Anzug bestattet worden wäre.

Und sein Kompagnon hat weitererzählt: Gestern Abend, als wir noch einmal hier drin waren, da haben wir noch mal die beiden Verstorbenen betrachtet und begutachtet, ob denn alles sitzt und passt. Da ist uns dann plötzlich aufgefallen, dass die beiden Herren etwa die gleiche Größe haben und die gleiche Schulterbreite und so, und da kam uns eine famose Idee.«

Juppes lehnte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch und sah die beiden anderen mit ernster Miene an. »Und was sein Kollege dann gesagt hat, das hat die Thekla dann schließlich doch umgehauen, sodass die zwei Tage nach der Beerdigung selbst den Löffel abgegeben hat. Er hat nämlich in die Hände geklatscht und fröhlich gelacht und laut gerufen: Tja, und dann brauchten wir nur noch schwuppdiwupp die beiden Köpfe auszutauschen!«

Kugeln vom Killer

Als Mackensen zu Doberschütz ins Auto stieg, hatte er Mühe, seine Abscheu zu überwinden. Man musste wirklich nicht sonderlich pingelig veranlagt sein, um sich im Innenraum des völlig verdreckten Ford Focus unwohl zu fühlen. Die Scheiben waren nikotingelb, das Armaturenbrett war verstaubt und voller Sprenkel getrockneter undefinierbarer Flüssigkeiten. Aus jeder Nische quollen Plastikfolie, alte Pappbecher und zerknüllte Brötchentüten hervor, jede Ritze war verstopft mit Krümeln und Grind.

Mackensen hatte seinem Chef schon mehrfach angeboten, ihn mit seinem Auto abzuholen, aber Doberschütz hatte nur abfällig gegrunzt und ein »In Ihre scheißkleine Schleuder quetsche ich mich nicht noch mal rein« zwischen den wulstigen Lippen hervorgepresst.

Doberschütz saß da, den Blick verfinstert, den kleinen Schnurrbart angriffslustig gesträubt, den fetten Bauch gegen das Lenkrad gepresst. »So, und wohin soll’s gehen?«, raunzte er.

»Ins Charlottenviertel«, sagte Mackensen beflissen und guckte auf die Uhr. »Wir dürften gerade noch rechtzeitig da sein.«

»Ging nicht früher«, brummte Doberschütz und scherte aus der Parklücke aus. Hinter ihnen hupte jemand, und er röhrte: »Schnauze, du Arschgesicht!«

Als sie sich auf den Verkehr auf der Kröllwitzer Straße einfädelten, um die Saale zu überqueren, stellte Doberschütz die unvermeidliche Frage: »So, und jetzt erklären Sie mir, warum das hier alles so verdammt geheim ablaufen soll? Wieso um halb neun abends, außerhalb der Dienstzeit? Was ist das für eine Extratour, Bürschchen?«

Gregor Mackensen hatte sich alles zurechtgelegt. Es war noch nie einfach gewesen, seinen Chef von irgendetwas zu überzeugen. Kriminalhauptkommissar Wilfried Doberschütz ließ gemeinhin keine anderen Meinungen als seine eigene gelten. Scharfsinnige Kollegen waren ihm ein Graus, und übereifrige Beamte bremste er brutal aus. Es war also angeraten, planvoll an die Sache ranzugehen.

»Na los«, blaffte Doberschütz, »spucken Sie’s aus. Ihr geheimnisvolles Getue geht mir schon seit ein paar Tagen auf den Sack.«

»Also, es ist so, Chef …« Gerade als Mackensen Luft geholt hatte und loslegen wollte, unterbrach Doberschütz ihn auch schon wieder: »Gucken Sie mal im Handschuhfach, ob da noch irgend so’n Schokoriegel drin ist.«

Abgesehen davon, dass Mackensen bei dem Gedanken, mit den bloßen Händen das Fach zu öffnen, nackter Ekel packte, lieferte ihm Doberschütz mit seiner unstillbaren Fressgier einen viel besseren Einstieg in die heikle Erklärung. Er griff in den auf seinem Schoß ruhenden Umhängebeutel und förderte eine kleine Schachtel zutage. »Hallorenkugeln«, sagte er lächelnd. »Das ist viel besser als irgend so ein Schokoriegel.«

Doberschütz warf ihm einen schnellen, skeptischen Blick zu. »Was soll das? Wollen Sie sich lieb Kind machen, oder was?«

»Oh nein, Chef, das hat etwas mit unserem Einsatz zu tun.«

»Aufmachen«, knurrte Doberschütz. Mackensen tat, wie ihm befohlen, und im nächsten Moment grabbelte Doberschütz mit seinen Wurstfingern in der Schachtel herum, förderte ein paar Schokokugeln zutage und stopfte sie sich in seinen gefräßigen Mund.

»Alchfo«, schmatzte Doberschütz. »Ichföre.«

»Ich hatte zwei Wochen Urlaub«, begann Mackensen. »Wie Sie vielleicht wissen, reise ich nicht so gerne.«

Doberschütz brummte, ohne dass erkennbar war, ob es Zustimmung oder Spott signalisieren sollte.

»Also, Flugzeuge und so was kommen für mich nicht infrage. Am liebsten bleibe ich zu Hause. Und wenn es unbedingt sein muss, fahre ich ein bisschen um Halle herum. Und weitere Strecken sowieso nur mit der Bahn.«

»Kommen Sie mal auf’n Punkt!«, knarzte Doberschütz. »Bin doch nicht Ihr Seelenklempner.«

Mackensen räusperte sich und nickte mehrmals, um sich zu sammeln. »Also, am Liebsten bleibe ich zu Hause und … ja, also Hobbys habe ich keine. Eigentlich … tja, also eigentlich habe ich nur meinen Beruf.«

Jetzt war Doberschützens Brummen eindeutig spöttisch gemeint.

»Ich arbeite alte Fälle durch. Ungelöste Fälle. Das macht Spaß. Wir müssen da vorne rechts.«

»Wohin fahren wir denn, verdammt noch mal?«

»Werden Sie gleich sehen, Chef. Sie werden staunen!« Er knetete seine Stofftasche. »Und jetzt hatte ich ja zwei Wochen Zeit, und …«

Doberschütz setzte den Blinker, bog rechts ab und nahm einem Radfahrer die Vorfahrt. »Jetzt sagen Sie nicht, Sie haben sich zwei Wochen lang durch alte Fälle durchgeschnüffelt!«

»Wie gesagt, das macht Spaß.«

Doberschütz grabschte ein paar weitere Hallorenkugeln aus der Schachtel. »Kaum zu fassen.«

»Das können Sie vielleicht nicht verstehen. Ich beneide Sie da, Chef, dass Sie nach Feierabend so einfach die Füße hoch und …«

»He, he, he, Bürschchen, glauben Sie ja nicht, dass ich abends einfach so abschalten kann!« Doberschütz warf ihm aus weit aufgerissenen Augen einen wässrigen Seitenblick zu. »Man ist schließlich rund um die Uhr Bulle! Glauben Sie denn etwa, ich hätte sonst den Würger von Kloschwitz geschnappt?«

Mackensen biss sich auf die Zunge. Er wusste so gut wie jeder andere, dass Doberschütz damals der glückliche Zufall zu Hilfe gekommen war. Das letzte Opfer des Serientäters Hartmut Zeisig hatte früher unter Kehlkopfkrebs gelitten und fröhlich durch seine künstliche Halsöffnung weitergeatmet, obwohl der Mörder ihm Nase und Mund mit Bauschaum gefüllt hatte. Das hatte den Killer so sehr zur Verzweiflung gebracht, dass ihn Doberschütz nur noch am Tatort aufsammeln musste.

»Gleich links, und dann sind wir fast schon da.«

Doberschütz leckte sich schmatzend die Schokolade von den Lippen.

»Lecker, oder?«, fragte Mackensen.

»Mmmmh, kann man essen. Und was hat das mit unserem Einsatz zu tun?«

»Kommt gleich, Chef, kommt gleich. Also ich bin da auf eine Reihe von Morden gestoßen. Ungeklärten Morden. Eigentlich ist es mir völlig schleierhaft, dass die Kollegen da nicht längst eine Verbindung hergestellt haben. Aber Sie kennen das: vier Bundesländer …«

»Momentchen mal, soll das heißen, Sie schnüffeln jetzt schon woanders rum?«

»Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Bayern und Niedersachsen.«

»Bei den Wessis? Geht’s noch? Können Sie sich nicht wenigstens ein paar von unseren eigenen …«

»Aber bei uns ist doch so gut wie alles aufgeklärt, Chef«, fiel Mackensen ihm ins Wort. »Ist ja auch kein Wunder. Hier gibt’s ja auch Kriminalhauptkommissar Doberschütz.«

Ein anderer Polizist hätte jetzt ein paar Worte der Bescheidenheit geäußert. Nicht so der fette Mann hinter dem Steuer. »Auch wieder wahr.«

»Also, diese vier Morde, die ich untersucht habe, scheinen auf den ersten Blick nichts miteinander gemein zu haben. Eine junge Frau wurde 2010 in Aachen mit einem Ziegelstein erschlagen. 2012 wurde in Lübeck ein fast neunzigjähriger Greis in der Trave ertränkt. Zwei Jahre später wurde eine sechsfache Mutter in Nürnberg mit einem Stück Wäscheleine erdrosselt, und 2016 wurde einem Müllmann in Hannover die Kehle aufgeschlitzt.«

Doberschütz bog links ab und schwieg. Auch Mackensen sagte nichts. Er erwartete eine Reaktion seines Vorgesetzten, die dann auch mit Verzögerung eintrat: »Kommt da noch was, oder wie?«

»Also, wie gesagt, zunächst scheinen die Taten völlig unzusammenhängend.« Noch bevor Doberschütz etwas Abfälliges sagen konnte, fuhr er fort: »Aber alle haben sich am 4. Mai ereignet. Immer hübsch im Abstand von zwei Jahren.«

»4. Mai? Das ist heute.«

»Hmhmmm.« Mackensen gab ein fröhlich summendes Geräusch von sich und faltete die Hände über der schon halb leeren Pralinenschachtel. »Jetzt halb links.«

Doberschütz tat, wie ihm geheißen. Was hatte dieser Grünschnabel da ausgegraben? Bis jetzt hatte er immer gedacht, in der Birne unter diesem Lockenkopf herrschte nichts als gähnende Leere? Der Kerl zwinkerte immer so versonnen durch seine Nickelbrille, als könne er kein Wässerchen trüben. Im Büro fiel er nie besonders auf, und Doberschütz hatte ihn bis jetzt ausschließlich zu niederen Diensten missbraucht. Löste in seiner Freizeit Kriminalfälle … Hm. Wofür hielt sich der Knilch denn? Für Nick Knatterton?

»Da vorne ist es. Das Hotel Dormero.« Mackensen reckte den Kopf. »Am besten wir parken da hinten, da haben wir den Haupteingang im Blick.«

»Weiß zwar nicht, was Sie vorhaben, aber …« Doberschütz manövrierte das Fahrzeug umständlich durch die Martinstraße, eine schmale Gasse, und wendete. Er holperte dabei mehrmals über den Bürgersteig, wobei er beinahe eine Oma mit Rollator erwischte. Als der Wagen schließlich stand, schaltete er die Zündung aus, fummelte die letzten Hallorenkugeln aus der Schachtel und sagte barsch: »So, und jetzt mal zur Sache, Freundchen. Ich hab mir Ihre Spinnereien jetzt lange genug angehört. Ich verplempere hier nicht meinen freien Abend, um Ihnen Nachhilfe in Polizeiarbeit zu geben. Karten auf den Tisch!«

Umständlich suchte Mackensen nach einer Möglichkeit, die leere Pralinenschachtel loszuwerden, bis Doberschütz sie ihm aus der Hand riss und auf den Rücksitz zu der Ansammlung anderen Mülls pfefferte. Dann fischte Mackensen einen Stapel Papiere aus dem Stoffbeutel. »Da hätten wir meine Akte.«

»Ihre Akte«, spottete Doberschütz.

»Ja, ich gebe zu, dass ich heimlich ein paar Sachen aus dem Polizeicomputer …« Er warf seinem Chef einen hektischen Seitenblick zu. Der aber reagierte nicht. Jeder wusste, dass er selbst jede Gelegenheit nutzte, seine Mitmenschen über das Netzwerk auszuspionieren. Nachbarn, Kollegen oder Menschen, die ihm einfach unsympathisch waren. Er nutzte sein Wissen auch mit Vorliebe, um sich Vorteile zu verschaffen und von anderen Gefälligkeiten abzupressen.

Mackensen wedelte mit den Papieren. »Also hier ist jedenfalls alles drin, was ich über die vier Morde herausfinden konnte.«

Doberschütz grabschte nach dem Papierstapel und fuhr mit den wulstigen Schokoladenfingern durch die Seiten. Er machte allerlei schnaufende Geräusche. Beiläufig wühlte er mit der Rechten in den Fächern der Mittelkonsole herum und förderte ein zerknautschtes Päckchen Zigaretten zutage. Während er mit den Lippen einen Glimmstängel herauszog, wanderte sein Blick weiter über Mackensens Schriftstücke. Jetzt tastete er nach einem Feuerzeug. Leere Tablettenröhrchen, Pistazienschalen und Kaugummipapierchen quollen aus dem Fach und verschwanden in der Dunkelheit des Fußraums.

»Ich bin an allen vier Tatorten gewesen, ich habe in allen Fällen Erkundigungen eingeholt. Es gibt nichts, was in diesen Fällen gleich abgelaufen ist. Nichts außer …« Mackensen guckte auf die Uhr und reckte wieder den Hals. »Da!«, rief er plötzlich schrill, und Doberschütz fuhr hinter dem Steuer zusammen. Sein schlecht rasiertes Doppelkinn zitterte. »Haben Sie’n Knall? Mich so zu erschrecken!«

»Da ist er! Starten Sie den Wagen!«

Ein Mann war aus dem Hoteleingang getreten. Eine unscheinbare Gestalt mittleren Alters in einem grauen Übergangsmantel. Er ging in unauffälliger Geschwindigkeit auf das Taxi zu, das in der Fußgängerzone vor dem Hotel wartete, und öffnete die Beifahrertür.

»Er hat ein Taxi für neun Uhr bestellt. Das habe ich vorhin im Hotel mitbekommen!«

»Wer?«, donnerte Doberschütz. »Wer denn, verdammt noch mal?«

»Friedhelm Olm«, rief Mackensen atemlos. »Es ist Friedhelm Olm aus Wiesbaden! Und wir müssen jetzt diesem Taxi folgen! Das ist unsere einzige Chance! Fahren Sie los!«

Doberschütz stieß einen seiner übelsten Flüche aus, knallte Mackensen Feuerzeug, Zigaretten und die Akte auf den Schoß und ließ den Wagen an. Als er aus der Parklücke schoss, schrammte er am Kotflügel des vor ihm geparkten Wagens vorbei und zwang den Fahrer eines Lieferwagens zu einer Vollbremsung. »Ich drehe Ihnen den verdammten Hals rum, Sie Flachpfeife, wenn das hier eine Nullnummer wird«, keuchte Doberschütz. Schweißperlen traten auf seine Stirn.

»Vertrauen Sie mir, Chef«, presste Mackensen angestrengt zwischen den Lippen hervor. »Friedhelm Olm hat in den letzten acht Jahren vier Menschen umgebracht, und wenn alles so läuft, wie ich es geplant habe, werden wir heute seinen fünften Mord verhindern und ihn auf frischer Tat erwischen.«