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Kopflose Dämonen, Geister toter Krieger und unheilbringende Fabelwesen treffen auf ehrenhafte Samurai, weise Mönche und tapfere Bürger aus dem Land der aufgehenden Sonne. Lafcadio Hearns Sammlung japanischer Spukgeschichten ist schauerlich unterhaltsam. Zugleich vermittelt sie dem Leser ein tiefes Verständnis von Wertvorstellung und Tradition im alten Japan. In Japan hat sich über Jahrhunderte hinweg, unter dem Einfluss historischer Ereignisse und der shintoistischen und buddhistischen Religion, eine große Vielfalt von Mythen, Sagen und Legenden entwickelt. In einem Land, das immer wieder von schicksalhaften Katastrophen heimgesucht wird, versuchen die Bewohner in eine Traumwelt zu entfliehen, in der übernatürliche Wesen für Glück und Unglück der Menschen verantwortlich gemacht werden. In den mündlichen und schriftlichen Überlieferungen dieser Legenden finden sich viele unheimliche Geschichten, die mit dem westlichen Genre der Spuk- oder Gespenstergeschichten verglichen werden können. Lafcadio Hearns Sammlung unheimlicher Geschichten erschien erstmals im Jahre 1904. Seine Geschichten unterscheiden sich stilistisch von den westlichen Gespenstergeschichten aus der viktorianischen Zeit. Während man dort oft konstruierte Spannung und berechnende Schockeffekte findet, so zeichnen sich Hearns Erzählungen durch Einfachheit und Natürlichkeit aus. Man bekommt das Gefühl, dass das Übernatürliche zum Leben gehört und dies macht den besonderen Zauber dieser Geschichten aus. Aufgrund seiner Affinität zur japanischen Kultur und zu den Menschen gelingt es Hearn, die philosophischen uns psychologischen Aspekte der Geschichten zu erfassen und für den westlichen Leser zu interpretieren. Lafcadio Hearn ist ein leiser, subtiler Vertreter in der Riege der Autoren phantastischer Literatur. Seine Geschichten weisen dennoch eine Kraft auf, die noch lange nachwirkt, nachdem man seine Bücher aus den Händen gelegt hat. Der vorliegende Band enthält neben 20 Erzählungen von Lafcadio Hearn auch ein Kapitel über Masaki Kobayashis kongeniale Verfilmung aus dem Jahr 1964.
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Seitenzahl: 163
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In Japan hat sich über Jahrhunderte hinweg, unter dem Einfluss historischer Ereignisse und der shintoistischen und buddhistischen Religion, eine große Vielfalt von Mythen, Sagen und Legenden entwickelt. In einem Land, das immer wieder von schicksalhaften Katastrophen heimgesucht wird, versuchen die Bewohner in eine Traumwelt zu entfliehen, in der übernatürliche Wesen für Glück und Unglück der Menschen verantwortlich gemacht werden. In den mündlichen und schriftlichen Überlieferungen dieser Mythen und Sagen finden sich viele unheimliche Geschichten, die mit dem westlichen Genre der Spuk- oder Gespenstergeschichten verglichen werden können.
Es ist schon ein wenig ironisch, dass der Autor der bekanntesten Sammlung japanischer unheimlicher Geschichten gar kein Japaner ist. Lafcadio Hearn, Schriftsteller irisch-griechischer Abstammung, lebte bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr in Amerika, bevor er die Liebe zu Japan entdeckte. Er zog im Jahre 1890 in das Land der aufgehenden Sonne, wo er mit der Tochter eines verarmten Samurai eine Familie gründete. Er nahm die japanische Staatsbürgerschaft und schließlich auch einen japanischen Namen – Koizumi Yakumo – an. Parallel zu seiner Tätigkeit als Lehrer an Schulen in Matsue und Kumamoto, später an der Universität von Tokyo, verfasste er mehr als ein Dutzend Bücher über Japan. Wie keinem anderen Ausländer gelang es Hearn in seinen Schriften, die japanische Lebens- und Denkweise für die westliche Welt verständlich zu interpretieren. Dabei galt sein Interesse stets dem Sonderbaren, Übernatürlichen und Befremdlichen. Seine Sammlung unheimlicher Geschichten – Nacherzählungen japanischer Legenden und Volkssagen – erschien zwischen 1895 und 1904 in den Bänden „Japanese Fairy Tales“, „Shadowings“, „A Japanese Miscellany“, „Kottō“ und „Kwaidan“.
Der japanische Titel „Kwaidan“ lässt sich am besten mit „Spukgeschichten“ übersetzen. In der Originalausgabe trägt das Werk den Untertitel „Stories and Studies of Strange Things“. Es enthält neben sechzehn unheimlichen Geschichten auch eine Sammlung von Schmetterlingsgedichten, zwei aus heutiger Sicht eher befremdliche Abhandlungen über Moskitos und Ameisen und eine kurze Episode mit einer Rückblende auf Hearns Kindheit („Hi-Mawari“). Bei den unheimlichen Geschichten deckt Hearn ein breites Spektrum ab. In der Sammlung finden sich kurze Skizzen, wie „Oshidori“ und „Ju-Roku-Zakura“, aber auch dramaturgisch sorgfältig ausgearbeitete längere Episoden, wie „Rokuro-Kubi“ und „Die Geschichte Aoyagis“. Die übernatürlichen Wesen in Hearns Geschichten sind nicht immer bedrohlich, wie die Geister der Krieger aus der Seeschlacht von Dan-no-ura in „Die Geschichte von Mimi-Nashi Hōichi“ oder die mit ihrem kalten Hauch Tod bringende Schneefrau in „Yuki Onna“. In anderen Episoden finden sich auch freundliche übernatürliche Erscheinungen, wie in „Ubazakura“, wo die Seele einer Frau nach deren Tod in einem Kirschbaum weiterlebt. All diese Geschichten unterscheiden sich stilistisch von den westlichen Gespenstergeschichten aus der viktorianischen Zeit. Während man dort oft konstruierte Spannung und berechnende Schockeffekte findet, so zeichnen sich Hearns Erzählungen durch Einfachheit und Natürlichkeit aus. Man bekommt das Gefühl, dass das Übernatürliche zum Leben gehört und dies macht den besonderen Zauber dieser Geschichten aus. Aufgrund seiner Affinität zur japanischen Kultur und zu den Menschen gelingt es Hearn, die philosophischen uns psychologischen Aspekte der Geschichten zu erfassen und für den westlichen Leser zu interpretieren. Lafcadio Hearn ist ein leiser, subtiler Vertreter in der Riege der Autoren phantastischer Literatur. Seine Geschichten weisen dennoch eine Kraft auf, die noch lange nachwirkt, nachdem man seine Bücher aus den Händen gelegt hat.
Der Text der vorliegenden Ausgabe von „Kwaidan“ lehnt sich weitgehend an die im Jahre 1909 im Verlag Rütten & Loening, Frankfurt/Main, erschienene deutsche Erstausgabe an. Berta Franzos hatte hierfür die Übersetzung angefertigt. Die Illustrationen im Text sind Ausschnitte des Buchschmucks, den Emil Orlik für die deutsche Erstausgabe gezeichnet hatte. Außerdem enthält das vorliegende Buch ein Kapitel über Masaki Kobayashis kongeniale Verfilmung von Lafcadio Hearns unheimlichen Geschichten.
Klaus Lerch Kaarst, im Februar 2014
Vor mehr als siebenhundert Jahren wurde in der Meerenge von Shimono-seki, in Dan-no-ura, die letzte Schlacht in dem langen Kampfe zwischen dem Heiké oder Taira-Clan und dem Genji- oder Minamoto-Clan geschlagen. Dort fanden alle Heiké mit ihren Freunden und Kindern den Tod, und auch ihr damals noch im Kindesalter stehender Kaiser, jetzt unter dem Namen Antoku Tennō bekannt, musste sein junges Leben lassen. Siebenhundert Jahre lang wurde dieses Meer von Gespenstern heimgesucht… An anderer Stelle erzählte ich von seltsamen Krabben, die man dort findet, Heiké-Krabben genannt, die auf ihrem Rücken menschliche Gesichter haben und für die Geister der Heiké-Krieger gehalten werden. [1] An dieser Küste gibt es auch sonst noch viel Seltsames zu sehen und zu hören. In dunklen Nächten flirren wohl tausende gespenstische Lichter über den Strand oder huschen über die Wellen, bleiche Lichter, die die Fischer „Oni-bi“ – „Teufelsfeuer“ – nennen; und wenn es stürmt, hält ein mächtiges Getöse, gleich wie Schlachtgetümmel, über das Meer.
In früheren Zeiten waren die Heiké viel ruheloser als jetzt. Wenn des Nachts Schiffe vorüberfuhren, umkreisten sie sie und suchten sie in den Grund zu senken, – und stets lauerten sie auf Schwimmer, um sie in die Tiefe hinabzuziehen. Um die Toten zu versöhnen, erbaute man in Akamaga-séki [2] einen buddhistischen Tempel (Amidaji) und errichtete am Meeresstrande einen Friedhof mit Grabmonumenten, auf denen die Namen des ertrunkenen Kaisers und seiner mächtigen Vasallen eingemeißelt waren. Dort wurde ein regelmäßiger Gottesdienst für die Geister der Toten abgehalten. Nachdem der Tempel erbaut und die Grabdenkmäler aufgestellt waren, richteten die Heiké weniger Unheil an, fuhren aber doch fort, von Zeit zu Zeit befremdliche Dinge zu tun, woraus man schloss, dass sie noch nicht vollkommenen Frieden gefunden hatten.
Vor einigen Jahrhunderten nun lebte in Akamagaséki ein blinder Mann namens Hōichi, berühmt wegen seiner Kunst im Vortrag und seines wunderbaren Biwaspiels. [3] Seit seinen Kinderjahren war er in diesen Künsten unterwiesen worden und hatte darin schon als Knabe seine Meister übertroffen. Durch seinen Vortrag der Geschichte der Heiké und Genji wurde er als berufsmäßiger Biwa-hōshi berühmt, und man sagt, dass, wenn er das Lied von der Schlacht bei Dan-no-ura sang, selbst die Kobolde (Kijin) sich der Tränen nicht erwehren konnten.
Im Anfang seiner Laufbahn war Hōichi sehr arm, aber er fand einen Schützer, der sich seiner annahm. Der Priester des Amida-Tempels liebte die Poesie und die Musik, und er lud Hōichi oft ein in den Tempel zu kommen, um dort zu spielen und zu rezitieren. Späterhin forderte der Priester den Knaben, dessen wunderbare Gabe ihm tiefen Eindruck gemacht, auf, bei ihm im Tempel zu bleiben, und Hōichi stimmte freudig zu. Er erhielt ein Zimmer im Tempelgebäude, und als Gegenleistung für Nahrung und Kleidung verlangte man von ihm nichts anderes, als den Priester an bestimmten Abenden durch musikalische Vorträge zu erfreuen.
In einer Sommernacht nun geschah es, dass der Priester abberufen wurde, um in dem Hause eines eben gestorbenen Gemeindemitglieds einen buddhistischen Gottesdienst abzuhalten. Er begab sich mit seinem Akolyten hin und ließ Hōichi allein im Tempel zurück. Es war eine schwüle Nacht, und der Blinde suchte auf der Veranda vor seinem Schlafzimmer Kühlung. Diese Veranda lag über einem kleinen Garten der Amidaji-Anlagen. Dort wartete Hōichi auf die Rückkehr des Priesters und vertrieb sich seine Einsamkeit durch Phantasieren auf der Biwa. Mitternacht war vorüber, und der Priester kehrte nicht zurück. Aber die Luft war noch so drückend, dass der Blinde sich nicht entschließen konnte, sein Zimmer aufzusuchen, sondern im Freien blieb.
Endlich hörte er Schritte. Jemand kam durch den Garten, näherte sich der Veranda und blieb gerade vor ihm stehen. Aber es war nicht der Priester. Eine tiefe Stimme rief den Namen des Blinden, barsch und kurz, in der Weise, wie ein Samurai seinen Untergebenen herbeiruft:
„Hōichi!“
Hōichi war zu verdutzt, um gleich zu antworten, und die Stimme wiederholte den Ruf in herrischem Befehlston:
„Hōichi!“
„Hai“, erwiderte der Blinde, erschreckt durch die Drohung, die in dem Ton der Stimme lag, „ich bin blind! Ich kann nicht wissen, wer mich ruft.“
„Du brauchst nichts zu fürchten“, sagte der Fremde in sanfterem Tone. „Ich halte mich in der Nähe dieses Tempels auf und bin mit einer Botschaft zu dir entsendet. Mein jetziger Herr, ein Mann von sehr hohem Range, weilt eben mit einem großen Gefolge edler Herren in Akamagaséki. Er ist gekommen, um das Schlachtfeld von Dan-no-ura zu sehen, und heute hat er diese Stätte besucht. Da man ihm deine Kunst im Vortrag der Geschichte der Schlacht gerühmt hat, ist er begierig, sie von dir zu hören. Du wirst also deine Biwa nehmen und mir allsogleich in das Haus folgen, wo eine erlauchte Versammlung deiner harrt.“
In jenen Zeiten war es nicht rätlich, sich dem Befehl eines Samurai zu widersetzen. Hōichi befestigte deshalb seine Sandalen, ergriff seine Biwa und folgte dem Fremden, der ihn sorgsam geleitete, ihn aber zwang, sehr schnell mit ihm auszuschreiten. Die Hand, die ihn führte, war eisern, und der dröhnende Schritt des Kriegers verriet, dass er in voller Rüstung war. Offenbar also hatte Hōichi ein Mitglied der Palastwache vor sich. Er hatte sich nun von seinem ersten Schrecken erholt und begann sogar an irgendeine Glücksfügung zu glauben. Denn wenn er sich die Worte des Lehnsmanns von einer „Persönlichkeit von hohem Rang“ zurückrief, konnte er nicht anders als annehmen, dass der Herr, der ihn zu hören verlangte, nicht weniger sein könne, als ein Daimyō erster Klasse. Nun machte der Samurai halt, und Hōichi erkannte, dass sie an ein großes Tor gelangt waren. Dies nahm ihn sehr Wunder, denn er konnte sich in diesem Teile der Stadt an kein großes Tor erinnern, außer an das Haupttor des Amidaji.
„Kaimon!“ [4] rief der Samurai. Man hörte das Zurückschieben eines schweren Riegels, und die beiden schritten weiter. Sie gingen durch eine Gartenanlage und machten wieder vor einem Eingang halt, und der Lehnsmann rief mit lauter Stimme:
„Ihr da drinnen, ich habe Hōichi gebracht.“ Dann hörte man eilige Schritte, das Zurückgleiten von Schiebewänden und Öffnen von Regentüren und Stimmen plaudernder Frauen. Aus den Reden der Frauen entnahm Hōichi, dass sie Dienerinnen in einem vornehmen Hause waren, aber er ahnte noch immer nicht, wohin man ihn geführt hatte. Man ließ ihm wenig Zeit zu Vermutungen. Nachdem man ihn über einige Stufen geleitet hatte, bedeutete man ihm, seine Sandalen abzustreifen, und dann führte ihn eine Frauenhand durch weite Gemächer, vorbei an zahllosen pfeilerartigen Vorsprüngen, über endlose mattenbedeckte Gänge, in die Mitte eines ungeheuren Raumes, wo es ihm schien, dass eine große vornehme Versammlung anwesend sei. Das Rauschen der Seidengewänder war wie das Rascheln des Laubes im Walde. Ein Stimmengewirr schlug an sein Ohr, ein Sprechen in gedämpften Tönen, und die Sprache war die Sprache der Höfe.
Man forderte Hōichi auf, es sich bequem zu machen, und er fand ein Kniekissen bereit. Nachdem er sich darauf niedergelassen und sein Instrument gestimmt hatte, richtete eine Frauenstimme, die er als die der Rōjo erkannte (der Matrone, welcher die weibliche Dienerschaft untersteht), folgende Worte an ihn:
„Es wird gewünscht, dass du die Geschichte der Heiké mit Biwabegleitung zum Vortrage bringst.“
Nun hätte aber der Vortrag der ganzen Geschichte viele Nächte in Anspruch genommen, und so wagte Hōichi die Frage:
„Da die ganze Geschichte nicht so schnell erzählt werden kann, möchte ich fragen, welcher Teil davon genehm ist?“
Die Frauenstimme antwortete:
„Rezitiere die Geschichte von der Schlacht bei Dan-no-ura, denn dies ist der ergreifendste Teil“. [5]
Da erhob Hōichi seine Stimme und sang das Lied von dem Kampfe auf dem tückischen Meer und ließ seine Biwa wunderbar ertönen, dass es klang wie Ruderschläge, Stürmen von Schiffen, Sausen und Schwirren von Pfeilen, dröhnende Schritte marschierender Männer, Klirren von Stahl auf Helmen, und das Zusammenschlagen der Fluten über den Leichen der Gefallenen. Und in den Ruhepausen des Spiels vernahm er rechts und links das Gemurmel bewundernder Stimmen: „Welch herrlicher Künstler!“ „Nie haben wir in unserer eigenen Provinz so spielen gehört!“ „Im ganzen Kaiserreiche gibt es nicht seinesgleichen.“ Und neu befeuert, sang und spielte er noch hinreißender als zuvor. Und rings um ihn herrschte atemloses Schweigen. Aber als er endlich zu der Schilderung des jammervollen Sterbens der Armen und Hilflosen kam, der Frauen und Kinder, und dem Todessprung der Nii-no-Ama, mit dem kaiserlichen Prinzen in ihren Armen, entrang sich den Zuschauern ein langer Schrei des Entsetzens und der Seelenpein wie aus einem Munde, und sie weinten und wehklagten so laut und so heftig, dass der alte Mann vor der Gewalt des Schmerzes, den er entfesselt hatte, selbst erschrak. Das Schluchzen und Wehklagen dauerte lange, aber allgemach erstarb es und hörte endlich ganz auf. In der Totenstille, die nun folgte, vernahm Hōichi wieder die Stimme der Frau, die er für Rōjo hielt: Sie sagte:
„Obgleich man dir nachrühmte, du seiest ein großer Künstler im Biwaspiel, und es komme dir im Rezitieren niemand gleich, glaubten wir doch nicht, dass du darin so Wunderbares leisten könntest, wie du es heute Abend getan hast. Unser Herr hat geruht, dir eine angemessene Belohnung zuzugedenken, aber es ist sein Wunsch, dass du in jeder der sechs folgenden Nächte mit deinen Vorträgen fortfährst, denn nach diesem Zeitpunkt wird wahrscheinlich seine erlauchte Abreise erfolgen. Halte dich demnach morgen nachts zur selben Stunde bereit. Der Lehnsmann, der dich hierhergeführt, wird dich wieder abholen… Noch eine andere Botschaft wurde mir für dich aufgetragen: Man heischt von dir, dass du während der Dauer von unserem erlauchten Herrn Anwesenheit in Akamagaséki von deinen Besuchen hier zu niemandem etwas verlauten lässt. Da seine Erhabenheit inkognito [6] reist, ist es sein Gebot, dass dieser Dinge keinerlei Erwähnung geschehe… Nun steht es dir frei, in deinen Tempel zurückzukehren.“
Nachdem Hōichi in geziemender Weise seinen Dank ausgesprochen hatte, führte ihn eine Frauenhand zum Hauseingang zurück, wo derselbe Lehnsmann, der ihn herbegleitet hatte, seiner harrte, um ihn wieder heimzubringen. Der Lehnsmann führte ihn zur Veranda in den Tempelanlagen und sagte ihm dort Lebewohl.
Als Hōichi heimkam, dämmerte schon beinahe der Morgen, aber man hatte seine Abwesenheit im Tempel nicht bemerkt, denn der Priester, der selbst spät zurückgekommen war, glaubte den Blinden schon im tiefen Schlaf. Im Laufe des nächsten Tages war es Hōichi möglich, sich ein wenig auszuruhen. Über sein seltsames Erlebnis beobachtete er unverbrüchliches Schweigen.
Um Mitternacht fand sich der Samurai pünktlich ein und geleitete ihn wieder zu der erlauchten Versammlung, wo Hōichi seinen zweiten Vortrag mit gleichem Erfolge hielt. Aber während dieses zweiten Besuches entdeckte man zufällig sein Verschwinden vom Tempel. Bei seiner Rückkehr am Morgen ließ ihn der Priester zu sich bescheiden und sagte ihm im Tone milden Vorwurfs:
„Wir haben uns sehr um dich geängstigt, Freund Hōichi. Blind wie du bist, dich in so später Nachtstunde allein hinauszuwagen, ist gefährlich. Warum hast du uns nicht gesagt, dass du ausgehen müsstest? Ich hätte einen Diener beauftragt, dich zu begleiten. Und wo bist du eigentlich gewesen?“
Hōichi antwortete ausweichend: „Vergebt mir, gütiger Freund, ich hatte eine persönliche Angelegenheit zu erledigen, die sich zu keiner anderen Stunde ordnen ließ.“
Der Priester war über Hōichis Verschlossenheit mehr verwundert als erzürnt. Er hatte das Gefühl, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zugehe, und ihm ahnte nichts Gutes. Er richtete jedoch keine weiteren Fragen an Hōichi, sondern schärfte nur den Tempeldienern insgeheim ein, den Blinden im Auge zu behalten und ihm, falls er in der Nacht den Tempel verlassen sollte, auf den Fuß zu folgen.
Als man nun in der nächsten Nacht merkte, dass Hōichi sich fortschlich, zündeten die Diener eiligst ihre Laternen an und folgten ihm unbemerkt. Aber es war eine regnerische und sehr finstere Nacht, und ehe die Tempeldiener an die Heerstraße gelangen konnten, war Hōichi ihren Blicken entschwunden. Offenbar war er sehr schnell gegangen, was in Anbetracht seiner Blindheit sehr seltsam war, denn die Wege waren in gar schlechtem Zustand. Die Diener eilten durch die Straßen und forschten nach dem Blinden in jedem Hause, wo er vorzusprechen pflegte, aber niemand wusste etwas von ihm.
Als sie endlich auf dem Uferwege zum Tempel zurückkehren wollten, schlugen laute Biwaklänge an ihr Ohr, die von dem Amidajifriedhof ertönten. Dieser selbst lag im tiefsten Dunkel und wie immer in finsteren Nächten huschten die gespenstischen Lichter hin und her. Aber unerschrocken eilten die Männer zum Friedhof, wo sie mit Hilfe ihrer Laternen Hōichi entdeckten, der des Regens nicht achtend, allein vor dem Grabmal Antoku Tennōs saß und zu den schmetternden Tönen seiner Biwa das Lied von der Schlacht von Dan-no-ura sang. Und hinter ihm und rings um ihn und über allen Gräbern brannten die Feuer der Toten wie Kerzen. Nie war eine so ungeheure Schar von Oni-bi vor dem Angesicht eines Sterblichen erschienen.
„Hōichi San, Hōichi San!“ riefen die Diener, „du bist behext, Hōichi San!“
Aber der Blinde schien nicht zu hören. Und immer feuriger ließ er seine Biwa ertönen, immer wilder sang er das Lied von der Schlacht bei Dan-no-ura. Sie schüttelten ihn und schrien ihm ins Ohr: „Hōichi San, Hōichi San! Komm doch gleich mit uns heim!“
Da sagte er verweisend: „Mich in solcher Weise vor der erlauchten Versammlung zu stören, kann nicht geduldet werden!“ Worauf sich die Diener trotz der Grausigkeit dieses Augenblicks des Lachens nicht enthalten konnten. Es war nicht anders, er musste wohl behext sein.
Sie packten ihn also, stellten ihn gewaltsam auf die Füße und schleppten ihn zum Tempel zurück. Dort entledigte man ihn seiner durchnässten Kleider, gab ihm trockene und labte ihn mit Speise und Trank. Dann drang der Priester in Hōichi ihm wahrheitsgetreuen Aufschluss über sein erstaunliches Betragen zu geben. Lange zögerte Hōichi zu sprechen, aber als er sah, wie sein Verhalten den gütigen Priester ängstigte und erzürnte, entschloss er sich, sein Geheimnis preiszugeben und erzählte alles, was sich seit dem ersten Besuch des Samurai zugetragen hatte.
Der Priester sagte: „Hōichi, mein armer Freund, du bist jetzt in großer Gefahr. Wie sehr beklage ich, dass du mir all dies nicht früher anvertraut hast. Wahrlich, deine wunderbare Begabung hat dich in seltsames Ungemach gebracht! Nun musst du dir ja wohl selbst darüber klar sein, dass du in keiner menschlichen Behausung gewesen bist, sondern deine Nächte auf dem Friedhof zwischen den Gräbern der Heiké zugebracht hast, denn heute Nacht haben dich unsere Tempeldiener vor dem Grabmal des Antoku Tennō im Regen sitzend gefunden. Alles was du sonst erlebt zu haben glaubst, ist lauter Trug gewesen, nur nicht der Ruf des Toten. Dadurch, dass du ihnen einmal gehorcht hast, bist du ihnen verfallen. Gehorchst du ihnen wieder nach dem was jetzt geschehen, werden sie dich in Stücke reißen. Aber früher oder später hätten sie dich in jedem Falle vernichtet. Leider kann ich heute Nacht nicht bei dir bleiben, meine Berufspflicht ruft mich anderswohin, aber ehe ich gehe, wird es ratsam sein, deinen Körper zu schützen, indem wir ihn überall mit heiligen Schriftzeichen bedecken.“
Vor Sonnenuntergang entkleidete der Priester mit Hilfe des Akolyten Hōichi bis auf die Haut, und dann bedeckten sie seine Brust, seinen Rücken, seine Schultern, Gesicht, Kopf und Hals, Hände und Füße, ja sogar die Fußsohlen mit dem Text des heiligen Sutra, genannt Hannya-Shinkyō [7]. Nachdem dies geschehen war, belehrte der Priester Hōichi über sein Verhalten, indem er sagte:
„Heute Abend musst du dich, sowie ich fort bin, auf die Veranda setzen und warten. Man wird dich rufen, aber was immer geschehen möge, antworte nicht und rühre dich nicht. Bleibe regungslos und sitze da, wie in Betrachtung versunken. Bewegst du dich oder machst du auch nur das allergeringste Geräusch, wirst du in Stücke gerissen werden. Lass dich aber nicht von Furcht anwandeln oder dir es gar beifallen, um Hilfe zu rufen, denn keine Hilfe könnte dich retten. Tust du genau, wie ich dir geheißen, geht die Gefahr vorüber, und du wirst nichts mehr zu fürchten haben.“
Nach Einbruch der Dunkelheit entfernte sich der Priester mit dem Akolyten, und Hōichi setzte sich auf die Veranda, wie der Priester ihm geheißen. Er legte seine Biwa auf den Boden neben sich, und inden er die Stellung des Meditierens annahm, verhielt er sich ganz still, bemühte sich, nicht zu husten und so lautlos wie möglich zu atmen. So vergingen viele Stunden.
Da hörte er plötzlich von der Landstraße Schritte herankommen. Sie gingen am Tor vorüber, durchschritten den Garten, nahten sich der Veranda und machten gerade vor ihm halt.
„Hōichi!“ rief eine tiefe Stimme. Aber der Blinde hielt den Atem an und blieb regungslos sitzen.
„Hōichi!“ herrschte ihn die Stimme zum zweiten Male an, und dann zornentbrannt zum dritten Male:
„Hōichi!“
Hōichi blieb stumm wie ein Stein, und die Stimme murrte:
„Keine Antwort! Das geht nicht an! Ich muss doch sehen, wo der Bursche steckt.“
Schwere Schritte stapften die Veranda hinan, näherten sich und blieben vor ihm stehen. In den darauffolgenden Sekunden, während derer Hōichi fühlte, wie das Blut in seinen Adern erstarrte, herrschte Totenstille.
Dann sagte die barsche Stimme dicht neben ihm:
„Hier ist die Biwa, aber von dem Biwaspieler sehe ich bloß zwei Ohren! Dies erklärt, warum er nicht geantwortet hat. Er hat ja keinen Mund zum Antworten, es ist von ihm nichts übrig als die Ohren, ich kann also nichts anderes tun, als diese seine Ohren meinem Herrn zu bringen, auf das er sieht, dass sein erhabener Befehl befolgt wurde, insoweit dies möglich war.“
Gleichzeitig fühlte Hōichi, wie seine Ohren von eisernen Fingern erfasst und weggerissen wurden. Trotz des furchtbaren Schmerzes, gab er doch keinen Laut von sich. Die schweren Fußtritte dröhnten über die Veranda, stiegen in den Garten hinab, verhallten auf der Landstraße und verstummten. Zu beiden Seiten seines Kopfes fühlte der Blinde dicke warme Tropfen sickern, aber er wagte nicht, die Hände zu heben.