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Seitenzahl: 184
KÖNIGS ERLÄUTERUNGEN
Band 61
Textanalyse und Interpretation zu
Albert Camus
L'ÉTRANGER
Von Volker Krischel
Alle erforderlichen Infos für Abitur, Matura, Klausur und Referat plus Musteraufgaben mit Lösungsansätzen
Zitierte Ausgaben:Camus, Albert:L’Étranger. Hg. von Brigitte Sahner. Stuttgart: Reclam, 2012
Über den Autor dieser Erläuterung: Dr. Martin Lowsky, Studium der Romanistik, Mathematik und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Tübingen und Heidelberg, Promotion 1975. Abhandlungen, auch Bücher, zur deutschen und französischen Literatur (Bloch, Fontane, May, Molière, Arno Schmidt, Storm, Valéry, Voltaire) und zur Pädagogik (Erich Fromm). Redaktionstätigkeit für die Zeitschrift Forschungen zu Paul Valéry/Recherches Valéryennes (Romanisches Seminar der Universität Kiel). Unterricht an einem Gymnasium in Kiel. In der Reihe ‚Königs Erläuterungen‘ sind von Martin Lowsky zuletzt erschienen: Erläuterungen zu Molière: Le Malade imaginaire (2013), Erläuterungen zu Jean-Paul Sartre: Huis clos (2014).
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1. Auflage 2016
ISBN 978-3-8044-7018-7
© 2016 by C. Bange Verlag GmbH, 96142 Hollfeld Alle Rechte vorbehalten! Titelabbildung: Strand in Sidi Ferruch (Algerien) 1948 © ullstein bild – Roger-Viollet
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INHALT
1. Das Wichtigste auf einen Blick – Schnellübersicht
2. Albert Camus: Leben und Werk
2.1 Biografie
2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund
Algerien und die Algerier in den 1930er Jahren
Das französische Geistesleben
2.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken
3. Textanalyse und -Interpretation
3.1 Entstehung und Quellen
Das Leben in Algier in den 1930er Jahren
Weitere wichtige Orte
Camus‘ literarische Quellen und seine Arbeit an L’Étranger
3.2 Inhaltsangabe
3.3 Aufbau
Überblick über Ort und Zeit
Chronologie
Erster Teil
Zweiter Teil
L’Étranger – ein Tagebuch
3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken
Übersicht
Meursault
Madame Meursault, Meursaults Mutter †
Marie Cardona
Raymond Sintès
Der Araber (l’Arabe)
Überlegung: Meursault und der Araber – ist es eine Mordtat?
3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen
3.6 Stil und Sprache
Der erste Eindruck: ein schlichter Stil
Die Freude am Oberflächlichen
Verschiedene Stilebenen in L’Étranger
Poetische Kraft im Erzählen; Stilfiguren
3.7 Interpretationsansätze
L’Étranger als sozialer Roman
Ein spezielles Problem: Camus‘ einseitiger Blick auf Algier?
Ein spezielles Problem: Meursault als Rassist und als Opfer von Rassismus
L’Étranger als psychologischer Roman: der kindliche Meursault
Zusätzliche Überlegung: psychische Empfindlichkeit und tiefenpsychologische Symbole
L’Étranger als Parodie auf den Kriminalroman
L’Étranger als philosophischer Roman: die Theorie des Absurden
Die Zweiteilung des Romans und Camus’ Kunst der Kontraste
Das Wort ‚étranger‘ im Titel des Romans
4. Rezeptionsgeschichte
L’Étranger – ein Lieblingsbuch von vielen Lesern
L’Étranger in der Forschung
5. Materialien
Passagen aus Albert Camus‘ Werk: Camus, der Philosoph
Passagen aus Albert Camus‘ Werk: Camus, der Mann aus Algerien
Blicke auf andere Schriftsteller
Bemerkenswerte Urteile über L’Étranger
Über den ‚ehrlichen Meursault’
6. Prüfungsaufgaben mit Musterlösungen
Aufgabe 1 *
Aufgabe 2 **
Aufgabe 3 ***
Aufgabe 4 ***
Literatur
Zitierte Ausgabe
Gesamtausgaben
Übergreifende Darstellungen
Speziell zu L’Étranger
Film und andere Medien
Damit sich jeder Leser in unserem Band rasch zurechtfindet und das für ihn Interessante gleich entdeckt, hier eine Übersicht:
Im 2. Kapitel beschreiben wir Albert Camus’ Leben und den zeitgeschichtlichen Hintergrund.
Albert Camus lebte von 1913 bis 1960. Er entstammte der Schicht der Algerienfranzosen und ist in Algier aufgewachsen. Ab 1940 lebte er in Paris. Er starb bei einem Autounfall.
Wir stellen das damalige Algerien vor, das seit 1830 eine französische Kolonie war, offiziell aber als Teil des Mutterlandes Frankreich zählte. Die Epoche, in der Camus aufwuchs, war die Zeit der großen französischen Romanautoren wie André Gide und Marcel Proust.
Camus wurde bekannt durch seine Romane, neben L’Étranger vor allem La Peste, und durch seine philosophischen Essays und Theaterstücke. Die Philosophie des Absurden ist Camus’ Hauptthema.
Im 3. Kapitel bieten wir eine Textanalyse und -interpretation.
L’Étranger – Entstehung und Quellen:
Angeregt zu L’Étranger wurde Camus durch seine Erlebnisse in seiner Heimatstadt Algier und durch seine Lektüren: Kafka: Das Schloß, Stendhal: Le Rouge et le Noir u. a.
Camus arbeitete an L’Étranger seit 1937; das Werk erschien 1942 in Paris.
Inhalt:
Das Werk erzählt den Alltag des Algerienfranzosen Meursault und sodann, dass er einen Araber erschießt, zum Tode verurteilt wird und in dieser Lage das Glück des Lebens erfasst.
Aufbau:
L’Étranger spielt größtenteils in Algier, die Handlungszeit ist Ende der 1930er Jahre.
Die Hauptfigur Meursault ist der Ich-Erzähler. Der 1. Teil umfasst 17 Tage, der 2. Teil elf Monate und spielt im Gefängnis und im Gerichtssaal.
Personen:
Meursault:
Hauptfigur des Romans,
ist Büroangestellter,
nimmt viel wahr und ist spontan,
durchdenkt nicht, was er erlebt,
versucht in späteren Kapiteln, sich zu analysieren.
Marie Cardona:
Freundin Meursaults,
ist von Beruf Sekretärin,
ist fröhlich und unternehmungslustig,
hält zu Meursault auch nach seiner Verhaftung.
Raymond Sintès:
vermutlich Zuhälter,
ist Meursaults Kumpel,
führt sich auf wie ein Macho, bis hin zur Kriminalität,
hat Sinn für Geselligkeit.
Der ‚Araber‘:
Bruder von Raymonds Geliebter,
wird zu Raymonds Feind.
Meursault erschießt ihn am Strand. Wir erörtern, ob dies als ein Mord anzusehen ist.
Stil und Sprache:
L’Étranger ist großenteils in einer schlichten Sprache geschrieben. Die Sprache widmet sich sehr oft dem Banalen und Oberflächlichen. Zugleich hat das Werk, besonders in seinem 2. Teil, eine große poetische Kraft.
Interpretationsansätze:
Wir deuten L’Étranger als
sozialen Roman und betrachten dabei auch das Thema Rassismus,
psychologischen Roman,
Parodie auf den Kriminalroman,
philosophischen Roman, wobei das ‚Absurde‘ im Mittelpunkt steht.
Außerdem behandeln wir
die Aufspaltung des Romans in zwei Teile
und den Romantitel mit dem Begriff ‚étranger‘ – ‚fremd‘.
Albert Camus (1913–1960) © ullstein bild – Roger-Viollet / Henri Martinie
JAHR
ORT
EREIGNIS
ALTER
1913
Mondovi (heute Dréan), 25 km südlich von Bône (Annaba), 420 km östl. von Algier
Am 7. November wird Albert Camus geboren. Die Eltern gehören zur Schicht der ‚Français d’Algérie’, der Algerienfranzosen: der Weingutarbeiter Lucien Camus (1885–1914) und die Hausfrau und Putzhilfe Catherine, geb. Sintès (1882 – 22. Sept. 1960). Luciens Vorfahren stammen aus Frankreich (Bordeaux, Marseille), Catherines Vorfahren von der spanischen Insel Menorca. Alberts Bruder, der ebenfalls Lucien heißt, ist 1910 geboren. Die Familie hat in Algier gelebt; im Frühjahr 1913 ist der Vater von seinem Arbeitgeber nach Mondovi versetzt worden.
1914
Algier
Im August wird der Vater Lucien Camus zum Kriegsdienst (Erster Weltkrieg) eingezogen. Die Familie kehrt nach Algier zurück.
Saint-Brieuc (Bretagne)
Am 11. Oktober stirbt Lucien Camus im Militärkrankenhaus an seiner Verwundung in der Marne-Schlacht.
1921
Algier, Stadtviertel Belcourt
Die Familie zieht in das Haus 93, rue de Lyon (heute rue Belouizdad). Zu dem ärmlichen Haushalt gehören die Mutter und die beiden Söhne sowie zwei Brüder der Mutter und die strenge Mutter der Mutter.
7
1923
Algier
Albert Camus’ Grundschullehrer Louis Germain setzt bei der Mutter (die Analphabetin ist) durch, dass Albert eine Prüfung ablegt, die ihm den kostenlosen Besuch des Gymnasiums eröffnet. – An diesem ‚Grand Lycée d’Alger’ (ab 1930 heißt es: ‚Lycée Bugeaud’) ist Albert ein guter Schüler, der Literatur und Philosophie sehr schätzt, aber auch engagiert Fußball spielt. In den Ferien nimmt er Jobs an, zum Beispiel Büroarbeit bei einem Schiffsmakler.
9
1930
Algier
Im Dezember stellt man bei Camus Tuberkulose fest. (Sie ergreift ab 1934 beide Lungenflügel. 1938 wird Camus mitgeteilt, dass er wegen der Krankheit keine Stelle im Staatsdienst bekommen kann.)
17
1931
Algier
Camus’ Philosophielehrer ist der auch schriftstellerisch tätige Jean Grenier. Grenier wird ihm zum lebenslangen Freund. – Camus zieht von zu Hause aus. Zeitweise wohnt er bei seinem Onkel Gustave Acault, einem Metzger, der literarisch interessiert ist und viele Bücher besitzt.
17
1932
Algier
Erste Veröffentlichungen: kleinere Texte in Zeitungen.
18
1933
Algier
Abitur. Beginn des Philosophiestudiums an der Universität.
19
1934
Algier
Am 16. Juni Heirat mit Simone Hié, der Tochter einer bekannten Augenärztin.
20
1935
Algier
Camus erwirbt den Studienabschluss ‚Licence de philosophie’. Er wird Mitglied der Kommunistischen Partei (und bleibt es bis 1937). Im Herbst gründet er mit Freunden das ‚Théâtre du Travail’. Hier und bei dem Folgeunternehmen ‚Théâtre de l’Équipe’ arbeitet Camus als Schauspieler, Regisseur, Autor und Übersetzer (bis 1939).
21
1936
Algier
Camus erwirbt das Universitätsdiplom ‚Diplôme d’études supérieures de philosophie’ mit einer Arbeit über Augustinus und den Neuplatonismus.
22
Salzburg, Prag, Dresden, Wien, Venedig
Juli/August Europareise, zeitweise mit seiner Frau Simone. Es kommt zum Zerwürfnis mit ihr. (Die Scheidung erst 1940.)
1937
Algier
Camus’ erstes Buch erscheint: L’Envers et l’Endroit.
23
Paris, Marseille, Florenz, Genua
Im August und September Reise nach Frankreich und Italien.
Algier
Im Herbst lernt Camus seine spätere zweite Frau Francine Faure (1914–1979), aus wohlhabender Familie in Oran, kennen. – Beginn einer Hilfstätigkeit am Meteorologischen Institut, die bis September 1938 währt.
1938
Algier
Im Oktober beginnt Camus seine Arbeit als Redakteur und Reporter für die neugegründete Zeitung ‚Alger républicain’. Die Zeitung setzt sich für die Gleichberechtigung der Urbevölkerung ein. Sie wird Anfang 1940 verboten.
24
1939
Algier
Im Juni bringt der ‚Alger républicain’ Camus’ 11-teilige Artikelserie über das Elend in der Kabylei, einer von der französischen Verwaltung Algeriens völlig vernachlässigten Region. (Neuausgabe der Artikel 1958 unter dem Titel Misère de la Kabylie innerhalb des Bandes Actuelles III.)
25
Oran, 340 km westlich von Algier
Mehrfach Aufenthalte bei der Familie seiner späteren Frau Francine; auch noch Anfang 1940.
1940
Paris
Im März verlässt Camus Algier; er bekommt eine Stelle bei der Redaktion der Zeitung ‚Paris-Soir’. – Paris wird im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besetzt (ab Juni).
26
Lyon
Am neuen Standort von ‚Paris-Soir’, ab September, führt Camus zunächst seine Tätigkeit fort. Am 3. Dezember Heirat mit Francine Faure.
27
1941
Oran
Nach der Rückkehr des Ehepaars nach Algerien arbeitet Francine als Grundschullehrerin.
27
1942
Paris
L’Étrangererscheint im Mai, Le Mythe de Sisyphe im Oktober.
28
Le Panelier bei Saint-Étienne
Mitte August lässt sich Albert Camus in Frankreich nieder. (Francine arbeitet weiter in Oran.) Von Le Panelier aus mehrere kurze Reisen, u. a. nach Paris.
1943
Paris
Freundschaftliche Begegnungen mit Jean-Paul Sartre. Camus arbeitet an der illegalen Widerstandszeitung ‚Combat’ mit.
29
Im November stellt der Verlag Gallimard (in dem L’Étranger erschienen ist und fast alle anderen Werke Camus’ erscheinen) Camus als Lektor ein. Paris wird Camus’ Lebensmittelpunkt.
30
1944
Paris
Im Juni Erstaufführung von Le Malentendu. Beginn der Liaison mit der Schauspielerin María Casarès, die die Hauptrolle hat.
Am 25. August wird Paris von den Deutschen befreit. Im September zieht Francine zu Albert.
30
1945
Frankreich, Algerien, Deutschland, Österreich
Reiseaktivitäten, zum Teil für den jetzt legalen ‚Combat’, in dem Camus viel veröffentlicht.
31
Paris
Am 5. September werden die Zwillinge Catherine und Jean geboren. Im Oktober Erstaufführung von Caligula. (Der Text war schon 1944 erschienen.)
1946
New York, Montréal, Québec
Von März bis Juni Vortragsreise in die USA und nach Kanada. (In den folgenden Jahren Vortragsaufenthalte in verschiedenen Ländern.)
32
1947
Paris
Im Juni erscheint La Peste. Der Roman wird Camus’ größter Erfolg.
33
1948
Paris
Im Oktober Erstaufführung von L’État de siège.
34
1949
Rio de Janeiro, São Paulo, Buenos Aires
Im August Südamerikareise, die vom französischen Außenministerium gefördert wird. Zahlreiche Vorträge. Dabei verschlimmert sich Camus’ Tuberkulose-Erkrankung in lebensgefährlicher Weise.
35
Paris
Im Dezember Erstaufführung von Les Justes.
36
1951
Paris
Der Essay L’Homme révolté erscheint im Oktober. Jean-Paul Sartre geht in der Folgezeit auf Distanz zu Camus, da ihm dieses Werk zu abstrakt und zu bürgerlich erscheint.
37
1952
,Les Territoires du Sud algérien’
Im Dezember bereist Camus zum ersten Mal die Gebiete der Sahara in Algerien.
39
1953
Angers
Camus arbeitet Mitte Juni als Regisseur intensiv beim ‚Festival dramatique d’art’ mit. Das bekannte Foto, das Camus zeigt mit dem Mikrofon unter der linken Hand, ist von dort.
Paris
Nach der Erhebung am 17. Juni in der DDR verdammt Camus öffentlich die Brutalität des kommunistischen Regimes. (Ähnlich ist seine Reaktion beim Aufstand in Ungarn 1956.)
1954
Paris
Francine leidet in der ersten Jahreshälfte schwer an Depressionen.
Im Frühjahr erscheint die Essay-Sammlung L’Été.
40
1955
Algerien
Auf einer Reise im Februar/März sucht Camus die Orte seiner Kindheit auf. Er plant ein autobiografisches Werk; es wird den Titel Le Premier Homme tragen und erst 1994, lange nach seinem Tod, erscheinen.
41
Athen, Halbinsel Peloponnes, Insel Delos
Im April/Mai Griechenlandreise; Camus will die von ihm geliebte Welt des Mittelmeeres weiter erkunden.
Paris
Im Algerienkrieg (1954–1962), dem blutigen Konflikt um die Unabhängigkeit Algeriens – die Urbevölkerung nennt Algerien ihr Land, die vor Generationen Eingewanderten wollen ihre algerische Heimat und ihre Privilegien nicht aufgeben –, mahnt Camus in zahlreichen Artikeln und Interviews zur Versöhnung. In ‚L’Express’ vom 23. Juli 1955 macht er den Vorschlag „remplacer la colonisation par l’association“ und ruft die in Algerien Heranwachsenden zur „communauté franco-arabe“ auf.
1956
Paris
La Chute erscheint im Mai.
42
1957
Paris
Im Sommer erscheinen die Réflexions sur la guillotine.
43
Stockholm, Uppsala
Am 10. Dezember erhält Albert Camus den Nobelpreis für Literatur. In Schweden Vorträge und Stellungnahmen; seine Frau Francine ist mit dabei.
1958
Griechenland
Im Juni Kreuzfahrt mit María Casarès, seinem Freund und Verleger Michel Gallimard und dessen Frau Janine.
44
Paris
Der Band Actuelles III mit den algerischen Zeitungsartikeln von 1939 erscheint.
Lourmarin (zwischen Avignon und Aix-en-Provence, nahe dem Tal der Durance)
Im September Kauf eines Hauses. Ein alter Wunsch des Ehepaars Camus geht in Erfüllung.
1959
Algerien
Im März besucht Camus seine Mutter, die eine Operation überstanden hat.
45
Lourmarin
Insgesamt drei Arbeits- und Erholungsaufenthalte, mit Exkursionen.
Der letzte ab 15. November bis zum Jahreswechsel.
46
Aix-en-Provence
In einem Gespräch am 14. Dezember mit Studenten erklärt Camus auf die Frage „Êtes-vous un intellectuel de gauche?“ dies: „Je ne suis pas sûr d’être un intellectuel. Quant au reste, je suis pour la gauche, malgré moi, et malgré elle.“
1960
Villeblevin bei Montereau, 60 km südöstlich von Paris
Am 4. Januar Autounfall auf der Rückfahrt von Lourmarin nach Paris. Albert Camus ist sofort tot. – Michel Gallimard, der Fahrer, stirbt später ebenfalls. Francine Camus und die beiden Kinder haben die Rückfahrt per Bahn gewählt. (Camus wird am 6. Januar in Lourmarin beigesetzt.)
46
Algerien und die Algerier in den 1930er Jahren
Blicken wir in Albert Camus’ Heimat, in der auch L’Étranger spielt. Algerien ist, ebenso wie Marokko und Tunesien, Teil des Maghreb (‚Maghreb‘ arab.: Westen), d. h. der westlichen Region des arabischen Sprachgebietes. 1830 eroberten die Franzosen die Hauptstadt Algier und machten Algerien zu ihrer Kolonie. Die Regierung in Paris warb dafür, dass Franzosen aus dem Mutterland, aber auch Spanier und Italiener nach Algerien einwanderten; sie bot ihnen günstige Bedingungen, insbesondere fruchtbares Ackerland, das man der Urbevölkerung wegnahm. Albert Camus’ Vorfahren mütterlicherseits kommen aus Spanien, von den Balearen, seine Vorfahren väterlicherseits aus Frankreich. Offiziell galt Algerien als ein Teil des Mutterlandes Frankreich, doch die französische Staatsbürgerschaft erhielten nur die Eingewanderten. (1962 wurde Algerien nach blutigen Auseinandersetzungen unabhängig und erklärte sich zur Republik.)
Die Bevölkerung Algeriens, damals 9 Millionen, bestand damit aus
den Eingeborenen (‚les indigènes‘); dies waren Berber und Araber. Sie alle wurden meist ‚Araber‘ genannt. Sie waren Moslems. Diese Gruppe machte fast 90 % der Bevölkerung aus, in der Stadt Algier bildete sie nur knapp die Hälfte der Einwohner.
den aus Europa Eingewanderten und ihren Nachkommen. Sie galten als französische Staatsbürger, es waren die ‚Français d’Algérie‘ (Algerienfranzosen, später auch ‚pieds-noirs‘ genannt). Sie waren größtenteils Katholiken. Anders als sonst im Land waren sie in Algier in der Überzahl.
Die ‚Français d’Algérie‘ gehörten verschiedenen Schichten an. Es gab wohlhabende Guts- und Fabrikbesitzer, aber der größere Teil von ihnen, die Arbeiter und die Handwerker – ‚les petits Blancs‘, wie man sagte –, waren arm. Auch Camus’ Familie – seine Mutter war Kriegerwitwe und alleinerziehend – hatte kaum mehr als das Existenzminimum. Unter den Arabern lebten viele im Elend, in der arabischen Landbevölkerung gab es Hungersnöte. Die arabischen Arbeiter bekamen nur ein Viertel des Lohnes der eingewanderten.
Algier hatte eine Altstadt, die Kasbah, mit mehreren Moscheen. Die Regierung in Paris war bestrebt, Algier zu einer europäisch geprägten Großstadt zu machen. Viele Häuser wurden in europäischer Weise umgebaut. Die französische Universität Algier wurde 1909 gegründet. An den beiden Gymnasien (den ‚lycées‘) wurde gelehrt wie in Frankreich selbst. Camus, Schüler am ‚Grand lycée‘, erhielt die typische französische Bildung. 1930 bekam das ‚Grand lycée‘ den Namen ‚Lycée Bugeaud‘ zu Ehren eines französischen Algerien-Eroberers. (Heute heißt es ‚Lycée Émir Abdelkader‘ nach dem algerischen Freiheitshelden.) Das ‚décret Chautemps‘, am 8. März 1938 in Paris erlassen, erklärte die arabische Sprache zur Fremdsprache in Algerien.[1]
Es gab in Algerien Unabhängigkeitsbestrebungen der Urbevölkerung, die unterdrückt wurden. Darüber hinaus lehnten die maßgeblichen politischen Kreise der Eingewanderten, so Augustin Rozis, der Bürgermeister von Algier, jede Aufweichung ihrer Privilegien ab. 1936 hatte die Regierung in Paris ein Gesetz in Planung, ‚le projet Blum-Viollette‘, das die französische Staatsbürgerschaft auf einen kleinen Teil der Urbevölkerung ausdehnen sollte, doch diese Planung wurde unter dem Druck der Eingewanderten aufgegeben. Die 1938 gegründete Zeitung ‚Alger républicain‘, die die ungerechte Behandlung der Urbevölkerung anprangerte – auch in von Camus verfassten Artikeln –, wurde Anfang 1940 verboten.
Am 1. September 1939 hatten die Deutschen den Zweiten Weltkrieg begonnen, ab Juni 1940 war Frankreich und damit auch Algerien von den Deutschen besetzt. Einem Teil der Algerienfranzosen wurde die französische Staatsbürgerschaft aberkannt, nämlich den Juden unter ihnen.
Das französische Geistesleben
Die Philosophie hatte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einen großen Aufschwung genommen. Eine Leitfrage war: Wie kann der Mensch in einer Welt leben, die er nicht durchschaut und wo ihn der Tod erwartet? Einflussreich waren die deutschen Denker Friedrich Nietzsche (1844–1900), Karl Jaspers (1883–1969) und Martin Heidegger (1889–1976). 1938 veröffentlichte der junge französische Schriftsteller Jean-Paul Sartre (1905–1980) den philosophischen Roman La Nausée, in dem er die Unsicherheit und den Ekel (‚la nausée‘) des Menschen gegenüber der komplizierten und ‚absurden‘ Welt beschrieb. Albert Camus hat La Nausée bei seinem Erscheinen rezensiert.
Diese Epoche war auch eine Zeit der großen Romanautoren; nennen wir André Gide (Les Faux-Monnayeurs, 1926), Roger Martin du Gard (Les Thibault, frühe Bände 1922), Marcel Proust (À la recherche du temps perdu, letzter zu Lebzeiten veröffentlichter Teil 1922) und André Malraux (La Condition humaine, 1933). In den Werken geht es um das Zusammenleben der Menschen, speziell bei Malraux unter den Bedingungen des revolutionären Kampfes in Ostasien.
Viel beachtet wurden auch die ins Französische übersetzten Werke Im Westen nichts Neues (1929; französischer Titel À l’Ouest rien de nouveau) des deutschen Schriftstellers Erich Maria Remarque, Der Prozeß (posthum 1925; Le Procès) und Das Schloß (posthum 1926; Le Château) des tschechischen deutschsprachigen Schriftstellers Franz Kafka und The Sun also Rises (1926; Le Soleil se lève aussi) des amerikanischen Erzählers Ernest Hemingway. Remarque beschrieb das Leiden der Soldaten, Hemingway das Schicksal einer vom Krieg gezeichneten Generation. Einflussreich war ferner der Amerikaner Herman Melville mit seinem Walfänger-Roman Moby-Dick (1851), der eine mythische geschlossene Welt schildert. In der Nachfolge von Melville schrieb Jean Grenier Essays, veröffentlicht in dem Band Les Îles (1933). Grenier war nicht nur Schriftsteller, sondern lehrte auch am Gymnasium und an der Universität von Algier. Sein Schüler Albert Camus wurde später sein Freund, doch unabhängig von dieser Beziehung haben Camus Les Îles begeistert; er hatte sie gleich bei ihrem Erscheinen gelesen.
Camus hat eine große Anzahl von Zeitungsartikeln zur Kultur und zur Politik verfasst, berühmt aber wurde er durch seine Romane, seine philosophischen Essays und seine Theaterstücke. Wir nennen die wichtigsten:
[2]
Alle Werke Camus’ haben großen philosophischen Gehalt. Schon am Anfang seiner Schriftstellerlaufbahn hat er grundsätzlich erklärt: „Une œuvre durable ne peut se passer de pensée profonde.“[3] Camus hat seine Philosophie in Werken unterschiedlicher Art nach und nach entfaltet. Wichtiger jedoch als alle Theorien war für Camus der Mensch und sein Glück im Leben. Er hat einmal gesagt: „Il faut être pessimiste en ce qui concerne la condition humaine, mais optimiste en ce qui concerne l’homme.“[4]
Wir stellen die genannten Werke vor.
Der RomanL’Étranger beschreibt in der Gestalt eines Mannes aus Algier das Fremdsein des Menschen in der Welt und zugleich die Freude am Leben. Durch den eindringlichen Stil und die Behandlung der Themen Tod, Liebe und anderer ist es auch ein poetisches Werk.