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Seine Jugend verbrachte Henri Murger unter den Buveurs d’eau („Wassertrinkern“), einer Gruppe von Bohémiens im Pariser Quartier Latin. In seinem berühmtesten Werk Scènes de la vie de bohème tauchen, häufig kaum verschleiert, seine realen Freunde auf, z. B. Charles Barbara. Dieses Buch – auf Deutsch teils auch unter dem Titel Zigeunerleben bekannt, etwa in der Übersetzung von Walter Heichen – bildete 1896 die Vorlage für die Oper La Bohème von Giacomo Puccini und, ein Jahr später, für die gleichnamige Oper von Ruggiero Leoncavallo.
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Seitenzahl: 380
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Grundlage von Puccinis La Bohème
Henri Murger
idb
ISBN 9783961507375
Cover: Marco Frusoni (Rodolfo), Ph. S. Maracchioni
Eines Morgens, es war am 8. April, wurde Alexander Schaunard, der die beiden freien Künste der Malerei und der Musik pflegte, plötzlich durch das Krähen eines Hahns geweckt, der sich irgendwo in der Nachbarschaft befand und ihm als Uhr diente.
»Verflucht!« schrie Schaunard. »Meine gefiederte Uhr geht vor. Es ist doch noch gar nicht möglich, daß es schon heute ist.«
Mit diesen Worten sprang er schnell aus einem Möbelstück seiner eigenen Erfindung heraus, das ihm des Nachts als Bett diente (allerdings leider herzlich schlecht) und am Tage die Rolle aller andern Möbel spielte, da diese im letzten Winter infolge der strengen Kälte nach und nach abhanden gekommen waren.
Um sich vor der scharfen Morgenluft zu schützen, bekleidete sich Schaunard eiligst mit einem rosaseidenen Unterrock, der mit Flittersternen besät war und ihm als Schlafrock diente. Dieses Prachtstück war eines Nachts nach einem Maskenball von einer Dame bei ihm zurückgelassen worden, die töricht genug gewesen, sich von trügerischen Versprechungen des Künstlers täuschen zu lassen. Im Kostüm des Marquis de Mondor, des berühmten Scharlatans des 17. Jahrhunderts, hatte er in seiner Tasche das verführerische Klingeln von einem Dutzend Silbermünzen hören lassen, aber es war nur aus Blech ausgestanztes Phantasiegeld gewesen und den Requisiten eines Theaters entlehnt.
Als der Künstler seine Haustoilette beendet hatte, ging er daran, das Fenster und die Läden zu öffnen. Ein helles Sonnenlicht drang plötzlich ins Zimmer und zwang ihn, die noch vom Schlaf verschleierten Augen weit aufzureißen. In demselben Augenblick schlug es von einem benachbarten Kirchturm fünf Uhr.
»Wahrhaftig, die Sonne geht auf«, murmelte Schaunard. »Es ist erstaunlich. Aber trotzdem«, fügte er hinzu, indem er einen an die Wand genagelten Kalender zu Rate zog, »muß hier ein Irrtum vorliegen. Nach den bestimmten Angaben der Wissenschaft darf die Sonne um diese Jahreszeit erst um fünfeinhalb aufgehen. Es ist erst fünf, und schon ist sie da. Ein strafwürdiger Diensteifer! Dieses Gestirn ist im Unrecht, ich werde mich auf dem Bureau der Längengrade beschweren. Trotzdem wäre es Zeit, wenn ich anfinge, mich etwas zu beunruhigen. Es ist heute das Morgen von gestern, und da wir gestern den 7. hatten, so muß es heute, falls nicht Saturn den Krebsgang geht, der 8. April sein. Wenn ich aber dem Inhalt dieses Papieres glauben darf,« fuhr Schaunard fort, indem er einen Räumungsbefehl, den der Gerichtsvollzieher an die Wand geklebt hatte, noch einmal las, »so muß ich bis heute mittag Punkt zwölf Uhr diese Wohnung geräumt und meinem Hauswirt, dem Herrn Bernard, für die rückständige Miete von drei Monaten die Summe von fünfundsiebzig Franken gezahlt haben. Ich habe, wie immer, gehofft, der Zufall würde diese Sache schon irgendwie in Ordnung bringen, aber es scheint mir, der Zufall hat noch nicht die nötige Zeit dazu gehabt. Jedenfalls habe ich noch sechs Stunden vor mir, und wenn ich sie richtig anwende, dann finde ich vielleicht ... Los, los! Auf die Suche!«
Er war gerade im Begriff, einen Überzieher anzulegen, dessen Stoff früher einmal langbehaart gewesen, jetzt aber zu einer bejammernswerten Kahlheit angelangt war, als er plötzlich, wie von einer Tarantel gestochen, einen Tanz eigener Komposition auszuführen begann, der ihm schon oft auf öffentlichen Bällen die Ehre eines Hinauswurfs durch die Polizei eingetragen hatte.
»Wundervoll!« schrie er. »Es ist doch eigenartig, was für Ideen man des Morgens hat. Ich glaube, mir fällt da etwas Neues für meine Arie ein. Wir wollen sehen!«
Und Schaunard setzte sich halbnackt an sein Piano, weckte das schlummernde Instrument durch einen wahren Sturm von Akkorden und begann, laut dabei redend, auf dem Klavier die Melodie zu verfolgen, die er schon lange suchte.
»C, g, e, c, a, h, c, d, bumm, bumm. F, d, e, d. O weh, dieses d ist falsch wie Judas,« rief Schaunard und schlug wütend auf die schlecht klingende Taste. »Versuchen wir es in Moll... Es soll den Kummer eines jungen Mädchens wiedergeben, das an einem blauen See ein Gänseblümchen zerrupft. Die Idee ist ja gerade nicht neu. Aber da es jetzt Mode ist und man schwerlich einen Verleger fände, der es wagt, eine Romanze ohne einen blauen See herauszubringen, so muß man schon mitmachen. D, g, e, c, a, h, d. Das klingt schon besser, man kann sich dabei schon ein Gänseblümchen vorstellen, besonders, wenn man in der Botanik sehr bewandert ist. Jetzt aber brauche ich, um den blauen See verständlich zu machen, noch etwas Fließendes, Himmelblaues, etwas wie Mondschein (denn der Mond kommt ja auch in dem Gedicht vor). Halt, so geht's – aber ich darf auch den Schwan nicht vergessen...« Schaunard ließ dabei die kristallklaren Noten der hohen Oktaven ertönen.
»Nun folgen die Abschiedsworte des jungen Mädchens,« fuhr er fort, »bevor sie sich in den blauen See stürzt, um sich mit dem Geliebten zu vereinigen, der unter dem Schnee begraben liegt. Die Geschichte ist etwas unklar, aber ganz interessant. Hier müßte man etwas Zartes, Melancholisches anbringen. Halt, so geht es; diese letzten Takte weinen ja wie die Magdalenen, das zerspaltet das Herz, Brr!« unterbrach er sich fröstelnd in seinem mit Sternenflitter besäten Unterrock. »Lieber wäre es mir, es zerspaltete mir etwas Holz! Übrigens in meinem Alkoven befindet sich ein Deckenbalken, der mir sehr lästig ist, wenn ich Gesellschaft darin habe ... ich werde etwas Feuer damit machen, denn ich fühle, daß meine Inspiration zugleich mit einem Schnupfen kommt. Aber was macht das! Fahren wir fort, das junge Mädchen zu ertränken.«
Und während Schaunards Finger das bebende Klavier folterten, verfolgte er mit leuchtendem Auge und gespanntem Ohr seine Melodie, die wie eine flüchtige Sylphe inmitten der das Zimmer erfüllenden Klangwolken dahinschwebte.
»Jetzt müssen wir aber sehen,« begann Schaunard von neuem, »wie meine Musik zu dem Text meines Dichters paßt.«
Und mit einer krächzenden Stimme trällerte er das Bruchstück eines jener Lieder, die eigens für die Operetten und Tanzlokale geschaffen scheinen:
Die blonde, junge Schöne Wirft ihren Mantel hin, Zum sternenhellen Himmel Blickt sie mit trübem Sinn. Und in die blauen Fluten Des silberweißen Sees
»Wie? Was?« schrie Schaunard plötzlich in wohlberechtigter Entrüstung. »Die blauen Fluten eines silberweißen Sees? So was habe ich wirklich noch nicht gesehn. Die Romantik geht mir denn doch zu weit! Dieser Dichter ist ein richtiger Idiot, der weder Silber noch einen See kennt. Überhaupt ist die ganze Ballade blödsinnig. Das Versmaß geniert mich bei der Musik, und in Zukunft werde ich mir meine Gedichte selbst dichten.«
Mit der entsetzlichen Nasalstimme, die ihm eigen war, begann er jetzt von neuem, sein Kunstwerk vorzunehmen, bis er endlich mit dem Ergebnis zufrieden war und sich mit einer Grimasse des Jubels beglückwünschte. Aber diese stolze Glückseligkeit dauerte nicht lange.
Elf Uhr schlug es auf dem nahen Kirchturm, und jeder einzelne Schlag verlor sich im Zimmer in spöttischen Tönen, die dem armen Schaunard zuzurufen schienen: Bist du bereit?
Der Künstler flog von seinem Stuhl empor.
»Die Zeit läuft wie ein gejagter Hirsch«, sagte er. »Es bleiben mir nur noch dreiviertel Stunden, um fünfundsiebzig Franken und eine neue Wohnung zu finden. Ich werde es aber wohl kaum fertig bekommen, dazu gehören Zauberkräfte. Immerhin, ich gebe mir fünf Minuten Zeit zum Suchen!« Damit steckte er den Kopf zwischen seine beiden Knie und versank in die Abgründe des Nachdenkens.
Die fünf Minuten vergingen, und Schaunard erhob seinen Kopf, ohne daß er etwas gefunden hatte, was nach fünfundsiebzig Franken aussah. »Es gibt wohl nur eine einzige Möglichkeit, von hier fortzukommen, und die ist, einfach hinauszugehen. Draußen ist schönes Wetter, vielleicht macht mein Freund, der Zufall, gerade einen Spaziergang im Sonnenschein. Er muß mich wirklich irgendwo unterbringen, bis ich Mittel gefunden habe, Herrn Bernard zu befriedigen.«
Schaunard stopfte jetzt die kellertiefen Taschen seines Überziehers mit allen möglichen Gegenständen voll, knotete etwas Wäsche in ein seidenes Halstuch und verließ sein Zimmer, nachdem er sich mit einigen Worten von seiner Wohnung verabschiedet hatte.
Als er den Hof durchschritt, hielt ihn plötzlich der Portier des Hauses an, der ihn zu erwarten schien.
»Sie, Herr Schaunard!« schrie er, indem er dem Künstler den Weg vertrat. »Bedenken Sie denn nicht, daß wir heute den achten haben?«
»Acht mal fünf sind vierzig, Wer anders sagt, der irrt sich!«
trällerte Schaunard. »Ich denke überhaupt an nichts anderes!«
»Sie sind nämlich mit ihrem Ausziehen noch weit zurück«, sagte der Portier. »Es ist halb zwölf, und der neue Mieter, der in Ihre Wohnung einzieht, kann jeden Augenblick eintreffen. Sie müßten sich jetzt wirklich etwas beeilen.«
»Dann lassen Sie mich bitte vorbei«, antwortete Schaunard. »Ich werde einen Möbelwagen holen.«
»Natürlich, aber bevor Sie ausziehen, ist noch eine kleine Formalität zu erledigen. Ich habe Befehl, Sie kein Haar hinaustragen zu lassen, bevor Sie nicht die drei verfallenen Monatsraten bezahlt haben. Sie haben sich doch darauf eingerichtet?«
»Selbstverständlich«, meinte Schaunard und wollte weitergehen.
»Wenn Sie dann in meine Loge kommen wollen,« fuhr der Portier fort, »dann kann ich Ihnen Ihre Quittungen geben.« »Ich werde sie mitnehmen, wenn ich zurückkomme.«
»Aber warum denn nicht jetzt?« fragte der Portier in dringendem Ton.
»Ich gehe in eine Wechselstube ... ich habe kein kleines Geld.«
»Ach so«, erwiderte der andere beunruhigt. »Sie holen Wechselgeld? Dann werde ich so lange, um Ihnen gefällig zu sein, das kleine Paket aufbewahren, das Sie unter dem Arm tragen und das Ihnen sicher lästig ist.«
»Herr Portier,« sagte Schaunard mit Würde, »sollten Sie vielleicht Mißtrauen gegen mich hegen? Glauben Sie denn, ich schleppe Möbelstücke in einem Halstuch davon?«
»Verzeihen Sie, mein Herr«, antwortete der Portier, indem er seine Stimme etwas dämpfte. »Herr Bernard hat mir ausdrücklich befohlen, ich dürfte Sie kein Haar davontragen lassen, bevor Sie nicht bezahlt hätten.«
»Aber sehen Sie doch«, sagte Schaunard, indem er sein Bündel öffnete. »Das sind doch keine Haare, das sind meine Hemden. Und ich trage sie zur Wäscherin, die neben dem Wechsler wohnt, keine zwanzig Schritte von hier.«
»Das ist etwas anderes«, meinte der Portier, nachdem er sich den Inhalt des Bündels angesehen hatte. »Übrigens, ohne neugierig zu sein, Herr Schaunard, dürfte ich Sie wohl nach Ihrer neuen Adresse fragen?«
»Ich wohne Rue de Rivoli«, antwortete kaltblütig der Künstler und ging auf die Straße hinaus, wo er sofort schnellere Schritte einschlug.
»Rue de Rivoli«, murmelte der Portier, indem er sich die Nase rieb. »Merkwürdig, daß man ihm auf der vornehmen Rue de Rivoli eine Wohnung vermietet hat, ohne sich vorher hier zu erkundigen. Das ist sehr merkwürdig. Hoffentlich kommt der neue Mieter nicht gerade in dem Augenblick, wenn Herr Schaunard auszieht, das würde einen schönen Spektakel auf meinen Treppen geben. Hallo!« fuhr er fort, indem er durch sein Fensterchen auf die Straße blickte. »Da kommt er ja gerade, mein neuer Mieter.« Tatsächlich betrat ein junger Mann mit einem weißen Hut im Stile Ludwigs XIII. auf dem Kopf den Hausflur. Ihm folgte ein Dienstmann, der nicht gerade unter der Last, die er trug, zusammenbrach.
»Mein Herr,« fragte er den Portier, der herausgetreten war, »ist meine Wohnung frei?«
»Noch nicht, mein Herr, aber sie wird gleich so weit sein. Der bisherige Mieter holt nur einen Wagen, um auszuziehen. Inzwischen könnte ja der Herr seine Möbel auf den Hof stellen lassen.«
»Ich fürchte, es könnte regnen«, antwortete der junge Mann, indem er ruhig an einem Veilchensträußchen kaute, das er zwischen den Zähnen hielt. »Meine Möbel würden dann leiden. Dienstmann,« fügte er hinzu und wandte sich an den Mann, der hinter ihm geblieben war und allerlei Gegenstände trug, deren Natur sich der Portier nicht enträtseln konnte, »stellen Sie das in den Hausflur und holen Sie aus meiner Wohnung, was noch an kostbaren Möbelstücken und Kunstwerken da ist.«
Der Dienstmann lehnte mehrere, sechs bis sieben Fuß hohe Rahmengestelle an die Wand, die zusammengeklappt waren, sich aber anscheinend leicht entfalten ließen.
»Halt!« sagte der junge Mann zu dem Dienstmann, indem er einen Flügel halb aufschlug und auf einen Riß wies, der sich in der Leinwand befand. »Sehen Sie, was Sie angerichtet haben? Sie haben mir meinen großen venezianischen Spiegel zerschlagen. Auf Ihrem zweiten Gang nehmen Sie sich mehr in acht, besonders mit meiner Bibliothek.«
»Was redet er denn von seinem venezianischen Spiegel?« murmelte der Portier, indem er einen unruhigen Blick auf die Rahmengestelle warf, die an der Wand lehnten. »Ich sehe keinen Spiegel. Aber vielleicht scherzt er, es ist ja nur ein Ofenschirm. Nun, wir werden ja sehen, was der Dienstmann beim zweitenmal bringt.«
Der junge Mann wollte sich gerade von neuem erkundigen, wann die Wohnung endlich frei würde (denn es war halb eins geworden), als ein Dragoner im Ordonnanzanzug erschien und einen Brief für Herrn Bernard brachte.
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie allein lasse«, sagte der Portier zu dem jungen Mann, der ungeduldig auf dem Hof auf und ab ging. »Aber hier ist ein Brief aus dem Ministerium für Herrn Bernard, den Hausbesitzer, und ich muß ihn hinaufbringen.«
Herr Bernard war, als der Portier bei ihm eintrat, gerade dabei, sich zu rasieren. »Was wollen Sie, Durant?«
»Herr Bernard, eine Ordonnanz hat diesen Brief für Sie gebracht. Er kommt aus dem Ministerium.«
Und er hielt dem Hausherrn den mit Siegel des Kriegsministeriums verschlossenen Brief hin.
»O mein Gott!« hauchte Herr Bernard so bewegt, daß er sich beinahe geschnitten hätte. »Aus dem Kriegsministerium! Sicherlich ist das meine Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion, nach der ich schon so lange strebe. Endlich wird meine gute Gesinnung anerkannt. Hier, Durand,« fuhr er fort, indem er in seiner Westentasche herumwühlte, »hier sind fünf Franken, die Sie auf meine Gesundheit vertrinken können. Doch, halt, ich habe gerade kein Geld in der Tasche, ich werde sie Ihnen sogleich geben. Warten Sie!«
Der Portier war so verblüfft über diesen unheimlichen Anfall von Großmut, den er bei seinem Hauseigentümer nicht gewohnt war, daß er sich verwirrt seine Mütze über den Kopf stülpte.
Aber Herr Bernard, der sonst einen solchen Verstoß gegen die Gesetze der sozialen Ordnung streng gerügt hätte, schien es gar nicht zu bemerken. Er setzte sich die Brille auf, und mit der ehrfurchtsvollen Ergriffenheit eines Veziers, der einen Firman des Sultans empfängt, begann er das Schreiben durchzulesen. Aber schon bei den ersten Zeilen grub eine fürchterliche Grimasse dunkelrote Falten in sein fettes Mönchsgesicht, und seine kleinen Augen schleuderten Blitze, die fast die Locken seiner struppigen Perücke in Brand gesetzt hätten.
Schließlich zeigten alle seine Züge eine solche Verwirrung, als sei ein Erdbeben über sein Gesicht gegangen. Der Inhalt des Schreibens aber, das auf einem Briefbogen mit dem Vordruck des Kriegsministeriums stand und von einem Dragoner als Eilboten gebracht worden war, lautete folgendermaßen:
»Geehrter Herr und Hausbesitzer!
Die Höflichkeit, die, wenn man der Mythologie glauben darf, die Mutter der guten Sitten ist, zwingt mich, Ihnen mitzuteilen, daß ich leider nicht in der Lage bin, meine Miete zu bezahlen. Bis heute früh hatte ich mich in der Hoffnung gewiegt, zur Feier dieses schönen Tages die drei fälligen Mietquittungen berichtigen zu können. Es war eine Schimäre, ein Traum, eine Illusion! Während ich in friedlicher Sicherheit schlummerte, hat das Pech, auf griechisch Ananke, alle meine Hoffnungen vernichtet. Die Zahlungen, auf deren Eingang ich rechnete (mein Gott, was haben wir für schlechte Zeiten!), sind nicht eingetroffen, und von ganz beträchtlichen Summen, die man mir schuldet, habe ich erst drei Franken erhalten. Ich lieh sie mir und will sie Ihnen nicht erst anbieten. Aber zweifeln Sie nicht, mein Herr, es werden auch wieder bessere Tage für unser schönes Frankreich und für mich kommen. Sobald sie uns erstrahlen werden, eile ich auf Flügeln zu Ihnen, um es Ihnen mitzuteilen und die kostbaren Gegenstände abzuholen, die ich zurückgelassen habe. Inzwischen überlasse ich sie Ihrer Obhut und der des Gesetzes, das Ihnen vor Ablauf eines Jahres verbietet, sie zu verkaufen, falls Sie etwa versucht sein sollten, sich in den Besitz der Summe zu setzen, die Ihnen im Register meiner Ehrlichkeit gutgeschrieben ist. Vor allem empfehle ich Ihrer Fürsorge mein Klavier und den großen Rahmen mit den sechzig Haarlocken, deren verschiedene Farben die ganze Skala aller möglichen Haararten durchlaufen. Das Skalpell Amors hat sie von der Stirn der Grazien abgeschnitten.
Sie können demnach, geehrter Herr und Hausbesitzer, über das Deckgetäfel, unter dem ich gewohnt habe, verfügen. Ich gewähre Ihnen meine Erlaubnis, die ich mit eigenhändiger Unterschrift bestätige.
Alexander Schaunard.«
Als Herr Bernard den Brief gelesen hatte, den der Künstler im Bureau eines seiner Freunde geschrieben, der im Kriegsministerium angestellt war, zerknitterte er ihn voller Entrüstung, und da nun sein Blick auf den Vater Durand fiel, der auf das versprochene Trinkgeld wartete, fragte er ihn barsch, was er eigentlich noch wolle.
»Ich warte, Herr Bernard.«
»Auf was?«
»Aber Herr Bernard waren doch so gütig ... in Anbetracht der guten Nachricht ...« stammelte der Portier.
»Scheren Sie sich hinaus! Was, Sie Schlingel, Sie behalten hier im Zimmer die Mütze auf dem Kopf?«
»Aber, Herr Bernard ...«
»Gehen Sie, keine Widerrede! Hinaus! Oder nein, warten Sie lieber. Wir wollen uns das Zimmer dieses Lumpen von einem Künstler ansehen, der auszieht, ohne mich zu bezahlen.«
»Aber Herr Schaunard ist doch noch gar nicht ausgezogen«, stammelte der arme Portier. »Er holt sich nur Geld, um Sie zu bezahlen, und bringt einen Wagen mit, der seine Möbel fortschafft.«
»Der die Möbel fortschafft?« schrie Herr Bernard. »Laufen Sie, er ist jetzt sicher dabei. Er hat Ihnen eine Falle gestellt, um Sie aus der Loge herauszubringen, Sie Dummkopf!«
Als sie auf dem Hof anlangten, wurde der Portier von dem jungen Mann im weißen Hut angehalten.
»Ah, da sind Sie ja, Portier!« schrie er. »Kann ich denn nun endlich in meine Wohnung einziehen? Ist heute der 8. April? Habe ich hier nicht gemietet, habe ich Ihnen nicht eine Anzahlung gegeben? Ja oder nein?«
»Verzeihung, mein Herr«, sagte der Hauseigentümer. »Mein Portier wird die Sachen, die in der Wohnung zurückgeblieben sind, in den Keller bringen, und in einer halben Stunde können Sie einziehen. Übrigens haben Sie ja Ihre Möbel noch nicht hier.«
»Bitte sehr«, antwortete der junge Mann, indem er seine Rahmen auseinanderklappte und dem verblüfften Hausbesitzer die prachtvolle Innenansicht eines Palastes mit Jaspissäulen, Basreliefs und Gemälden berühmter Meister zeigte.
»Ja, aber Ihre Möbel?« fragte Herr Bernard.
»Das sind sie doch!« antwortete der junge Mann und wies auf das prunkvolle Mobiliar des gemalten Palastes. Er hatte es soeben bei einer Versteigerung der Dekorationen eines Privattheaters erstanden.
»Mein Herr,« erwiderte der Hauseigentümer, »ich möchte doch annehmen, daß Sie echtere Möbel als diese haben.«
»Aber sie sind echt Rokoko.«
»Ich muß doch eine Garantie für meine Miete haben!«
»Zum Teufel, ein Palast genügt Ihnen nicht als Sicherheit für die Miete einer Dachwohnung?«
»Nein, mein Herr, ich will Möbel, wirkliche Möbel aus Mahagoniholz!«
»Ach, geehrter Herr, weder Gold noch Mahagoni machen uns wahrhaft glücklich, wie ein alter Weiser sagt. Und dann kann ich es auch nicht leiden, es ist direkt ekelhaft, alle Welt hat Mahagoni.«
»Aber, mein Herr, Sie müssen doch schließlich irgendwelches Mobiliar haben?«
»Nein, das nimmt mir den ganzen Platz in meiner Wohnung fort. Und wenn überall Stühle herumstehen, dann weiß man gar nicht mehr, wohin man sich setzen soll.«
»Aber Sie haben doch wenigstens ein Bett! Worauf schlafen Sie denn?«
»Auf meinem guten Gewissen.«
In diesem Augenblick kam der Dienstmann des jungen Mannes von seinem zweiten Gang zurück und betrat den Hof. Unter den Gegenständen, mit denen er bepackt war, befand sich auch eine Staffelei.
»O Herr Bernard!« rief der Vater Durand erschreckt und wies auf die Staffelei. »Es ist ein Maler!«
»Ein Künstler! Ich hab' es geahnt!« rief jetzt auch Herr Bernard, und die Haare seiner Perücke sträubten sich vor Entsetzen. »Ein Maler! Aber warum haben Sie denn über den Herrn keine Erkundigung eingezogen?« fuhr er fort, indem er sich an den Portier wandte. »Sie kannten also gar nicht seinen Beruf?«
»Du lieber Himmel«, antwortete der arme Mann. »Er hat mir doch fünf Franken angezahlt. Wie konnte ich da so was ahnen?«
»Wenn Sie mit Ihrer Auseinandersetzung fertig sind ...« begann nun wieder der junge Mann.
»Mein Herr,« fiel ihm Herr Bernard ins Wort und rückte sich entschlossen die Brille zurecht, »da Sie keine Möbel haben, können Sie auch nicht einziehen. Das Gesetz berechtigt mich, einen Mieter zurückzuweisen, der keine Garantien gibt.«
»Genügt Ihnen mein Wort nicht?« fragte der Künstler mit Würde.
»Es ersetzt nur nicht die Möbel ... suchen Sie sich eine andere Wohnung. Übrigens«, fügte er hinzu, da ihm ein plötzlicher Gedanke kam, »könnte ich Ihnen ja das betreffende Zimmer auch möbliert vermieten, indem ich die Möbel Ihres Vorgängers darin lasse. Aber Sie wissen wohl, daß man hierbei vorausbezahlt.«
»Es kommt darauf an, was Sie dann für die Rumpelkammer verlangen!« meinte der Künstler.
»Die Wohnung wird Ihnen sehr gefallen. Den Mietpreis würde ich Ihnen in Anbetracht der Umstände auf fünfundzwanzig Franken festsetzen.«
»Schön«, sagte der junge Mann, indem er in seine Tasche griff. »Können Sie auf fünfhundert Franken herausgeben?«
»Auf wieviel sagten Sie?« fragte der Hausbesitzer verblüfft.
»Auf die Hälfte von tausend! Haben Sie soviel Geld noch nie gesehen?« fuhr der junge Mann fort und hielt dem Hausbesitzer und dem Portier den Schein vor die Nase, so daß sie fast auf den Rücken fielen.
»Ich werde Ihnen herausgeben lassen«, erwiderte Herr Bernard respektvoll. »Es sind übrigens nur zwanzig Franken, denn Durand wird Ihnen die Anzahlung zurückgeben.«
»Die kann er behalten,« sagte der Künstler, »aber unter der Bedingung, daß er mir jeden Morgen den Wochentag, das Monatsdatum, das Mondviertel, das voraussichtliche Wetter und die Regierungsform, unter der wir leben, ansagt.«
»O mein Herr«, schrie der Vater Durand und machte eine Verbeugung von neunzig Grad.
»Schon gut, Alter, Sie werden also mein Kalender sein. Inzwischen zeigen Sie nur dem Dienstmann den Weg, damit ich einziehen kann.«
»Und ich werde Ihnen Ihre Quittung schicken«, sagte der Hauseigentümer.
So bezog also der neue Mieter des Herrn Bernard, der Maler Marcel, die Wohnung des durchgebrannten Schaunards, nachdem er sie in einen Palast umgewandelt hatte.
Inzwischen befand sich dieser besagte Schaunard in den Straßen von Paris auf der Geldsuche.
Schaunard hatte das Pumpen zur Höhe einer Kunst erhoben. Für den Fall, daß er einmal Ausländer anzapfen müßte, hatte er die zum Entleihen von fünf Franken nötigen Phrasen in allen Sprachen der Welt auswendig gelernt. Er hatte das ganze Repertoire der Listen studiert, die das Silber anwendet, um denen zu entgehen, die es am hitzigsten verfolgen, und weit besser, als ein Lotse die Stunden von Ebbe und Flut kennt, kannte er die Zeiten, in denen bei seinen Freunden und Bekannten Geld einzukommen pflegte. Daher gab es Häuser, wo man, wenn man ihn des Morgens eintreten sah, nicht sagte: »Da kommt Herr Schaunard!« sondern: »Da kommt der 1. oder der 15. des Monats!« Um nun die Eintreibung dieses Tributs leichter und regelmäßiger zu gestalten, hatte sich Schaunard eine nach Stadtvierteln abgeteilte Liste aller seiner Freunde und Bekannten angelegt. Vor jedem Namen stand das Maximum der Summe, die man nach ihrem Vermögenszustand von ihnen entleihen konnte, die Zeiten, da sie bei Gelde waren, die Stunde ihrer Mahlzeit und der gewöhnliche Küchenzettel. Außer diesem Verzeichnis besaß Schaunard noch eine vollkommen geordnete Buchführung über alle, auch über die kleinsten Beträge, die ihm geliehen waren, denn er wollte sich nicht höher als bis zu einer bestimmten Summe belasten, die durch die regelmäßigen Zuwendungen seines normannischen Erbonkels begrenzt war. Sobald Schaunard also jemand zwanzig Franken schuldete, schloß er dessen Konto ab und bezahlte es ohne weiteres auf einen Schlag, selbst wenn er gezwungen war, sich das Geld von andern zu leihen, denen er weniger schuldete. Auf diese Art erhielt er sich immer einen gewissen Kredit, den er seine schwebende Schuld nannte, und da man wußte, daß er alles zurückzahlte, sobald seine Verhältnisse es ihm gestatteten, half man ihm gern aus, wenn man konnte.
Seit er nun also um elf Uhr von Hause fortgegangen war, um die notwendigen fünfundsiebzig Franken aufzutreiben, hatte er gerade fünf Franken zusammengebracht, dank den Buchstaben M, V und R seiner famosen Liste. Der ganze übrige Teil des Alphabets hatte selbst Miete zu bezahlen und daher seine Bitte abgeschlagen.
Um sechs Uhr zeigte die Uhr seines Magens durch ein heftiges Hungergefühl an, daß es Zeit zum Essen war. Er befand sich gerade am Mainetor, wo der Buchstabe U wohnte. Schaunard ging also zu U, wo für ihn immer gedeckt war, wenn es überhaupt was zu essen gab.
»Wo wollen Sie hin?« fragte ihn der Portier, der ihn im Gang anhielt.
»Zu Herrn U...«, antwortete der Künstler.
»Er ist nicht da.«
»Und seine Frau?«
»Ist ebenfalls nicht da. Sie haben mich beauftragt, einem ihrer Freunde, der heute abend zu ihnen kommen wollte, zu sagen, daß sie in der Stadt essen. Hier ist die Adresse, die sie zurückgelassen haben.«
Damit hielt er Schaunard ein Stück Papier hin, auf dem stand: »Wir essen bei Schaunard, Rue ... Nr. ...; komm auch hin!«
»Merkwürdig,« sagte der, von dem auf dem Zettel die Rede war, im Weitergehen, »was der Zufall doch für komische Verwicklungen herbeiführt.«
Schaunard erinnerte sich jetzt, daß ganz in der Nähe eine kleine Kneipe lag, wo er zwei- oder dreimal gar nicht teuer gegessen hatte. Es war eine in den niederen Klassen des Zigeunertums unter dem Namen der Mutter Cadet bekannte Speisewirtschaft. Die Kundschaft bestand meist aus Fuhrleuten der Landstraße nach Orleans, Anfängerinnen vom Montparnasse und jungen Liebhabern des Bobinotheaters. In der schönen Jahreszeit stellten sich auch die Farbenklexer der zahlreichen Ateliers ein, die in der Nähe des Luxembourg wohnten, ferner die Verfasser von ungedruckten Büchern, die Mitarbeiter untergeordneter Zeitungen. Sie alle kamen in Scharen, um bei der Mutter Cadet zu speisen, die berühmt war wegen ihrer Kaninchenfrikassees, ihres echten Sauerkrauts und eines billigen Weißweins.
Schaunard nahm im Garten Platz, so nannte man nämlich bei der Mutter Cadet das Grün zweier oder dreier rachitischer Bäume, die mit ihren Blättern ein spärliches Laubdach bildeten.
»Dann hilft es nichts«, sagte sich Schaunard. »Jedenfalls werde ich jetzt einmal gehörig schwelgen.«
Und ohne sich lange zu bedenken, bestellte er eine Suppe, eine halbe Sauerkraut und zwei halbe Kaninchenfrikassee, denn er hatte wohl bemerkt, daß er bei halben Portionen im Verhältnis mehr bekam.
Die Bestellung einer solchen Speisenfolge zog ihm die Aufmerksamkeit einer jungen, weiß gekleideten Dame zu. Sie trug Orangenblüten in den Haaren, Ballschuhe und einen mehr als mutierten Spitzenschleier auf den mageren Schultern. Es war eine Sängerin vom Theater Montparnasse, dessen Kulissenausgänge direkt in die Küche der Mutter Cadet führten. Sie war während einer Pause der ›Lucia‹ schnell zum Essen herübergekommen und beendete jetzt mit einer kleinen Tasse Kaffee ein Diner, das ausschließlich aus einer Artischocke in Öl und Essig bestand.
»Zwei Kaninchenfrikassees, Donnerwetter!« sagte sie ganz leise zu dem bedienenden Mädchen. »Der junge Mann lebt nicht schlecht. Was habe ich zu zahlen, Adele?«
»Vier Sous die Artischocke, vier die halbe Tasse und einen Sou das Brot. Also zusammen neun Sous.«
»Hier!« sagte die Sängerin und ging hinaus, wobei sie trällerte: »Die Liebe, die mir Gott gegeben!«
»Sieh einer an, die Donna beschenkt uns mit dem hohen › A‹, sagte in diesem Augenblick eine geheimnisvolle Persönlichkeit, die an demselben Tische wie Schaunard saß und hinter einem Wall von alten Büchern halbversteckt war.
»Sie beschenkt uns?« wiederholte Schaunard. »Ich glaube eher, sie hat es bei sich behalten. Wie sollte sie auch, wenn sie ihre Kehle so in Essig badet.« Damit wies er auf den Teller hin, aus dem Lucia von Lammermoor ihre Artischocke gegessen hatte.
»Der Essig hier ist allerdings scharf«, fügte der andere hinzu. »Die Stadt Orleans stellt eine Sorte her, die sich mit Recht eines guten Rufes erfreut.«
Schaunard betrachtete aufmerksam den Herrn, der ihn offenbar in ein Gespräch zu verwickeln suchte. Der ruhige Blick seiner großen blauen Augen, die immer nach etwas zu suchen schienen, gab seinem Gesichtsausdruck den Charakter friedlichen Behagens, wie man ihn bei Zöglingen eines Priesterseminars findet. Die Farbe des Gesichts war die eines alten Elfenbeins, nur auf den Wangen hatte er ziegelrote Tupfen. Der unregelmäßig gezeichnete Mund mit den aufgeworfenen Negerlippen ließ Zähne sehen, die für einen Jagdhund passend gewesen wären, und sein Kinn ruhte mit zwei Falten auf einer weißen Halsbinde, die eine Spitze zum Himmel emporsandte, während die andere aussah, als wollte sie sich in die Erde bohren. Unter einem abgetragenen Filzhut mit erstaunlich breitem Rand flossen seine Haare in blonden Wellen herab. Bekleidet war er mit einem nußbraunen Pelerinenmantel, dessen fadenscheiniger Stoff rauh wie eine Raspel war. Aus den klaffenden Taschen dieses Mantels schauten Zeitungen und Broschüren. Ohne sich um die Musterung, der er unterworfen wurde, zu bekümmern, verzehrte er eine Portion garniertes Sauerkraut und gab von Zeit zu Zeit laut seiner Befriedigung Ausdruck. Während er aß, las er zugleich in einem alten Buch und schrieb dann und wann mit einem Bleistift, den er hinter dem Ohr trug, Notizen hinein.
»He!« schrie Schaunard plötzlich und schlug mit dem Messer an sein Glas. »Wo bleibt denn mein Kaninchenfrikassee?«
»Es ist keins mehr da«, antwortete das Mädchen, das mit einer Schüssel herbeikam. »Dies ist das letzte, und der Herr hier hat es bestellt«, fügte sie hinzu, indem sie die Schüssel vor den Mann mit den Büchern hinstellte.
»Verflucht!« rief Schaunard aus, und in diesem ›Verflucht‹ lag so viel melancholische Enttäuschung, daß der Mann mit den Büchern davon innerlich gerührt wurde. Er stellte den Bücherwall, der sich zwischen ihm und Schaunard erhob, zur Seite, schob die Schüssel bis zur Mitte des Tisches und sagte in sanftester Tonart: »Darf ich Sie bitten, dieses Gericht mit mir zu teilen?«
»Aber ich will Sie doch nicht berauben«, antwortete Schaunard.
»Sie wollen mich also des Vergnügens berauben, Ihnen gefällig zu sein?«
»Na, in diesem Falle ...«, sagte Schaunard und schob seinen Teller heran.
»Gestatten Sie mir, Ihnen nicht den Kopf anzubieten«, sagte der Fremde.
»O mein Herr,« rief Schaunard, »Sie sind zu gütig, das kann ich nicht annehmen.« Aber als er seinen Teller zurückzog, bemerkte er, daß der Fremde ihm doch den Kopf gegeben hatte!
»Verflucht«, brummte Schaunard in sich hinein. »Wozu spielt er denn erst den Höflichen?«
»Obgleich der Kopf der edelste Teil des Menschen ist,« fuhr der Fremde fort, »schmeckt er doch am wenigsten beim Kaninchen. Und es gibt viele Leute, die ihn gar nicht essen können. Bei mir ist es anders, ich esse den Kopf sehr gern.«
»Dann bedaure ich aber sehr,« sagte Schaunard, »daß Sie sich meinetwegen dieses Vergnügens beraubt haben.«
»Wieso?« fragte der Mann mit den Büchern. »Verzeihen Sie, aber ich habe den Kopf behalten, und ich möchte sogar bemerken, daß er ...«
»Gestatten Sie«, sagte Schaunard, indem er ihm seinen Teller vor die Nase hielt. »Was ist das für ein Stück?« »Gerechter Himmel! Was sehe ich? O ihr Götter! Noch ein Kopf! Das ist ein bicephales Kaninchen!« schrie der Fremde.
»Ein bice ...« fragte Schaunard.
»... phales. Das Wort ist griechisch. Tatsächlich hat der gelehrte Buffon, der allerdings etwas aufschnitt, solche merkwürdigen Exemplare beschrieben. Und nun bin ich wirklich stolz, daß ich eine solche Seltenheit gegessen habe.«
Dank diesem Zwischenfall kam jetzt die Unterhaltung in Fluß. Schaunard wollte nicht an Lebensart zurückbleiben und bestellte noch einen Liter Wein. Der Mann mit den Büchern ließ ebenfalls noch eine Flasche kommen. Schaunard spendierte Salat, der Mann mit den Büchern Dessert. Schließlich standen um acht Uhr sechs leere Flaschen auf dem Tisch. Angeregt von dem Genuß des billigen Rotweins hatten sie einer dem andern ihre Lebensumstände erzählt, so daß sie sich schon kannten, als wären sie immer beisammen gewesen. Der Mann mit den Büchern hieß Gustav Colline. Er war von Beruf Gelehrter und lebte von Unterrichtsstunden in der Mathematik, Logik, Botanik und mehreren anderen Wissenschaften auf ›ik‹.
Das wenige Geld, das Colline mit diesem Stundengeben verdiente, verwandte er hauptsächlich zum Ankauf von alten Büchern. Sein brauner Mantel war bei allen Besitzern von Bücherkarren, die am Kai vom Pont de la Concorde bis zum Pont Saint Michel standen, wohlbekannt. Was er eigentlich mit den zahlreichen Büchern machte, die durchzulesen ein Menschenleben nicht gereicht hätte, das wußte niemand, und er wußte es auch nicht. Aber die Gewohnheit, Bücher zu kaufen, war bei ihm zu einer Leidenschaft geworden, und wenn er einmal des Abends nach Hause kam, ohne einen neuen Schmöker mitgebracht zu haben, dann pflegte er mit Titus zu sagen: »Ich habe einen Tag verloren.« Sein gewinnendes Wesen und seine Sprache, die alle Stilarten durcheinandermischte, seine entsetzlichen Kalauer, mit denen er die Unterhaltung würzte, hatten Schaunard erobert, und er bat Colline sofort um Erlaubnis, seinen Namen in seine berühmte Pumpliste einzutragen.
Um neun Uhr abends verließen sie, alle beide ziemlich angeheitert, die Schenke der Mutter Cadet, und man sah es ihrem Gang an, daß sie gehörig in die Flasche geschaut hatten.
Colline lud Schaunard zum Kaffee ein, und dieser nahm das an unter der Bedingung, daß er den Likör bestelle. So traten sie in ein Café, das in der Rue Saint Germain l'Auxerrois lag und das Bild des Momus, des Gottes des lustigen Lachens, als Wahrzeichen trug.
Als sie das Lokal betraten, waren gerade zwei Stammgäste in eine sehr lebhafte Auseinandersetzung geraten. Der eine war ein junger Mann, dessen Gesicht fast ganz bedeckt war mit den dichten Haaren eines mehrfarbigen Bartes. Im Gegensatz zu der Überfülle von Barthaar war seine Stirn durch eine frühzeitige Kahlheit ganz blank geworden und sah aus wie eine Kniescheibe. Der schwarze Rock, den er trug, war an den Ellbogen ziemlich abgeschabt, und wenn er die Arme zu sehr hob, dann sah man am Ansatz der Ärmel Löcher, die offenbar als Ventilatoren dienten. Seine Hose war vielleicht früher einmal schwarz gewesen, und seine Stiefel, von denen man sich nicht vorstellen konnte, daß sie jemals neu gewesen, sahen aus, als hätte der ewige Jude darin schon ein paarmal die Welt umwandert.
Schaunard fiel auf, daß sein Freund Colline und der junge Mann mit dem Riesenbart sich grüßten.
»Sie kennen diesen Herrn?« fragte er den Philosophen.
»Ganz und gar nicht«, antwortete dieser. »Ich sehe ihn nur manchmal auf der Bibliothek. Ich glaube, er ist ein Literat.«
»Wenigstens sieht er so aus«, antwortete Schaunard.
Die Persönlichkeit, mit der der junge Mann sich stritt, war ein Individuum von etwa vierzig Jahren, das sicherlich, wie man an seinem dicken, unmittelbar aus den Schultern hervorwachsenden Kopf sah, bestimmt war, einmal am Schlagfluß zu sterben. Auf seiner niedrigen Stirn, die mit einem kleinen, schwarzen Käppchen bedeckt war, stand seine Borniertheit in großen Lettern geschrieben. Er nannte sich Mouton und war Beamter vom vierten Stadtbezirk, wo er das Sterberegister führte.
»Herr Rudolf,« schrie er mit einer Eunuchenstimme, indem er den jungen Mann an einem Rockknopf zog, »soll ich Ihnen meine Meinung sagen? Die ganzen Zeitungen taugen nichts. Nehmen Sie einmal an: ich bin Familienvater ... Nicht wahr? Ich gehe ins Café, um meine Partie Domino zu spielen. Sie können mir doch folgen?«
»Weiter, weiter«, sagte Rudolf.
»Nun gut«, fuhr der Vater Mouton fort und schlug bei jedem Wort auf den Tisch, daß die Flaschen und die Gläser tanzten. »Nun gut, ich lese die Zeitungen – schön! Was sehe ich? Die eine findet weiß, was die andere schwarz nennt, und beide quatschen – Aber was habe ich davon? Ich bin ein guter Familienvater, der hierherkommt ...«
»Um Domino zu spielen«, ergänzte ihn Rudolf.
»Jeden Abend«, fuhr Herr Mouton fort. »Nun gut, nehmen Sie einmal an: Sie verstehen mich doch?«
»Ausgezeichnet!« sagte Rudolf.
»Also ich lese einen Artikel, der nicht meiner Meinung ist. Das macht mich zornig, ich verzehre mich vor Wut, denn, sehen Sie, Herr Rudolf, alle Journalisten sind Lügner, Verbrecher ...«
»Immerhin, Herr Mouton ...«
»Jawohl, Verbrecher!« brüllte der Beamte weiter. »Sie haben immer nur Unheil angerichtet. Sie sind an der Revolution schuld, was man ja auch an Murat sieht.«
»Verzeihung,« sagte Rudolf, »Sie meinen Marat.«
»Aber nein,« fuhr Herr Mouton fort, »Murat. Ich war doch bei seinem Begräbnis, als ich noch klein war, und im Zirkus hat man doch neulich ein Stück über ihn aufgeführt!«
»Ja, das war allerdings Murat!« gab Rudolf zu.
»Aber, das predige ich Ihnen ja seit einer Stunde!« schrie der hartnäckige Mouton. »War es vielleicht nicht recht, daß ihn die Bourbonen gouillotinieren ließen, nachdem er sie verraten hatte?«
»Wie? Guillotiniert? Verraten? Wen meinen Sie?« fragte jetzt Rudolf.
»Nun, Marat!«
»Aber nein, Herr Mouton, Sie sprachen doch von Murat! Verstehen Sie mich?«
»Natürlich. Dieser Marat war ein Schurke, er hat auch 1795 den Kaiser verraten. Deshalb sage ich ja, daß alle Zeitungen dieselben sind. Schwindler, Lügner sind sie!«
»Das ist klar«, sagte einer der Stammgäste und zog Herrn Mouton wieder zu den Dominosteinen zurück, damit er die unterbrochene Partie fortsetze.
»Dem habe ich den Standpunkt klargemacht«, sagte Herr Mouton und wies auf Rudolf, der wieder an seinen Tisch zurückkehrte, wo inzwischen auch Schaunard und Colline Platz genommen hatten.
»Was für ein Esel!« sagte der Literat zu den beiden jungen Leuten und wies auf den Beamten.
»Er hat einen famosen Kopf mit seinen Augenbrauen, die wie Droschkenverdecke sind, und seinen gequollenen Kalbsaugen«, meinte Schaunard und zog eine wundervoll angerauchte kurze Pfeife aus der Tasche.
»Wahrhaftig,« sagte Rudolf, »Sie haben da eine sehr schöne Pfeife.«
»Oh, ich habe noch eine schönere, die ich mitnehme, wenn ich in elegante Gesellschaft gehe«, erwiderte Schaunard gleichgültig.
»Geben Sie mir doch etwas Tabak, Colline.«
»Halt!« schrie der Philosoph. »Ich habe keinen mehr.«
»Gestatten Sie mir, Ihnen etwas anzubieten«, sagte Rudolf und zog aus seiner Tasche ein Paket mit Tabak, das er auf den Tisch stellte.
Diese Liebenswürdigkeit veranlaßte Colline, sich mit einer Runde zu revanchieren. Rudolf nahm an, und die Unterhaltung ging jetzt auf die Literatur über. Als die beiden Freunde Rudolf nach seinem Beruf fragten, den er allerdings schon durch seine Kleidung verriet, gestand er seine Beziehungen zu den Musen ein und ließ zugleich eine zweite Runde kommen. Der Kellner wollte mit der Flasche wieder fortgehen, aber Schaunard bat ihn, sie nur auf dem Tisch stehen zu lassen. Er hatte nämlich in einer der Taschen Collines das Klirren von zwei Fünffrankstücken gehört. Rudolf, der bald ebenso berauscht war wie die beiden andern, erzählte ihnen nun ebenfalls seine Lebensumstände.
Sie hätten zweifellos die ganze Nacht im Café verbracht, wenn man sie nicht aufgefordert hätte, nun endlich nach Hause zu gehen. Aber kaum befanden sie sich zehn Schritte von dem Lokal entfernt (sie brauchten dafür eine Viertelstunde), da brach ein wolkenbruchartiger Regen aus. Colline und Rudolf wohnten an den beiden entgegengesetzten Enden von Paris, der eine auf der Ile Saint Louis, der andere am Montmartre.
Schaunard, der vollkommen vergessen hatte, daß er keine Wohnung mehr besaß, bot ihnen an, bei ihm zu logieren.
»Kommen Sie nur zu mir«, sagte er. »Ich wohne ganz in der Nähe. Wir verbringen die Nacht, indem wir uns über Literatur und Kunst unterhalten.«
»Du kannst uns etwas vorspielen, und Rudolf wird seine Verse vortragen«, sagte Colline.
»Wahrhaftig, wir müssen lustig sein«, fügte Schaunard hinzu.
»Man lebt nur einmal auf der Welt.«
Vor seinem Hause angekommen, hatte Schaunard einige Schwierigkeit, es wiederzuerkennen, und er setzte sich einen Augenblick auf die Bordschwelle, um auf Rudolf und Colline zu warten, die in eine noch geöffnete Weinwirtschaft eingetreten waren, um dort die Grundlage zu einem gehörigen Nachtessen zu erstehen. Als sie dann kamen, klopfte Schaunard mehrere Male an die Tür, denn er erinnerte sich unbestimmt, daß der Portier ihn meistens warten ließ. Endlich öffnete sich die Tür, und der Vater Durand, der noch halb von den Wonnen des ersten Schlafs umfangen war, dachte gar nicht daran, daß Schaunard nicht mehr sein Mieter war, und nahm es gleichmütig hin, als dieser ihm seinen Namen durchs Fensterchen zurief.
Als sie alle drei die hohe Treppe erstiegen hatten – ein Unternehmen, das ebenso langwierig wie schwierig war –, stieß Schaunard, der an der Spitze marschierte, einen Ruf des Erstaunens aus, als er sah, daß schon sein Schlüssel in der Tür zu seinem Zimmer steckte.
»Was ist los?« fragte Rudolf.
»Ich verstehe das nicht«, murmelte der andere. »Mein Schlüssel, den ich heute früh mitgenommen habe, steckt hier in der Tür. Ich hatte ihn doch in meine Tasche gesteckt. Wahrhaftig, hier ist er ja!« rief er und zeigte den Schlüssel.
»Das ist Zauberei!«
»Hexenwerk«, sagte Colline.
»Halluzination«, fügte Rudolf hinzu.
»Halt!« fuhr Schaunard fort, und in seiner Stimme verriet sich etwas wie beginnende Angst. »Hören Sie das?«
»Was?«
»Was?«
»Mein Klavier, es spielt ganz von selbst. Dieses verfluchte d, es klingt immer falsch!«
»Aber das ist sicher nicht bei Ihnen«, sagte Rudolf zu ihm, und indem er sich zu Colline hinwandte, flüsterte er diesem ins Ohr: »Er ist betrunken!«
»Natürlich! Außerdem ist es kein Klavier, sondern eine Flöte.« »Ach was, Sie sind ja selber betrunken, mein Lieber«, antwortete der Dichter dem Philosophen, der sich auf den Boden gesetzt hatte. »Es ist eine Geige.«
»Eine Gei ... Pah! Hör' doch, Schaunard«, stammelte Colline, indem er seinen Freund an den Beinen zog. »Die Sache ist gut! Dieser Mann behauptet, es sei eine Gei ...«
»Donnerwetter!« schrie Schaunard, dessen Verblüffung noch immer gestiegen war. »Mein Klavier spielt noch immer, das ist wirklich Zauberei!«
»Hexen ... werk!« heulte Colline und ließ eine der Flaschen fallen, die er in der Hand trug.
»Halluzination!« brüllte jetzt Rudolf.
Mitten in diesem furchtbaren Lärm öffnete sich plötzlich die Tür des Zimmers, und auf der Schwelle erschien ein Herr mit einem dreiarmigen Leuchter, auf dem rosafarbene Kerzen brannten.
»Was wünschen Sie, meine Herren?« fragte er, indem er höflich die drei Freunde grüßte.
»Himmel, was habe ich gemacht?« rief Schaunard. »Ich bin falsch gegangen, hier wohne ich ja gar nicht.«
»Verzeihen Sie«, fügten Colline und Rudolf, zu dem Fremden gewendet, hinzu. »Er ist voll wie eine Strandkanone.«
Aber plötzlich klärten sich die Nebel in Schaunards Kopf auf, denn er las auf seiner Tür die mit Kreide angeschriebenen Worte: »Ich war dreimal hier und wollte mein Neujahrsgeschenk holen. Euphemia.«
»Aber gewiß bin ich hier zu Hause«, schrie er jetzt. »Das ist doch die Visitenkarte, die Euphemia am Neujahrstag bei mir abgegeben hat. Dies ist meine Tür.«
»Mein Gott,« sagte Rudolf, »ich bin ganz verwirrt von dem allen.«
»Glauben Sie, verehrter Herr,« fügte Colline bei, »die Verwirrung meines Freundes muß mich angesteckt haben.«
Der Fremde konnte sich nicht enthalten zu lachen.
»Wenn Sie einen Augenblick bei mir eintreten wollen,« meinte er, »dann wird ohne Zweifel Ihr Freund, sobald er das Zimmer gesehen hat, seinen Irrtum erkennen.«
»Sehr gerne!«
Damit nahmen der Dichter und der Philosoph Schaunard beim Arm und führten ihn in das Zimmer oder vielmehr in den Palast, in den Marcel, denn das war der Fremde, das Zimmer umgewandelt hatte.
Schaunard ließ seine Blicke über die Herrlichkeiten schweifen und murmelte: »Es ist wunderbar, wie sich meine Wohnung verschönert hat.«
»Nun, bist du jetzt überzeugt?« fragte ihn Colline.
Aber Schaunard hatte das Klavier bemerkt und sich ihm genähert. Er begann jetzt Tonleitern zu spielen.
»He, was wollt ihr alle? Könnt ihr nicht hören?« sagte er und begann Akkorde anzuschlagen. »Das Tier hat seinen Meister erkannt, nur das verdammte d klingt noch immer falsch. Ich habe ja gesagt, es sei mein Klavier.«
»Er bleibt dabei«, sagte Colline zu Rudolf.
»Er bleibt dabei«, sagte Rudolf zu Marcel.
»Und dies da,« fügte Schaunard hinzu, indem er auf den sternenbesäten Unterrock wies, der über einen Stuhl geworfen war, »ist das nicht mein Prunkgewand?«
Dabei faßte er Marcel fest ins Auge.
»Und dies«, fuhr er fort, indem er von der Wand den gerichtlichen Räumungsbefehl herabriß und ihn vorlas. »Herr Schaunard wird daher verurteilt, am 8. April vor Mittag die Wohnung zu räumen und sie in gutem Zustand dem Vermieter zu übergeben. – Na, bin ich denn nicht dieser Schaunard, dem hier durch den Gerichtsvollzieher gekündigt worden? Und dann noch das?« fügte er hinzu, indem er an Marcels Füßen seine Pantoffeln erkannte. »Sind das nicht meine Hausschuhe, ein Geschenk von zarter Hand? An Ihnen, mein Herr, ist jetzt, Ihre Anwesenheit im Bereich meiner Laren zu erklären.«
»Meine Herren,« antwortete Marcel, indem er sich besonders an Colline und Rudolf wandte, »ich gestehe zu, daß der Herr da hier wohnt.«
»Hm,« sagte Schaunard, »das ist sehr nett von Ihnen.«
»Aber,« fuhr Marcel fort, »auch ich wohne hier.«
»Erlauben Sie,« unterbrach ihn Rudolf, »wenn unser Freund ...«
»Jawohl,« echote Colline, »wenn unser Freund ...«
»Setzen Sie sich, meine Herren«, erwiderte Marcel. »Ich werde Ihnen das Rätsel erklären.«
»Wie wär's, wenn wir die Erklärung etwas anfeuchteten?« schlug Colline vor.
»Und dabei einen Happen äßen?« fügte Rudolf hinzu.
Die vier jungen Leute setzten sich jetzt an den Tisch und fielen über ein Stück kalten Kalbsbraten her, das ihnen der Weinwirt abgelassen hatte.
Marcel erklärte dann, was des Morgens zwischen ihm und dem Hauswirt vorgefallen war, als er die Wohnung beziehen wollte. »Dann hat der Herr völlig recht«, sagte Rudolf. »Wir sind bei ihm zu Gast.«
»Bitte Sie sind zu Hause«, sagte höflich Marcel.
Aber es kostete eine ungeheure Mühe, bis man Schaunard so weit brachte, daß er das Vorgefallene begriff. Ein komischer Zwischenfall verwirrte die Lage noch mehr. Schaunard, der etwas im Schrank suchen wollte, entdeckte dort das Wechselgeld von den fünfhundert Franken.
»Ah, ich wußte es ja,« rief er aus, »daß mich das Glück nicht verlassen würde. Jetzt fällt es mir auch ein, daß ich heute morgen ausgegangen bin, um hinter dem Glück herzulaufen. Und weil der Zahlungstermin da war, ist es wahrscheinlich während meiner Abwesenheit gekommen. Wir haben uns wie zwei Briefe gekreuzt. Jedenfalls war es gut, daß ich den Schlüssel an meiner Tür stecken ließ.«
»Süßer Wahn!« murmelte Rudolf, als er sah, wie Schaunard die Geldstücke zu Säulen ordnete.
»Traumgold, falsches Gold, das ist das Leben!« fügte der Philosoph hinzu.
Marcel lachte. Eine Stunde später waren sie alle vier eingeschlafen.
Sie erwachten erst gegen Mittag und schienen zunächst sehr erstaunt, sich zusammenzufinden. Schaunard, Colline und Rudolf waren sich völlig fremd und redeten sich mit »Herr« an. Marcel mußte sie daran erinnern, daß sie während der Nacht zusammen hergekommen waren.
In diesem Augenblick trat Vater Durand in das Zimmer.
»Mein Herr,« sagte er zu Marcel, »wir haben heute den 9. April achtzehnhundertsoundsoviel. In den Straßen ist es schmutzig, und Seine Majestät Louis Philippe ist noch immer König von Frankreich und Navarra. Halt!« fügte er hinzu, als er seinen ehemaligen Mieter, den Herrn Schaunard bemerkte. »Wie sind Sie denn hereingekommen?«
»Auf telegraphischem Wege«, antwortete Schaunard.
»Was Sie nicht sagen!« erwiderte der Portier. »Aber Sie waren ja immer ein Spaßvogel!«