Langoliers - Stephen King - E-Book

Langoliers E-Book

Stephen King

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Beschreibung

Reisen in einen Kosmos rätselhafter Albträume

„Langoliers“: Seltsame Dinge ereignen sich an Bord eines Flugzeugs.
„Das heimliche Fenster“ wurde mit Johnny Depp verfilmt: Ein Schriftsteller bekommt merkwürdigen Besuch.

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Inhaltsverzeichnis
 
Zum Buch
Der Autor
Lob
KURZ VOR MITTERNACHT
 
LANGOLIERS
VORBEMERKUNG ZU ›LANGOLIERS‹
KAPITEL EINS
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KAPITEL ZWEI
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KAPITEL DREI
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KAPITEL VIER
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KAPITEL FÜNF
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KAPITEL SECHS
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KAPITEL SIEBEN
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KAPITEL ACHT
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KAPITEL NEUN
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DAS HEIMLICHE FENSTER, DER HEIMLICHE GARTEN
Vorbemerkung zu »DAS HEIMLICHE FENSTER, DER HEIMLICHE GARTEN«
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EPILOG
Copyright
Zum Buch
Stephen King schrieb einmal: »Es gibt Dinge von solcher Dunkelheit und solchem Schrecken, dass sie nicht durch die winzige Pforte der menschlichen Vorstellung passen.« Von solch unvorstellbaren Dingen handelt die Titelgeschichte Langoliers. Ein Pilot, der wegen des plötzlichen Todes seiner Frau einen Flug nach Hause gebucht hat, gerät unversehens in einen Alptraum ohne Ende. Rätselhafte Dinge ereignen sich an Bord des Flugzeugs: Auf einmal sind die Crew und fast alle Passagiere verschwunden. Zwar gelingt es dem Piloten noch, die führerlose Maschine sicher in Bangor, Maine, zu landen, aber in dieser Welt der Entropie gibt es keine Sicherheit: Langoliers, Schreckgestalten aus alten Kindheitsängsten, nähern sich bereits dem Flugzeug, um die Menschen zu holen.
Von einer nicht minder dunklen, erschreckenden Reise erzählt Stephen Kind in der anderen Geschichte: Ein Schriftsteller erhält Besuch von einem Mann, der behauptet, dieser habe ihm eine Geschichte gestohlen. Damit beginnt ein atemberaubender Horror-Trip in die zerklüfteten Abgründe einer schizophrenen Psyche. Langoliers enthält alle Elemente, die Stephen Kings Erzählkunst so einmalig machen, und zählt schon heute zu den Klassikern der modernen phantastischen Literatur.
Der Autor
Stephen King alias Richard Bachman gilt weltweit unbestritten als der Meister der modernen Horrorliteratur. Seine Bücher haben eine Weltauflage von 200 Millionen weit überschritten. Seine Romane wurden von den besten Regisseuren verfilmt. Geboren 1947 in Portland/Maine, schrieb und veröffentlichte er schon während seines Studiums Sciene-fiction-Stories. 1973 gelang ihm mit Carrie der internationale Durchbruch. Alle folgenden Bücher (Friedhof der Kuscheltiere, Sie, Christine u.v.a.) wurden Bestseller, die meisten davon liegen im Wilhelm Heyne Verlag vor. Stephen King lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Tabitha King, in Bangor/Maine.
»Stephen King ist ein Geschichtenerzähler, ein intelligenter, gewitzter, hochspezialisierter Handwerker – der Handwerker des Schreckens.« Süddeutsche Zeitung
Die Originalausgabe THE LANGOLIERS und SECRET WINDOW SECRET GARDEN Aus: FOUR PAST MIDNIGHT
In der WüsteSah ich ein Geschöpf, nackt, bestialisch,Welches, am Boden kauernd,Sein Herz in Händen hieltUnd davon aß.
 
Ich sagte: »Ist es gut, Freund?«»Es ist bitter-bitter«, antwortete er;»Aber ich mag esWeil es bitter ist,Und weil es mein Herz ist.«
Stephen Crane
 
 
I’m gonna kiss you, girl, and hold ya,I’m gonna do all the things I told yaIn the midnight hour.
Wilson Pickett
KURZ VOR MITTERNACHT
Eine Vorbemerkung
Nun, sieh einer an – wir sind alle da. Wir haben es wieder einmal geschafft. Ich hoffe, Sie freuen sich nur halb so sehr darüber, wieder hier zu sein, wie ich. Allein das zu sagen, erinnert mich an eine Geschichte, und da ich Geschichten erzähle, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen (und nicht den Verstand zu verlieren), möchte ich sie weitergeben.
Anfang dieses Jahres – ich schreibe dies Ende Juli 1989 – saß ich vor der Glotze und sah das Spiel der Boston Red Sox gegen die Milwaukee Brewers. Robin Yount von den Brewers trat aufs Schlagmal, und die Berichterstatter aus Boston fingen an, über die Tatsache zu staunen, daß Yount erst Anfang Dreißig ist. »Manchmal scheint es, als hätte Yount schon Abner Doubleday geholfen, die allerersten Foul-Linien zu ziehen«, sagte Ned Martin, während Yount in die Box trat und sich Roger Clemens stellte.
»Jawoll«, stimmte Joe Castiglione zu. »Ich glaube, er kam gleich nach der Schule zu den Brewers – er spielt seit 1974 für sie.«
Ich richtete mich so schnell auf, daß ich fast eine Dose Pepsi-Cola verschüttete. Moment mal! dachte ich. Einen verdammten Moment mal! 1974 habe ich mein erstes Buch veröffentlicht! So lange ist das noch nicht her! Was soll der Mist von wegen Abner Doubleday helfen, die ersten Foul-Linien zu ziehen?
Dann fiel mir auf, daß die Wahrnehmung, wie die Zeit verrinnt – ein Thema, das in den nachfolgenden Geschichten immer wieder auftaucht -, eine höchst individuelle Angelegenheit ist. Es stimmt, die Veröffentlichung von Carrie im Frühjahr 1974 (das Buch wurde tatsächlich zwei Tage vor Beginn der Baseball-Spielzeit veröffentlicht, als ein Teenager namens Robin Yount sein erstes Spiel für die Milwaukee Brewers ausfocht) scheint mir selbst noch nicht lange her zu sein – kaum mehr als ein rascher Blick zurück über die Schulter -, aber es gibt andere Möglichkeiten, die Jahre zu zählen, und manche sprechen dafür, daß fünfzehn Jahre wahrhaftig eine lange Zeit sein können.
1974 war Gerald Ford Präsident, und der Schah hatte im Iran noch das Sagen. John Lennon lebte noch, ebenso Elvis Presley. Donny Osmond sang mit hoher Säuselstimme mit seinen Brüdern und Schwestern. Videorecorder waren bereits erfunden, aber nur in einigen wenigen Geschäften erhältlich. Fachleute sagten voraus, daß Sonys Beta-Maschinen binnen kürzester Zeit das als VHS bekannte Konkurrenzsystem in Grund und Boden stampfen würden. Es war noch unvorstellbar, daß die Leute einmal populäre Filme ausleihen könnten, wie sie früher populäre Romane in öffentlichen Bibliotheken ausgeliehen hatten. Die Benzinpreise waren in unvorstellbare Höhen geklettert: elf Cent pro Liter Normalbenzin, dreizehn für bleifreien Sprit.
Die ersten weißen Haare auf meinem Kopf und in meinem Bart waren noch nicht da. Meine Tochter, die mittlerweile das College besucht, war vier. Mein ältester Sohn, der inzwischen größer ist als ich, Blues-Harp spielt und wallende, schulterlange Sammy-Hagar-Locken trägt, war gerade von Windeln zu normalen Höschen übergewechselt. Und mein jüngster Sohn, der heute als Werfer und erster Schläger für eine Jugendliga-Mannschaft spielt, sollte erst drei Jahre später geboren werden. Die Zeit hat so eine seltsame Plastikeigenschaft, und alles, was geht, kommt wieder. Wenn man in den Bus steigt, denkt man, daß er einen nicht weit bringt – vielleicht quer durch die Stadt, nicht weiter -, und auf einmal ist man schon auf dem nächsten Kontinent. Finden Sie diesen Vergleich ein wenig naiv? Ich auch, aber der Knaller ist: Das spielt gar keine Rolle. Das grundlegende Rätsel der Zeit ist so perfekt, daß selbst triviale Beobachtungen wie die, die ich gerade angestellt habe, eine seltsam schallende Resonanz bekommen.
Eines hat sich im Lauf dieser Jahre nicht geändert – was meines Erachtens der Hauptgrund dafür ist, daß es mir (und Robin Yount wahrscheinlich auch) manchmal so vorkommt, als wäre überhaupt keine Zeit verstrichen. Ich mache immer noch dasselbe: Geschichten schreiben. Und das ist für mich immer noch mehr als nur das, was ich kann; es ist das, was ich liebe. Oh, verstehen Sie mich nicht falsch – ich liebe meine Frau, und ich liebe meine Kinder, aber es ist immer noch ein Vergnügen, diese speziellen Nebenstraßen zu suchen, sie zu befahren und festzustellen, wer dort lebt, was sie machen, mit wem sie es machen und vielleicht sogar, warum sie es machen. Ich finde immer noch Gefallen daran, wie seltsam das alles ist – und an den überwältigenden Augenblicken, wenn das Bild klar wird und Ereignisse sich zu einem Muster zusammenfügen. Und Geschichten haben immer einen langen Schwanz. Das Tier ist schnell, und manchmal bekomme ich es nicht zu fassen, aber wenn ich es zu fassen bekomme, klammere ich mich daran fest … und das Gefühl ist großartig.
Wenn dieses Buch 1990 veröffentlicht wird, bin ich sechzehn Jahre im Geschäft des schönen Scheins. Auf halbem Weg durch diese Jahre, als ich durch einen Prozeß, den ich immer noch nicht völlig verstehe, zum literarischen Schreckgespenst Amerikas geworden war, veröffentlichte ich ein Buch mit dem Titel Frühling, Sommer, Herbst und Tod. Es handelte sich um eine Sammlung von vier bis dahin unveröffentlichten Kurzromanen, von denen drei keine Horror-Stories waren. Der Verleger hat das Buch frohen Herzens akzeptiert, aber ich glaube, auch mit einigen geistigen Vorbehalten. Ich hatte auf jeden Fall welche. Wie sich herausstellte, hatten wir beide keinen Grund zur Sorge. Manchmal veröffentlicht ein Schriftsteller ein Buch, das einfach von Natur aus Glück hat, und ich glaube, mit Frühling, Sommer, Herbst und Tod war es bei mir so.
Eine Geschichte (›Die Leiche‹) wurde verfilmt (Stand By Me), und zwar recht erfolgreich … die erste wirklich erfolgreiche Verfilmung eines meiner Werke seit Carrie (ein Film, der in die Kinos kam, als Abner Doubleday und Siewissen-schon-wer die ersten Foul-Linien gezogen haben). Rob Reiner, der bei Stand By Me Regie geführt hat, ist einer der mutigsten, klügsten Filmemacher, die ich je kennengelernt habe, und ich bin stolz auf meine Zusammenarbeit mit ihm. Er hat vor, Sie zu verfilmen, nach einem wirklich ausgezeichneten Drehbuch von William Goldman; ich bin schon sehr gespannt auf das Ergebnis. Und ich durfte amüsiert feststellen, daß die Firma, die Mr. Reiner nach dem Erfolg von Stand By Me gegründet hat, Castle Rock Productions heißt, ein Name, der meiner Stammleserschaft nicht unbekannt sein dürfte.
Die Kritiker mochten Frühling, Sommer, Herbst und Tod im großen und ganzen auch. Fast jeder hat eine Novelle in Grund und Boden gedonnert, aber da sich jeder eine andere Geschichte zum Bombardieren ausgesucht hat, dachte ich mir, daß ich mich dreist über alle hinwegsetzen könnte, und das habe ich auch getan. Aber ein solches Verhalten ist nicht immer möglich. Als sämtliche Besprechungen von Christine einhellig zum Ergebnis kamen, daß es wirklich ein gräßlicher Roman sei, habe ich mir widerwillig überlegt, daß er vielleicht wirklich nicht so gut geworden ist, wie ich gedacht hatte (was mich freilich nicht daran gehindert hat, die Tantiemenschecks einzulösen). Ich kenne Schriftsteller, die behaupten, daß sie ihre Rezensionen nicht lesen, oder falls doch, daß die Verrisse sie nicht verletzen, und von allen glaube ich zweien das sogar. Ich gehöre zur anderen Kategorie – ich denke besessen über die Möglichkeit schlechter Besprechungen nach und brüte darüber, wenn ich sie lese. Aber sie machen mich nicht lange fertig, ich bringe einfach ein paar Kinder und alte Omas um, und dann stehe ich wieder da wie eine Eins.
Am wichtigsten aber ist, den Lesern hat Frühling, Sommer Herbst und Tod gefallen. Ich kann mich an keinen einzigen Brief aus der Zeit erinnern, in dem ich gescholten worden wäre, weil ich etwas anderes als Horror geschrieben habe. Die meisten Leser wollten mir sogar sagen, daß eine der Geschichten in irgendeiner Weise ihre Gefühle angesprochen, sie zum Nachdenken gebracht oder Empfindungen in ihnen ausgelöst hat, und solche Briefe sind der wahre Lohn an den Tagen (und das sind eine ganze Menge), wenn das Schreiben schwerfällt und die Inspiration dünn bis nicht vorhanden ist. Gott segne und erhalte mir meine Stammleser; der Mund kann sprechen, aber es gibt keine Geschichte, wenn nicht auch ein interessiertes Ohr zum Zuhören vorhanden ist.
Das war 1982. Das Jahr, in dem die Milwaukee Brewers ihren einzigen Siegerwimpel der American League gewannen – angeführt von (ja, Sie haben es erraten) Robin Yount. Yount schaffte neunundzwanzig Homeruns und wurde zum besten Spieler der American League gewählt.
Es war ein gutes Jahr für uns zwei alte Halunken.
Frühling, Sommer, Herbst und Tod war kein geplantes Buch; es kam einfach zustande. Die vier darin enthaltenen Geschichten entstanden in unregelmäßigen Abständen über einen Zeitraum von fünf Jahren hinweg; es waren Geschichten, die zu lang waren, sie als Kurzgeschichten zu veröffentlichen, aber ein klein wenig zu kurz für eigene Bücher. Wie bei einem Fehlschlag oder einem Kampf um den Zyklus (einen Einser, Zweier, Dreier und Homerun in einem einzigen Spiel) war es kein geplanter Spielzug, sondern mehr eine statistische Absonderlichkeit. Der Erfolg und die Aufnahme des Buches haben mir viel Spaß gemacht, aber ich empfand eine gewisse Traurigkeit, als das Buch schließlich bei Viking Press eingereicht wurde. Ich wußte, es war gut; ich wußte auch, daß ich so ein Buch wahrscheinlich nie mehr in meinem Leben machen würde.
Wenn Sie erwarten, daß ich jetzt sage: Nun, ich habe mich geirrt, dann muß ich Sie enttäuschen. Das Buch, das Sie jetzt in Händen halten, unterscheidet sich grundlegend von dem früheren Buch. Frühling, Sommer Herbst und Tod bestand aus drei ›Mainstream‹-Novellen und einer Geschichte des Übernatürlichen; die beiden Geschichten in diesem Buch sind Horror-Geschichten. Sie sind etwas länger als die Geschichten in Frühling, Sommer, Herbst und Tod, und sie wurden in den zwei Jahren geschrieben, als ich eigentlich eine Schreibpause machen wollte. Vielleicht sind sie deshalb anders, weil sie von einem Verstand ersonnen wurden, der sich zumindest vorübergehend dunkleren Themen zuwandte.
Zum Beispiel der Zeit und dem verderblichen Effekt, den sie auf das menschliche Herz haben kann. Und der Vergangenheit und den Schatten, die sie auf die Gegenwart wirft – Schatten, in denen manchmal unangenehme Dinge wachsen und sich noch unangenehmere Dinge verstecken … und dick und fett werden.
Aber nicht alle meine Sorgen haben sich verändert, und die meisten meiner Überzeugungen sind nur fester geworden. Ich glaube immer noch an die Unverwüstlichkeit des menschlichen Herzens und den essentiellen Wert der Liebe; ich glaube immer noch, daß Beziehungen zwischen Menschen geknüpft werden können und die Seelen, die in uns wohnen, einander manchmal berühren. Ich glaube immer noch, daß die Kosten dieser Beziehungen schrecklich, unvorstellbar groß sind … und ich glaube auch noch, daß die Belohnung, die wir dafür bekommen, diesen Preis bei weitem übersteigt. Ich glaube, denke ich, immer noch daran, daß das Gute siegt und man einen Platz finden muß, um sein letztes Gefecht zu führen … und daß man diesen Platz mit seinem Leben verteidigen muß. Das sind altmodische Sorgen und Überzeugungen, aber ich wäre ein Lügner, wenn ich nicht zugeben würde, daß sie mich immer noch beschäftigen. Und ich sie.
Ich schätze auch immer noch eine gute Geschichte. Ich höre gerne eine, und ich erzähle gerne eine. Sie wissen vielleicht, oder auch nicht (und vielleicht ist es Ihnen auch egal), daß ich eine Riesenmenge Geld bekommen habe, damit ich dieses Buch (und die beiden nachfolgenden) veröffentliche; aber wenn Sie es wissen und es Sie interessiert, dann sollten Sie auch wissen, daß ich keinen Cent bekommen habe, um die Geschichten in diesem Buch zu schreiben. Wie alles andere, das von alleine passiert, steht auch der Vorgang des Schreibens außerhalb jeglicher Währung. Geld ist wirklich toll, wenn man es hat, aber wenn es um etwas Schöpferisches geht, sollte man besser nicht zu sehr daran denken. Es verdirbt den ganzen Prozeß.
Auch die Art, wie ich meine Geschichten erzähle, hat sich ein wenig verändert, glaube ich (ich hoffe, ich bin besser geworden, aber das ist selbstverständlich etwas, das jeder Leser für sich selbst entscheiden sollte und wird), doch das war eigentlich zu erwarten. Als die Brewers 1982 den Siegerwimpel gewannen, hat Robin Yount Shortstop gespielt. Jetzt ist er im Mittelfeld. Das bedeutet wohl, er ist ein wenig langsamer geworden … aber er fängt fast immer noch alles, was in seine Richtung geworfen wird.
Das genügt mir. Es genügt mir ganz und gar.
Weil viele Leser neugierig zu sein scheinen, woher die Geschichten kommen, oder sich fragen, ob sie in ein größeres Schema passen, an dem der Schriftsteller arbeiten mag, habe ich jeder eine kurze Anmerkung vorangestellt, wie sie entstanden ist. Diese Anmerkungen amüsieren Sie vielleicht, aber Sie müssen sie nicht lesen, wenn Sie nicht wollen, dies ist, Gott sei Dank, keine Schularbeit, und es werden im Anschluß keine Fragen gestellt.
Abschließend möchte ich sagen, wie schön es ist, wieder hier zu sein, zu leben, sich wohl zu fühlen und wieder einmal mit Ihnen zu sprechen … und wie schön es ist zu wissen, daß Sie immer noch da sind, leben, sich wohl fühlen und darauf warten, an einen anderen Ort gebracht zu werden – möglicherweise einen Ort, wo die Wände Augen und die Bäume Ohren haben und etwas wirklich Unangenehmes versucht, vom Dachboden dorthin herunterzukommen, wo die Menschen sind. Dieses Ding interessiert mich immer noch … aber neuerdings glaube ich, die Menschen, die darauf warten, oder auch nicht, interessieren mich mehr.
Bevor ich gehe, sollte ich Ihnen noch verraten, wie das Baseballspiel ausgegangen ist. Die Brewers haben die Red Sox geschlagen. Clemens hat es Robin Yount am Schläger zunächst einmal gegeben … aber dann hat Yount (der Ned Martin zufolge schon Abner Doubleday geholfen hat, die ersten Foul-Linien zu ziehen) dem Grünen Monster im linken Feld einen Hochwurf abgetrotzt und zwei Homeruns geschafft.
Ich glaube, Robin ist mit dem Spielen noch lange nicht am Ende.
Ich auch nicht.
Bangor, MaineJuli 1989
LANGOLIERS
Für Joe, der beim Fliegen auch immerweiße Knöchel hat.
VORBEMERKUNG ZU ›LANGOLIERS‹
Mir fallen Geschichten an den verschiedensten Orten und Zeiten ein – im Auto, unter der Dusche, beim Spazierengehen, sogar während ich auf Partys herumstehe. Ein paarmal sind mir Geschichten in Träumen eingefallen. Aber ich schreibe selten eine auf, gleich nachdem mir der Einfall gekommen ist, und ich habe kein ›Ideen-Notizbuch‹. Einfälle nicht aufzuschreiben, ist Training für das Erinnerungsvermögen. Ich habe viele Einfälle, aber nur ein kleiner Prozentsatz taugt etwas, daher verwahre ich sie alle in einer Art geistigem Speicher. Dort vernichten sich die schlechten mit der Zeit selbst, wie das Tonband am Anfang jeder Folge von Kobra: Übernehmen Sie. Mit den guten ist das nicht so. Jedesmal, wenn ich die Schublade aufziehe und nachsehe, was noch drinnen ist, sieht mich diese kleine Handvoll guter Einfälle an, jeder mit seinem ureigenen strahlenden Kern.
Bei ›Langoliers‹ war dieses zentrale Bild das einer jungen Frau, die eine Hand auf einen Riß in der Hülle eines Linienflugzeugs drückt.
Es nützte nichts, daß ich mir einredete, ich wüßte zu wenig über Linienflugzeuge; genau das habe ich nämlich versucht, aber das Bild war jedesmal da, wenn ich die Schublade aufmachte, um einen neuen Einfall hineinzuwerfen. Es kam soweit, daß ich sogar das Parfüm dieser Frau riechen konnte (es war L’Envoi), ihre grünen Augen sah und ihren ängstlichen, hastigen Atem hörte.
Eines Nachts, als ich im Bett lag und kurz vor dem Einschlafen war, wurde mir klar, daß diese Frau ein Geist war.
Ich weiß noch, wie ich mich aufgesetzt, die Füße aus dem Bett geschwungen und eine Weile so dagesessen habe, ohne an viel zu denken … jedenfalls nicht an der Oberfläche. Darunter aber war der Bursche, der die Arbeit in Wirklichkeit für mich erledigt, emsig dabei, sich Arbeitsfläche freizuschaffen und Vorkehrungen zu treffen, die Maschinen wieder in Gang zu setzen. Am nächsten Tag fing ich – oder er – damit an, die Geschichte zu schreiben. Es dauerte etwa einen Monat, und die Arbeit ist mir sehr leicht gefallen, denn die Geschichte entfaltete sich beim Schreiben einfach und natürlich. Manchmal kommen Geschichten und Babys fast ohne Geburtswehen auf die Welt, und bei dieser Geschichte war es so. Weil sie ein ähnlich apokalyptisches Flair besitzt wie einer meiner früheren Kurzromane mit dem Titel ›Der Nebel‹, habe ich jedes Kapitel auf dieselbe altmodische Rokoko-Weise überschrieben. Am Ende dieser Geschichte hatte ich ein fast ebenso gutes Gefühl wie am Anfang … was selten vorkommt.
Normalerweise recherchiere ich schlampig, aber dieses Mal habe ich mich wirklich bemüht, meine Hausaufgaben zu machen. Drei Piloten – Michael Russo, Frank Soares und Douglas Damon – haben mir geholfen, daß ich die Fakten auf die Reihe bekam. Zudem sollte ich dem Personal von Delta Airlines danken, die mir gestattet haben, in einem echten 767er Düsenflugzeug herumzustöbern. Als ich versprochen hatte, nichts kaputtzumachen, waren sie wirklich gute Sportsfreunde.
Habe ich alles richtig gemacht? Ich bezweifle es. Nicht einmal dem großen Daniel Defoe ist das gelungen; in Robinson Crusoe zieht sich unser Held nackt aus, schwimmt zu dem Schiff, von dem er gerade entkommen ist … und füllt sich die Taschen mit allem, was er zum Überleben auf seiner einsamen Insel braucht. Und dann gibt es da einen Roman (Titel und Autor sollen hier gnädigerweise verschwiegen werden) über das New Yorker U-Bahn-System, in dem der Verfasser offenbar die Kabuffs der Wartungstrupps mit öffentlichen Toiletten verwechselt hat.
Meine Standard-Caveat lautet folgendermaßen: Für alles, was richtig ist, danken Sie den Herren Russo, Soares und Damon. Geben Sie mir die Schuld an allem, was falsch ist. Das soll auch keine leere Höflichkeit sein. Faktische Irrtümer sind normalerweise die Folge davon, daß man nicht die richtigen Fragen gestellt hat. Ich habe mir ein oder zwei Freiheiten mit dem Flugzeug genommen, das Sie gleich betreten werden; diese Freiheiten sind jedoch gering und schienen mir für den Ablauf der Geschichte notwendig zu sein.
Nun, damit will ich mich begnügen, kommen Sie an Bord.
Fliegen wir durch einen unfreundlichen Himmel.
KAPITEL EINS
Schlechte Nachrichten für Kapitän Engle.Das kleine blinde Mädchen. Das Parfüm der Dame.Die Dalton-Bande trifft in Tombstone ein.Das seltsame Schicksal von Flug Nr. 29

1

Brian Engle rollte mit der American Pride L1011 am Flugsteig 22 zum Stillstand und schaltete um genau 22 Uhr 14 das FASTEN-SEATBELT-Zeichen aus. Er stieß zischend einen langen Seufzer zwischen den Zähnen hervor und machte den Schultergurt auf.
Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letztenmal am Ende eines Fluges so erleichtert – und so müde – gewesen war. Er hatte schlimme, pochende Kopfschmerzen und felsenfeste Pläne für den heutigen Abend. Kein Drink in der Pilotenbar, kein Abendessen, nicht einmal ein Bad, wenn er wieder in Westwood war. Er hatte vor, ins Bett zu fallen und vierzehn Stunden zu schlafen.
Flug 7 von American Pride – Flagship Service von Tokio nach Los Angeles – war zuerst durch starke Gegenwinde und dann durch die typischen Staus im LAX aufgehalten worden … zweifellos Amerikas schlimmster Flughafen, dachte Engle, wenn man einmal Logan in Boston nicht mitzählte. Als wäre das nicht genug gewesen, war nach drei Flugstunden ein Problem mit dem Kabinendruck aufgetreten. Anfangs unbedeutend, aber es war allmählich schlimmer geworden, bis es zuletzt furchteinflößend wurde. Es war fast bis zu dem Punkt gediehen, an dem ein Durchbruch und eine explosionsartige Dekompression möglich gewesen wären … aber Gott sei Dank nicht schlimmer. Derartige Probleme stabilisierten sich manchmal plötzlich und auf geheimnisvolle Weise, und das war dieses Mal passiert. Die Passagiere, die gerade jetzt von Bord gingen, hatten keine Ahnung, wie nahe sie auf dem heutigen Flug von Tokio darangewesen waren abzustürzen, aber Brian wußte es … und das hatte ihm einen Hammer von Kopfschmerzen bereitet.
»Dieses Miststück verschwindet von hier gleich zur Wartung«, sagte er zu seinem Copiloten. »Sie wissen, daß die Maschine kommt und wo das Problem liegt, richtig?«
Der Copilot nickte. »Es gefällt ihnen nicht, aber sie wissen es.«
»Mir scheißegal, was ihnen gefällt und was nicht, Danny. Heute abend war es verdammt knapp.«
Danny Keene nickte. Das wußte er.
Brian seufzte und massierte mit der Hand seinen Nacken. Sein Kopf schmerzte wie ein schlimmer Zahn. »Vielleicht werde ich zu alt für den Job.«
Genau das sagte selbstverständlich von Zeit zu Zeit jeder einmal über den Job, besonders am Ende einer schlimmen Schicht, und Brian wußte verdammt gut, daß er nicht zu alt für den Job war – mit dreiundvierzig kam er gerade in die besten Jahre für einen Piloten. Trotzdem hätte er es heute abend fast selbst geglaubt. Herrgott, er war so müde.
Es klopfte an die Cockpittür; der Navigator drehte sich auf dem Sitz um und machte auf, ohne aufzustehen. Ein Mann im grünen American-Pride-Blazer stand draußen. Er sah aus wie einer vom Flugsteigpersonal, aber Brian wußte, daß er das nicht war. Es war John (oder auch James) Deegan, der stellvertretende Geschäftsführer von American Pride im LAX.
»Kapitän Engle?«
»Ja?« Innere Verteidigungsanlagen wurden aufgebaut, seine Kopfschmerzen loderten hoch empor. Sein erster Gedanke, den nicht die Logik gebar, sondern Anstrengung und Müdigkeit, war der, daß sie versuchen wollten, ihm die Verantwortung für das Druckproblem anzuhängen. Paranoid, klar, aber er war in paranoider geistiger Verfassung.
»Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für Sie, Kapitän.«
»Ist es wegen des Lecks?« Seine Stimme war zu schneidend, ein paar der aussteigenden Passagiere drehten sich zu den beiden Männern um, die in der offenen Tür des Cockpits standen, aber dagegen ließ sich jetzt nichts mehr machen.
Deegan schüttelte den Kopf. »Es geht um Ihre Frau, Kapitän.« Einen Augenblick hatte Brian nicht die leiseste Ahnung, wovon der Mann sprach, und konnte nur dastehen, ihn mit offenem Mund angaffen und sich über die Maßen albern vorkommen. Dann fiel der Groschen. Er meinte selbstverständlich Anne.
»Sie ist meine Exfrau. Wir sind vor achtzehn Monaten geschieden worden. Was ist mit ihr?«
»Sie hat einen Unfall gehabt«, sagte Deegan. »Vielleicht sollten Sie besser mit ins Büro kommen.«
Brian sah ihn neugierig an. Nach den vergangenen drei langen, nervösen Stunden schien dies alles seltsam unwirklich zu sein. Er widerstand dem Drang, Deegan zu sagen, wenn dies eine Art Vorsicht-Kamera-Scheiße sein sollte, möge er sich getrost selbst verulken. Aber das war es selbstverständlich nicht. Die hohen Tiere von Fluggesellschaften standen nicht auf Scherze und Streiche, schon gar nicht auf Kosten von Piloten, die knapp einer Katastrophe in der Luft entronnen sind.
»Was ist mit Anne?« hörte Brian sich wieder fragen, diesmal mit leiserer Stimme. Er bemerkte, daß sein Copilot ihn voll argwöhnischem Mitgefühl betrachtete. »Geht es ihr gut?«
Deegan betrachtete seine polierten Schuhspitzen, und Brian wußte, es mußten wahrhaftig schlechte Nachrichten sein. Anne ging es alles andere als gut. Wußte es, konnte es aber unmöglich glauben. Anne war erst vierunddreißig, gesund und von vorsichtiger Natur. Er hatte auch mehr als einmal gedacht, daß sie die einzig normale Autofahrerin in ganz Boston war … möglicherweise im ganzen Staat Massachusetts.
Jetzt hörte er sich etwas anderes fragen – und es war wirklich genau so, als wäre ein Fremder in sein Gehirn getreten und benützte den Mund als Lautsprecher. »Ist sie tot?«
John oder James Deegan drehte sich um, als suchte er Unterstützung, aber nur eine einzige Stewardeß stand an der Luke, wünschte den aussteigenden Passagieren einen angenehmen Abend in Los Angeles und sah ab und zu besorgt zum Cockpit, weil sie sich wahrscheinlich genau über das Sorgen machte, was auch Brian durch den Kopf gegangen war – daß der Besatzung irgendwie die Schuld an dem langsamen Druckabfall gegeben werden sollte, der das mittlere Drittel des Flugzeuges zu so einem Alptraum gemacht hatte. Deegan war auf sich allein gestellt. Er sah Brian wieder an und nickte. »Ja – ich fürchte, das ist sie. Würden Sie bitte mit mir kommen, Kapitän Engle?«

2

Eine Viertelstunde nach Mitternacht machte es sich Brian Engle auf Sitz Nr. 5A von American-Pride-Flug Nr. 29 – Flagship Service von Los Angeles nach Boston – bequem. In fünfzehn Minuten würde dieser Flug, der Interkontinentalreisenden als Schnarchflug bekannt war, sich in die Luft erheben. Ihm fiel wieder ein, wie er vor kurzem gedacht hatte, wenn LAX nicht der gefährlichste kommerzielle Flughafen in Amerika war, dann Logan. Durch eine Verkettung unangenehmer Umstände würde er nun Gelegenheit haben, beide Orte innerhalb eines Zeitraums von acht Stunden selbst aufzusuchen: LAX als Pilot, Logan als Passagier.
Seine Kopfschmerzen, die jetzt viel schlimmer waren als bei der Landung von Flug Nr. 7, nahmen eine Skaleneinheit zu.
Ein Feuer, dachte er. Ein verdammtes Feuer. Um Himmels willen, was ist mit den Rauchdetektoren passiert? Es war ein brandneues Gebäude!
Ihm fiel auf, daß er in den letzten vier oder fünf Monaten kaum an Anne gedacht hatte. Im ersten Jahr nach der Scheidung hatte er ausschließlich an sie gedacht, schien ihm – was sie machte, was sie anzog und, natürlich, mit wem sie ausging. Als der Heilungsprozeß schließlich einsetzte, ging es sehr schnell … als wäre ihm ein Antibiotikum gespritzt worden, das seinen Seelenzustand verbesserte. Er hatte genügend über Scheidungen gelesen, um zu wissen, was das Heilmittel für gewöhnlich war: kein Antibiotikum, sondern eine andere Frau. Mit anderen Worten: der Rückschlageffekt.
Für Brian hatte es keine anderen Frauen gegeben – jedenfalls noch nicht. Ein paar Verabredungen und eine zurückhaltende sexuelle Begegnung (er war zur Überzeugung gekommen, daß im Zeitalter von AIDS alle sexuellen Begegnungen außerhalb der Ehe zurückhaltend waren), aber keine andere Frau. Er war einfach … geheilt.
Brian verfolgte, wie die anderen Passagiere an Bord kamen. Eine junge Frau mit blondem Haar führte ein kleines Mädchen mit dunkler Brille; sie hatte die Hand am Ellbogen des Mädchens. Die Frau murmelte mit ihrer Begleitung, das Mädchen sah sofort in die Richtung, aus der ihre Stimme ertönte, und Brian wurde klar, daß es blind war – es lag an der Bewegung des Kopfes. Komisch, dachte er, wie so kleine Gesten so viel verraten können.
Anne, dachte er. Solltest du nicht an Anne denken?
Aber sein übermüdeter Verstand versuchte, das Thema Anne zu vermeiden – Anne, die seine Frau gewesen war Anne die einzige Frau, die er je im Zorn geschlagen hatte Anne die jetzt tot war.
Er schätzte, daß er eine Vortragsreise antreten könnte – er würde vor Gruppen geschiedener Männer sprechen. Verdammt, auch vor geschiedenen Frauen, was das anbetraf. Sein Thema wäre Scheidung und die Kunst des Vergessens.
Kurz nach dem vierten Hochzeitstag ist der beste Zeitpunkt für eine Scheidung, würde er ihnen sagen. Nehmen Sie nur meinen Fall. Ich habe das darauffolgende Jahr im Fegefeuer verbracht und mich gefragt, was meine Schuld war und was ihre, ob es falsch oder richtig war, ihr immer wieder mit dem Thema Kinder zuzusetzen – das war die große Sache zwischen uns, nichts Dramatisches wie Drogen oder Ehebruch, nur das alte Thema: Kinder oder Kariere -, und dann war es, als wäre ein Expreßlift in meinem Kopf gewesen, und Anne war nicht darin, und er raste abwärts.
Ja. Abwärts war er gefahren. Und in den letzten sechs Monaten hatte er überhaupt nicht an Anne gedacht … nicht einmal wenn der monatliche Unterhaltsscheck fällig war. Es war eine sehr vernünftige, sehr zivilisierte Summe, besonders wenn man bedachte, daß Anne achtzigtausend brutto im Jahr gemacht hatte. Sein Anwalt überwies das Geld, und es war lediglich ein weiterer Punkt auf der monatlichen Abrechnung die Brian bekam, ein kleiner Zweitausend-Dollar-Posten zwischen der Stromrechnung und der Hypothekenrate für die Eigentumswohnung.
Er beobachtete einen schlaksigen Teenagerjungen mit Geigenkasten unter dem Arm und Yamulke auf dem Kopf, der den Mittelgang entlangschritt. Der Junge sah nervös und aufgeregt zugleich aus, eine ängstliche, aufregende Zukunft spiegelte sich in seinen Augen. Brian beneidete ihn.
Im letzten Jahr ihrer Ehe hatte eine große Verbitterung zwischen ihnen beiden geherrscht, und schließlich, etwa vier Monate vor der Trennung, war es passiert: Seine Hand hatte zugeschlagen, bevor sein Gehirn nein sagen konnte. Er erinnerte sich nicht gerne daran, aber er hatte es getan. Sie hatte während einer Party zuviel getrunken und ihm echt übel zugesetzt, als sie wieder zu Hause waren.
Laß mich in Ruhe damit, Brian. Laß mich einfach in Ruhe. Nichts mehr über Kinder. Wenn du einen Sperma-Test brauchst, geh zum Arzt. Meine Aufgabe ist Werbung, nicht Kindermachen. Ich habe deine Macho-Scheiße derartig sa…
Und da hatte er sie fest auf den Mund geschlagen. Der Schlag hatte das letzte Wort mit brutaler Heftigkeit abgeschnitten. Sie standen da und sahen einander in der Wohnung an, in der sie später sterben sollte, und waren beide erschrockener und ängstlicher gewesen, als sie je zugeben würden (außer vielleicht jetzt auf Sitz 5A, während er zusah, wie die anderen Passagiere von Flug Nr. 29 an Bord kamen; jetzt gab er es zu, jetzt gestand er es sich endlich selbst ein). Sie hatte ihren Mund berührt, der zu bluten angefangen hatte. Sie hatte ihm die Finger entgegengestreckt.
Du hast mich geschlagen, sagte sie. Es war kein Zorn in ihrer Stimme, sondern Erstaunen. Er hatte den Verdacht, es war überhaupt das erstemal, daß jemand im Zorn Hand an einen Teil von Anne Quinlan Engles Körper gelegt hatte.
Ja, hatte er gesagt. Wahrhaftig. Und ich mache es wieder, wenn du nicht die Klappe hältst. Mich wirst du nicht mehr mit deinen Worten geißeln, Süße. Du solltest dir besser ein Vorhängeschloß an den Mund machen. Ich sage dir das, weil ich es gut mit dir meine. Die Zeiten sind vorbei. Wenn du etwas brauchst, das du treten kannst, kauf dir einen Hund.
Damit war auch die Ehe vorbei gewesen. Sie hatte sich noch ein paar Monate mühsam dahingeschleppt, aber eigentlich war sie in dem Augenblick zu Ende gewesen, als Brians Handfläche schmerzhaften Kontakt zu Annes Mundwinkeln hergestellt hatte. Er war provoziert worden – weiß Gott, er war provoziert worden -, aber er hätte trotzdem viel gegeben, hätte er diesen einen schlimmen Augenblick ungeschehen machen können.
Während die letzten Passagiere an Bord tröpfelten, mußte er auch fast besessen an Annes Parfüm denken. Er konnte sich genau an den Duft erinnern, aber nicht an den Namen. Wie hatte es geheißen? Lissome? Lithsome? Lithium, um Gottes willen? Der Name tanzte dicht außerhalb seiner Reichweite. Es war zum Verrücktwerden.
Sie fehlt mir, dachte er dumpf. Jetzt, wo sie für immer fort ist, fehlt sie mir. Ist das nicht erstaunlich?
Lawnboy? Etwas so Albernes?
Ach, hör auf, sagte er seinem übermüdeten Gehirn. Mach einen Korken drauf.
Okay, stimmte sein Gehirn zu. Kein Problem: Ich kann aufhören. Ich kann jederzeit aufhören, wann ich will. War es vielleicht Lifebouy? Nein – das ist Seife. Tut mir leid. Lovebite? Lovelorn?
Brian schnappte den Sicherheitsgurt zu, lehnte sich zurück, schloß die Augen und roch das Parfüm, an dessen Namen er sich nicht genau erinnern konnte.
Da sprach ihn die Stewardeß an. Logisch: Brian Engle hatte eine Theorie, wonach sie ausgebildet wurden – in einem streng geheimen Kurs nach der eigentlichen Ausbildung, der möglicherweise den Titel ›Wie man den Passagier quält‹ trug – zu warten, bis der Passagier die Augen zumachte, um ihm dann eine nicht zwingend erforderliche Dienstleistung anzubieten. Und selbstverständlich mußten sie warten, bis sie mit hinreichender Sicherheit davon ausgehen konnten, daß der Passagier fest schlief, bevor sie ihn weckten und fragten, ob er eine Decke oder ein Kissen haben wollte.
»Verzeihung …«, begann sie, dann verstummte sie. Ihr Blick, sah Brian, wanderte von den Schulterklappen seines schwarzen Jacketts zur Mütze mit ihrem sinnlosen Rührei-Emblem auf dem freien Sitz neben ihm.
Sie dachte nach und fing noch einmal an.
»Verzeihung, Kapitän, möchten Sie Kaffee oder Orangensaft?« Brian stellte leicht amüsiert fest, daß er sie ein wenig in Verlegenheit gebracht hatte. Sie deutete zum Tisch vorne in der Kabine, dicht unter dem rechteckigen Fernsehbildschirm. Auf dem Tisch standen zwei Eiskübel. Aus jedem ragte der schlanke grüne Hals einer Weinflasche. »Selbstverständlich habe ich auch Champagner.«
Engle dachte (Love Boy ist nahe, aber kein Treffer) daran, den Champagner zu nehmen, aber nur kurz. »Nichts, danke«, sagte er. »Und kein Flugservice. Ich glaube, ich schlafe bis Boston. Wie sieht das Wetter aus?«
»Wolken in sechseinhalbtausend Meter Höhe von den Great Plains bis Boston, aber kein Problem. Wir fliegen in elfeinhalbtausend. Oh, und wir haben Meldungen über die Aurora borealis über der Mojave-Wüste. Sie möchten vielleicht wach bleiben und sie sich ansehen.«
Brian zog die Brauen hoch. »Sie scherzen. Die Aurora borealis über Kalifornien? Um diese Jahreszeit?«
»Das hat man uns gesagt.«
»Jemand hat zuviel billige Drogen genommen«, sagte Brian, und sie lachten. »Ich glaube, ich döse einfach nur, danke.«
»Wie Sie wünschen, Kapitän.« Sie zögerte noch einen Augenblick. »Sie sind der Kapitän, der gerade seine Frau verloren hat, richtig?«
Seine Kopfschmerzen pulsierten und brüllten, aber er zwang sich zu einem Lächeln. Diese Frau – die eigentlich kaum mehr als ein Mädchen war – wollte ihm nichts Böses. »Sie war meine Exfrau, aber sonst ja. Der bin ich.«
»Ihr Verlust tut mir schrecklich leid.«
»Danke.«
»Bin ich schon einmal mit Ihnen geflogen, Sir?«
Sein Lächeln tauchte kurz wieder auf. »Das glaube ich nicht. Ich bin seit etwa vier Jahren für Überseeflüge abgestellt.« Und weil es ihm irgendwie notwendig schien, reichte er ihr die Hand. »Brian Engle.«
Sie schüttelte sie. »Melanie Trevor.«
Engle lächelte ihr noch einmal zu, dann lehnte er sich zurück und schloß wieder die Augen. Er ließ sich treiben, schlief aber nicht ein – die Ansagen vor dem Start, gefolgt vom Start selbst, würden ihn nur wieder aufwecken. Wenn sie in der Luft waren, hatte er genügend Zeit zu schlafen.
Flug Nr. 29 startete – wie die meisten Schnarchflüge – pünktlich. Brian überlegte, daß das ganz oben auf der schmalen Liste der Vorzüge stehen mußte. Das Flugzeug war eine 767, etwas mehr als halb voll. Es war noch ein halbes Dutzend weiterer Passagiere in der ersten Klasse. Brian fand nicht, daß einer betrunken oder rüpelhaft aussah. Das war gut. Vielleicht würde er tatsächlich bis Boston schlafen.
Er beobachtete Melanie Trevor geduldig, während sie auf die Notausgänge deutete, vorführte, wie man die kleine Goldschüssel benützte, wenn es zu einem plötzlichen Druckabfall kam (eine Prozedur, die Brian vor nicht allzu langer Zeit selbst in Gedanken und mit einer gewissen Dringlichkeit durchgespielt hatte), und wie man die Schwimmweste unter dem Sitz aufblies. Als das Flugzeug in der Luft war, kam sie wieder zu seinem Sitz und fragte, ob sie ihm etwas zu trinken bringen konnte. Brian schüttelte den Kopf, dankte ihr und drückte den Knopf, der den Sitz senkte. Er machte die Augen zu und schlief sofort ein.
Er sah Melanie Trevor nie wieder.

3

Etwa drei Stunden nach dem Start von Flug Nr. 29 wachte ein kleines Mädchen namens Dinah Bellman auf und fragte ihre Tante Vicky, ob sie ein Glas Wasser haben könne.
Tante Vicky antwortete nicht, daher fragte sie noch einmal. Als sie immer noch keine Antwort bekam, streckte sie die Hand aus, um ihre Tante an der Schulter zu berühren, aber sie war schon ziemlich sicher, daß ihre Hand lediglich eine leere Sitzrückenlehne zu fassen bekommen würde, und genau so kam es. Dr. Feldman hatte ihr gesagt, daß Kinder, die von Geburt an blind waren, häufig eine erhöhte Feinfühligkeit entwickelten – fast eine Art Radar -, was An- oder Abwesenheit von Personen in ihrer unmittelbaren Umgebung betraf, aber diese Information hatte Dinah eigentlich gar nicht benötigt. Sie wußte, daß es stimmte. Es funktionierte nicht immer, aber meistens schon … besonders wenn die fragliche Person ihre Seh-Person war.
Nun, sie ist auf die Toilette gegangen und kommt gleich wieder, dachte Dinah, spürte aber dennoch, wie ein seltsames, vages Unbehagen über sie kam. Sie war nicht auf einmal aufgewacht; es war ein langsamer Vorgang gewesen, wie eine Taucherin, die sich zur Oberfläche eines Sees emporstrampelt. Wenn Tante Vicky, die den Fenstersitz hatte, in den letzten zwei oder drei Minuten an ihr vorbeigegangen wäre, um zum Mittelgang zu gelangen, hätte Dinah sie spüren müssen.
Ist sie eben früher gegangen, sagte sie sich. Ist doch nichts weiter dabei, Dinah. Oder vielleicht hat sie auf dem Rückweg eine Pause gemacht, um mit jemand zu sprechen.
Aber Dinah konnte niemand in der großen Kabine des Flugzeugs reden hören; nur das leise Dröhnen der Maschinen. Ihr Unbehagen wuchs.
Die Stimme von Miß Lee, ihrer Therapeutin (aber Dinah betrachtete sie immer als ihre Blinden-Lehrerin), sagte in ihrem Kopf: Du mußt keine Angst davor haben, Angst zu haben, Dinah; alle Kinder haben von Zeit zu Zeit Angst, besonders in Situationen, die neu für sie sind. Für blinde Kinder gilt das
doppelt. Glaub mir, ich weiß es. Und Dinah glaubte ihr wirklich, denn Miß Lee war, wie Dinah selbst, seit ihrer Geburt blind. Gib deine Angst nicht auf… aber ergib dich ihr auch nicht. Sitz still und versuch, ihr mit Vernunft beizukommen. Du wirst überrascht sein, wie oft das funktioniert.
Besonders in Situationen, die neu für sie sind.
Nun, das konnte man eindeutig sagen; Dinah flog zum erstenmal, und dann gleich in einem riesigen Passagierflugzeug von einer Seite des Kontinents zur anderen.
Versuch, ihr mit Vernunft beizukommen.
Nun, sie war an einem fremden Ort aufgewacht und hatte festgestellt, daß ihre Seh-Person fort war. Das war natürlich beängstigend, auch wenn man wußte, daß die Abwesenheit nur vorübergehend war; schließlich konnte die Seh-Person kaum beschließen, zum nächstbesten Taco Bell zu verduften, weil sie Kohldampf hatte, wenn sie in einem Flugzeug war, das in einer Höhe von elfeinhalbtausend Metern flog. Und was die seltsame Stille in der Kabine anbetraf … nun, immerhin war dies ein Schnarchflug. Die anderen Passagiere schliefen wahrscheinlich.
Alle? fragte der besorgte Teil ihres Verstands zweifelnd. ALLE schlafen? Kann das sein?
Dann fiel ihr die Antwort ein: der Film. Die wach waren, sahen den Film. Logisch.
Ein Gefühl fast greifbarer Erleichterung überkam sie. Tante Vicky hatte ihr gesagt, Billy Crystal und Meg Ryan spielten in Harry und Sally, und den wollte sie sich auch ansehen … wenn sie so lange wach bleiben konnte, hieß das.
Dinah strich sanft mit der Hand über den Sitz ihrer Tante und tastete nach den Kopfhörern, aber sie waren nicht da. Statt dessen berührten ihre Finger ein Taschenbuch. Zweifellos einer der Liebesromane, die Tante Vicky so gerne las – Geschichten aus der Zeit, als Männer noch Männer und Frauen noch keine Männer waren, wie sie diese Romane immer beschrieb.
Dinahs Finger wanderten ein Stückchen weiter und fanden noch etwas anderes – glattes, fein gemustertes Leder. Einen Moment später fand sie den Reißverschluß, dann den Riemen.
Es war Tante Vickys Handtasche.
Dinahs Unbehagen kehrte zurück, dieses Mal doppelt und dreifach. Die Kopfhörer lagen nicht auf Tante Vickys Sitz, aber ihre Handtasche. Sämtliche Travellerschecks, abgesehen von einem Zwanziger, der tief in Dinahs eigener Handtasche vergraben war, befanden sich darin – das wußte Dinah, weil sie gehört hatte, wie sich Mom und Tante Vicky darüber unterhalten hatten, bevor sie das Haus in Pasadena verließen.
Würde Tante Vicky auf die Toilette gehen und die Handtasche auf dem Sitz liegenlassen? Würde sie das machen, wo ihre Reisebegleitung nicht nur zehn war, nicht nur schlief, sondern obendrein blind war?
Dinah konnte es nicht glauben.
Gib deine Angst nicht auf… aber ergib dich ihr auch nicht. Sitz still und versuch, ihr mit Vernunft beizukommen.
Aber der leere Sitz gefiel ihr nicht, ebensowenig wie die Stille im Flugzeug. Es kam ihr vollkommen logisch vor, daß die meisten Leute schliefen und die Wachen versuchten, aus Rücksicht auf die anderen so leise wie möglich zu sein, aber es gefiel ihr trotzdem nicht. Ein Tier, eines mit außerordentlich scharfen Zähne und Krallen, wachte auf und fing in ihrem Kopf an zu fauchen. Sie kannte den Namen dieses Tieres; er war Panik, und wenn sie diese nicht rasch unter Kontrolle bekam, machte sie vielleicht etwas, das sie selbst und auch Tante Vicky in Verlegenheit brachte.
Wenn ich sehen kann, wenn die Ärzte in Boston meine Augen operiert haben, muß ich nicht mehr solche Dummheiten mitmachen.
Das war zweifellos richtig, aber es war ihr jetzt überhaupt keine Hilfe.
Plötzlich fiel Dinah ein, als sie sich gesetzt hatten, hatte Tante Vicky ihre Hand genommen, alle Finger außer dem Zeigefinger gefaltet und diesen einen Finger dann zur Seite des Sitzes geführt. Dort waren die Kontrollen – nur ein paar, leicht und einfach zu merken. Da waren zwei kleine Räder für die Kopfhörer – eines wählte die verschiedenen Kanäle, das andere stellte die Lautstärke ein. Der kleine rechteckige Schalter war für das Licht über ihrem Sitz. Den brauchst du nicht, hatte Tante Vicky mit einem Lächeln in der Stimme gesagt. Jedenfalls noch nicht. Der letzte war ein quadratischer Knopf – wenn man den drückte kam die Stewardeß.
Jetzt berührten Dinahs Finger diesen Knopf und strichen behutsam über die leicht konvexe Oberfläche.
Will ich das wirklich? fragte sie sich und bekam unverzüglich Antwort: Ja, ich will.
Sie drückte den Knopf und hörte ein leises Klingeln. Dann wartete sie.
Niemand kam.
Nur das leise, scheinbar ewige Flüstern des Antriebs war zu hören. Niemand sagte etwas. Niemand lachte. (Der Film ist wohl doch nicht so komisch, wie Tante Vicky gemeint hat, dachte Dinah.) Niemand hustete. Der Sitz neben ihr, der Sitz von Tante Vicky, war immer noch leer, und keine Stewardeß mit einem beruhigenden Geruch nach Parfüm, Shampoo und Make-up beugte sich über sie und fragte Dinah, ob sie ihr etwas bringen konnte – einen Snack oder vielleicht ein Glas Wasser.
Nur das konstante, leise Dröhnen der Turbinen.
Das Paniktier tobte lauter denn je. Um dagegen anzukämpfen, konzentrierte sich Dinah auf ihre Radar-Einrichtung und versuchte, eine unsichtbare Sonde daraus zu machen, mit der sie von ihrem Sitz in der Mitte der Kabine aus vortasten konnte. Darin war sie gut, manchmal, wenn sie sich besonders konzentrierte, glaubte sie fast, durch die Augen von anderen sehen zu können. Wenn sie ausreichend angestrengt daran dachte, es ausreichend angestrengt wollte. Einmal hatte sie Mig Lee von diesem Gefühl erzählt, und Mig Lees Antwort war ungewöhnlich schneidend ausgefallen. Mit den Augen anderer zu sehen, ist ein gelegentliches Hirngespinst von Blinden, hatte sie gesagt. Besonders von blinden Kindern. Mach nie den Fehler, dich auf dieses Gefühl zu verlassen, sonst wirst du eines Tages eine Treppe herunterfallen oder vor ein Auto treten.
Also hatte sie die Versuche aufgegeben, ›mit den Augen anderer zu sehen‹, und die paarmal, wenn sich das Gefühl wieder über sie schlich – daß sie die Welt sah, schemenhaft und wabernd durch die Augen ihrer Mutter oder die von Tante Vicky -, hatte sie versucht, es loszuwerden … wie ein Mensch, der Angst hat, den Verstand zu verlieren, das Murmeln von Geisterstimmen verdrängen will. Aber jetzt hatte sie Angst, und deshalb tastete sie nach anderen, fühlte nach anderen und fand sie nicht.
Das Entsetzen in ihr war jetzt ziemlich groß, das Paniktier heulte lauter denn je. Sie spürte, wie ihr das Weinen im Hals hochstieg, und biß die Zähne zusammen. Denn es würde nicht als Weinen oder Schluchzen herauskommen, wenn sie es herausließ, würde es wie der Schrei einer Feuersirene aus ihrem Mund kommen.
Ich werde nicht schreien, sagte sie sich nachdrücklich. Ich werde nicht schreien und Tante Vicky in Verlegenheit bringen. Ich werde nicht schreien und alle aufwecken, die schlafen, und alle erschrecken, die wach sind, so daß alle gelaufen kommen und sagen, seht euch nur das ängstliche kleine Mädchen an, seht euch nur das ängstliche kleine blinde Mädchen an.
Aber jetzt verstärkte dieser Radar-Sinn – der Teil in ihr, der alle möglichen vagen Sinneswahrnehmungen aufgriff und manchmal tatsächlich durch die Augen von anderen zu sehen schien (einerlei, was Miß Lee sagte) – ihre Angst noch, statt sie zu zerstreuen.
Denn dieser Sinn verriet ihr, daß sich niemand im Kreis seiner Reichweite aufhielt.
Überhaupt niemand.

4

Brian Engle hatte einen schlimmen Alptraum. Darin war er wieder Pilot des Flugs Nr. 7 von Tokio nach L. A., aber dieses Mal war das Leck viel schlimmer. Im Cockpit herrschte greifbare Untergangsstimmung; Steve Searles, der Navigator, weinte, während er eine dänische Gebäckrolle aß.
Wenn du so beunruhigt bist, wie kannst du dann essen? fragte Brian. Ein schrilles Teekesselpfeifen erfüllte das Cockpit – das Geräusch des Lecks, das den Druckabfall verursachte, vermutete er. Das war selbstverständlich albern; Lecks waren fast immer lautlos, bis der Zusammenbruch erfolgte, aber er schätzte, daß in Träumen alles möglich war.
Weil ich diese Dinger heiß und innig liebe und nie wieder eins essen werde, sagte Steve und schluchzte mehr denn je.
Dann hörte das schrille Pfeifen unvermittelt auf. Eine lächelnde, erleichterte Stewardeß – es handelte sich tatsächlich um Melanie Trevor – kam zu ihm und berichtete, daß das Leck gefunden und abgedichtet worden war. Brian stand auf und folgte ihr durch das Flugzeug zur Hauptkabine, wo Anne Quinlan Engle, seine Exfrau, in einem kleinen Alkoven stand, in dem die Sitze entfernt worden waren. Auf das Fenster neben ihr war der rätselhafte und irgendwie geheimnisvolle Satz NUR FÜR STERNSCHNUPPEN geschrieben. Er war in Rot geschrieben, der Farbe der Gefahr.
Anne trug die dunkelgrüne Uniform einer Stewardeß von American Pride, was seltsam war – sie war Werbegrafikerin und hatte eine Agentur in Boston, und sie hatte die Stewardessen, mit denen ihr Mann flog, stets mit einer gerümpften, schmalen Aristokratennase betrachtet. Sie hatte die Hand auf einen Riß in der Hülle gedrückt.
Siehst du, Liebling? sagte sie stolz. Es ist für alles gesorgt. Es macht nicht einmal etwas, daß du mich geschlagen hast. Ich habe dir verziehen.
Mach das nicht, Anne! schrie er, aber es war bereits zu spät. Eine Falte tauchte in ihrem Handrücken auf, die die Form des Risses in der Hülle nachahmte. Sie wurde tiefer, als der Druckunterschied ihre Hand unbarmherzig nach draußen zog. Ihr Mittelfinger verschwand als erster, dann der Ringfinger, schließlich der Zeigefinger und zuletzt der kleine. Es folgte ein leises Plop, wie von einem Champagnerkorken, den ein übereifriger Kellner zieht, und ihre ganze Hand wurde durch den Riß im Flugzeug gezogen.
Dennoch lächelte Anne weiter.
Es ist L’Envoi, Liebling, sagte sie, während ihr Arm zu verschwinden anfing. Ihr Haar löste sich aus der Spange, die es nach hinten hielt, und wehte wie eine nebulöse Wolke um ihren Kopf.
Das habe ich immer aufgelegt, erinnerst du dich nicht mehr?

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Der Titel erschien bereits im Heyne Taschenbuch
 
Taschenbuchausgabe 10/2005
Copyright © 1990 by Stephen King
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Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich unter Verwendung einer Illustration von (c) Anja Filler
eISBN : 978-3-641-03286-9V003
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