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Gated Communitys, Prepper und freikirchliche Prediger. Ein schwindelerregender Roman über die Zukunft, in der wir längst leben. Die Sicherheitsvorkehrungen in Nordelta wurden erhöht. Reiterstaffeln patrouillieren durch die Straßen, die Wachmänner tragen letale Waffen. Seit zehn Jahren wohnt Pelusa mit ihrer Familie in der Gated Community nördlich von Buenos Aires. Nach ihrer Zeit in den Anden genießt sie das sichere Zusammenleben mit den freundlichen Nachbarn. Doch als gewaltsame Unruhen Nordelta zu erreichen drohen, entwickelt sich unter den Bewohnern ein Klima der Angst. Während Pelusas Mann Hector vom Bau unterirdischer Bunker träumt, hat ihr Sohn Henny längst Pläne für eine Mondbasis zur Rettung der Menschheit entworfen. In seinem Debütroman beschreibt Juan S. Guse eine Gesellschaft in Alarmbereitschaft und erzählt von Orten der Leere und Hysterie, in denen die Lebensentwürfe seiner Figuren zu scheitern drohen.
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Seitenzahl: 367
Juan S. Guse
Lärm und Wälder
Roman
FISCHER E-Books
Man fürchtet sich nie genug.
L.F. Céline
Es ist ein heißer Tag, der die Dinge durchsichtig und unfassbar klar erscheinen lässt, ein Tag wie eine Erinnerung, die mit einem Mal aus unendlicher Tiefe steigt, als Pelusa sich in großer Eile von den Mitgliedern der Joyce Meyer Ministries Gemeinde verabschiedet, in ihren Wagen springt und losfährt.
Der Asphalt der vierspurigen Hauptstraße, die zu den Eingangstoren der Nachbarschaften West führt, ist weltallschwarz und die Fahrbahnmarkierung leuchtend gelb. Die Luftspiegelungen über der Straße vermitteln den Eindruck großer Löcher, die in ein unbekanntes, diesiges Nichts führen. Die Hitze macht die Reifen weich und geschmeidig. Es herrscht eine unbeschreibliche Ruhe, obwohl gerade einige Gärtner ihre Rasenmäher über den Grasstreifen zwischen den beiden Fahrbahnen schieben, auf dem sich Bäume in regelmäßigen Abständen abwechseln – Palme, Akazie, Palme, Akazie. Vorbei an zahlreichen teureren Nachbarschaften fährt Pelusa bis an den äußersten Rand von Nordelta, wo ihre Nachbarschaft La Lansia liegt.
Pelusa kratzt sich hinterm Ohr. Eigentlich hat sie es eilig, doch das Tempolimit verbietet es ihr, schneller zu fahren, während auf dem Radweg neben der Straße eine Gruppe drahtiger alter Männer auf Rennrädern Kolonne fährt. Sie tragen kontrasterhöhende Sportsonnenbrillen und haben dunkelbraune, straff gespannte Haut. Der Hinterste greift nach der in einer Halterung am Rahmen befestigten Trinkflasche, richtet sich auf und spritzt sich freihändig fahrend blaue Flüssigkeit in den offenen Mund. Sie alle ziehen an Pelusas Fenster vorbei und verschwinden im Rückspiegel. Pelusa fährt genau achtzig. Auf der Straße sind nur wenige Autos. Sie überholt niemanden und niemand überholt sie. Alle Wagen treiben die Straße hinunter. Alle treiben gleichzeitig.
Sie fährt von der Hauptstraße ab und auf ihre Nachbarschaft zu, die hinter dem neoklassischen Eingangstor beginnt. Im Glashäuschen des Eingangstores sitzen die Wachmänner in ihren schwarzen Hosen, mit ihren Lackschuhen, ihren weißen Hemden, den goldenen Ansteckern in Form einer im Wind flatternden Flagge, den Sonnenbrillen und den Kappen, auf denen in Serifenschrift NORDELTA steht. Vor ihnen die Monitore.
Pelusa hält ihren Bewohnerausweis über die mattgraue Magnetfläche und grüßt das Personal. Ihre Angst davor, das grüne Licht nicht aufleuchten zu sehen, wird sie vermutlich nie ablegen können. Jedes Mal tagträumt sie davon, einen Alarm auszulösen, und sieht sich schon von bewaffneten Wachmännern umstellt, die sie an den Haaren aus dem Wagen zerren und ihr mit Knüppeln ins Gesicht schlagen. Doch nichts ertönt; lautlos hebt sich die Schranke. Mit dem Zucken ihres Handgelenks richtet sie eine abschließende Geste des Grußes an die jungen Wachmänner und drückt leicht auf das Gaspedal, so dass der Wagen sanft anrollt und man nur am hypnotischen Schwingen des kleinen Holzkreuzes, das vom Rückspiegel herabhängt, erkennen kann, dass sich der Wagen in Bewegung gesetzt hat. Denn gleich, gleich nach dem Passieren des Eingangstors liest man auf einem gelben Schild, dass es innerhalb der Nachbarschaften verboten ist, schneller als zehn Kilometer pro Stunde zu fahren, und das weiß hier jeder.
Die Nachbarschaft ist weitläufig und voller im Bau befindlicher Häuser, dazwischen satte Grünflächen, umkränzt von mehreren elektrifizierten Zäunen. Der Himmel ist ohne eine einzige Wolke. Nur die vier aufgereihten und in der Distanz liegenden Schlote des städtischen Heizkraftwerkes touchieren ihn wie ein vorsichtig ins Wasser gehaltener Zeh. Wenige Meter nach dem Eingangstor windet sich die Straße um ein rundes Stück Wiese, auf dem drei identische Palmen stehen. Der Kreisel markiert den Nabel von La Lansia, von ihm aus spreizt sich die Straße in drei Richtungen auf und zieht sich entlang der künstlich angelegten Seen ins Innere der Nachbarschaft. Es gibt keine Geraden, keine Kreuzungen oder Straßennamen. Stattdessen geht die Straße überall fließend in sich selbst über wie ein verworrenes Knäuel, eine sich selbst verschlingende Schlange. Die breiten Bordsteinkanten aus hellem Sandstein grenzen den Asphalt unmissverständlich von den Grünflächen ab, auf denen die Sprinkleranlagen, die während dieses unsäglich heißen Sommers fast permanent ausgefahren sind, im Takt ihre schwarzen Köpfe winden. Und an den Straßenrändern stehen die Bäume, die billardgrünen Laternen und die geschwungenen Bänke. Einen Gehweg gibt es nicht.
Pelusa drückt sich in das Schaumstoffpolster ihres Sitzes. Das Lenkrad ist überzogen mit einem dünnen Schweißfilm und ihr linker Fuß tippt nervös gegen das Gaspedal. Sie weiß, dass sie sich beeilen muss. Ihre Haushälterin hat derart hysterisch am Telefon geweint, dass Pelusa sie zunächst kaum verstanden hat. Pelusa ist dann inmitten der Gemeindesitzung aufgestanden und hat sich bei allen Anwesenden entschuldigt: Sie müsse für heute Schluss machen. Es gehe nicht anders. Ihr Hund scheine im Sterben zu liegen und ihre junge Haushälterin Anita würde gerade durchdrehen, weil sie nicht wisse, was zu tun sei. Die Gemeindemitglieder sollten einfach ohne sie die Vorbereitungen für die Eröffnungsfeier des Gemeindezentrums weiterplanen – morgen sei sie ja wieder dabei, in jedem Fall.
Sie sieht aus dem Fenster. Der mit Holz umfasste See, der sich gallertartig durch das Areal verteilt, ist dunkelblau. Ein Vater treibt mit seinem Sohn in einem Kajak in der Mitte des Sees. Entspannt lassen sie ihre Paddel durchhängen, während gefährlich nah eine der gigantischen Schwarz-Enten über der Wasseroberfläche schwebt, mit beängstigend laut flatternden Flügeln landet und das Boot fast zum Kentern bringt. Beim Anblick der beiden muss Pelusa an ihre Familie denken, an Hector, der gerade auf einem Outdoor-Firmenausflug ist, an ihren jüngeren Sohn Ignacio, wie er in diesem Moment wohl noch Tennis mit einem Schulkameraden spielt, und an ihren älteren Sohn Henny, dessen deformierte Gestalt sie in ihren Träumen verfolgt. Sie sieht sie alle in diesem Boot sitzen und das Wetter ist schön.
Ein strahlend weißer Caddy überholt Pelusa mit einem Hupen. Es ist der Sicherheitsdienst, der durch die Nachbarschaft patrouilliert. Ein Wachmann lenkt das Gefährt, während ein zweiter Ausschau nach Verdächtigem hält – herrenloser Abfall, offenstehende Garagen, defekte Sprinkleranlagen. Erst kürzlich hat die Verwaltung abermals das Aufgebot des Sicherheitspersonals erhöht. Grund dafür sind die sich häufenden Unruhen in Stadtvierteln südlich von Nordelta, wo bereits Supermärkte geplündert, Viehtransporte überfallen, Kläranlagen vergiftet, wiederholt Autobahnen mit brennenden Reifen blockiert und sogar Polizisten ermordet worden seien. Zusätzlich orderte man eine prächtige Reiterstaffel, die Pelusa noch immer jedes Mal, wenn sie sie zufällig durch La Lansia oder das kommerzielle Zentrum traben sieht, überrascht wie eine Halluzination.
Pelusa hat das Gefühl, alles um sie herum sei auf eine Weise unmissverständlich – die glänzenden Solarpanels auf den Dächern der Nachbarn, die überall sitzenden, unzähligen kleinen Eulen, die ihr Vorbeifahren gelangweilt beobachten, der junge Lieferant, der Plastiktüten voller Lebensmittel zu einem der Häuser trägt, und der Briefträger, der gerade die Post bei Familie Benedetti einwirft. Und schon zu dieser Tageszeit steigt Rauch vom Grillplatz des Clubhauses auf und über die Hecken hinweg kann Pelusa Mütter auf Liegen lesen oder – die Gelegenheit nutzend, allein im Haus zu sein – die aufblasbaren Orcas und Krokodile aus dem Pool fischen und einige wenige Bahnen schwimmen sehen.
Schließlich erreicht sie ihr Haus, in dem sie seit zehn Jahren lebt. Es ist weiß und breit und hat ein flaches schwarzes Dach. Unmittelbar vor dem Haus schlägt sich eine kleine gepflasterte Einfahrt in Form eines Bogens auf, die ländlichen Anwesen nachempfunden ist. Darauf passt lediglich ein Wagen, aber Pelusa mag die Geste und wie im Bogen selbst ein netter Baum steht. Sie bremst nicht abrupt, sondern sachte, während ihr Nachbar gerade unbeholfen mit gestreckten Armen in seinen Pool eintaucht.
Das Wohnzimmer ist leer und hell erleuchtet. Auf den großen weißen Fliesen liegen die Splitter eines fallen gelassenen Tellers, daneben ein Haufen frisch zubereiteter Pasta, von dem aus sich Spritzer von Tomatensauce auf Sitzpolster, Tisch- und Stuhlbeine verteilen, was Pelusa an Bilder von Autounfallopfern erinnert. Trotzdem ist der Raum geruchlos. Die Katze hockt vor dem Fliegengitter der Schiebetür, die zur Terrasse führt, starrt hinaus und miaut. Sie hat – anders als sonst – Pelusas Ankunft überhaupt nicht bemerkt. Pelusa legt ihre Handtasche auf dem massiven Esstisch ab. Vorsichtig schiebt sie die Katze mit ihrem Fuß beiseite und tritt auf die Terrasse. Dort sieht sie ihre Haushälterin Anita auf dem Boden knien.
»Gott sei Dank, Sie sind da.«
Ihr Gesicht erschreckt Pelusa. Sie hat ekelhafte rote Flecken um die Augen, Äderchen sind geplatzt und ihre Haut ist bleich wie Papier. Sie muss schon seit über einer Stunde weinen und sieht aus, als würde sie sich jeden Augenblick übergeben. Anita trägt ihre Arbeitskleidung. Sie steht auf und umarmt Pelusa, wobei ihr noch mehr Tränen kommen. Ihr Hals riecht nach Limetten und Scheuermilch und ihr fleischiger Körper ist warm.
»So geht das schon die ganze Zeit. Die Katze hat so komisch geweint, da habe ich nachgesehen und er machte diese merkwürdigen Geräusche und konnte nicht mehr aufstehen. Ich glaube, er stirbt, Señora.«
Erst jetzt bemerkt Pelusa, dass es auf der Terrasse widerlich stinkt. An Anita vorbei sieht sie den Hund auf der Seite liegen. Buzz ist ein großes und wohlgenährtes Tier mit unter dem Kinn etwas grauem, sonst extrem goldenem Fell, das zum warmen Beige der Terrassenfliesen passt. Nur die Eiterkruste über seinem Auge verrät sein absurd hohes Alter von über hundertzwölf Menschenjahren. Er ist schon lange hochgradig inkontinent, weshalb sie ihn das letzte Jahr über praktisch nie im Haus haben konnten, außerdem fast taub, nahezu blind und dement genug, um sich selbst im kleinen quadratischen Garten zu verlaufen, panisch gegen einen Stuhl zu rennen oder einfach umzufallen. Einmal stand er nachts knietief auf einer der oberen Stufen des Pools im Wasser und bellte desorientiert um Hilfe, bis Pelusa und Hector ihn befreiten und gemeinsam aus dem Wasser hoben. Schließlich schlug ihm die Arthritis vor einem Jahr eines seiner Hinterbeine lahm, so dass er nur noch im Garten sein Geschäft erledigen konnte. Buzz stand seitdem immer aus seinem Bastkorb auf, humpelte einige Meter in den Garten, drehte eine kleine Runde, um dann, unter größten Anstrengungen, sein Becken etwas herunterzusenken, so dass ihm die Hinterbeine klapperten, und mit leerem Blick und offenem Maul sein Geschäft zu verrichten, um dann endlich völlig erschöpft auf die Terrasse zuzugehen und sich in seinen Korb zu werfen oder gleich ins Gras. Hector und Pelusa versuchten, sich davon nicht runterziehen zu lassen, halfen Buzz beim Aufstehen, liefen sogar neben ihm her und feuerten ihn manchmal mit Applaus und Fangesängen an.
Dieser einzigartige Labrador, den sie bei einem Züchter gekauft haben, um Pelusa die Angst vor Hunden zu nehmen, und der zu einem festen Bestandteil ihres Lebens wurde, so ein guter und lieber Hund, derart treu, dass man ihn früher nicht mit in den Urlaub ans Meer nehmen konnte, weil er einem, sobald man ins Wasser ging, sofort hinterherhechtete, am Arm packte und aus den Wellen zog, weil er dachte, ein Familienmitglied schwebe in Lebensgefahr, dieser beste aller möglichen Hunde liegt jetzt auf der Seite, wimmert und sieht mit glasigen Augen in den Garten.
Pelusa bückt sich zu ihm runter. Als sie Buzz streichelt, hebt er den Kopf und versucht sie anzusehen. Dann beginnt er plötzlich zu zucken. Aus seinem Hinterleib kommt Kot, den er mit seinem unkontrollierten Schwanzwedeln auf der Terrasse verreibt.
»Schon wieder, er hat es schon wieder gemacht«, kreischt Anita und holt etwas Küchenpapier, um es aufzuwischen, während Pelusa versucht, Buzz wieder zu beruhigen.
Die Zunge kann er noch im Maul halten, aber seine Atmung wirkt willkürlich und mit dem nichtlahmen Hinterbein kratzt er spastisch über die rauen Fliesen, als würde er davon träumen, vor etwas wegzurennen oder einem seiner Gummispielzeuge, deren Quietschen die Todesschreie der künstlichen Beute imitiert, hinterherzuhecheln.
Pelusa hält ihm ihre Hand dicht vor die Nase, damit er weiß, sie ist jetzt da, die Frau, die ihn großgezogen hat und ernährt, deren Gerüche er unter Tausenden Menschen wiedererkennen würde, deren Haus er sein ganzes Leben lang beschützt, deren Kinder er selbst auf dem Rücken getragen hat, deren Angst er spürte und deshalb, wann immer diese Frau ihm Futter in den Napf gab, darauf wartete, dass sie ihre Hand entfernte, ehe er zu essen begann, diese Frau ist jetzt da, sie streichelt seine Kopfhaut, massiert seinen Unterkiefer.
»Hast du den Tierarzt angerufen?«
»Der ist nicht erreichbar.«
»Es ist alles in Ordnung, Buzz«, wiederholt Pelusa, »schsch, das kommt vor, schhh, das wird schon«, sagt sie, er solle nur wach bleiben, dann wieder: »Es ist o.k., du kannst kurz schlafen.«
Der Darm schaut bereits hervor. Er ist leicht vertrocknet und weiß und presst sich langsam Stück für Stück aus dem Leib heraus, als wäre er die Seele des Hundes, die dem sterbenden Körper entfliehen will.
»Er verliert seine Gedärme! Die Jungs werden das nicht ertragen«, weint Anita.
»Henny hat Physio bis sechs, Ignacio spielt gerade Tennis.«
»Sollen wir sie holen?«
»Schau ihn dir doch mal an!«
Buzz röchelt jetzt. Pelusa geht ins Wohnzimmer und holt ein Sitzkissen, um es ihm unter den Kopf zu legen.
»Wir könnten ihn in mein Auto bringen und zum Arzt fahren.«
Pelusa dreht sich zu ihrer Haushälterin, sie zuckt mit den Schultern, während sich bei Anita schon wieder neue Tränen sammeln. Buzz versucht indes aufzustehen und zu bellen. Sofort beugen sich beide Frauen wieder zu ihm, berühren ihn mit den Händen an Kopf, Hals und Flanke, am ganzen Körper, bis er sich wieder beruhigt.
»Hector ist noch auf einem Firmenausflug.«
»Können wir denn nichts tun?«
Anitas Körperhaltung ist eine große Kapitulation. Auch Pelusa steigen jetzt Tränen in die Augen. Sie hat Angst. Buzz wird sterben. Was das heißen kann, dass der Hund sterben wird, fragt sich Pelusa, das muss doch etwas heißen. Sie richtet sich auf, versucht, die ganze Klarheit des Moments aufzunehmen, die heiße Luft des Tages und das, was er birgt, während sie über den Zaun hinweg den Pooljungen mit großer Gelassenheit das Becken der Nachbarn ausbürsten sieht. Gleich wird er bei ihnen klingeln. Anita wird sich zusammenreißen müssen und er, der Pooljunge, wird Chlortabletten aus seinem Beutel hervorholen, den Boden des Beckens mit seiner Maschine absaugen, die Wände bürsten, einen Termin für kommende Woche ausmachen, sein Trinkgeld bekommen und weitergehen zum nächsten Haus.
Vom Beben der hinter den grauen Betonwänden vorbeirauschenden U-Bahn fängt das zwecklos auf dem Armaturenbrett gesammelte Kleingeld an zu springen. Hector legt seine flache Hand darauf, hält die Münzen still, bis das Rattern der tonnenschweren Waggons auf den uralten Gleisen verschwunden und die Tiefgarage wieder in Stille gehüllt ist. Er ist müde, er hat schlecht geschlafen. Die ganze Nacht über meinte er jemanden im Erdgeschoss herumlaufen zu hören, nicht Henny oder so, sondern einen Einbrecher, einen richtigen Einbrecher. Unruhig war er mehrfach mit seinem Leatherman bewaffnet aufgestanden, durch das Haus gelaufen und hatte alle Schranktüren geöffnet, bis Pelusa ihn fragte, was um alles in der Welt er da mache.
Noch bevor der Tag wirklich begonnen hat, steigt bereits warmer Dampf von seinen Achseln auf. Die eigene Nervosität widert ihn an und er verspürt plötzlich nicht mehr genug Kraft, um das Auto zu verlassen. Lieber würde er sitzen bleiben, sich wieder anschnallen und einfach nach Nordelta zurückfahren. Aber es muss weitergehen, sagt er sich, es muss ja immer weitergehen, und nimmt sich vor, gleich noch einen Kaffee vom Automaten zu trinken.
Es ist kurz vor sieben, als er seinen Wagen verlässt, ihn abschließt und durch die Tiefgarage zum Aufzug läuft, der ihn in sein Büro bringt.
Mit jedem Halt des Aufzugs steigen ihm unbekannte Menschen ein. Paketlieferanten, Reinigungskräfte, Frauen und Männer in bunten Anzügen. Manche von ihnen tuscheln etwas. Ihre leisen Stimmen beengen die kleine Kabine. Worüber sprechen sie? Unruhig wendet Hector seinen Kopf hin und her und versucht, ihr gespenstisches Flüstern zu verstehen, doch kann er ihren Worten nicht folgen, nicht nachvollziehen, wo eins endet und das nächste beginnt. Also lehnt er sich mit seinem Oberkörper vorsichtig zu ihnen, bis er aus Versehen, vielleicht aus Müdigkeit, das Gleichgewicht verliert und mit der Brust gegen die Schulter einer Frau in einem roten Blazer fällt, die sich sichtlich erschreckt und augenblicklich, fast willkürlich den Fahrstuhl durch die sich gerade wieder öffnende Tür verlässt.
Im obersten Stockwerk steigt er alleine aus. Das Klingeln der Telefone, das Fiepen der Faxmaschinen, die Gespräche der Kollegen und das Gesicht der Rezeptionistin. Hector geht sofort in sein Büro, das sich hinter milchigem Glas verbirgt, legt seine Tasche ab, fährt den Computer hoch und wirft sich in den Bürosessel.
Auf seinem Schreibtisch stehen Bilder seiner Familie. Eines davon zeigt ihn und den noch winzigen Ignacio dabei, wie sie Hand in Hand über eine löchrige Hängebrücke laufen. Sie tragen lilafarbene Windjacken und stechen deutlich aus der steinigen Landschaft heraus. Früher war Ignacio bei den Pfadfindern und brachte ständig neue Abzeichen und Lieder nach Hause, erkundete mit Hector die Sümpfe des Tigre-Deltas und zeltete mit ihm im Garten. Wie lange ist es her, dass er mit seinem Sohn einen solchen Ausflug in der Natur gemacht hat? Jetzt ist er zehn. Bald wird er keine Lust mehr haben, mit seinem Vater zu zelten und zu wandern. Vielleicht würde das alles nie wiederkommen.
Es gab in diesem Jahr zumindest einen Moment, in dem Hector das Gefühl hatte, die beiden teilten noch immer auf irgendeine Weise ein gemeinsames Interesse. Er sah Ignacio in seinem Zimmer ein Videospiel spielen und fragte ihn, worum es darin gehe. Ignacio erklärte, dass das Spiel Die Verweigerung der Angst heiße. Zu Beginn stürzt der Spieler mit dem Flugzeug ab und findet sich als Überlebender in einer scheinbar menschenleeren Welt wieder. Der Spieler muss nun versuchen, in ihr zu überleben, einen Unterschlupf finden, sich Nahrung zubereiten und dergleichen. Ignacio zeigte Hector daraufhin das Holzhaus, das er selbst gebaut hatte und in dem er seine Sachen lagerte; gefundene Koffer anderer Passagiere, aber auch Zweige, spitze Steine und Eimer voller Wasser. Um das Haus herum hatte er einige Fallen aufgestellt. Ob man im Verlauf des Spieles auf weitere Überlebende des Absturzes trifft, wusste Ignacio nicht. Von einem Freund hatte er aber erfahren, dass es noch andere menschenähnliche Lebewesen gibt, die den Spieler allerdings sofort angreifen. Er habe mittlerweile auch selbst einmal einen Trupp dieser Wesen aus der Entfernung durch den Wald laufen sehen, sich aber bis jetzt nicht getraut, sich ihnen zu nähern oder ihnen gar zu folgen, da der Tod in diesem Spiel permanent sei und alle Speicherstände danach gelöscht würden.
In dieser Viertelstunde, in der Ignacio seinen Vater herumführte, ihm den Strand zeigte und mit einem primitiven Holzspeer Fische fing und sogleich über einem Lagerfeuer briet, da spürte Hector noch einmal diese Verbundenheit zwischen ihnen und er wäre sofort am liebsten mit dem Auto aufgebrochen, um mit Ignacio irgendetwas zu erleben.
In seinem Postfach findet Hector eine E-Mail von Alvaro Leñero mit dem Betreff Es regnete nicht, als Noah die Arche baute!!. Ihr angehängt sind von Alvaro gezeichnete Konstruktionsskizzen. In der E-Mail erklärt er, dass ihm ein Umbau des alten Bauernhauses in etwa dieser Form vorschwebe und er sich schon freue, Hector endlich sein Bug-Out-Haus zu zeigen und mit ihm daran Hand anzulegen. Für einen Moment überlegt Hector, ob er wohl irgendwann einmal, vielleicht beim nächsten Wochenende, Ignacio mitnehmen könnte. Er öffnet die angehängten Dateien, doch ein wirkliches Bild der geplanten Umbauten kann er sich mit den Skizzen nicht machen. Die meisten sehen aus, als wäre ein Sprengkopf in einer unscharf gezeichneten Bleistiftlandschaft aus geometrischen Figuren detoniert, in der nun ein Krater klafft.
Gerade als Hector eine Antwort tippen will, ertönt plötzlich ein ihm unbekannter schriller Alarm. Hectors Körper versteinert. Der Lärm der Sirenen umschlingt ihn wie ein Würgegriff. Dann ist er hellwach, klar und bereit. Hinter dem milchigen Glas seines Büros huschen Schatten vorbei. Stimmen auf dem Flur. Hector schiebt die Lamellen der Jalousie beiseite, doch auf der Straße ist nichts zu erkennen. Im Büro nebenan fällt ein Stuhl um. Vielleicht kommt es doch schneller als erwartet, der große Aufstand, die Eskalation der Gewalt. Hat er etwas auf der Hinfahrt im Radio überhört? Eine Nachricht, eine Durchsage der Behörden, die Kapitulation der Polizeikräfte? Er versucht, sich an die vielen Listen, die er und Alvaro zusammen angelegt haben, zu erinnern und an die Pläne, wie man sich zu verhalten hat, was als Erstes zu tun ist. Er fragt sich: Würde er überleben, wenn er das Gebäude jetzt unbewaffnet verließe? Wo ist die nächste U-Bahn-Station, die nächste Kaserne? Und wie viel Tage kann ein Mensch ohne Trinkwasser überleben? Er platzt fast vor Selbsthass, als ihm einfällt, dass er seinen Bug-Out-Rucksack und sein Everyday Carry mit seinem Leatherman im Auto hat liegenlassen. Anfängerfehler. Er muss sofort Alvaro anrufen, seine Familie warnen. Hierbleiben kann er nicht, womöglich brennt das Gebäude schon. Aber wenn die Straßen blockiert oder sogar umkämpft sind, wird er kaum die Stadt verlassen können. Zu Fuß bräuchte er mehr als einen Tag bis nach Nordelta. Er braucht also einen Unterschlupf in der Stadt und ihm fällt ein, dass es in seiner Abteilung jemanden gibt, der in einer benachbarten Community lebt. Sie könnten gemeinsam aufbrechen, sich von Haus zu Haus durch die Straßen der Innenstadt schlagen, abwechselnd Wache halten, wenn der andere schläft, und sich gegenseitig verarzten. Doch Hector will gerade ums Verrecken nicht einfallen, wie man einen offenen Bruch behandelt, ob man als Erstes die innere Blutung stoppen oder den Knochen wieder in seine Position hebeln muss, ja, die Frage treibt ihn regelrecht in den Wahnsinn, alle Dinge scheinen so verworren und er fürchtet auf einmal, mehr denn je, alles falsch zu machen, wenn er eine klaffende Wunde oder einen sterbenden Menschen behandeln muss. Hektisch greift er nach dem Telefon und wählt die Nummer von zu Hause, als sich auf einmal die Glastür zu seinem Büro öffnet und ein junger Kollege seinen Kopf hereinsteckt und sagt: »Feueralarm!« Mehr sagt er nicht. Dann schließt er wieder die Tür und sein Schatten verschwindet. Hector legt den Hörer beiseite, steht auf, geht zur Tür und tritt in den Flur. Er ist wie leergefegt. Nur der junge Kollege läuft ihn herunter, in Richtung der Aufzüge. Hector folgt ihm und seinen hellbraunen Schuhsohlen, vorbei an den bereits verlassenen Büros der anderen. Die meisten Monitore sind noch angeschaltet, Aktenkoffer und Taschen stehen noch herum. Wie schnell alles gehen kann, denkt Hector, blickt aus dem Fenster und sieht einen Kampfhubschrauber am Gebäude vorbeischweben.
Die Straße vor dem Hochhaus ist blockiert, Polizei- und Rettungsfahrzeuge sind an den beiden anliegenden Kreuzungen aufgestellt, dahinter zieht der umgeleitete Verkehr vorbei. Hunderte Menschen haben sich zu Füßen des Gebäudes versammelt. Manche rauchen, andere telefonieren, stecken die Köpfe zusammen oder blicken fragend die Glasfassade hinauf. Hector steht abseits davon auf der gegenüberliegenden Straßenseite und versucht, sich einen Überblick zu verschaffen.
Ein korpulenter Polizist steigt auf einen Polizeiwagen und spricht durch ein Megafon zu den Menschen. Er könne zu diesem Zeitpunkt noch nichts Genaueres bestätigen, weshalb nach wie vor niemand in das Gebäude dürfe, bis es das endgültige Okay der Feuerwehr gebe, aber es werde vermutet, dass es sich um einen Fehlalarm gehandelt habe. Doch bis zur endgültigen Bestätigung durch die Feuerwehr könne es noch mindestens ein bis zwei Stunden dauern, sagt der Polizist mit dem Megafon und rät allen Anwesenden, einen Kaffee trinken zu gehen.
Die Bürgersteige sind schon am frühen Morgen voller Menschen, die aus Schächten der U-Bahn-Haltestellen zurück an die Oberfläche kommen, auf den nächsten Bus warten, zur Arbeit laufen, sich in Taxen zwängen oder um Geld betteln. Ein Hundesitter führt ein Rudel über die Ampel, hinter sich eine Schneise aus Kot ziehend. Ein zu schnell fahrendes Taxi weicht dem Rudel im letzten Moment aus und fährt einen Fahrradkurier um, der bewusstlos und mit stark verdrehtem Torso auf dem Boden liegen bleibt. Eine Menschentraube bildet sich um den Verwundeten. Hector wendet sich ab.
Es muss ihm gar nicht peinlich sein, sagt er sich, während er den Block runterläuft. Er muss sich nicht dafür schämen, in solche Aufregung geraten zu sein. Im Gegenteil. Der Feueralarm war gewissermaßen sogar für etwas gut. Er hat ihm vor Augen geführt, wie unvorbereitet er eigentlich ist und wie oberflächlich seine Alarmbereitschaft. Es kann einen jeden Moment treffen und wenn man nicht seine Automatismen draufhat und nicht die Ruhe behält, wird man keinen einzigen Tag überleben. Auf eine Weise ist er sogar dankbar und lacht über sich selbst. Wie muss das von außen ausgesehen haben, seine Hilflosigkeit, ein Witz wie bei Charlie Chaplin. Vermutlich wird er noch heute Alvaro sein Missgeschick am Telefon erzählen und sie beide werden rückblickend das Szenario nachstellen, um zu ermitteln, was er im Ernstfall in dieser Situation hätte tun sollen.
Und wenn er sich so umsieht in der Stadt, die Jahr um Jahr älter wird und immer mehr verfällt, fragt er sich, wer denn hier eigentlich die ganzen Stromleitungen austauscht, wer die Tausenden Tunnel der Kanalisation wartet, wie lange noch diese uralten Busse fahren sollen, in die er schon als Kind eingestiegen ist, und warum man die maroden Gebäude nicht endlich abreißt. Und wenn er dann auch noch in die eingestürzten Gesichter der Passanten blickt, denen der Schweiß am ganzen Körper runterläuft, deren Kleidung schon ganz klamm ist und deren Haut abstoßend talgig, wenn er beobachtet, wie sie zusammengedrängt in den Supermärkten der Chinesen Schlange stehen, in den Konditoreien ihre Körbe mit Gebäck füllen oder sich um den Zeitungskiosk an der Ecke sammeln, dann sehen sie alle so aus, als hätten sie eine dreiwöchige Schiffsfahrt in den Tropen, voller Fieber und Infektionen, hinter sich. Und wenn er dann noch die in der Luft liegende Spannung spürt, dann weiß Hector ohne jeden Zweifel, dass etwas Katastrophales aufzieht, von unterhalb der Realität.
Es ist ihm mittlerweile unvorstellbar geworden, hier einmal gelebt zu haben, in einem der alten Hochhäuser, dessen Fahrstuhl nur bis zum achten Stock funktionierte. Eine Zumutung. Das Treppenhaus war schlecht beleuchtet und die Wände trugen noch die schwarzen gewellten Spuren eines Schwelbrandes, der vor vielen Jahren die obersten zwei Stockwerke völlig unbewohnbar gemacht hatte. Nicht einmal der Versuch, das Gebäude wieder in Schuss zu bringen, wurde vom Eigentümer unternommen. Stattdessen blieben die Spuren des Brandes und die beiden obersten Stockwerke gab man als verloren auf. Dort nisteten sich über die Jahre Tausende Papageien ein, wie man sie überall in der Stadt findet. Sie leben in großen Familien und sind zur Plage geworden. Manchmal schweben Hunderte dieser Familien als riesiger grüner Schwarm in den Hochhäuserschluchten und verdecken den Himmel. Es ist nicht klar, woher die Tiere gekommen sind und seit wann sie da sind. Als Kind hatte man Hector erzählt, ein Irrer habe mal seine Wohnung mit unzähligen dieser Papageien geteilt, bis er irgendwann gestorben sei und die Tiere schließlich nach einigen Tagen einen Weg nach draußen gesucht hätten, um neue Nahrung zu finden. Unwahrscheinlich erscheint ihm diese Geschichte heute nicht mehr.
Der Zufall treibt sein zielloses Spazieren an diesem heißen Morgen zu einem Elektronikfachgeschäft. Im Schaufenster wird ein kompakter Gaskühlschrank aus Edelstahl beworben, der auch ohne Strom betrieben werden kann. Hector überlegt:
In ein paar Tagen hat Ignacio Geburtstag, er wird elf Jahre alt. Ein Gaskühlschrank ist immer eine sinnvolle Investition. Er ist um dreißig Prozent heruntergesetzt und verursacht schließlich, wenn man ihn nicht nutzt, keine weiteren Kosten. Er passt ohne Probleme in den Kofferraum und kann neben Gas auch mit zwölf Volt betrieben werden. Er wäre einfach da und man könnte ihn verwenden, wann immer man ihn bräuchte.
Ein Gaskühlschrank ist immer eine sinnvolle Investition.
»Servicehotline Nordelta, mein Name ist David, was kann ich für Sie tun, Frau Leñero?«
»Karmen Leñero aus El Golf. Wir bekommen gleich einen Überraschungsbesuch von einigen Freunden. So in etwa fünf Minuten.«
»Die Namen der Gäste?«
»Juan und Marlen Baston.«
»Ist der Besuch auf heute beschränkt?«
»Ja, auf heute beschränkt.«
»Dann würde ich Sie noch um das Kennzeichen des Wagens und eine Beschreibung des Wagens bitten.«
»Es ist ein weißer Hilux. ISK 174.«
»Vielen Dank, Señora. Ich gebe die Informationen weiter. Kann ich sonst noch irgendetwas für Sie tun?«
»Danke, nein.«
»Bleibt es bei der Reservierung der Plätze für Samstag, sechzehn bis siebzehn Uhr?«
»Ja, dabei bleibt es. Danke.«
»Wie lange ist Ihre Katze Mimi denn schon verschwunden?«
»Servicehotline Nordelta, mein Name ist David, was kann ich für Sie tun, Herr Huerta?«
»Ja, hallo, ich würde gern ein Geschenk in Auftrag geben.«
»Sehr gern.«
»Also– Entschuldigen Sie, ich bin noch etwas durcheinander.«
»Bitte?«
»Ich weiß gar nicht, wie mir das passieren konnte. Wissen Sie, alles fühlte sich so vertraut an, da habe ich nie über eine solche Möglichkeit nachgedacht. Immerhin lebe ich mit meiner Frau seit sieben Jahren in diesem Haus. Natürlich hab ich zwar schon davon gehört, dass so etwas angeblich regelmäßig vorkommt, die Häuser ähneln sich doch sehr, aber dass es auch mich trifft …«
»…«
»Ich habe den Wagen ganz normal in der Einfahrt geparkt und bin wie immer durch das kleine Gartentor neben der Garage in den Garten gelaufen und habe mich erst mal – wie ich es immer tue – auf eine der dunkelbraunen Holzliegen gelegt, um mich nach der Arbeit in Ruhe fünf Minuten zu sonnen, ehe ich das Haus betrete. Da lag ich also und wunderte mich schon, nicht die schrille Stimme meiner Frau aus den Fenstern dringen zu hören, und merkte so nach und nach, dass irgendetwas nicht stimmte. Und dieses Gefühl wurde immer deutlicher. Überall fing ich plötzlich an, seltsame Unregelmäßigkeiten zu erkennen. Sie wissen schon: verschiedene Indizien dafür, dass etwas nicht ganz richtig oder verschoben ist. Wie in einem Traum, wo manchmal nur ein kleiner Fehler einem verrät, dass das alles nicht real sein kann. Die Hecke auf der linken Seite war zum Beispiel niedriger als sonst und auch das Gras wirkte irgendwie lichter. Und dann auch diese gelben Blumen in der Ecke des Gartens, die machten mich irgendwie nervös – waren die schon immer da? Also schaute ich mich das erste Mal richtig um und fand nun überall diese Fehler: einen alten Korb, einen Fußball, ein Buch auf dem Terrassentisch, Plastikspielzeug. Und da fiel es mir dann wie Schuppen von den Augen, dass ich gar nicht zu Hause, sondern in einem fremden Garten war. Und ich wollte gerade aufspringen und schnell wieder verschwinden, ehe mich jemand entdeckt, da hörte ich eine Frau hinter mir laut und panisch aufschreien. Sie trug nur ihren Bademantel und war voller Angst um ihr Leben. Und jetzt wollte ich Sie bitten, ihr einen Strauß Blumen zukommen zu lassen, um mich für diesen Schrecken zu entschuldigen.«
»Eine schöne Idee.«
»Und schreiben Sie noch etwas dazu. Etwas wie ›Liebe Nachbarin. Der Vorfall ist mir außerordentlich peinlich und es tut mir sehr leid, dass wir uns nach langjähriger Nachbarschaft auf die Art und Weise kennengelernt haben‹ oder so was.«
»Und was sollen es für Blumen sein?«
»Ach, irgendwas, ganz egal. Bloß keine Rosen. Ich will nicht, dass mich irgendjemand für einen Perversen hält, verstehen Sie?«
»Ich habe nie von irgendwelchen Geistern gesprochen. Ich habe nur gesagt, dass jemand heute Nacht gegen unsere Fenster geschlagen hat. Immer und immer wieder.«
»Nein, tut mir leid, obwohl ich Ihre Sorgen natürlich verstehen kann. Es ist aber leider nicht möglich, Wachpersonal von Nordelta als privaten Sicherheitsdienst zu mieten, auch wenn es um Hausschutz innerhalb von Nordelta geht. Ich vermittle Ihnen aber gerne den Kontakt zu zwei Partner-Sicherheitsfirmen. Wäre das in Ordnung?«
Pelusa steht im Bademantel in der Küche und bestreicht die letzte Scheibe Brot. Die Sonne schwebt hinter den Dächern hervor. Überall fahren die Rollläden hoch, der automatische Rasenmäher eines Nachbarn verlässt gerade seine Station und auf den Gerüsten der im Bau befindlichen Häuser laufen die ersten müden Bauarbeiter auf und ab. Im Pool treiben die Käfer der letzten Nacht und die Blumen auf Buzz’ Grab öffnen ihre Kelche.
Die Beerdigung ist katastrophal verlaufen. Als sie zu viert, sich in den Armen liegend und fürchterlich weinend, um das offene Grab standen – einem Loch in der Ecke des Gartens, das Hector binnen zweier Stunden ausgehoben hatte – und Pelusa noch einige abschließende Worte sagen wollte, da ist Henny plötzlich durchgedreht, hat sich ins Loch geworfen und wollte Buzz bergen. Pelusa wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Hector wurde wütend, hievte Henny aus dem Grab, schleppte ihn in sein Zimmer, brüllte ihn an, dass er sich nicht auch noch die Trauer um seinen eigenen Köter von ihm versauen lasse, und sperrte ihn ein. Völlig neben sich kehrte Hector zu Pelusa und Ignacio zurück, die nun umso schrecklicher weinten. Und während sie dann zu dritt die Erde auf Buzz schütteten und ein letztes Gebet sprachen, hörte man Hennys Schreie durch das offene Fenster in der ganzen Nachbarschaft schallen.
Auf Radio-Nordelta geben sie die Wetterprognose für den heutigen Tag durch: Keine Wolken. Pelusa wird, nachdem sie die Kinder am Eingangstor, wo die Schulbusse halten, abgesetzt hat, noch stundenlang dagegen ankämpfen, sich wieder ins Bett zu legen. Um überhaupt aufzustehen, braucht sie zwei Wecker, die Hector jeden Abend an einer anderen Stelle versteckt. Den ersten hat sie heute Morgen hinter dem Fernseher gefunden, der zweite balancierte auf einem der Rotorblätter des Deckenventilators. Hector musste dafür einen Stuhl auf das Bett gestellt oder sonst irgendein Kunststück vollbracht haben. Die Vorstellung, wie er abends, als sie gerade im Bad war, den Wecker dort oben platzierte, empfindet Pelusa als rührend. Leicht unruhig schaute sie sich im Raum nach einem Stuhl um, während der nervtötende Alarm weiterklingelte, und ging dann doch einfach zum Schalter und betätigte ihn zweimal kurz hintereinander, dass der Wecker überkippte, auf dem Teppichboden aufschlug und seine Innereien im Zimmer verteilte.
Pelusa sieht auf die Uhr. Es ist Zeit loszufahren. Hector ist schon seit über einer Stunde aus dem Haus. Sie stellt sich vor, wie er telefoniert und sich dabei am Hals kratzt. Zu den belegten Broten legt sie wie jeden Morgen je einen auf einen dünnen Papierstreifen geschriebenen Psalm in die Lunchboxen. Der Herr ist mein Licht und mein Heil, vor wem sollte ich mich fürchten? Er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen.
Dann ruft sie die Kinder.
Die beiden Jungs kommen die Treppe heruntergerannt. Sie stellen sich nebeneinander vor ihrer Mutter auf, ohne ihr groß Beachtung zu schenken, und witzeln über irgendeinen Film, den sie gestern Abend zusammen im Fernsehen gesehen haben. Beide tragen ihre Schuluniform; ein weißes Hemd unter einem roten Pullover, dem das Emblem der Schule St. Lucas auf die Brust genäht ist. Das sind ihre Kinder. Hier: Ignacios Grübchen, sein dichtes, zur Seite gekämmtes helles Haar, seine braune Haut. Dort: Hennys Glasauge, sein verkümmerter Armstumpf, dem keine Finger gewachsen sind und dem die Fingernägel wie bloß aufgeklebt scheinen, sein leicht nach innen gedrehtes Knie. Der Anblick der beiden, wie sie genau so nebeneinanderstehen, kann Pelusa fertigmachen. Aber nicht heute, heute beginnt ein neues Schuljahr, heute ist ein Tag der Kraft und des Mutes.
Sie reicht den beiden ihre Lunchboxen.
»Wir müssen.«
Pelusa geht voran, schließt die Haustür auf, winkt ihre Söhne durch, nach draußen, als wäre es eine Schleuse. Zweige und Blätter vom letzten Sturm liegen in der Einfahrt und auf der Motorhaube haften ein paar Tropfen. Pelusa entriegelt den Wagen und die Kinder hüpfen hinein. Während es draußen schon beginnt, heiß zu werden, ist im Wagen noch die Kühle der Nacht erhalten.
Die Tennisanlagen sind alle noch leer. Auf den Seen schwimmen ein paar der riesigen Schwarz-Enten, vereinzelt steigen Menschen in ihre Autos und die Müllabfuhr beginnt ihre montägliche Runde. Der Himmel ist blau und schön.
»Bist du aufgeregt, Ignacio?«
»Ein bisschen. Aber nicht viel.«
»Es ist o.k., wenn man aufgeregt ist. Aber du wirst sehen, dass du viele neue nette Jungs und Mädchen kennenlernen wirst. Und du hast ja immer noch deinen Bruder, der sich schon auskennt und dir helfen kann. Und Alan kommt ja jetzt auch auf die Secundaria.«
»Ich weiß.«
»Henny, kannst du aufhören, gegen meinen Sitz zu treten? Das tut mir im Rücken weh.«
Als sie am Eingang ankommen, wünscht Pelusa den beiden einen schönen Tag und gibt ihnen einen Kuss auf die Wange. Sicherheitshalber bleibt sie noch einen Moment stehen und wartet, bis die beiden sich zu den anderen Kindern stellen. Währenddessen nähert sich der aus der Stadt kommende Nordelta-Linienbus dem Eingang der Nachbarschaft. Ihn nutzen vor allem die Putzfrauen und Kindermädchen, die nun als Schwarm aus dem Linienbus steigen und auf das Wärterhäuschen zulaufen, wo sie routiniert ihre Sicherheitskarte scannen lassen und unter dem Blick der Wachmänner durch das Drehkreuz gehen. Die Frauen sind zwischen zwanzig und sechzig Jahre alt und tragen blaue Arbeitskleidung.
Unter ihnen erkennt Pelusa ihr Hausmädchen Anita. Sie ist klein und birnenförmig. Ihr pechschwarzes Haar trägt sie immer ordentlich als Zopf und ihr rundes, zierliches Gesicht ist nie geschminkt, weshalb sie wie ein zu groß geratenes Baby aussieht. Sie arbeitet schon seit fünf Jahren bei ihnen und hat sich nach anfänglichen Tollpatschigkeiten – Vase, Musikboxen, Teller – als verlässliche Hilfskraft herausgestellt. Pelusa lässt das Fenster der Beifahrerseite herunterfahren und ruft nach ihr. Anita sieht auf, lächelt und geht auf den Wagen zu.
»Guten Morgen, Señora.«
»Guten Morgen, Anita. Ich habe gerade die Kinder zum Bus gebracht, da habe ich dich gesehen.«
»Ja, vielen Dank.«
Leise fahren sie zurück durch die Nachbarschaft. Pelusa erkundigt sich nach Anitas Familie. Sie erzählt, dass ihre Mutter eine neue Anstellung in einem Hotel habe und ihr Bruder nach seiner schweren Beinverletzung wieder arbeiten könne, nur Fußball spielen könne er noch nicht, was ihn sehr bedrücke. Außerdem berichtet sie, dass sie und ihre Familie wieder mal großes Glück gehabt hätten, denn es habe letzte Nacht erneut Straßenschlachten mit der Polizei, Blockaden und Einbrüche in ihrem Viertel gegeben, doch ihr Haus sei, Gott sei Dank, verschont geblieben, dabei habe sie die Männer unmittelbar vor der eigenen Haustür kämpfen und sterben hören.
»Als ich mich dann doch mal traute, aus dem Fenster zu sehen, alle Lichter im Haus hatten wir natürlich ausgeschaltet, konnte ich erkennen, wie ein Schatten einem anderen Schatten eine Pistole an die Stirn hält und einfach abdrückt. So etwas habe ich noch nie gesehen, wie der zusammengesackt ist. Ich hatte immer gedacht, die würden nach hinten umfallen, aber der ist einfach in sich zusammengefallen. Wie ein Handtuch.«
»…«
»Ich mache mir wirklich Sorgen, Señora. Diese Leute sind zu allem fähig, sie plündern und rauben. Und deshalb finde ich es auch gut, dass Sie jetzt hier mehr Personal haben.«
»Was ich nicht verstehe: Sind das dieselben Gruppen, die die Autobahnen blockieren und Demonstrationen organisieren?«
»Weiß ich nicht. Von denen höre ich nur im Fernsehen. Mein Bruder hat mir erzählt, dass diese Leute in unseren Vierteln sogar gepanzerte Fahrzeuge der Polizei erbeutet hätten. Er sagt, es dauert nicht mehr lang und dann schicken sie das Militär. Ich hätte das schon längst gemacht«, sagt Anita und schwingt energisch ihren Zeigefinger. »Peng, peng, peng.«
Als sie das Haus erreichen und Pelusa die Haustür öffnet, achtet sie darauf, dass die Katze nicht entschlüpft. Pelusa fasst sie am Bauch, hebt sie mit einer Hand hoch. Sie wiegt fast nichts. Pelusa könnte sie gut und gerne zwanzig Meter weit werfen, bis an die Hauswand des Nachbarn. Anita krault sie unter dem spitzen Kinn und schwärmt, wie niedlich diese Katze sei. Dann öffnet sie die Tür zur Besenkammer.
»Hast du schon gefrühstückt, Anita?«
»Ja. Ich brauche nichts mehr, wirklich.«
»Bist du sicher? Einen Kaffee vielleicht?«
»Danke, nein, Señora.«
Pelusa setzt die Katze auf dem Esstisch ab, geht in die Küche und toastet sich zwei Scheiben Brot. Im Hintergrund mahlt die Kaffeemaschine die Bohnen. Sie sagt Anita, sie würde heute oben frühstücken und noch etwas arbeiten. Die junge Putzfrau nickt, wickelt das Kabel von der Trommel.
Im Bad ihres Schlafzimmers stehend, kann Pelusa von unten Anita staubsaugen hören, wie der Plastikaufsatz gegen die Leisten der Wände schlägt. Pelusa ist jetzt einundvierzig. Bis auf die Tatsache, dass ihr ein Daumen fehlt, empfindet sie sich noch immer als attraktiv. Wenn sie alte Bilder von sich ansieht, glaubt sie manchmal, sie sei überhaupt nicht gealtert. Sie öffnet die Tür des Badezimmerspiegels, hinter der eine kleine Plastikschachtel mit mehreren Kammern liegt. Aus ihr fischt sie zwei Tabletten.
Sie geht in ihr Büro und schaltet den Fernseher ein. Auf einem US-amerikanischen Kanal senden sie jeden Vormittag eine Predigt von Joyce Meyer. Ihre ältere Schwester Sara hatte sie davon überzeugt, deren freikirchlicher Gemeinde beizutreten.
Sara, die selbst christliche Ratgeber schreibt, fing schon vor Jahren damit an, neben ihrer früheren Arbeit als U-Bahn-Fahrerin in Capital Federal, zahlreiche öffentliche Vorträge über Joyce Meyer zu halten, Flyer zu verteilen, wöchentliche Treffen sowie Beratungsstunden und christliche Konzerte für Jugendliche zu organisieren. Unter anderem hielt sie vor einigen Jahren einen Vortrag in der Bücherei im kommerziellen Zentrum von Nordelta, mit einer derart positiven Resonanz, dass sich eine kleine Gruppe von Frauen und Männern bildete, die anfingen sich regelmäßig in Wohnzimmern zu treffen. Irgendwann waren es jedoch derart viele Mitglieder, die aus fast allen Nachbarschaften zu den wöchentlichen Hauskreisen kamen, dass die Wohnzimmer nicht mehr ausreichten und man das ganze Clubhaus der Nachbarschaft Las Glorietas mieten musste.
Vor zwei Jahren gab es schließlich grünes Licht aus der Verwaltung für die mittlerweile auf über siebenhundert Mitglieder angewachsene Gemeinde, sich eine eigene Kirche im kommerziellen Zentrum zu errichten; als ersten lateinamerikanischen Ableger der Joyce Meyer Ministries und als erstes Gotteshaus in Nordelta überhaupt. Die Ministries boten Sara daraufhin eine Stelle als Gemeindereferentin und Vertreterin für Lateinamerika an und kauften ihr eine geräumige Wohnung am anderen Ende von Nordelta, in der Nähe des Hafens, die sie sich mit ihrem vorherigen Lohn niemals hätte leisten können. Seitdem plant sie gemeinsam mit Pelusa und den wichtigsten Mitgliedern der Gemeinde die Eröffnungsfeier, die in ein paar Wochen stattfinden soll. Für den Fall, dass Joyce Meyer persönlich bei der Feier erscheinen sollte, hat sich eine Arbeitsgruppe mit der Gestaltung eines Willkommenstransparentes auseinandergesetzt.
Da ihre Schwester zu bürokratischem Arbeiten vollkommen unfähig ist, muss Pelusa fast die gesamte Organisation und Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten übernehmen. Denn Sara ist weniger ein Mensch als ein mystisches Wesen; selbst ihren eigenen Terminkalender kann sie nicht nachvollziehen, als beherrsche sie dessen Sprache nicht. Deshalb stauen sich seit der Gemeindegründung immer mehr Ordner voller Protokolle und Verträge in Pelusas Büro; sie quellen aus den Schubladen, bevölkern alle Regale und Schränke. Sie würde sich aber nie darüber beschweren, sondern darauf beharren, dass ihr diese Arbeit Spaß mache, mehr noch, ihren Alltag bereichere und strukturiere.
Pelusa setzt sich an ihren Schreibtisch, auf dem mehrere Hefter, Ablaufpläne, Notizen mit einigen Tagespunkten und Ratgeber zum argentinischen Vereinsrecht sowie die Vereins-Charta von Nordelta liegen. Im Hintergrund läuft der Fernseher.
Neben der Eröffnung muss sie zurzeit vor allem eine wichtige anstehende Versammlung zur Abstimmung über die endgültige Satzung des Vereins vorbereiten. Die Versammlung ist deshalb so wichtig, da der Streit um den exakten Wortlaut der Satzung die Gemeinde in zwei rivalisierende Lager zu spalten droht. Auf der einen Seite steht ihre Schwester und auf der anderen die Aufrührerin Silvina Salmann, die seit Monaten versucht, Sara ihres Amtes zu entheben, und nicht davor zurückschreckt, zu unlauteren Mitteln, wie dem Verbreiten haarsträubender Gerüchte, zu greifen; so wurde Pelusa in den letzten Wochen hinter vorgehaltener Hand von verschiedenen Mitgliedern mehrfach gefragt, ob es stimme, dass Sara in ihrer Wohnung alchemistische Experimente betreibe, dass sie zu den Toten sprechen könne und manchmal mitten in der Nacht anrufe, um Pelusa mit brüchiger Stimme davor zu warnen, in nächster Zeit Fahrstühle zu benutzen, Fahrstühle generell zu vermeiden.
Die Sendung hat gerade angefangen. Joyce Meyer, die eine Bibel in der Hand hält, steht auf einer großen Bühne. Sie ist laut Umfragen auf Platz siebzehn der einflussreichsten freikirchlichen Prediger der Vereinigten Staaten. Pelusa erhöht die Lautstärke.
Die Kamera ist die meiste Zeit auf Meyer gerichtet. Ab und an gibt es Nahaufnahmen vom Publikum. Zwei weiße blonde Frauen haben die Augen geschlossen, im Hintergrund nickt ein schwarzer Mann und notiert sich etwas. Die Halle in Atlanta, Georgia, die früher das Stadion eines NBA-Teams war, ehe sie von den Meyer Ministries aufgekauft und zu einer Kirche umgebaut wurde, wird regelmäßig in ihrer Gänze, Größe und Ausgefülltheit gezeigt.