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Der Atlantik hat sich über Nacht von der Küste Floridas zurückgezogen und eine Wüste hinterlassen. Kreuzfahrtschiffe rosten im Sand vor Miami, die Hotels bleiben leer, der Hafenbetrieb ist eingestellt und selbst die Dauerwerbesendungsindustrie liegt am Boden. Mittendrin eine überambitionierte Indie-Game-Programmiererin, eine strauchelnde Arbeiterfamilie, eine junge Soziologin und ein E-Sport-Team aus Wuppertal. Witzig und traurig, düster und labyrinthisch: »Miami Punk« von Juan S. Guse ist ein Roman über die Bedeutung von Arbeit, über Herrschaft und Macht und über einsame Nächte vor dem Computer. Ausgezeichnet mit dem KELAG-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2022
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Seitenzahl: 918
Juan S. Guse
Miami Punk
Roman
FISCHER E-Books
Erleuchtet sind die Straßenzüge der einsamen Stadt, gewaltsam errichtet auf tropischem Sumpf. Wo alles lastet und wankt auf Millionen von Baupfählen aus Stahlbeton und Holz, vor Jahren und Jahrzehnten von anonymen Arbeitern in Schwemmsand und Lehm gerammt. Unter den Häusern und Garagen, unter den touristisch erschlossenen Mangroven-Reservaten, unter den Firmengeländen und Industrieanlagen, unter den Hotels, den Rentnerinnensiedlungen und den Batterien dreißigstöckiger Condominium-Bauten, unter den weiß gepflasterten Pfaden, den Bushaltestellen, Supermärkten und den von der salzigen Luft verwitterten Art-déco-Einkaufspassagen, selbst unter den geschlossenen Geschäften für Badespaßutensilien, den meeresbiologischen Forschungszentren, dem gespenstischen Kreuzfahrtschiffshafen und den militärisch organisierten Polizeistationen, unter den Nachtclubs und den kundenlosen Autohändlern, unter dem gewaltigen Rowdy Yates Komplex im Nordosten und den langsam im Boden versinkenden Wolkenkratzern in der Innenstadt und unter den schwarzschimmligen Schulkellern, den Heizungsräumen, der Kanalisation, den Strom- und Glasfaserleitungen, den Friedhöfen und den Laboren nicht rechenschaftspflichtiger Konzerne ruhen Baupfähle, aufrecht aufgereiht, in gutem Glauben in der Erde verankert. Ihr Stöhnen unter der Last der Stadt und der Geruch von Fäulnis drängen wie die Geister einer ausgetilgten Vergangenheit aus Fugen, Rissen und Kanaldeckeln an die Oberfläche, entweichen und verschwinden in die alles verschlingende Nacht.
Leise und deutlich unterfordert rauschen Robins CPU-Kühler und die beiden Grafikkarten vor sich hin, zusammengehalten auf einem alten Motherboard in einem billig-lieblosen Aluminiumgehäuse, das sich wie ein treuer Hund nach einem langen Tag an ihre nackte linke Wade schmiegt. Die Luft im Zimmer ist angenehm schwül, so wie sie es mag. Robin nimmt einen Schluck Eistee. Durch das offenstehende und mit einem Fliegengitter versiegelte Fenster kann sie die letzten Moskitos des Jahres vor sich hin sterben hören. Sie rotten sich noch einmal zusammen zu formwandelnden, pulsierenden Schwärmen, als würde das etwas in der Welt verändern. Ansonsten schweigt die Nachbarschaft in der vierundzwanzigsten Terrace Street in Coral Way, einem südlichen Stadtteil Miamis. Nur gelegentlich hört Robin ein paar Tiere durch das dichte Gebüsch im Garten hinterm Haus streifen und gegen die tonnenschwere Eingravierungsmaschine ihres Bruders schlagen – ein Überbleibsel seiner gescheiterten beruflichen Unternehmungen. Hideo hat sich wie jede Nacht in der ausgefahrenen Kommodenschublade rechts von Robins Schreibtisch eingerichtet. Er kann sie über eine kleine Rampe aus Pressspan erreichen, die sie für ihn angebracht hat. Die Schublade hat er sich selbst mit ölverschmierten Handtüchern ausgepolstert, was nicht wirklich Sinn macht. Vermutlich hat er sich etwas Ähnliches in einer Sitcom abgeschaut und dachte, das wäre doch schön, das wäre richtig so. Er sitzt in seiner Schublade, entstaubt seine Gelenkstellen, leert seinen Cache, lädt.
»Willst du über deinen Streit mit Horacio, das Spiel und deine Sorgen sprechen?«
»Danke, nein.«
»Willst du über deine Mutter und H.C. Rachael sprechen?«
»Nein.«
»Okay, Robin. Es ist völlig in Ordnung und sehr normal, dass man manchmal seine Ruhe will. Man darf es nur nicht in sich hineinfressen.«
»…«
»Willst du mehr über die modernen und kostengünstigen Möglichkeiten der Feuerbestattung erfahren?«
»Gute Nacht.«
»Dein Wecker klingelt um sieben.«
Die meisten Menschen sind bereits in ihren abgeschlossenen Häusern, lieben sich oder schlafen, spülen Geschirr ab, hören Musik, stehen auf und sehen nach einem kranken Kind, lesen, führen Telefongespräche oder trinken dreifach gefiltertes Wasser. Auch der Familienvater von gegenüber verfällt heute nicht in einen seiner notorischen Wutanfälle, die so laut und eindeutig sein können, dass Robin schon ein Dutzend Mal dachte, das war’s jetzt, dieses Mal tickt er endgültig aus und erschießt erst seine Frau, die ihr halbes Leben lang in Angst vor diesem Tag verbracht hat, um anschließend ruhigen Schrittes mit der warmen Flinte die knarzende Holztreppe nach oben zu gehen und seine beiden Stieftöchter, die sich unter ihren Betten versteckt haben und bereits mit der Polizei telefonieren, an den Haaren hervorzuziehen und nacheinander unter Tränen hinzurichten, ehe er schließlich das Gewehr gegen sich selbst richtet. Stattdessen: nichts, Stille überall, ewige Ruhe. Es bellen keine Köter, es krächzen keine Papageien, es lärmen keine Sirenen der Ringer.
Gemessen an den ELO-Werten, dürften ihre Gegnerin mit dem Username mariamartha_89 und Robin etwa auf Augenhöhe sein, auch wenn sie seit einer Weile nicht mehr ernsthaft zum Spielen gekommen ist. Sie entscheidet sich für die Byzantiner wegen deren weitgefächertem Technologiebaum und exzellentem Konterspiel. Die byzantinische Spezialeinheit ist der Kataphrakt, ein schwer gepanzerter Reiter, der Robin in der Vergangenheit schon mehrfach den Arsch gerettet hat. Sie wünscht mariamartha_89 in diesem 1v1 auf der Map Arabien viel Spaß. Die relative Gewissheit, dass – nach einem langen Tag im Büro, auf einer Arbeit, die sie traurig, müde und verletzbar macht, weil sie ihre Zeit lieber mit der Weiterentwicklung ihrer eigenen Videospiele verbringen würde – sie niemand in den nächsten dreißig bis sechzig Minuten bei dieser AoE2-Partie stören wird, kein plötzlicher Anruf von Arbeitskollegen oder vom Threed oder vom Landesgericht für die Neuansetzung eines Termins, keine beißenden Schuldgefühle sozialer Verpflichtungen, nur sie, ihr Rechner, dreieinhalb Liter kalter Pfirsicheistee, das WLAN, eine funktionstüchtige Mikrowelle neben dem Monitor und ihre Gegnerin, die kurioserweise die Chinesen als Zivilisation gewählt hat und laut ihrer IP irgendwo in Argentinien vor dem Bildschirm sitzt, diese Gewissheit gibt ihr ein merkwürdig beruhigendes Gefühl von Geborgenheit und Gleichgültigkeit.
Durch die Straßen der Wohngebiete zieht ein kühler Wind.
Im Haus nebenan versinkt Robins achtzehnjähriger Cousin Lint in seinem Sessel vor dem Fernseher. Die Gummitasten der Fernbedienung sind schwer zu drücken, oft klemmen sie seitlich in der Plastikverschalung fest. Die Jalousien hat er heruntergelassen. Lint ist gerade eben – wie fast jede Nacht – vom Kongress im Norden der Stadt zurückgekommen und heimlich in sein Zimmer geschlichen, um nicht seine Eltern zu wecken. Der Kongress hat nun geschlossen. Alle Säle und Besprechungsräume sind leer, alle Essensstände verlassen, die Technik weggesperrt. Tauben fliegen unter den hohen Decken aus Beton herum und kämpfen in den Lüftungsschächten bis in den Tod um ein winziges Stück Territorium. Der Strom ist abgeschaltet, die Drucker stehen still. Tropfende Wasserhähne auf leeren Toiletten. Alles wartet auf die morgige, die achthundertvierundzwanzigste Tagung. Nur in den Katakomben, unterhalb des Kongresses, sitzt vielleicht noch eine Handvoll militanter Spiritualisten über konspirativen Plänen und hört melancholische Musik, während Lint in seinem Zimmer hockt, erschöpft, aber nicht müde genug, um sich schlafen zu legen. Er kann hören, wie unter ihm sein Vater schlaftrunken ins Badezimmer stolpert. Anders als die meisten seiner Bekannten zieht Lint es vor, sich in seiner Freizeit von seinem altertümlichen Fernseher bestrahlen zu lassen, statt sich die Zeit im Internet zu vertreiben – befreit von der ermüdenden Verantwortung für die eigene Unterhaltung, der Willkür des Satellitenfernsehprogramms ausgeliefert.
Auf den lokalen Sendern übertragen sie zu dieser Uhrzeit fast nur noch Wiederholungen, wie die einer dilettantisch produzierten Kochsendung, moderiert von einem alten Mann in einem graublauen Hemd, der deprimierend simple Rezepte für Einpersonenhaushalte vorstellt. Oder eine Dauerwerbesendung für plastische Chirurgie, bei der Lint an Amir denken muss, einen Vereinskollegen seiner großen Schwester Elsa, dem bei einem Einsatz die obere Hälfte seiner rechten Hand von einem Alligator abgerissen wurde, weshalb nun entlang der wulstigen Naht vom Handgelenk bis zum Ringfinger drei Metallnoppen rausragen, auf die Amir Silikonnachbildungen seines Daumens, Zeige- und Mittelfingers stecken kann. Trotz der Prothese ist er weiterhin für die Violetten Tiger als Ringer aktiv. Lint zappt durch die Kanäle und spielt mit dem Gedanken, Secret of Mana noch eine Chance zu geben, das er sich von Horacio ausgeliehen hat und seit Wochen unberührt in der Konsole steckt. Oder er könnte noch ein bisschen in Levin Cops’ Tagebüchern blättern und einige der Stellen nachschlagen, die in den heutigen Vorträgen besprochen wurden. Oder er könnte sich einfach schlafen legen, denn es ist spät und morgen muss er in die Universität. Wie wäre das?
Ihre Gegnerin hat das Spiel noch nicht gestartet. Als Robin in den ersten zwei Tagen nach dem Unfall ihrer Mutter die Nächte im Krankenhaus verbrachte, ließ sie sich von einem bestechlichen und gutherzigen Hausmeister ein Putzlager aufschließen, um abseits vom Krankenhausbetrieb und dem überarbeiteten Personal auf ihrem Lenovo ein paar entspannende Partien AoE2 gegen den Computer zu spielen, wie sie und ihr Bruder es als Teenager oft bis in die Nacht taten. Müde und abwesend torkelten sie am nächsten Tag in die Schule. Auf eine merkwürdige Art findet sie es bis heute befriedigend, die Unzulänglichkeiten der AoE2-KI auszunutzen – ihr mangelndes Bewusstsein für die Endlichkeit der Rohstoffe, ihr Unverständnis für das Konzept von Zeit, ihre Überforderung mit unbekannten Situationen, ihre Unfähigkeit zu Wut. Ein Arbeitskollege aus Robins IT-Abteilung bei Nowak, der in seinem Urlaub einmal im Jahr mit halbautomatischen Gewehren Jagd auf Rotwild im Bundesstaat Washington macht, meinte mal, er kehre von diesen Reisen immer mit dem Gefühl menschlicher Dominanz in seiner komprimiertesten Form zurück, etwas, wovon er noch monatelang im Büro zehren würde, teilnahmslos auf den Monitor starrend. Daran muss Robin oft denken.
Ihre Freundin Daria Finkelhor schläft am anderen Ende der Stadt in einer Zweizimmerwohnung im vierundzwanzigsten Stock des Wohnturm-7 des Rowdy Yates Komplexes. Sie liegt auf ihrer Couch und träumt von den ungeliebten und nutzlos gewordenen Gegenständen, die von Bewohnerinnen aus den umliegenden Wohntürmen aus den Fenstern geworfen werden und sich am Fuß der Gebäude sammeln. Diese Träume sind symbolisch aufgeladen. Geweckt wird sie von den Rufen einer wütenden Greisin aus der Wohnung direkt unter ihr. Daria sieht auf die Uhr. Es ist 01.47. Sie zieht ihre Shorts aus, weil sie das Gefühl hat, der Gummibund würde ihre Organe beschädigen, und rechnet die Stunden aus, die ihr zum Schlafen bleiben, bevor sie wieder auf der Behörde 55 sein muss, die sich der Beantwortung der ungeklärten Fragen Miamis verschrieben hat. Sie überlegt, Robin eine pointierte und liebevolle Nachricht über ihren Traum zu schicken, aber sie weiß nicht, wo sie ihr Telefon gelassen hat.
Unterdessen kreisen über Downtown, Miami Beach und der Wüste östlich der Stadt lautlos die staatlichen Zeppeline und Ballons. Wolkengleich schweben sie am Himmel und wachen über die Viertel, den Verkehr, den Kongress und das gruppenbasierte Leben der Menschen, von Little River und Shorecrest bis nach Coconut Grove, von Flagami bis nach Virginia Key. Sie sind wesentlich kostengünstiger zu betreiben, stürzen seltener ab als vergleichbare Lösungen und gelten längst als neues Wahrzeichen der Stadt. Tagsüber werden sie als Werbebanner verwendet, zum Beispiel für ein neues Shampoo, lokale Lieferdienste oder die kundenfreundlichen Konditionen eines Kreditunternehmens.
Und in den zahlreichen Vereinshäusern, verteilt über ganz Miami, sitzen Ringer alleine vor Telefonen und warten auf einen Anruf von Bürgerinnen und Bürgern in Not oder die entsprechende Weitervermittlung eines Notfalls durch unterbesetzte Behörden. Doch in der Regel ruft ja doch niemand um diese Uhrzeit an und so vertreiben sich die meisten Ringerinnen ihre Spätschicht im Netz. Manche suchen auf Ebay und Craigslist nach gebrauchten Elektrogeräten, Ersatzteilen für den Einsatz-Van des Vereins oder Nebenjobs, andere schauen sich Highlights der letzten Olympischen Spiele an. Die zehn spektakulärsten Freistil-Würfe, die zwanzig erfolgreichsten Olympioniken, das Finale von London. Die absolut meisten spielen nebenbei kostenlose Flashgames.
mariamartha_89 schreibt noch ›hf‹ zurück, dann startet die Partie. Robin beginnt mit der sofortigen Produktion von fünf zusätzlichen Dorfbewohnern, während die von Beginn an frei verfügbaren drei Dorfbewohnerinnen den Befehl erhalten, zwei Häuser zu bauen, was die maximale Population von fünf auf fünfzehn erhöht. In der Regel sollte man simultan damit anfangen, mit dem Späher immer größere Kreise um das eigene Dorfzentrum zu ziehen, auf der Suche nach den sechs Schafen, den Beeren, nach der kleinen und der großen Goldmine, dem Stein, den beiden Ebern, dem Wild und den Holzvorkommen, um dann nach ungefähr vierzig bis sechzig Sekunden zwei der gefundenen Schafe dafür zu verwenden, ebenfalls die unmittelbare Gegend zu erkunden, während man gleichzeitig den Rest der Schafe ins Lager zu den Dorfbewohnerinnen zurückschickt, damit sie von diesen geschlachtet werden können, sodass von da an, etwa eine Minute im Spiel, die Nahrungsproduktion der eigenen Wirtschaft ins Rollen gerät. Sie darf von diesem Moment an wie eine sensibel kalibrierte Fabrikanlage bis zum Ende der Partie unter keinen Umständen zum Stillstand kommen, da sonst erdrutschartig erst die Produktion der Dorfbewohner abreißen und das in einer Kettenreaktion den Holz-, Gold- und Steinabbau sowie den Betrieb aller Farmen unterbrechen und damit Robins gesamte Wirtschaft in sich zusammenstürzen würde, was wiederum zur Folge hätte, dass die Produktion militärischer Einheiten ebenso wie die technologische Weiterentwicklung ins Stocken geraten würde, was in einem so ausbalancierten RTS wie AoE2 schon für den Zeitraum von einer Minute den Ausgang der Partie besiegeln kann. Während also die spähenden Schafe wieder auf dem Rückweg ins Dorfzentrum sind und nachdem alle Ressourcen im Umfeld entdeckt wurden, beginnt Robin, mit ihrem Späher nach dem feindlichen Lager auf der anderen Seite der zufällig generierten Map zu suchen. Sie will auskundschaften, wo mariamarthas_89s Holzfällerinnen arbeiten, die leichte Beute für Milizen, Reitereinheiten und Bogenschützen sind, mit denen man früh im Spiel der Gegnerin wirtschaftliche Schäden zufügen kann. Robin ist entspannt. Gerade in diesen ersten Minuten, in denen sie nur eine Handvoll Einheiten steuern und verwalten muss, kann sie darauf vertrauen, dass die gängigen Spieleröffnungen meistens ähnlich verlaufen und es genügt, einige wenige Vorkehrungen zu treffen, um sich militärisch abzusichern. Das Anlocken des ersten Ebers gelingt, ohne dass ihr dabei ein Fehler unterläuft. Kein Dorfbewohner stirbt. Niemand hört auf zu arbeiten, alles geht seinen den Produktionsmitteln bedingungslos unterworfenen Gang. Sieben Dorfbewohnerinnen kümmern sich um den Eber, vier sind an den Beeren, der Rest hackt Holz. Der Späher kundschaftet, die Ressourcen werden gehortet. Robin fühlt sich gut. Sie trinkt etwas Eistee. In der Mikrowelle neben ihrem Monitor drehen sich ein paar Speckstreifen auf einem Teller.
In New York verhandeln noch zu dieser Stunde im unterirdischen Bauch des Hauptquartieres der Vereinten Nationen mehrere Delegationen über die erhobenen Ansprüche der USA zur Ausweitung des Hoheitsgebietes vor der Küste Floridas. An den multilateralen und zähen Gesprächen nehmen neben den Bahamas auch Kanada, Mexiko, Frankreich, Spanien, Trinidad und Tobago, Kuba, Jamaika, die Dominikanische Republik, Haiti, Russland sowie Kolumbien teil. Russland, Kuba und die Bahamas zeigen sich wenig von der US-Argumentation überzeugt und fragen sich, wie man mit einer möglichen Rückkehr des Atlantiks vertraglich umgehen solle. Erschwert werden die Verhandlungen dadurch, dass zuletzt Dokumente an die Öffentlichkeit gelangt sind, aus denen hervorgeht, dass einige US-Konzerne großes Interesse an den Rohstoffvorkommen im Gebirge östlich der Bahamas zeigen. Die Stimmung im Saal ist angespannt. Mehr Kaffee, mehr Kekse werden auf einem Wägelchen hereingefahren.
Robin legt sich vorsichtig die heißen Speckstreifen in den Mund. Sie sind labbrig und salzig. Ihr Zimmer ist vollgestellt mit Regalen, in denen sich Kartons, Bücher und schlecht sortierte Aktenordner aus der alten Wohnung ihrer Mutter türmen. Dazwischen passen irgendwie noch ihr Hochbett, der zugestellte Schreibtisch und ihre eigenen Regale voller Zeug. Daria hat mal gesagt, der Raum erinnere sie an einen extrem effizient gepackten, letztlich aber nicht einsatzfähigen Feuerwehrwagen. Das einzige dekorative Element in ihrem Zimmer ist ein Werbeposter. Es ist am Kopf ihrer Matratze aufgehängt und bewirbt E.T. für die Atari 2600. Horacio hatte es ihr während des Studiums als eine Art Mahnmal geschenkt. Den Fettfilm an den Wänden ihrer Mundhöhle spült sie mit Eistee runter.
In der Zentralverteilungsstelle der Post in Flagami, im Westen Miamis, arbeiten Hunderte Sortiererinnen in einer riesigen Halle, in der früher Kriegsschiffe angefertigt wurden. Die Frauen und Männer stehen vor einer Wand aus Fächern mit Straßennamen. Man schätzt sich, empfindet Sympathie und Solidarität füreinander, ist gewerkschaftlich organisiert. Aus einem alten Radio am Fenster strömt abgegriffene Rockmusik. Eine leichte Brise weht herein. Einige unterhalten sich über die Zukunft ihrer Arbeit und über die Automatisierung der Branche, andere über gefährliche Krankheiten, die sich Kinder in der Schule einfangen können. Viele haben Nackenschmerzen vom ständigen Nach-oben-Schauen. Das Geschäft läuft sehr gut, denn all die Kündigungsschreiben, Abschiedsbriefe, Drohungen und Mahnungen, all die schriftlich festgehaltenen Sorgen werden ja nach wie vor mit der Post verschickt. Einige hier haben deshalb ein schlechtes Gewissen, weil sie vom Elend anderer profitieren. »Diphtherie«, sagt eine, das hätten doch viele Kinder. »Keuchhusten«, sagt eine andere, »oder eine Haemophilus-influenzae-b-Infektion.« Und alle lachen.
Das feindliche Lager findet Robin nach etwa drei Minuten. Sie will es diesmal ruhiger angehen lassen, keine Drush- oder Flush-Eröffnung spielen, sondern stattdessen versuchen, ressourcenschonend durchs Anfangs- und Mittelspiel zu kommen und sämtliche Angriffe bis ins Imperialzeitalter zu überstehen, sodass sie dann im Endspiel, wenn ihre Gegnerin bereits Unmengen an Rohstoffen verbraucht hat, um ihren Angriffskrieg zu finanzieren, besser aufgestellt ist und über ihre Verteidigungsanlagen hinwegmarschieren kann.
In der umfunktionierten Garage unter Robins Zimmer, in der es trotz aller Duftkerzen nach verschmorten Kabeln riecht, überfällt ihren Mitbewohner David DeCoil, zweisprachig in den US-Militärbasen in und um Kaiserslautern aufgewachsen, ein starker Durst. Er schleicht in die Küche und trinkt einen halben Liter Milch. Aus der metallischen Spüle, die bizarrerweise die gleiche Schwingungsfrequenz wie der Radiosender SPP2 hat, kann man leise menschliche Stimmen hören. David lauscht für einen Moment, dann geht er zurück in die Garage. Weil es ihm, einmal nachts aufgestanden, meistens schwerfällt, wieder einzuschlafen, greift er zu Pessoa und liest. ›Bisweilen verspüre ich, warum, weiß ich nicht, ein Vorzeichen des Todes. Vielleicht ist es eine unbestimmte Krankheit, die sich nicht in Schmerz materialisiert und daher eher in einem Ende vergeistigt, möglicherweise ist es auch eine Müdigkeit, die einen so tiefen Schlaf verlangt, dass bloßes Schlafen ihr nicht genügt.‹ David nimmt sich für morgen fest vor, keine weiteren Pausen einzulegen, ausdauernd an seinem Roman zu schreiben und sich nicht mehr ablenken zu lassen. Nicht von Büchern, nicht vom Internet, nicht von sich selbst.
Alles deutet so weit auf ein ruhiges und geordnetes Spiel hin. Mit einem feindlichen Miliz-Drush-Angriff ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu rechnen. Robin konzentriert sich deshalb auf die Holz- und Nahrungsproduktion, darauf, ihre Dorfbewohnerinnen in Bewegung zu halten und die wirtschaftliche Verwertungskette zu perfektionieren. Alle müssen permanent einer Aufgabe nachgehen, niemand darf untätig herumstehen, selbst wenn eine Rohstoffsorte bereits im Überfluss abgebaut wurde. Nur das Goldvorkommen nördlich ihres Lagers lässt sie für den ersten Moment links liegen. Bald dürfte sie in die Feudalzeit aufsteigen. Erst dann würde sie dort eine Mine errichten.
Südöstlich von Miami Beach schleicht eine mit Kneifzangen bewaffnete Gruppe von Pilgern unter der dritten Absperrung der Küstenwache hinweg. Neun Personen überschreiten damit die vormalige Küstenlinie und marschieren in die Dunkelheit. Sie tragen hochwertige Wanderkleidung etablierter Marken, verfügen über Proviant für knapp zwei Wochen und fürchten nichts in der Welt mehr als die Scheinwerferkegel aus der Luft. Die Gruppe befindet sich auf dem gefährlichen Weg ins Gebirge jenseits der Bahamas. Sie wandeln auf den Spuren von Levin Cops, dessen Tagebücher sie gemeinsam im Kongress exegetisch besprochen haben. Für zwei von ihnen ist es nicht das erste Mal. Nach der Überwindung der Absperrung gibt es keinen Weg mehr zurück. Entweder sie werden in den kommenden Stunden oder Tagen von der Küstenwache festgenommen oder sie laufen einem der beiden Wüstenstämme in die Arme oder sie bleiben unbemerkt und schaffen es bis ins Tal, das zwischen den Berry- und Abaco-Inseln beginnt. Sie haben sieben Stunden Fußmarsch zur ersten Station vor sich, die Pilgerinnen vor ihnen hinterlassen haben und die als einigermaßen sicher gilt. Ihre Stirnlampen lassen sie ausgeschaltet. Von nun an ist es eine Frage des Glücks, ob sie durchkommen. Sie flüstern sich Zitate von Cops zu, um sich Mut zu machen, und tragen reflektierende Folien über ihrer Kleidung, um nicht von den Wärmebildkameras erfasst zu werden. Es ist sehr windig und der Sand macht das Gehen schwer. Eine in der Gruppe trägt ein Nachtsichtgerät, das sie mal in einem Armeerestbestände-Geschäft gekauft hat. Sie beten, dass die Küstenwache sie nicht finden wird. Sie beten, nicht von Händlern oder den Japanern entdeckt zu werden. Und falls doch, beten sie, dass sie sich bestechen lassen. Nur noch ein paar Stunden laufen. Alles wird gut.
Knapp acht Minuten im Spiel geschieht etwas Merkwürdiges. Plötzlich tauchen rings um Robins Lager feindliche Dorfbewohner aus dem Kriegsnebel auf. Völlig unerwartet hat mariamartha_89 elf Arbeiterinnen zu ihr geschickt. Robin besitzt zu diesem Zeitpunkt siebzehn Dorfbewohner, was bedeutet, dass mariamartha_89 (selbst wenn man berücksichtigt, dass die chinesische Zivilisation mit drei zusätzlichen Dorfbewohnerinnen startet) einen Großteil ihrer Population abgezogen haben muss, was eine kaum zu rechtfertigende Beschneidung der Wirtschaft ist. Die einzige Erklärung, die Robin einfällt, während sich die feindlichen Dorfbewohner weiter ihrem Lager nähern, ist, dass es sich um einen unorthodox umgesetzten Tower-Rush handeln muss, was allerdings nicht wirklich die Menge an menschlichem Material erklärt.
Die aktive Kongressteilnehmerin Ana O. Boltanski steigt zurück in ihren roten Wagen. Von ihrem letzten Kunden hat sie ein miserables Trinkgeld bekommen. Ein junges Paar, das eins zu eins identisch angezogen war und zusammen in der Tür stand. Sie weiß nicht, was sie mehr ärgert. Ana O. hat noch zwei Lieferungen vor sich, bevor sie wieder zur Filiale West muss, ihren Wagen mit neuen Pizzen befüllen. Der Stadtverkehr ist unruhig, aber nicht gefährlich, mit vielen Linienbussen und Scootern. An einer vielbefahrenen Kreuzung kürzt sie über ein leerstehendes Parkhaus ab, schießt über die Auffahrt auf die dahinterliegende Straße und spart sich so ein paar Sekunden auf ihrem Weg zum nächsten Kunden, der spätestens in sieben Minuten ihre Lieferung erhalten muss, sonst erhält er sein Geld zurück. In Linkskurven spürt Ana O., dass die Vorderachse einen Schlag abbekommen haben muss. Sie wird den Wagen den Technikerinnen in der Großfiliale überlassen und sich einen neuen geben lassen müssen. Für die Wartezeit wird sie nicht bezahlt werden. Ihre heutige Schicht ist noch lange nicht vorbei. Es ist ihre vierte diese Woche. Noch sechs Minuten für die Lieferung. Tomaten-Mozzarella-Sardellen. Ananas-Schinken-Zwiebeln.
Das wirkliche Ausmaß der Gefahr, die von den feindlichen Arbeiterinnen ausgeht, wird Robin erst bewusst, als sie sieht, dass diese den Befehl erhalten haben, ihr gesamtes Lager mit Palisaden einzuzäunen, was ihr den Zugang zu weiteren Ressourcen verschließt. Sie hatte mal von diesem experimentellen und sehr riskanten Spielzug gelesen, hat sich dem jedoch selbst noch nie in einer Partie gegenübergesehen. Noch bevor Robin überhaupt reagieren kann, ist der Palisadenring bereits geschlossen. Es rächt sich nun, dass sie noch nicht damit begonnen hat, ihr Gold abzubauen. Jetzt liegt es außerhalb der Mauern, die die Grenze zwischen Ordnung und Wildnis, zwischen ihr und mariamartha_89 markieren. Dabei wird sie das Gold in Kürze brauchen. Doch schon beginnen die feindlichen Arbeiter, einen zweiten Ring zu ziehen. Und da ihre eigenen Dorfbewohnerinnen nicht ausreichen, um die Palisaden zu zerstören, braucht Robin dringend Soldaten. Das heißt, sie muss möglichst schnell ins Feudalzeitalter aufsteigen und die Mauern einreißen, denn in jeder Sekunde, in der sie nicht Gold abbaut, erholt sich mariamartha_89 von den wirtschaftlichen Einbußen, die mit dem Abzug ihrer Dorfbewohner aus der Wertschöpfungskette verbunden sind. Aus einem Mangel an Optionen heraus befiehlt Robin ihrem einzigen Späher, den Wall anzugreifen, doch er wird totgeschlagen. Und so bleibt Robin nichts anderes übrig, als vor ihrem Monitor zu sitzen und zuzusehen, wie die Palisaden weiter verstärkt werden, während es innerhalb ihres Reservates immer enger wird und sie schon bald keinen Platz für weitere Felder und Gebäude hat, und sie kann nichts dagegen unternehmen.
Ein alternder Motelbetreiber in Hialeah geht in seinem Schlafzimmer auf und ab. Er fühlt sich einsam und fragt sich, was das alles noch soll. Die ganze nächste Woche, das nächste Quartal, der nächste Winter. Er denkt an seine Frau, die ihn verlassen hat, und fragt sich, was sie wohl gerade macht. Er denkt an die Leute, die er ins Nichts geschickt hat. Bisher hat er erst einmal in seinem Leben ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, sich zu erhängen. Er war damals sogar im Baumarkt und hat sich ausführlich von einer Verkäuferin beraten lassen, was es so für Seilmaterialien gibt und was die für Vor- und Nachteile haben. Aber dann war er doch zu feige.
Schließlich erreicht Robin das nächste Zeitalter und baut sofort zwei Ställe. Weil sie noch keinen Markt besitzt, auf dem sie ihr Holz verkaufen könnte, beginnt sie, weitere Späher zu produzieren, da diese nur Nahrung kosten. Und so wartet sie, bis ihr Trupp an berittenen Spähern groß genug ist, während ihre Gegnerin nicht nur dabei ist, die vierte Schicht des Walls zu schließen, sondern auch Wachtürme um Robins Lager errichtet, die das Feuer auf alles eröffnen, was sich bewegt. Ihre Dorfbewohnerinnen sterben, ihre Produktionsmittel sind unmittelbar bedroht, also entscheidet sie, ihre schwachen Späher rauszuschicken. Sie sollen erst die Arbeiter ausschalten und danach das gegnerische Lager überfallen.
Orthopäde oder Chirurg müsste man dieser Tage sein, denkt sich ein Taxifahrer, der vier betrunkene Geschäftsleute vom Messegelände durch die Stadt fährt. Zwei Niederländerinnen haben sich nach einem Tag voller Meetings und containerbezogener Gespräche mit zwei US-amerikanischen Geschäftspartnern in einer Bar auf der Messe abgeschossen. Sie sind unheimlich laut und zeigen sich gegenseitig Fotos auf ihren Handys. Die Amerikaner erzählen den Europäerinnen Horrorgeschichten über das Leben in Miami und wie der Rest ihres Landes auf diesen seltsam versehrten Ort herabblickt. Die ausländischen Geschäftsfrauen nötigen den Taxifahrer, diese Behauptungen zu verifizieren. Orthopäde oder Chirurg, Orthopäde oder Chirurg.
Noch bevor Robins Späher das feindliche Lager erreichen, erhält sie die Benachrichtigung, dass ihre Gegnerin ins Ritterzeitalter vorangeschritten und ihr wirtschaftlich bereits davongeeilt ist. Sie kommt zu spät. mariamartha_89 hat sich erholt und in ihrem Lager warten auch schon mehrere Ritter auf ihren kümmerlichen Gegenangriff. Mühelos reiben sie Robins leichte Späher auf wie Autoreifen ein Blumenbeet. Übrig bleibt ein kleiner Leichenhaufen in der Nähe einer Mühle.
Die aus der ganzen Welt stammenden Forscher, die Archäologinnen, die Geologen, die Ethnologen, die Meeresbiologen und Botanikerinnen, die Anthropologen, die Soziologinnen und Politologen, die Psychologen, die Statistikerinnen, die Good Governance Leute, die Mikroökonomen, die Architektinnen und Stadtplanerinnen, die Sport- und Medien- und Religionswissenschaftler, die Leute von der OSZE und aus D.C., die angereist sind, um Miami und seine Bewohner bis in den letzten Winkel zu vermessen und zu verstehen, liegen zu diesem Zeitpunkt entweder in ihren Schlafkammern nahe dem UM-Campus oder feiern in den noch gebliebenen, völlig überlaufenden Nachtclubs im Osten und schicken Bilder in ihre ungläubige Heimat.
Als Robin sich wieder ihrem Lager widmet, realisiert sie, dass zu allem Überfluss eine Burg direkt vor ihrem Dorfzentrum errichtet wurde, das nun von einem Pfeilhagel terrorisiert wird. Ihre Wirtschaft liegt am Boden, sie wird sich nicht davon erholen und bald wird mariamartha_89 ihre Ritter schicken und die restlichen Arbeiterinnen massakrieren. Es gibt hier nichts mehr zu holen. Robin ärgert sich über ihre Leichtsinnigkeit. Tief in unseren Herzen sind wir alle bemitleidenswerte Versager. Morgen muss sie wieder zur Arbeit. Sie könnte sich Schöneres vorstellen. Mit Daria auf der Couch liegen und JRPGs spielen zum Beispiel. Robin will gerade ›gg‹ eintippen, als sie ein Zischen hört und ihr Bildschirm schwarz wird. Das Licht ist aus. Und auch in allen anderen Zimmern, überall ist es dunkel. Der Lüfter ihres PCs dreht sich noch einen Moment, bevor er stillsteht. Hideo wacht aus seinem Ruhezustand auf und fragt, ob alles in Ordnung sei. Robin steht auf und geht ans Fenster. Über Miami hängt ein brauner Himmel. Derselbe braune Himmel wie immer. Sie kann von hier bis zum Cooper Park blicken, in dem depressive Akademiker mit Stirnlampen ihre Joggingrunden drehen, um ihr Leben zu verlängern. In manchen der umliegenden Häuser kann sie hektische Taschenlampenlichter durch die Zimmer huschen sehen. Reihenweise springen Dieselgeneratoren in der Nachbarschaft an. Die meisten Gebäude sind einstöckige, billige Bungalows. Sie sehen reisefertig aus. Irgendwo sind militärische Drills zu hören. Manchmal ist das einfach so.
»Dein Wecker klingelt um sieben Uhr.«
In einer beliebten lokalen Frühstücksfernsehsendung berichtete ein um Zuversicht bemühter Pressesprecher des Verbands der Miami-Dade-County-Wasserwerke davon, dass mittlerweile Hunderte dieser umgebauten Benzintanklaster täglich in die Stadt fahren würden, um die Menschen mit Wasser zu versorgen, was nur eines von etlichen erfolgreichen Programmen der Regierung sei. Auf den eingeblendeten Bildern waren Männer in Kurzarmhemden zu sehen, die aus ihren Lkw-Fahrerkabinen winkten. Man habe bei der Beschaffung der Fahrzeuge von Beginn an intensiv mit dem hiesigen Konzern Ryder Systems zusammengearbeitet und erweitere die Flotte ständig. Hier werde man auch massiv von anderen US-Großstädten unterstützt, wie man ja überhaupt in der Vergangenheit so großzügig unterstützt worden sei. Finanziell, infrastrukturell, organisatorisch.
»Und die Raubüberfälle auf die Wassertanklaster sind ja seit der Einführung neuer Sicherheitsmaßnahmen, Gott sei Dank, deutlich zurückgegangen.«
»Deutlich«, wiederholte die Moderatorin.
Der Pressesprecher erklärte, dass sich außerdem nach wie vor einige Privatinvestoren für die Errichtung einer Pipeline nach dem Vorbild von Las Vegas starkmachen würden, die vom Südwesten Floridas ausgehend den gesamten fünfundzwanzigsten Breitengrad der Halbinsel mit Süßwasser versorgen sollte. Diese Pläne seien noch nicht vom Tisch und sehr real. Dies sei natürlich bitter, nachdem man jahrzehntelang Milliarden in Drainagen und Pumpen investiert hatte, um das steigende Wasser zurück ins Meer zu pressen, aber es helfe ja alles nichts. Der natürliche Kreislauf des Grundwassers stehe zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwar noch nicht komplett still – der Atlantik sei ja auch nicht vollständig verschwunden und der Golf von Mexiko werde unverändert von selbstgebauten U-Booten durchkreuzt, in denen Drogen für den US-amerikanischen Mittelstand geliefert werden –, »dennoch ist aber die Menge an unter- und oberhalb der Erde zirkulierendem Wasser dramatisch zurückgegangen. Das muss man schon sagen und dafür braucht man sich ja auch nur mal den Wasserstand des Okeechobeesees anschauen«.
Gerade in den ersten Wochen und Monaten konnten die Behörden nicht ausreichend Wasser in die Stadt pumpen und empfahlen den Bürgerinnen und Bürgern deshalb, ihren Privatverbrauch drastisch zu senken, andernfalls müsse man diesen per Notverordnung zwangsdrosseln. Doch alle Warnungen und Maßnahmen halfen nichts. Vorgärten, Parks und Kreiselbepflanzungen trockneten aus, Palmen verloren ihr Haar und die Straßen verstopften mit den hupenden Autos voller Hamsterkäufen. Es kam zu Protesten und in den Getränkeabteilungen der Supermärkte brachen täglich Auseinandersetzungen aus, die sich auf den Parkplätzen entluden, wo sich Nachbarn und Bekannte, Fremde und Verwandte um ihre Einkäufe prügelten.
»Ich denke, wir erinnern uns alle noch gut an diese Anfangszeit und daran, wie keiner zu wissen schien, was gerade passiert war und wie es jetzt weitergehen soll. Aber es hat sich ja viel getan und tut sich auch weiterhin unheimlich viel und wir sollten deshalb zuversichtlich sein, ja.«
Angesprochen auf sonstige Versuche, Miami mit Wasser zu versorgen, griff der Pressesprecher, der eine aufrichtige Freude an seinem Beruf zu haben schien, auf jene Erzählung zurück, die lange als Gerücht im Internet kursierte, in der Tat aber weitestgehend wahr sei, nämlich die Erzählung über eine Feuerwehr-Flugeinheit des Cherokee Nationalparks. Als diese während ihres Schichtdienstes die erschütternden Nachrichtenbilder aus dem austrocknenden Miami im Fernsehen sah, stiegen die Schichthabenden der Einheit noch in derselben Stunde in ihre speziell konstruierten Propellermaschinen und nahmen Kurs auf die Bundeshauptstadt. Insgesamt neun Löschflugzeuge hoben ab. Jede der Maschinen trug knapp zweitausend Tonnen Seewasser sowie Hunderte Barsche, Karpfen und andere Fische in ihrem gewölbten Rumpf.
»Die Staffel erreichte Miami dann gegen zwei Uhr nachmittags in V-Formation und warf in einer Höhe von etwa fünftausend Fuß ihre Fracht ab.«
Es gab etwa ein Dutzend gemeldeter Verkehrsunfälle, weil Leute beim Anblick des Geschwaders ungläubig aus ihren Autos ausgestiegen waren. Besonders tragisch war, dass eine der Maschinen deutlich zu tief flog, als sie das Wasser abwarf. Die gewaltvoll aufschlagende Fracht schleuderte nicht nur Dachziegel von mehreren Wohnhäusern und nahm einer luftfahrtaffinen Person das Augenlicht, sondern riss auch eine Gruppe von Kindern auf dem Weg nach Hause von ihren Fahrrädern. Man hielt später von Seiten der County dennoch an dieser kontroversen Art der Wasserversorgung fest, so der Pressesprecher, nicht weil man davon überzeugt war, damit den Wassermangel nachhaltig in den Griff zu kriegen, sondern weil man an die beruhigende Wirkung von Regen glaubte, der doch einst so typisch für Miami war.
»Seitdem fliegen bekanntermaßen dreißig Maschinen ähnlichen Bautyps zweimal am Tag die Stadt an. Einmal um zehn Uhr morgens und einmal um acht Uhr abends.«
Die Moderatorin der lokalen Frühstücksfernsehsendung nickte. Auf dem niedrigen Tisch zwischen ihr und dem Pressesprecher stand ein Tablett mit zwei grünen Kaffeetassen, einem Glas Brombeermarmelade und Croissants. Sie wirkte abgelenkt, als schaute sie an ihrem Gast vorbei. Dieser fuhr fort und erzählte, dass es ab einem gewissen Punkt nicht mehr der Wassermangel, die hohe Arbeitslosigkeit oder die umnachteten Kongressteilnehmer waren, die den Behörden am meisten Sorge bereiteten, sondern die sich häufenden Meldungen von Menschen, die flächendeckend Symptome aufzuweisen begannen, die womöglich auf das Grundwasser zurückzuführen waren. Dazu zählten unter anderem eine schiefe Körperhaltung, der Verlust der Orientierung insbesondere in geschlossenen Räumen, Probleme bei der Wiedererkennung von Gesichtern, plötzliches Umfallen während des Vormittags, der Verlust der Fähigkeit, mit Niederlagen und Rückschlägen umzugehen, unkontrollierbare Wutausbrüche beim Autofahren, unverhältnismäßige Müdigkeit, eine ausgeprägte bis halluzinogene Fantasie, große Trauer beim Anstehen an der Kasse, unerträgliche Langeweile, Schwierigkeiten, sich das eigene Geld einzuteilen, sowie Atemwegsbeschwerden und schlimme Bauchschmerzen.
»Ich glaube, das war schon so ein Moment, wo sich viele Menschen dachten: Das auch noch?«, sagte der hagere Pressesprecher mit freundlichem Gesicht.
Währenddessen wurden auf dem Bildschirm, der zwischen dem Pressesprecher und der Moderatorin aufgestellt war, Plakate und TV-Werbespots eingeblendet, in denen die städtischen Behörden die Bürger dazu anhielten, vorerst kein Leitungswasser mehr zu trinken oder zur Aufbereitung von Speisen zu benutzen und stattdessen ihren Verbrauch weitestgehend auf Tafelwasser oder Soda-Light-Getränke umzustellen, was eine sehr erfolgreiche Kampagne gewesen sein soll.
»Die körperliche Pflege und die ganzen Reinigungen im Haus sind wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge aber weiterhin unbedenklich?«
»Die körperliche Pflege und die ganzen Reinigungen im Haus sind wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge weiterhin unbedenklich. Das wurde erst letzten Monat noch mal bestätigt. Wir führen ja tägliche und wöchentliche Tests durch. Trotzdem sollte man die Augen offen halten.«
»Ja.«
»Menschen, die in der Vergangenheit größere Mengen Leitungswasser zu sich genommen haben oder Personen in ihrem Umfeld kennen, die dies getan haben, sollten auf Veränderungen bei sich und ihren Mitmenschen achten.«
Bilder von Wassertanks, eingesendet von Zuschauern aus der ganzen Stadt, wurden eingeblendet. Einige der Tanks waren mit Stacheldraht umwickelt, andere waren aufgebockt auf Stelzen. Manchmal stand jemand davor und winkte in die Kamera oder hielt eine Flagge und streckte den Daumen hoch.
»Was viele nicht wissen, ist, dass Miami vorher die Stadt mit der geringsten Toilettendichte in den Vereinigten Staaten war. Nun haben wir noch weniger Toiletten, aber auch weniger Menschen, weil es die, die es sich leisten konnten, in den Norden gezogen hat.«
Es sei ja nicht ohne Ironie, meinte die Moderatorin und wedelte mit ihren Gesprächskarten, dass es die Miami-Dade County getroffen habe, wo man sich in den Jahren zuvor doch noch so sehr vor dem steigenden Meeresspiegel und einem Versinken der Stadt gefürchtet habe, weshalb es in Vierteln wie Little Haiti, die höher gelegen waren, zu derartigen Steigerungen der Immobilienpreise gekommen sei, dass deren Bewohner aus ihren Häusern vertrieben wurden.
»Weil man dachte: Hier wird in Zukunft der Strand verlaufen.«
»Es kam ja auch immer häufiger zu Überschwemmungen. Auf Miami Beach genügte ein schwacher Regen, etwas Wind und der Mond an der falschen Stelle. Von den Drainagen und Pumpen sprachen wir ja schon. Das wirkt heute alles unheimlich fern. Statt einem Archipel aus Hochhäusern haben wir jetzt die auf ihrem Rumpf balancierende, vor sich hin rostende Carnival Breeze, die sich nicht in den Hafen retten konnte und zwei Meilen vor der Stadt auf dem Trockenen liegt.«
»Noch mal zu den Folgen für die Bürgerinnen und Bürger: Um sich unabhängig vom Leitungswasser zu machen, haben sich ja viele Haushalte genau solche Plastiktanks angeschafft, die wir hier sehen und in denen man Mineralwasser oder andere Flüssigkeiten sammeln kann.«
»Richtig. Die stehen meistens irgendwo im Garten oder auf Balkonen und Dächern. Ich persönlich habe um meinen eine kleine Holzhütte bauen lassen. Das Ganze wird im Übrigen von der Stadt finanziell gefördert, ebenso wie die Anschaffung von Dieselgeneratoren. Die entsprechenden Antragsformulare des Förderungsfonds Auferstehung Miami können Sie auf unserer Website www.auferstehung-miami.org finden.«
Die Moderatorin nickte beständig. Sie wirkte unentschlossen, als wartete sie auf ein erlösendes Signal aus der Regie. Vielleicht dachte sie an die Möglichkeit, wegen anstehender Kürzungen im Sender entlassen zu werden und dass das schon ihre letzte Sendung sein würde. Vielleicht dachte sie – während der Pressesprecher weiter von den unterschiedlichen Finanzierungsmöglichkeiten für Wassertanks und dem kontinuierlichen Ausbau der Klärwerkanlagen sprach – daran, dass sie den Kredit für ihre Wohnung nicht mehr würde abbezahlen können, dass sie das Geld, das sie ihrer Schwester geliehen hatte, wieder einfordern und sie in ihren Heimatort zurückziehen müsste. Vielleicht würde sie jeden Moment wie Christine Chubbuck einen Revolver hervorziehen und sich vor laufender Kamera erschießen. Vielleicht war sie aber auch einfach nur unheimlich erschöpft.
Während des ruhigen Fluges über den Atlantik hörte ich meinerseits eigtl. fast durchgehend alte Tonbandaufnahmen von Sattler/Lopez, um mich von meinen Kopfschmerzen abzulenken, doch wollten sich meine Augen nicht recht schließen u. alles erschien mir im Zerrbild einer fieberhaften Müdigkeit diesig u. verworren, sodass ich manchmal, in Momenten des Halbschlafes, nicht genau wusste, ob wir uns gerade auf dem Hin- o. auf dem Rückflug befanden, ob die Ereignisse von Miami bereits geschehen waren o. weissagungsgleich noch geschehen würden. Sorgen verspürte ich keine.
Es war, als ich die Kopfhörer abnahm u. mich das erste Mal wirklich umsah, dass ich die Stille an Bord u. das merkwürdige Licht bemerkte, in das alles getaucht war – als wären die ganzen Kunststoffverschalungen u. die Fasern der Sitzpolster optische Illusionen. Ich streckte meine Beine (sie waren noch da) u. beobachtete, wie die Crew, leise u. ohne ein Wort mit den Passagieren zu wechseln, ihre Stahlwägelchen mit unserem Abendessen (aufgewärmte Gemüselasagne) durch die Gänge schob. Niemand nahm sie wahr, nicht ihre vorsichtigen, einstudierten Gesten, nicht ihre vertraulich fragenden Augen o. die aufrechte Körperhaltung, mit der sie sich durch das Flugzeug bewegten u. die sie in berufsvorbereitenden Schulungen gelernt hatten. Niemand wertschätzte ihre Anwesenheit u. nur die wenigsten nahmen ihnen ihr Essen ab. Ich stellte mir vor, wie sie alle Hand in Hand stoisch in einen großen See liefen.
Irgendwo hinter uns meinte ich, die Triebwerke zu hören, wobei sie ebenso gut längst hätten ausgefallen o. von den Piloten abgeschaltet worden sein könnten – dafür hatte ich kein Gefühl u. meine Uhr ging falsch. Es schien mir überhaupt, als wäre es die ganze Zeit um uns herum dunkel gewesen, als wären wir in einen schwarzen, reißfesten Sack gepackt worden. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, auch nur einmal die auf- o. untergehende Sonne, sondern immer nur mein durch das reflektierende Plastik gealtert erscheinendes Gesicht gesehen zu haben, wodurch ich unter dem Eindruck stand, ich könnte unseren Absturz verschlafen haben u. nun wären wir bereits seit Jhd. unter den unendlichen Wassermassen des Atlantiks begraben worden u. würden – die letzten warmen, uns vor dem Sturz in die Barbarei bewahrenden Gemüselasagnen aus den Vorratskisten der Besatzung aufbrauchend – noch immer vergebens auf unsere Rettung durch irgendjemand da draußen warten, obgleich doch längst niemand mehr von unserer Existenz wissen, niemand noch in den verbleibenden Bibliotheken u. Archiven unsere Namen nachschlagen u. niemand Suchtrupps entsenden würde, um uns zu finden. Eine Vision, die den Geschehnissen in Miami rückblickend ihren ersten obskuren Anstrich verlieh.
Das Flugzeug war nur zur Hälfte mit Menschen gefüllt. Die Preise für Flüge aus Europa nach Miami waren ins Bodenlose gefallen, obwohl nur noch wenige Fluglinien die Stadt ansteuerten. Ich verstand wenig von Ökonomie. Auch nach Stunden in der Luft fühlte es sich an, als würden wir auf Passagiere warten. Simon saß links von mir am Fenster u. spielte auf seinem Laptop Counter Strike 1.6. Er trug sein weißes, ausgeleiertes Stirnband u. trainierte seine Reaktionsschnelligkeit auf aim_map2, wobei er keinerlei Anstalten machte, die uns trennende Armlehne in Anspruch zu nehmen, sondern sich mit der heruntergeklappten Ablage des Vordersitzes begnügte. Simon war schmal u. kompakt. Seine dünnen Arme u. sein immer leicht fettiges Haar, das sich ober- u. unterhalb seines Stirnbandes herauswirrte, rundeten seine schülerhafte Gestalt ab. Den Blick an den leuchtenden Bildschirm geheftet, strahlte er eine unwirkliche Ruhe aus, die mich an meditierende u. verbrennende Mönche erinnerte. Ich glaube, es gibt ein Wort für die Sehnsucht zu verbrennen, kann mich aber auch täuschen.
Früher – daran erinnere ich mich noch genau – haben die Stewardessen u. Stewards uns gebeten/ermahnt, während des Fluges bitte nicht Counter Strike zu spielen, da es anderen Passagieren evtl. Angst machen könnte, u. uns vertröstend auf die im Programm stehenden Filme verwiesen o. uns eine zusätzliche Packung Nüsschen geschenkt. Mittlerweile – so stellte ich fest, als ich Simon dabei zusah, wie er mit kleinen Bewegungen seines Handgelenkes hinter den Holzkisten hervorlugte u. seine Sparringspartner-Bots, die Juan für ihn programmiert hatte, auf der anderen Seite der Map nach Belieben erschoss – war es den Flugbegleitern einfach egal geworden. Wahrscheinlich fanden sie die antiquierte Grafik von CS 1.6 eher drollig als bedrohlich, was mich schon seit Jahren aufgehört hatte zu verletzen.
Wenn Simon so dasaß, den Kopf leicht nach vorne geworfen, dann fühlte ich mich auf eine Weise für ihn verantwortlich. Er war halb so alt wie wir und bis dato noch kein einziges Mal ohne seine Eltern außerhalb von Deutschland verreist, die ihn uns mit den Worten »Passt auf, dass er jeden Tag mindestens eine Stunde steht, er hat ja manchmal Rücken« anvertraut hatten. Er erinnerte mich an mich selbst. Auch ich war in seinem Alter schmächtig, bleich gewesen u. hatte die meiste Zeit meiner Jugend mit Videospielen verbracht. Wahrscheinlich rührte meine Zuneigung aber v.a. von meiner Bewunderung für sein ungeheures Talent in CS. Er war das Gehirn unseres Teams. Es waren seine strategische Weitsicht, die Mühelosigkeit, mit der er gegnerische Spielzüge analysierte u. vorausahnte, die Intellektualität u. theoretische Rigorosität, mit der er sich auf anstehende Partien vorbereitete, die eleganten Bewegungen seiner jugendlichen Arme, Gelenke u. Finger, seine Fadenkreuzplatzierung, sein Feingefühl für die Korrektur des Rückstoßes der unterschiedlichen Waffen – als wäre er mit einem natürlichen Wissen über die Wiesenthal/Cho-12-Verteilung auf die Welt gekommen –, was ich an Simons Spiel so erstaunlich u. ästhetisch fand u. weshalb ich diesem Jungen für immer zuschauen könnte, ohne auch nur den Anklang von Reue über ein vergeudetes Leben zu spüren.
Rechts von mir saß Hannek, eingewickelt in eine braune Tagesdecke der Fluglinie, u. sah sich pausenlos Filme an, die alle darauf beruhten, dass US-amerik. Protagonisten sich aufgrund misslicher resp. glücklicher Verwechslungen in bizarren Situationen wiederfanden, die sie bekümmerten u. herausforderten. Manchmal lachte Hannek plötzlich laut auf, z.B. weil eine Figur im Film etwas verschüttet hatte. Wir waren im selben Vorort von Aachen aufgewachsen. Meinerseits konsumierte ich nichts aus dem umfangreichen Unterhaltungsangebot der Airline. Stattdessen war auf meinem Bildschirm durchgehend der Reisefortschritt auf einer veralteten Weltkarte zu sehen. Sie zeigte die ehemals zungenförmige Landmasse Floridas, als das amerik. Festland u. die Bahamas noch durch Billionen von Litern an Salzwasser voneinander getrennt waren. Hanneks Augen waren mal weit aufgerissen, dann wieder halb geschlossen. Ich glaubte an seiner Körperhaltung ablesen zu können, dass er sich unwohl fühlte o. zumindest nervös war. Er hatte während des Fluges mir gegenüber nur ein einziges Mal das bevorstehende CS-Turnier angesprochen, zu dem wir eingeladen waren, u. das Gerücht erwähnt, dass fnatic aus Schweden wohl ein Team nach Miami schicken würde, wozu ich nicht wirklich etwas Sinnvolles sagen konnte, außer, dass ich ihm raten würde, nicht ernsthaft damit zu rechnen, olofmeisteR, krimz et al. zu treffen, selbst wenn zur selben Zeit in der Tat keine wichtigen CS:GO-Turniere stattfanden u. es deshalb nicht vollkommen ausgeschlossen war, dass sich derartige Weltgrößen dazu hinreißen lassen würden, CS 1.6 bei diesem letzten großen Turnier in Miami zu verabschieden. Ich empfahl ihm, sich stattdessen auf sein eigenes Spiel zu konzentrieren, noch mal alle Eröffnungen u. Spielzüge in Ruhe durchzugehen u. die Tage in den Vereinigten Staaten von Amerika zu genießen, egal, was passiert.
»Die Vereinigten Staaten von Amerika«, hatte er wiederholt, sich zur Seite gedreht u. sich wieder den Filmen gewidmet. Wir sprachen für den Rest des Fluges nicht mehr miteinander. Die nächstgelegenen Notausgänge befanden sich fünfzehn resp. zwanzig Schritte von unseren Sitzen entfernt. Sie waren mit fluoreszierendem Neongrün markiert.
Die anderen beiden aus unserem Team, Rafi u. Juan, waren irgendwo im Flugzeug verstreut. Ihre Reservierungen hatten sie selbst vorgenommen, sodass ich nicht mit letzter Sicherheit sagen konnte, wo genau sie saßen, ja, im Grunde wusste ich nicht einmal, ob ihre Sitzplätze nebeneinanderlagen. Ich hatte sie den ganzen Flug über nicht ein einziges Mal gesehen u. mich in der Folge mehr als einmal gefragt, ob evtl. die Möglichkeit bestand, dass sie nicht doch im letzten Moment – im Angesicht der sarggleichen Sicherheitsluke u. ihrer massiven Scharniere sowie der im Eingangsbereich wie Totengräber lächelnden Crew – kehrtgemacht u. zu keinem Zeitpunkt in dieser Boeing 747 gesessen hätten. Auch stellte ich mir vor, dass man Juan womöglich nicht an Bord gelassen hatte, weil er war, wie er war. Wiederholt hielt ich auf dem Gang zu den Toiletten nach den beiden Ausschau, konnte jedoch ihre Gesichter nicht unter den Schlafenden erkennen. Auf dem Klo wollte ich aus Angst vor einer bakteriellen Infektion nichts anfassen.
Sonderlich viele Bücher hatte ich für die kommenden Tage in den USA nicht eingepackt, genau genommen bloß zwei Sammelbände mit Essays u. Gedichten von Sattler/Lopez, beide erschienen in einem kleinen, linken Verlag, hundertfach durchgelesen u. mit Anmerkungen verstümmelt. Ich hatte natürlich auch meinen Laptop dabei, den ich mir vor der Reise nach langer Recherche gekauft hatte. Immer wenn ich mir etwas anschaffen wollte, war ich wie gelähmt von der großen Auswahl, den vielen Erfahrungswerten u. Herstellerversprechen, sodass ich unnötig viel Zeit darauf verbrachte, alles gegeneinander abzuwägen. Danach fühlte ich mich meistens erbärmlich. Obwohl ich also alles dabeigehabt hätte, um an meiner Habil. zum Poetischen Staat weiterzuarbeiten, hatte ich dies nicht wirklich vor; dabei lag ich deutlich hinter dem Zeitplan. Die Texte von Lisa Sattler u. Yolanda Lopez verstand ich eher als eine Art Reißleine. Sie sollten mich daran erinnern, dass es nach dem Turnier weiterging, dass ich noch viel zu erledigen hatte, dass es Wichtigeres zu tun gab, dass Counter Strike schon seit Jahren nicht mehr der Mittelpunkt meines Lebens war u. dass mein Bürozimmer an der Bergischen Universität Wuppertal geduldig auf meine Rückkehr aus Miami wartete. Genauso wie Rafis Gesicht, das – als er im Frankfurter Flughafen durch die Sicherheitsschleuse ging – diese hans-castorpsche Überzeugung ausstrahlte, als ders. zurückzukehren, als der er abgefahren war, u. sein Leben genau dort wiederaufzunehmen, wo er es für einen Augenblick hatte liegenlassen. Das wollte ich auch. Seine Frau hieß Heike. Ich hatte sie seit langem nicht mehr gesehen.
Auch ich nickte schließlich irgendwann ein u. träumte von Annemarie Warnkross, wilden Tieren, einem blutigen Bürgerkrieg auf der Map de_aztek u. dem Poetischen Staat. Mich weckte erst der Druck auf den Ohren.
Ich dachte an Waldbrände.
Die Sonne lag hinter dem Kontrollturm, als wir in einer Menschentraube über das Rollfeld liefen, weil der zweite Shuttlebus zum Terminal ausgefallen war. Die Busse wurden offenbar nicht ausreichend gewartet, Ersatzteile fehlten u. waren zu teuer. Ich sah, wie der Busfahrer vor der geöffneten Motorhaube ungläubig den Kopf schüttelte, u. hörte, wie er in das kleine Funkgerät an seiner Brust darüber wehklagte, dass dieser Tag nur Unglück gebracht hätte u. dass er doch morgen seine Nachuntersuchung habe.
Ich folgte wie der Rest der Passagiere stillschweigend unserem Guide, einem einarmigen Mann, der eine grüne Polyesterweste vom Internationalen Flughafen Miami anhatte u. uns permanent daran erinnerte, Schritt zu halten. Ich hörte eine Frau hinter mir sagen, wie erleichtert sie sei, sicher gelandet zu sein, trotz der starken Winde. Die Luft war erdrückend schwül. Sie drang in die Lungen, wie eine Hand in einen Gummihandschuh schlüpft. Ich begann heftig zu schwitzen, obwohl ich nur ein dünnes Hemd anhatte. Hannek trug seinerseits ein Snapback Cap von irgendeinem US-Sportteam, eine kurze Billabong-Hose sowie ein orangefarbenes Shirt, auf dem ein prominentes Zitat des G-Man aus Half Life 2 aufgedruckt war. Er sah aus wie ein Dreiunddreißigjähriger, gefangen im Körper eines Jugendlichen aus dem Jahr 2004. Ständig packte er seine Kamera aus, filmte u. kommentierte alles für seinen nicht besonders erfolgreichen Youtube-Kanal, der eine Art Gaming-Vlog sein wollte u. für mich ein kaum zu ertragenes Stück Realität war. Ich hatte ihn gebeten, mich namentlich nicht zu nennen u. so wenig wie möglich zu filmen; auch wenn ich nicht wirklich davon ausging, dass jmd. aus meinem universitären Umfeld auf seine Videos stoßen würde.
Die wenigen Touristen unter den Passagieren meinte ich an den knalligen Farben u./o. den Gummi-Tiermasken aus Hotline Miami zu erkennen, die entweder an ihrem Handgepäck baumelten o. janusartig in ihrem Nacken hingen. Die europäischen Forscherinnen u. Forscher fielen hingegen durch ihre bürgerlich-beige-braune Kleidung, militärische Rucksäcke, ihre abschätzigen Blicke u. schattenspendende Helme auf. Noch immer zog es sie scharenweise in diese rätselreiche Stadt. Davon hatte mir erst kurz vor der Abreise eine Wuppertaler Kollegin vom soziologisch-ethnologischen Institut erzählt, die derzeit Gelder für ein DFG-Forschungsprojekt in Miami sammelte. Es ging um eine empirische Untersuchung von nihilistischen Jugendbanden.
Hannek hatte im Vorfeld gemeint, dass es wohl auch ein zweites deutsches CS-Team gebe, das beim Turnier antreten wolle, doch fand ich hierfür keinerlei Anzeichen. Irgendwann sah ich zufällig auch Juan u. Rafi zwischen den Passagieren, aber sie bemerkten uns nicht u. schienen – was seltsam war – in ein Gespräch verwickelt, das ich nicht stören wollte. Stattdessen gab ich mich damit zufrieden, den emsigen Flughafenbetrieb aus nächster Nähe zu beobachten; wie die Schlepper das Vorfeld kreuzten, wie die Hangars aufleuchteten, wie vier schwerbewaffnete Polizisten eine Gruppe Männer, die Matratzen hinter sich herzogen, in Richtung Terminal führten u. sie dabei beschimpften, wie die Marshallers gelangweilt mit ihren Lichtkeulen den tonnenschweren Maschinen zuwinkten. Das war ihre Arbeit. Unter den Flugzeugen meinte ich, Schatten über den Betonboden huschen zu sehen.
Obwohl ich also insgesamt sehr plastische Erinnerungen an unsere Ankunft an diesem Ort u. an jenen Menschenzug auf dem Rollfeld habe, kann ich nicht mit vollständiger Sicherheit sagen, ob wir auf dem restlichen Weg zur Gepäckausgabe über Counter Strike 1.6, das anstehende Turnier, über die beunruhigenden Entwicklungen in Miami in den vergangenen Jahren o. die Tatsache, dass der Flughafen früher etwa ein Fünftel aller hiesigen Arbeitsplätze geschaffen hatte, miteinander gesprochen haben; ich denke, nicht, kann mich aber auch täuschen.
Es war gegen halb elf, als wir nach einer ermüdenden Fahrt mit den öfftl. Verkehrsmitteln unsere Unterkunft erreichten. Außer mir schien es niemanden zu überraschen, dass es noch immer Nacht war, was ich auf die allg. Stimmung unter uns fünf zurückführte: erschöpft u. leicht angespannt. Da wir die ganze Unternehmung aus eigener Tasche zahlen mussten u. nicht damit rechnen konnten, als Sieger des Turniers hervorzugehen, da wir schließlich alles andere als eingespielt o. routiniert im Spielaufbau waren, u. außerdem sowohl Hannek als auch Juan von vornherein Probleme hatten, auch nur den Flug hierher zu finanzieren, hatte ich uns ein recht billiges Motel rausgesucht, außerhalb der eigtl. Metropolregion im hinterletzten Winkel von Hialeah nordwestlich der Stadt, bei einer Metrorail-Haltestation nahe der Interstate, die man laut einigen der Erfahrungsberichte trotz der Palmenfront vor den Fenstern die ganze Nacht lang rauschen hören konnte. In einem der Berichte hieß es:
Nach drei Tagen in der Stadt hatten wir gesehen, wie eine junge Frau sich auf dem Bürgersteig erbrach, wie Leute auf Straßen kampierten, […] wie zwei alte Männer sich mit Einkaufswagen duellierten, wobei ein Mann eine Eisenstange und der andere ein Bärenmesser schwang. Die Leute hier ringen die Hände, schimpfen ihre weinenden Kinder aus, die Fäuste an die Schläfen gepresst. Aber es gab auch viele schöne Momente und das Obst war überall frisch.
Ich meinte mich zu erinnern, dass Fichte in Petersilie irgendwo erwähnt, mal in Hialeah gewesen zu sein; es ging, glaube ich, um Papageien u. afrikanisch-amerikanische Einweihungsriten.
Heinrich’s Dorm war ein zweistöckiges Gebäude in der Form eines Hufeisens mit Parkplätzen u. einem eingezäunten kleinen Pool in der Mitte. Das Ganze hatte etwas Filmisches. Insgesamt hatte ich mir das Motel schlechter vorgestellt. Ich freute mich zum vielleicht ersten Mal wirklich auf die kommenden Tage. Es war als Einziger Rafi, der den Eindruck machte, etwas enttäuscht über den Anblick u. die Lage des Motels zu sein, auch wenn er mir niemals einen Vorwurf gemacht hätte. Dafür war er zu genügsam u. korrekt. Rafi war jmd., der morgens nach der Ankunft im Büro seinen Arbeitstag damit begann, die Datumsstempel auf seinem Schreibtisch zu aktualisieren.
Der namensgebende Inhaber u. Betreiber des Motels war ein alter Mann (ich schätzte ihn auf sechzig), der auch in geschlossenen Räumen seine Sonnenbrille trug. Wir trafen ihn im Rezeptionsraum im Erdgeschoss an. An den Wänden hingen diese halbkugelartigen Glaslampen, in denen sich tote Fliegen u.Ä. sammeln. Wie ich von den in seinen Gürtel eingeklemmten Gummihandschuhen ableitete, betrieb Heinrich offenbar das gesamte Motel alleine. Er überreichte uns die Schlüssel, einige Formulare u. beschrieb uns den Weg zu unseren Zimmern im ersten Stock im linken Flügel des Motels. Hannek u. ich teilten uns mit Juan ein Zimmer, Simon u. Rafi waren direkt nebenan untergebracht. Heinrich bot den beiden (die ebenso gut auch Vater u. Sohn hätten sein können) an, das optionale Einzelbett in ihrem Zimmer an einen dritten Gast unterzuvermieten u. dafür dann weniger zahlen zu müssen, worauf aber beide keine Lust hatten; besonders Rafi nicht, der schließlich als Einziger von uns ein vernünftiges Einkommen u. eine unbefristete Stelle in der Vertriebsabteilung eines mittelständischen Unternehmens namens Herder-Ignis hatte, das hochwertige Müllverbrennungsanlagen in Deutschland herstellte u. diese nach Afrika u. Asien verkaufte.
Später erfuhren wir, dass zeitgleich zum CS-Turnier eine internationale Fachmesse für Containerschiffe in Miami stattfand, weshalb die Stadt von asiatischen u. europäischen Geschäftsleuten bevölkert wurde u. dementsprechend die wenigen noch verbliebenen Hotels resp. Motels überlaufen waren. Hinzu kamen – wie gesagt – die angereisten Forschungsteams, die seit einigen Jahren die Stadt in eine gigantische archäologische Grabungsstätte verwandelt hatten. Meine Kollegin vom soziologisch-ethnologischen Institut hatte mir erzählt, dass die meisten wohl noch lange nicht mit ihrer Arbeit fertig seien u. zumeist in kleinen Gruppen in der Nähe des Campus leben würden, von wo aus sie tagsüber ausschwärmen, um ihre Untersuchungen zu betreiben. Zwar gab es in der Stadt einen ansteigenden Leerstand an Gebäuden, in denen man all diese Leute hätte unterbringen können, doch niemand wollte in Häusern schlafen, aus denen die früheren Bewohner geflohen waren.
Bevor er uns verabschiedete, gab Heinrich jedem von uns noch eine Info-Broschüre mit, in der vor den Risiken des Zusammentreffens mit den hier heimischen Alligatoren (alligator mississippiensis) gewarnt wurde u. in der einige Verhaltenstipps im Falle einer solchen Begegnung aufgelistet waren. Des Weiteren waren dort Telefonnummern von ›Offiziell registrierten Ringervereinen der Miami-Dade County‹ sowie mehrere mit einem roten Strich durchkreuzte Abb. abgedruckt, die u.a. Kinder dabei zeigten, wie sie mit einem Stock auf Alligatoren schlugen bzw. versuchten, darauf zu reiten. ›Sie sind nicht Crocodile Dundee, Sie sind sterblich‹, hieß es dort. Ebenfalls abgedruckt war eine Telefonnummer, unter der man das sog. ›Bürgertelefon‹ erreichen könnte, um etwaige ›Anomalien und Auffälligkeiten im Alltag‹ den Behörden zu melden. Die Broschüre schloss mit einer Abb., bei der ein kleiner menschlicher Körper quer zwischen den Kiefern eines Reptils hing, unter dem sich eine rote Lache gebildet hatte. ›Es gibt keine Hoffnung ohne Angst und keine Angst ohne Hoffnung. Gezeichnet der Gouverneur von Florida.‹
Heinrich, der Rafis u. meinen nervösen Gesichtsausdruck registriert zu haben schien, erklärte uns, dass Miami seit dem Rückgang des Atlantiks an einer Alligatorenplage leide, welche die Zahlen der in der Innenstadt gemeldeten Tiere aus den vorherigen Jahrzehnten um Längen in den Schatten stelle; eine in dieser Form nie dagewesene Populationsexplosion, die nach wie vor niemand erklären könne, »mit Ausnahme dieser Leute im Kongress«, so Heinrich. Mir gefiel seine Art, Worte zu sagen.
»Viele meinen, es liegt am gestörten Wasserkreislauf und die Tiere seien verwirrt. Wie gestrandete Wale. Andere sagen, es seien die Erinnerungszeichen des ausgerotteten Dschungels, die Miami heimsuchen, aber das sind Vollidioten.«
Mittlerweile mussten die Alligatoren – wie es eigtl. das Artenschutz- bzw. Jagdgesetzbuch forderte – nicht mal mehr eingefangen u. in einen der nahe gelegenen Sümpfe transportiert werden, sondern durften, laut Noterlass, von Polizisten wie Anwohnern direkt u. auf offener Straße erschossen, überfahren, erschlagen, vergiftet, durchbohrt, zerhackt, genagelt o. auf sonstige Weise getötet u. anschließend in speziell gekennzeichneten Müllsäcken, die man kostenlos in Supermärkten u. Tankstellen erhielt, mit dem gewöhnlich Hausmüll entsorgt werden.
Auf Rafis Frage, ob es denn in der Nähe des Motels Alligatoren gebe, zögerte Heinrich einen Moment, schob sich seine Sonnenbrille hoch, hinter der sich chemiegrüne Augen versteckten, u. antwortete: »Sie sind wie Tauben.« Es gebe sie überall, man könne sich nicht vor ihnen verstecken, sogar am Strand o. auf einer Plaza im Schatten der Bankenhochhäuser, in den Lebensmittelgeschäften der Kubaner, auf Kindergeburtstagsfeiern im Garten, mitten auf der Straße, in Großraumbüros, hinter jedem Gebüsch würden sie liegen. Allein heute seien wieder zwei große Exemplare durch genau jene Tür gekrochen, durch die wir gerade gekommen seien. Er halte für solche Situationen immer etwas altes Schweine- o. Hühnerfleisch im Minikühlschrank hinter der Theke bereit, mit dem er sie nach draußen locken könne, »wegen dem Dreck, den das sonst macht«. Ich sah zum Minikühlschrank u. stellte mir vor, wie eine kritische Masse an Salmonellen die menschliche Magensäure überwindet, in die Darmschleimhaut eindringt u. dort ihre Zellgifte freisetzt. Während wir so dastanden u. Heinrich uns von einigen besonders großen Exemplaren erzählte, die er erlegt hatte, fielen mir mehrere Erzählungen nordamerikanischer Autoren ein, die ich in meinem Literaturstudium gelesen hatte u. die damit beginnen, dass fremde Besucher in einer Ortschaft aufkreuzten, in der irgendetwas nicht stimmt, u. damit enden, dass sie sich an einen Heizungsboiler im Keller gekettet wiederfinden.
Auffällig sei, fuhr Heinrich fort, dass die Alligatoren jegliche Scheu vor dem Menschen verloren hätten, weshalb es diesen Sommer Dutzende, womöglich sogar Hunderte Todesfälle gegeben habe, viele davon natürlich Ringer. Niemand mache sich noch die Mühe, das nachzuzählen u. aufzuarbeiten. Es sei mittlerweile beinahe so, als hätte man aufgegeben, daran zu glauben, die Sache noch in den Griff zu bekommen.
»Die Menschen hassen die Behörden, die meisten. Was bleibt ihnen übrig? Es gibt kein Vertrauen mehr nach all den Jahren des Versagens. Man hat die Leute alleine gelassen. Die fälschen ja auch die Zahlen. Keiner weiß zum Beispiel, wie viele Triebtäter frei rumlaufen dürfen, wie viele Todesschwadronen es gibt, wie hoch die Arbeitslosenquote wirklich ist, wie hoch die Korruptionsrate und was die Küstenwache eigentlich vorhat. Nicht mal, wie viele Leute hier in den letzten Jahren weggezogen sind, weiß man. Und im Umland lassen sie munter leere Züge ihre Runden drehen, mit angekleideten Strohpuppen drin, um den Eindruck zu erwecken, das Leben gehe weiter, man müsse sich vor nichts verstecken, alles werde in Ordnung sein.«
Heinrich meinte, dass auch er sich bereits an den Gedanken gewöhnt habe, dass die Reptilien bleiben werden. Er sei deswegen jedoch kein Anhänger einer dieser spiritualistischen Gruppierungen, die in der nicht abreißen wollenden Flut an Alligatoren u. überhaupt allem ein höheres Zeichen sehen würden, worauf keiner von uns – müde, wie wir waren – so recht wusste, was man dazu hätte sagen sollen, auch weil wir ja nicht richtig verstanden, wovon er redete. Jedenfalls, sagte Heinrich, müssten wir nicht befürchten, mit einem »Missi am Fuß des Bettes aufzuwachen«. Es sei zumindest noch nicht vorgekommen, dass eine seiner Kundinnen verletzt worden sei. Falls wir doch auf eines der Tiere treffen sollten, so hätten wir bloß ruhig zu bleiben, uns an die Verhaltenstipps der Broschüre zu halten u. einfach nach ihm zu rufen.
»Für wie lange habt ihr die Zimmer gebucht?«
»Bis Montag.«
»Sicher. Sieben Tage frei, das ist schon sehr viel für die meisten, dann zurück in ein Leben, das keiner will.«
Mir fiel nichts mehr ein. Keiner wollte dann so recht nach seiner zum Abschied ausgestreckten Hand greifen, die Heinrich beschämt zurückzog, als dann Rafi doch seine Hand hinhielt u. wiederum wieder zurückzog, als er merkte, dass Heinrich bereits seine Hand zurückgezogen hatte, streckte Heinrich noch mal seine Hand aus usw. Es war schrecklich. Kaum hatten wir uns von ihm abgewendet, hörte ich ihn erst laut aufseufzen u. dann schließlich: staubsaugen.
Die Zimmer waren recht klein u. mit altem hellbraunen Teppich ausgelegt. Juan warf seine Tasche auf das Einzelfeldbett rechts von der Tür u. nahm sie aus wie ein erlegtes Tier. Ins Kingsize-Bett, das ich mir mit Hannek teilte, hatte man früher anscheinend Münzgeld einwerfen können, um es in rotierend-schwingende Bewegungen zu versetzen u. so einen gewöhnlichen Motelbesuch in einen Aufenthalt der Liebe, Zärtlichkeit u. Erotik zu verwandeln. Leider hatte Heinrich den Einwurfschlitz mit Heißkleber o.Ä. versiegelt. Hannek warf sich mit seiner Kamera rücklings aufs Bett u. sagte sinngemäß: »Es kann losgehen.«
In einem Art. hatte ich gelesen, dass etwa unter einem Viertelprozent aller Spieler, die wirklich CS-Profis werden wollten, der Sprung auf die großen Bühnen von Katowice, Köln u. New York gelang. Deren Erfolg leuchtete wie Chimären, denen der Rest nachjagte, indem sie Unmengen an Zeit u. Arbeit investierten. Bei der Stange gehalten wurden sie durch die vielen kleinen u. mittleren Preisgelder, die einem ein verzerrtes Bild von der Industrie u. den Perspektiven vermittelten, sodass man den Brotkrumen folgte, in der Erwartung irgendwann mal beim mit US