Larry Brent Classic 001: Das Grauen - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 001: Das Grauen E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Das Grauen schleicht durch Bonnards Haus In der Nähe von Maurs gehen den Gerüchten nach Vampire um. Eine geheimnisvolle, bis dato noch unbekannte Organisation mit dem Namen PSA (Psycho-Analytische-Spezialabteilung), die ausschließlich in übernatürlichen Fällen ermittelt, schickt einen ihrer Agenten in die französische Idylle. Doch diese Idylle trügt. Der FBI-Agent Larry Brent, der in der Gegend Urlaub machen wollte, findet die Leiche des Spezialagenten X-RAY-18, und wird von unheimlichen Vampirwesen angegriffen. Im letzten Moment kann er entkommen, doch die Gefahr ist noch lange nicht vorbei. Immer weiter verstrickt er sich in die unheimlichen Ereignisse rund um blutsaugende Riesenfledermäuse, und eine geheimnisvolle Organisation, von der noch nie jemand gehört hat. Die Angst erwacht im Todesschloß Der smarte FBI-Agent Larry Brent wird von der PSA abgeworben, und muß unter harten, teilweise lebensgefährlichen Tests seine Eignung beweisen, um zu den außergewöhnlichsten Agenten der Welt gehören zu dürfen. Dabei lernt er Iwan Kunaritschew kennen, ein Mann wie ein Bär, der Zigaretten raucht, daß die Fliegen von den Wänden fallen. Kurz danach schon erleben die beiden einen ersten gemeinsamen Einsatz, der sie mit einem außergewöhnlichen Phänomen konfrontiert. Sie müssen zum Schloß des Duke of Huntingdon. Dort geschehen unerklärliche Dinge. Menschen verschwinden spurlos, Besucher und Gäste werden ermordet aufgefunden. Hat der stille, zurückgezogen lebende Duke etwas mit den Vorfällen zu tun? Stecken seine beiden Töchter Margarete und Patricia dahinter? Oder sind Geister die Verursacher der unheimlichen Ereignisse?

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DAS GRAUEN

LARRY BRENT CLASSIC

BUCH 1

DAN SHOCKER

INHALT

Das Grauen schleicht durch Bonnards Haus

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Glossar

Die Angst erwacht im Todesschloss

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Glossar

Dan Shocker

© 2024 Blitz Verlag

Ein Unternehmen der SilberScore Beteiligungs GmbH

Mühlsteig 10 • A-6633 Biberwier

Redaktion: Danny Winter

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Alle Rechte vorbehalten

eBook Satz: Gero Reimer

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN

E-LBC001 vom 21.07.2024

DAS GRAUEN SCHLEICHT DURCH BONNARDS HAUS

Der erste deutsche Grusel-Krimi.

Auf der Frankfurter Buchmesse 1967 klagte der damalige Verlagsleiter des Zauberkreis-Verlages Jürgen Grasmück sein Leid mit der Krimi-Reihe "Silber-Krimi". Die Verkaufszahlen sanken kontinuierlich. Man wollte sich Gedanken über etwas Neues machen. Jürgen Grasmück machte etwas Neues, er schrieb das Exposé für den ersten Larry Brent-Roman, das angenommen wurde und nach der Veröffentlichung als Silber-Krimi Nr. 747 am 28. August 1968 für einiges Aufsehen sorgte.

Am 15.12.1970 erschien der Roman als Neuauflage in der frisch gegründeten Reihe "Silber Grusel-Krimi" als Nr. 1

PROLOG

Er verharrte plötzlich in der Bewegung. Lauschend hielt er den Atem an, dann drehte er langsam den Kopf. Marc schluckte. Er war kein furchtsamer Mensch – doch jetzt gab es etwas, das ihm zu schaffen machte. Instinktiv fühlte er die Gefahr in der Luft, ohne sie näher beschreiben zu können.

Zehn Kilometer vor Maurs hatte sein Wagen ausgesetzt. Es war Mitternacht, und er konnte nicht damit rechnen, jetzt noch Hilfe von einem anderen Autofahrer zu erhalten. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Weg in das kleine Städtchen zu Fuß fortzusetzen. Langsam ging er weiter, plötzlich stieg wieder dieses unerklärliche Gefühl der Angst in ihm auf. Etwas beobachtete ihn, etwas näherte sich ihm – und mit einem leisen Aufschrei warf er sich plötzlich herum.

Mit fiebrig glänzenden Augen starrte er in den Wald und schien mit seinen Blicken die dunkle Mauer aus Stämmen zu durchbohren.

Doch rundum blieb alles still. Totenstill. In dieser lauen Sommernacht bewegte kein Lufthauch die Blätter in den Bäumen.

Doch der Eindruck täuschte. War es Wirklichkeit oder narrte ihn ein Spuk? Marc glaubte deutliche Schritte zu hören. Dumpfe, gleichmäßige Schritte.

Schweiß trat auf Marcs Stirn. Seine Nerven spielten ihm einen Streich. Er hatte sich vom Gerede der Leute durcheinanderbringen lassen. Das hing mit diesem verteufelten Gerücht zusammen, das erst seit kurzer Zeit in der Umgebung von Maurs in Umlauf war und flüsternd von Mund zu Mund weitergegeben wurde. Die einfachen Menschen auf dem Land lebten noch in ihrem Aberglauben, sie glaubten an Dinge, über die man anderenorts nur lachte.

Marc blieb stehen und hielt lauschend den Atem an. Sein Herz schlug wie rasend und beruhigte sich erst nach geraumer Zeit. Er versuchte, die Gedanken zu ordnen und die Dinge unvoreingenommen zu betrachten.

Narr, der er war! Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass die Schritte, die er gehört hatte, seine eigenen waren.

Der Franzose schüttelte den Kopf und begann zu laufen. Sein Blick war wie in Hypnose auf das dunkle Band der schmalen Asphaltstraße gerichtet, die in der Ferne von den dicht stehenden Baumreihen scheinbar verschluckt wurde.

Für einen Augenblick fühlte er sich erleichtert. Endlich wich die Furcht. Aber dann kam sie plötzlich wieder, als ihn der Schatten wie einen Mantel einhüllte.

Marc hörte mächtiges Flügelschlagen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, einen furchtbaren Alptraum durchzumachen. Aber es war keiner, sondern grausige, erschreckende Wirklichkeit!

Marc riss den Kopf hoch. Da streifte der riesige Flügel sein Gesicht. Die Haut riss auf, als ob ein Rasiermesser sie ritzte. Marc schrie. Der schrille Laut verhallte ungehört in den Tiefen der Wälder. Hier war niemand, der ihn hören konnte. Die nächste Ortschaft lag mehr als sieben Kilometer entfernt.

Marc riss die Arme hoch, doch seine Abwehrbewegung verpuffte im Ansatz.

Er sah die dunkle, schemenhafte Gestalt wie durch einen Blutnebel vor den Augen. Das fremde Etwas, das sich blitzschnell auf ihn senkte, war mannsgroß. Die mächtigen Flügel spannten sich wie ein bizarres Zeltdach über ihn. Dann bohrten sich zwei spitze Zähne in seine Halsschlagadern.

Ein letzter Gedanke erfüllte Marcs Bewusstsein.

Das Gerede der Leute ... die Vampire, die es geben sollte und an die er nicht glaubte, nicht glauben konnte. Er war ein Mensch des 20. Jahrhunderts und lebte in einem modernen, fortschrittlichen Land, in dem es keinen Platz mehr für Vampire, Untote, Geister, Nachtgespenster, Werwölfe und all die anderen finsteren Erscheinungen gab.

Das Blut rauschte in seinen Ohren. Marcs Schädel war erfüllt von einem dumpfen, endlosen Dröhnen, das schließlich jede einzelne Zelle seines Körpers zu erfassen schien.

Ein tiefer, schwarzer Abgrund tat sich vor ihm auf, in den er rasend schnell stürzte. Krampfartige Schmerzen peitschten seinen Körper. Marc fiel zu Boden, seine Arme zuckten, er schlug kraftlos um sich. Dann lag er still.

Er merkte nicht mehr, wie der riesige Schatten zurückwich. Spürte auch nicht mehr das Blut, das als feines Rinnsal aus der Bisswunde am Hals herablief.

Der einsame Autofahrer, der die Hoffnung gehabt hatte, auf jemanden zu treffen, der ihm hätte helfen können – war tot.

1. KAPITEL

Dr. Faneél gähnte herzhaft. Er saß hinter dem Steuer seines dunkelgrünen Citroën und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Straße.

Es war vier Uhr morgens. Erst jetzt kehrte der Arzt aus einer kleinen Ortschaft am Celé-Fluss nach Hause zurück. Noch kurz vor Mitternacht war er zu einem Schwerkranken gerufen worden. Dort hatte er sich fast vier Stunden aufgehalten.

Der Mann am Steuer zuckte zusammen und trat unwillkürlich auf die Bremse. Für einen Moment war es ihm, als ob ein Schatten sein Fahrzeug streifte.

Aber dem war nicht so.

Einbildung – hervorgerufen durch die Übermüdung, die seinen Organismus und seinen Geist belastete.

Für eine Traumeinbildung hielt er zunächst auch den Wagen, den er auf der Rückfahrt nach Maurs verlassen am Straßenrand sah. Ohne besonderes Augenmerk darauf zu richten, steuerte der Arzt seinen Citroën an dem parkenden Fahrzeug vorbei.

Dann entdeckte er den reglosen Körper drei Kilometer von dem Wagen entfernt.

Dr. Faneél trat auf die Bremse. Die Reifen quietschten, das Fahrzeug stand mit einem einzigen Ruck.

Der Arzt war sofort hellwach, stieg aus, näherte sich dem Unbekannten und stellte auf den ersten Blick fest, dass hier nichts mehr zu machen war.

Dr. Faneéls glattes, ein wenig fahles Gesicht war wie aus Stein gemeißelt, als er zu seinem Wagen zurückkehrte und wenig später mit hoher Geschwindigkeit nach Maurs fuhr. Dort benachrichtigte er sofort die Polizei und gab seine Beobachtungen zu Protokoll.

„Ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen, Doktor?“, wurde er von dem Beamten gefragt.

„Ja, sogar etwas sehr Wichtiges! Ich habe an dem Toten eine äußere Verletzung feststellen können.“

„Ein Messerstich? Eine Wunde, die von einer Pistolenkugel herrührte?“

„Nichts davon. Es gab da nur eine Bisswunde am Hals. Sie sah scheußlich aus. Eine Erklärung dafür habe ich nicht.“

Eine Viertelstunde später traf die alarmierte Polizei am Tatort ein. Spuren wurden gesichert, der Fotograf machte zahlreiche Aufnahmen, der Polizeiarzt führte eine erste Untersuchung durch, während etwa zehn Beamte den nahen Wald absuchten, in der Hoffnung, noch weitere Spuren zu finden, die die Aufklärung des rätselhaften Verbrechens erleichterten. Doch solche Spuren gab es zunächst nicht.

Unter den Männern, die im frühen Morgengrauen die Aktion durchführten, befand sich auch Kommissar Sarget. Er war vom Polizeirevier unterrichtet worden, nachdem Dr. Faneéls Aussagen feststanden. Sarget wurde aus dem Bett geholt. Der kleine, drahtige Mann mit den ständig in Bewegung befindlichen, dunklen Augen schien in diesen Minuten überall zu sein. Er gab mit ruhiger Stimme seine Anweisungen, nahm Berichte und Ermittlungsergebnisse entgegen, telefonierte von seinem perlgrauen Peugeot aus mit seiner Dienststelle in Maurs und sorgte dafür, dass die Arbeit so rasch wie möglich vonstatten ging, ohne deshalb oberflächlich zu werden.

Sarget war ein ruhiger, besonnener Mann, etwas untersetzt, mit schwarzem, schütterem Haar. Unter dem Jackett trug er noch seinen gestreiften Pyjama. Er hatte sich nicht mal mehr die Zeit genommen, ihn auszuziehen. Wichtig war jetzt allein, dass die Spurensicherung so schnell wie möglich über die Bühne ging. Das nutzte entscheidend der Aufklärung des Verbrechens. Je früher Spuren gesichert wurden, desto größer war die Chance, den Täter ausfindig zu machen.

Kommissar Sarget verlangte von sich stets das Äußerste. Es war für ihn eine Selbstverständlichkeit, dass auch seine Männer ihr Bestes gaben.

Der Polizeiarzt hatte inzwischen die Untersuchung beendet.

Kommissar Sarget wechselte mit ihm ein paar Worte. „Wie sieht es aus, Doktor?“

Der Arzt seufzte und hob die Achseln. „Es ist noch zu früh, um etwas Genaues zu sagen, Kommissar. Das wird wohl noch zwei oder drei Stunden in Anspruch nehmen. Maßgebend dafür ist die Laboruntersuchung.“ Dr. Pascal presste die Lippen zusammen, seine folgenden Worte waren kaum zu hören. „Eines jedoch scheint sicher zu sein. Ein Raubüberfall ist so gut wie ausgeschlossen. Der Mann trägt noch alles bei sich. Wir wissen, wer er ist, seine Personalien weisen ihn aus. Wir wissen auch, dass er nicht erschossen oder erstochen wurde. Er wurde auch nicht angefahren, wie man ursprünglich glaubte. Die Symptome sind einwandfrei. Der Biss am Hals hat ihn getötet! Es sieht so aus, als ob ihm das Blut abgesaugt wurde.“

„Sie denken wahrscheinlich an die sonderbaren Vampire, von denen man im Augenblick hier in der Gegend von Maurs viel hört und von denen doch niemand etwas Genaues weiß“, knurrte Sarget.

Dr. Pascal wiegte bedächtig den Kopf. „Ja – und nein, Kommissar ... Der erste Eindruck von dem Toten hat sich bestätigt. Leider oder Gott sei Dank – es kommt ganz darauf an, von welcher Warte man es sieht. Dieser Mann wurde von irgendetwas gebissen. Die Wunde ist tief, und die Halsschlagader wurde genau getroffen. Im ersten Moment müsste man annehmen, dass er auf diese Weise viel Blut verloren hat. Aber merkwürdigerweise ist das nicht der Fall. Es ist kein hoher Blutverlust eingetreten, und der Mann, der da steif und tot vor uns liegt, dürfte eigentlich gar nicht tot sein ...“

Kommissar Sarget sah den Polizeiarzt aus großen Augen an. „Wie meinen Sie das, Doktor?“ fragte er mit belegter Stimme.

„Sehen Sie sich die verkrampfte Haltung des Toten an ... sein verzerrtes Gesicht ... er sieht so aus, als ob er unter großen Schmerzen gestorben sei.“

„Dann gibt's nur eine einzige Erklärung dafür: Gift!“

Dr. Pascal zuckte abermals die Achseln. „Die Vermutung liegt nahe. Doch ich kann es nicht glauben. Dieses Bild deckt sich nicht mit dem, was wir die ganze Zeit über von den rätselhaften Bisswunden hörten. Die Personen, die behaupteten, Opfer von Vampiren zu sein, klagten über große Mattigkeit morgens nach dem Erwachen. In den umliegenden Ortschaften ist es während der vergangenen sechs Monate angeblich zu zahlreichen rätselhaften Vorfällen gekommen. Vampire!“

Der Arzt fasste sich unwillkürlich an die Stirn. Er sagte das Wort Vampire so leise, dass es wie ein Hauch über seine Lippen kam. „Man sollte es nicht für möglich halten. Ich habe Bilder von den angeblichen Opfern in Zeitschriften gesehen. Ich hielt sie für Montagen, für Fälschungen. Aber jetzt dieser Tote, der Biss an seinem Hals, die Umstände! Zum ersten Mal gibt es etwas Greifbares. Und doch kann ich einfach nicht daran glauben, dass dahinter das steckt, worüber man hinter vorgehaltener Hand spricht. Vielleicht hat ein Wahnsinniger nachgeholfen und damit das Bild zurechtgerückt, es gewissermaßen so gestaltet, wie wir es sehen sollen.“

Kommissar Sarget fühlte, wie es ihm heiß wurde. Er bemühte sich, seine sprichwörtliche Ruhe zu bewahren. Doch in seinem Innern brodelte ein Orkan. Er erörterte mit Dr. Pascal einige Details, ohne zu einem wirklichen Ergebnis zu kommen.

Natürlich – die Gerüchte, die im Umlauf waren, durfte man nicht einfach mit einer Handbewegung beiseite schieben. Anfangs hatte es so ausgesehen, als ob ein paar Gerüchtemacher am Werk waren, um den Fremdenverkehr in der Gegend zu beleben. Warum auch nicht?, mochte sich mancher fragen. Die Schotten hatten Nessie – warum sollte es also in der Umgebung von Maurs, in den dichten Wäldern, keine Vampire geben?

Kommissar Sarget äußerte dies scheinbar leichtfertig. Doch dahinter steckte ein tiefer Sinn. Zum ersten Mal wurde er mit einem Fall konfrontiert, der deutlich jene Zeichen trug, die er eigentlich nie wahrhaben wollte.

Er war noch immer in Gedanken versunken, als er längst in seinem Büro saß und auf den Ermittlungsbericht des Labors wartete. Die Arbeit am Tatort war abgeschlossen. Der Berufsverkehr flutete schon wieder über die Stellen, wo im Morgengrauen noch Beamte der Spurensicherung ihre Arbeit verrichtet hatten. Nichts wies mehr auf die Dinge hin, die sich in dunkler Nacht auf einer verlassenen Landstraße abgespielt hatten. Der Tote lag im Leichenschauhaus von Maurs, sein Wagen stand in einem dunklen Hinterhof des Polizeigebäudes.

Der Kommissar zündete sich eine Zigarre an und sah die Morgenpost durch. Was er sonst nicht von sich kannte, musste er jetzt mit einem gewissen Erschrecken feststellen. Er bekam seine Gedanken nicht richtig unter Kontrolle. War dies ein Zeichen des Älterwerdens? Alles in seinem Kopf drehte sich. In Gedanken sah er die Wunde am Hals des Toten und konnte sich eines unangenehmen Gefühls nicht erwehren.

Ob sich Dr. Pascal vielleicht doch getäuscht hatte? Auch mit einem Hilfsmittel – einem nachgebildeten Gebiss etwa – konnte man eine solche Wunde herbeiführen, um den Eindruck eines Vampirbisses zu vermitteln. Fest stand auf jeden Fall, dass der Tote nicht verblutet war. Das aber hätte man auf Grund des Bisses in die Halsschlagader annehmen müssen.

Warum aber war der Mann dann gestorben?

Da summte die Sprechanlage.

„Ja?“ meldete sich Sarget.

Der Bericht lag vor. Dies teilte ihm die Laborleitung mit. Dr. Pascals Assistentin sei mit den Unterlagen auf dem Weg.

„Merci“, murmelte der Kommissar müde. Er wirkte bleich und unausgeschlafen. Kein Wunder, da er nur drei Stunden im Bett gelegen hatte.

Er legte seine Zigarre in den Ascher zurück, als an die Tür geklopft wurde. „Ja – kommen Sie bitte herein ...“

Dr. Pascals Assistentin war eine zwanzigjährige Blondine, die einen modischen Rock trug. Der Laborbericht lag in einem grauen Plastikhefter. Die hübsche Besucherin legte ihn auf den Schreibtisch.

„Merci“, sagte Sarget nochmals, löste das Siegel und überflog hastig die ersten Zeilen, die eine Zusammenfassung dessen darstellten, was Pascal später in allen Einzelheiten darlegte. Der Kommissar war so sehr in die Ausführungen vertieft, dass ihm nicht mal eine Bemerkung über Claudias Beine über die Lippen rutschte, was er sich sonst nie entgehen ließ.

Wortlos zog sich die Blondine zurück. Sarget las Pascals Bericht zweimal hintereinander.

Die chemischen und serologischen Untersuchungen haben ergeben, dass der Tod bei Marc Lepoir durch eine Verklumpung der roten Blutkörperchen eingetreten ist. Monsieur Lepoir war Träger der Blutgruppe A. Durch die Bisswunde wurde Blut der Gruppe B in Lepoirs Venen geschleust. Weiterhin steht fest, dass ein teilweiser Blutaustausch erfolgte. Etwa fünfhundert Kubikzentimeter Blut der Gruppe A wurden durch fünfhundert Kubikzentimeter der Gruppe B ausgetauscht. Dieser Austausch ist durch die Bisswunde erfolgt. Der Körper des Toten weist keine weiteren Wunden oder Injektionsstiche auf, die den Schluss zulassen, dass das fremde Blut eventuell auf eine andere Weise in Lepoirs Körper gelangt ist.

Gezeichnet Dr. Pascal.

Kommissar Sarget hatte wenig später noch ein persönliches Gespräch mit dem Arzt. Pascals Laborbericht und seine Ansicht veranlassten Sarget zu einem ungewöhnlichen Schritt.

Es gab ein persönliches Handschreiben des Innenministeriums an ihn. Niemand außer Sarget wusste von diesem Brief. Die Nachricht war ihm vor sieben Monaten überbracht worden, zu einem Zeitpunkt, als die ersten Berichte über angebliche Vampiropfer bekannt wurden, als jedoch noch keine greifbare Beobachtungen und Ergebnisse vorlagen. In den umliegenden Ortschaften, die teilweise bis zu fünfzig Kilometer von Maurs entfernt lagen, war es in den zurückliegenden sieben Monaten zu einigen rätselhaften Überfällen gekommen. Personen entdeckten an sich geheimnisvolle Bisswunden und beklagten sich morgens über Mattigkeit und Müdigkeit. Da entstand das Gerücht von den Vampiren, die hier ihr Unwesen trieben und die doch schließlich noch kein Mensch gesehen hatte. Normale Routineuntersuchungen verliefen im Sand, weil niemand die Geschichte ernst nahm. Dennoch schalteten sich unerwartet der Innenminister und der französische Geheimdienst in Paris ein. Alle Kriminalkommissariate im Land wurden aufgefordert, diese Sonderfälle sofort weiterzuleiten und die Bearbeitung einzustellen, der Geheimdienst interessiere sich dafür, hieß es ...

Sarget schüttelte unwillkürlich den Kopf, während ihn diese Gedanken beschäftigten.

Nun war er also dran. Er hätte nie damit gerechnet, dass auch er einen derart merkwürdigen Fall würde weiterleiten müssen.

Nachdenklich und ernst verpackte er die Unterlagen und die Fotografien von dem toten Marc Lepoir, legte einen handgeschriebenen Vermerk bei und versiegelte das Kuvert.

Noch in derselben Stunde verließ die Sendung sein Büro. Sarget versuchte, seine Gedanken anderen Problemen zuzuwenden, die ihn außer dem merkwürdigen Vorfall noch beschäftigten. Doch das fiel ihm schwer. Je mehr Gedanken er an das Ereignis verschwendete, desto mehr Fragen stellten sich ihm.

Warum interessierte man sich in Paris für diese Dinge? Was hatte der Geheimdienst damit zu tun?

Es ging etwas vor, das über seinem Begriffsvermögen lag. Doch in Paris schien man mehr zu wissen ... Sarget stand am Fenster und starrte auf die Straße, während die Zigarre zwischen seinen Lippen langsam erkaltete. „Seltsam“, murmelte er. „Da gibt es etwas, wo man mit Vernunft und Logik nicht weiterkommt. Da gibt es einen Fall, der in meinen Zuständigkeitsbereich fällt – und doch geht er mich nichts an! Er passt eben nicht in das herkömmliche Schema ...“

Wenn er nur eine Ahnung gehabt hätte, was da wirklich vorging, wäre ihm wohler zumute gewesen. In Paris wusste man sicher mehr – warum nicht auch hier in Maurs?

Der Kommissar ahnte nicht, dass in diesen Sekunden tatsächlich schon jemand in der Stadt lebte, der mehr über die Dinge wusste als er.

Dieser Mann hielt sich erst seit kurzem in Maurs auf. Keine achthundert Meter vom Polizeigebäude entfernt wohnte er in einer kleinen Pension namens Le petit Jardin. Er war Amerikaner und wusste bereits mehr als Sarget, der französische Geheimdienst und die französische Regierung zusammen ...

Henry Parkers Deckbezeichnung lautete X-RAY-18. Sie war nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten in den Vereinigten Staaten bekannt.

Henry Parker gehörte zur PSA.

Die Abteilung, in der er tätig war, hatte sich auf psychologische Mordfälle spezialisiert. In der Psychoanalytischen Spezialabteilung – kurz PSA genannt – wurden Fälle behandelt, die mit herkömmlichen Methoden nicht zu klären waren. Männer, die für die PSA arbeiteten, hatten die Erlaubnis, den ungewöhnlichen Vorkommnissen entsprechend freie Entscheidungen zu treffen, denen gegenüber sie sich nur selbst verantwortlich waren. Sich und ihrem Gewissen.

Diese Agenten standen mit den höchsten Regierungsstellen in Verbindung, es gab keine Tür, die ihnen verschlossen blieb. Und dies auf der ganzen Welt. PSA-Agenten waren wahre Kosmopoliten. Zwischen den Regierungen der Erde gab es Geheimverträge, die den Einsatz von PSA-Agenten in allen Staaten erlaubten. Jede Regierung konnte einen PSA-Agenten anfordern, wenn es um einen Fall ging, der nicht in die herkömmliche Sparte fiel und dessen Aufklärung besondere Schwierigkeiten bereitete. Henry Parker hielt sich auf Anforderung der französischen Regierung in Maurs auf. Als Tourist war er ins Land gekommen, um den Gerüchten über die Vampire nachzugehen. Dabei war nicht mal der Geheimdienst, der die bisherigen Unterlagen bearbeitet hatte, von seiner Anwesenheit unterrichtet.

X-RAY-18 hatte alle Fälle gründlich studiert, bei denen es angeblich zu Begegnungen mit Vampiren gekommen war. Er hatte viele Wege gehen müssen, um die Opfer zu finden, die er danach Schritt für Schritt beobachtete. Und unter den beobachteten Fällen gab es einen, der sein besonderes Interesse erregt hatte. Er stellte fest, dass in der Ortschaft Maurs ein Mann namens Simon Canol lebte, der offensichtlich das Opfer eines Vampirs geworden war. Es gab da einige Punkte, die X-RAY-18 aufmerksam gemacht hatten und sein Misstrauen weckten. Canol schien ein besonderes Verhältnis zu den rätselhaften Vampiren zu haben, von denen so viel gesprochen wurde, die aber bis zur Stunde noch kein Mensch gesehen hatte ... auch Henry Parker nicht. Obwohl er sich fast Nacht für Nacht in der Gegend herumtrieb.

Henry Parker war gewissermaßen zu Canols Schatten geworden. Er hatte dessen Leben und Gewohnheiten unter die Lupe genommen und dabei einige erstaunliche Fakten zu Tage gefördert.

Simon Canol war Biologe. Er selbst bezeichnete sich als Privatgelehrten und schien zu dem bekannten Professor Bonnard, einem erfolgreichen Archäologen und Historiker, der die Geschichte Ägyptens wie kein zweiter kannte, in einem guten, freundschaftlichen Verhältnis zu stehen.

Canol lebte und arbeitete in Maurs. Doch woran er eigentlich arbeitete, vermochte niemand zu sagen.

Er lebte zurückgezogen in seinem kleinen Haus, das auf einer Anhöhe am Stadtrand lag. Regelmäßig spät abends verließ Canol seine Wohnung, wenn die Stadt in tiefer Dunkelheit lag. Parker hatte herausgefunden, dass Canol immer dasselbe Ziel hatte, und der Agent nahm sich vor, den Biologen an diesem Abend heimlich zu verfolgen. Er hatte einen bestimmten Verdacht.

Jetzt war es an der Zeit, sich Gewissheit zu verschaffen. Alles war bis ins Detail durchdacht und geplant. Eigentlich konnte nichts schiefgehen.

X-RAY-18 wandte sich vom Fenster ab, an dem er die ganze Zeit über gestanden hatte. Sein schlanker, sehniger Körper streckte sich unter einem tiefen Atemzug. Sein Zimmer lag im Halbdunkel. Er hatte die Vorhänge vorgezogen; es war angenehm kühl im Raum. Draußen lastete die Hitze eines staubigen Sommertages.

Der PSA-Agent betrachtete eingehend die Skizze, die er angefertigt hatte. Er faltete die schimmernde Folie nach sorgfältigem Studium schließlich zusammen und verstaute sie in einem versteckten Fach seines Agentenkoffers. Dann trat er erneut ans Fenster, blickte durch einen schmalen Spalt des Vorhangs, durch den ein paar Sonnenstrahlen fielen. Das Licht reflektierte auf dem massiven Goldring, der den Ringfinger seiner linken Hand zierte.

Dieser Ring war ungewöhnlich gearbeitet. Er trug eine erhabene Weltkugel in seiner Fassung. Unter den goldfarbenen Kontinenten der Erde schimmerte das stilisierte Gesicht eines Menschen. In der schmalen Fassung waren die Worte: Im Dienst der Menschheit eingraviert. Daneben stand die Bezeichnung: X-RAY-18. Dieser Ring wies Henry Parker nicht nur als Spezialagenten aus, mit ihm hatte es auch seine besondere Bewandtnis.

Der Agent dachte an die Depesche, die er im Lauf der frühen Nachmittagsstunden erhalten hatte. Vom Nachrichtendienst der französischen Regierung war ihm Marc Lepoirs Tod mitgeteilt worden. Ganz in der Nähe von Maurs war es zu dem rätselhaften Ableben des jungen Franzosen gekommen. Gewisse Einzelheiten passten gut in das Bild, das Henry Parker inzwischen gewonnen hatte. Und doch war Lepoirs Tod alles andere als eine Parallele zu den Fällen, die er bisher studierte. Der geheimnisvolle Gegner begnügte sich nicht mehr damit, seine Opfer auszunutzen, sondern tötete sie.

Zufall oder Absicht?

Bald würde er mehr wissen. Heute Nacht schon hoffte er, den Schleier des Geheimnisses zu lüften.

Gegen sechzehn Uhr verließ Henry Parker die kleine Pension. Er trug eine hellgraue Sommerhose und ein zitronengelbes Sporthemd. Auf der bloßen Haut lag das Schulterholster, in dem eine moderne Smith & Wesson Laserwaffe steckte, die nur von Agenten der PSA gebraucht wurden. Der geheimnisvolle X-RAY-1, dessen Name und Herkunft niemand kannte und der die PSA leitete, hatte sich die neuesten Erkenntnisse auf dem Gebiet der Waffentechnik zunutze gemacht und für seine Agenten eine Spezialwaffe anfertigen lassen.

Henry Parkers Gesicht wirkte ernst und verschlossen. Während er an den Cafés und Geschäften vorbeischlenderte, hier und da blieb er stehen und betrachtete die Auslagen, dabei gingen ihm zahllose Gedanken durch den Kopf.

Auf diese Weise erreichte er den Randbezirk der kleinen Stadt. Die Sonne brannte noch immer erbarmungslos. Die Luft war trocken. Kein Lüftchen regte sich. Der einsame Spaziergänger bewegte sich schon wenig später auf der nach Süden führenden Landstraße. Sanft stiegen die Berge hinter den Feldern in die Höhe. Die Pappeln am Straßenrand ragten wie dunkle Fackeln in den Himmel. So etwas wie die Stimmung eines heißen Tages in der Provence, wie Vincent van Gogh sie einfangen konnte, lag in der Luft.

In der Ferne hinter drei mächtigen Buchen erkannte X-RAY-18 Canols Haus. Es lag inmitten eines parkähnlichen Gartens, der von einem schmiedeeisernen Gitter umzäunt war. Ein reicher Franzose hatte sich diese Villa um die Jahrhundertwende bauen lassen. Canol hatte es vor einigen Jahren erworben und lebte in dem großen Haus offensichtlich ganz allein.

Henry Parker hätte seinen Wagen nehmen können, der in der Garage des Le petit Jardin stand. Doch er ging mit voller Absicht zu Fuß. Henry Parkers Plan konnte nur gelingen, wenn er sein Fahrzeug in der Garage ließ. Er hatte alles genau durchdacht. Canols Angewohnheit gab ihm die Möglichkeit, gemeinsam mit ihm das Ziel zu erreichen, ohne dass Canol Verdacht schöpfte, weil ihm ein fremder Wagen folgte.

Henry Parker lief auf der linken Straßenseite.

Ein einziges Mal nur begegneten ihm zwei Radfahrer und ein Sportwagen. Die Straße lag wie eine graue, vor Hitze flirrende Schlange vor ihm.

Und dann hörte er das Motorengeräusch hinter sich. Ein Wagen kam näher ...

Unwillkürlich warf Henry Parker einen Blick zurück. Glaubte, sein Herz würde stehenbleiben.

Ein dunkelblauer Citroën fuhr mit rasender Geschwindigkeit auf der linken Straßenseite – genau auf ihn zu!

Henry Parker sah das fahle, ovale Gesicht und die dunklen, tief in den Höhlen liegenden Augen. Er bemerkte das helle Pflaster, das einen Teil des Halses des Fahrers bedeckte. Er erkannte den Mann hinter dem Steuer. Denn er hatte ihn die ganze Woche über beobachtet.

Das war – Monsieur Canol! Im selben Augenblick erkannte Henry Parker auch die tödliche Gefahr, in der er schwebte.

Canol wollte ihn umbringen.

Wie ein Geschoss jagte der Citroën auf ihn zu ...

2. KAPITEL

Die vierstrahlige TWA-Maschine rollte langsam aus. Sie kam im Nonstopflug aus New York. An Bord befanden sich hundertzwanzig Passagiere. Unter den zahlreichen Geschäftsreisenden, zurückkehrenden französischen Touristen und neu eintreffenden amerikanischen, befand sich ein Mann namens – Larry Brent.

Auch er kam als Tourist.

Im Gegensatz zu den meisten Amerikanern, die nach Frankreich kamen, um Paris kennenzulernen, hatte er jedoch den Wunsch, die kleinen Städte und die Provence zu sehen. Von Frankreich aus sollte sein Europatrip dann nach England, Deutschland und schließlich in die Schweiz führen.

Larry Brent hatte die Absicht, insgesamt acht Wochen ausgiebig Urlaub zu machen.

Er war Agent des FBI. Larry musste lächeln, wenn er daran dachte, dass die meisten glaubten, FBI-Agenten würden während ihrer Dienstausübung ständig auf Weltreise sein. Seine Arbeit spielte sich hauptsächlich in den Staaten ab. Dienstlich hatte er in Europa überhaupt noch nichts zu tun gehabt. Als Soldat war er zwei Jahre in Deutschland gewesen, und während eines NATO-Truppenmanövers hatte er sich drei Wochen in England aufgehalten.

Doch nun lernte er die alte Welt endlich mal als Tourist kennen. Er hatte diesen Urlaub seit langer Zeit vorbereitet und hoffte, dass kein unerwarteter Fall ihn in die Staaten zurückrief. Der Chef des FBI war jedenfalls ständig darüber unterrichtet, wo sich Larry Brent an diesem oder jenem Tag aufhielt. Der Agent war verpflichtet, jede Ortsveränderung telegraphisch mitzuteilen. Larry gehörte mit zu den besten Pferden im Stall.

Mit federnden Schritten näherte er sich der großen Abfertigungshalle. Man hörte das Dröhnen der auslaufenden Strahltriebwerke; die neuen Maschinen starteten oder landeten. Die blitzenden Vögel flogen wie Pfeile durch die Luft, stiegen rasch aufwärts und verloren sich in der Ferne des endlos blauen Himmels. Lautsprecherdurchsagen drangen an sein Ohr, ein Durcheinander von Stimmen erfüllte die Luft rundum.

Viele Fluggäste suchten unmittelbar nach der Ankunft das Flughafenrestaurant auf. Larry aber wollte keine Zeit verlieren. Er wohnte der Zollkontrolle seines Gepäcks bei und verließ dann sofort das Flughafengelände. Die beiden schweren Koffer in den Händen, blickte er sich aufmerksam um.

Sah hinüber zu dem großen Parkplatz. Unmittelbar neben der Südeinfahrt war ein silbergrau gestrichener Zeitungskiosk, und neben dem Kiosk stand ein rotes Cabriolet.

Larry atmete kaum merkliches auf.

Es hatte alles planmäßig geklappt. Der Wagen, den er telefonisch bei der großen Pariser Autoverleihfirma bestellt hatte, stand ihm zur Verfügung. Ein junger Bursche, keine zwanzig Jahre alt, rauchte lässig neben dem Cabriolet eine Zigarette.

Larry Brent überquerte die Straße und ging auf ihn zu.

Der Fremde trug einen hellen Arbeitsanzug, auf dessen linker Brusttasche ein rotes, ovales Schild aufgenäht war, das in dunkelblauen Buchstaben den Namen Dumont trug.

Larry grinste. Sein sympathisches, sonnengebräuntes Gesicht wirkte noch jugendlicher, als dies an sich schon der Fall war. Mit einer unbewussten Bewegung strich er die blonden, ständig in die Stirn fallenden Haare zurück. „Der Kundendienst funktioniert ausgezeichnet“, meinte er und stellte die Koffer ab. „Zum festgelegten Zeitpunkt am verabredeten Ort! Was will man mehr?“

Der Beauftragte der Firma warf seine Kippe zu Boden und trat mechanisch die Glut aus. „Dumonts Service ist der beste, Monsieur. Wir haben schon mehr als einem amerikanischen Touristen einen Wagen geliehen. Schließlich haben wir Erfahrung.“ Er strahlte und freute sich offensichtlich über das Lob.

Larry wies sich aus, und der junge Mann überprüfte eingehend die überreichten Papiere. Larry gab ein angemessenes Trinkgeld und wechselte noch ein paar Worte mit dem Burschen. Danach setzte er sich hinter das Steuer des Wagens, ließ den Motor an und winkte dem Franzosen freundlich zu.

Larry Brent tippte leicht das Gaspedal an, und das Auto rollte langsam am Fahrbahnrand neben dem jungen Mann her, der sich einem gekennzeichneten Fahrzeug des Dumont-Konzerns näherte, das auf einem Parkplatz stand. Im Wagen saß ein zweiter Fahrer.

„In vierzehn Tagen sehen Sie dieses Auto wieder ...“, sagte Larry.

„Das wollen wir doch hoffen, Monsieur. Und wenn's geht, ohne Kratzer und Lackschäden!“ Der junge Franzose lachte herzlich.

„Die Maschine läuft prima. Der Motor schnurrt wie eine Katze.“

„Aber passen Sie auf! Die Katze kann zum Raubtier werden. Da steckt einiges unter der Haube. Wenn Sie das Gaspedal anständig kitzeln, können Sie Ihr blaues Wunder erleben ...“

Der junge Mann verstärkte sein Grinsen. Er lief noch immer neben dem langsam rollenden Fahrzeug her. „Nein, das weiß man wirklich nicht. Da haben Sie recht. Amerikaner haben schließlich nicht nur eine Schwäche für das alte Europa – sie haben eine noch größere für die französischen Mademoiselles. Alte Burgen und Schlösser und im Arm eine hübsche Französin, diese Mischung hat was für sich ...“ Auch Larry Brent lachte. Er unterbrach die Ausführungen, indem er abwinkte: „Für Schlösser und Burgen dürften noch eher Germany und Schottland zuständig sein. Und schöne Mädchen gibt's dort auch ...“

„Oh, sagen Sie das nicht, Monsieur!“ Der Dumont-Angestellte schien beleidigt, dass Larry seine Offerte so leichtfertig hinnahm. „Auch unsere Schlösser sind sprichwörtlich. Denken Sie nur an Versailles. Und was die Mädchen anbetrifft – ich könnte Ihnen da eine Adresse geben. Sie liegt mitten in Paris. Wenn Sie diese Frau mal in den Armen gehalten haben, werden Sie wahrscheinlich gar nicht mehr auf die Idee kommen, noch in die Provence zu fahren.“

Der junge Mann fingerte in seiner Brusttasche.

Larry Brent winkte ab. „Ich habe mir die Provence in den Kopf gesetzt – und da werde ich auch ohne Adressenmaterial durchkommen. Aber wer weiß? Wenn's langweilig wird, läute ich Sie mal an. Vielleicht können Sie mir dann aus der Patsche helfen ...“

Er gab Gas, winkte zurück und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein.

Er wollte nicht unnötig viel Zeit verlieren. Er hatte die Absicht, noch in dieser Nacht sein Standquartier in Nance zu beziehen. In einer kleinen Pension namens Le petit Jardin war ein Zimmer für ihn reserviert. Von dort aus wollte er regelmäßige Streifzüge in die umliegende Gegend machen.

Larry Brent warf einen Blick in den Rückspiegel.

Der junge Franzose stand immer noch am Straßenrand und blickte ihm lange nach, bis sich Larry Brent so weit entfernt hatte, dass er die kleine Gestalt nicht mehr wahrnehmen konnte.

Der amerikanische FBI-Agent fuhr sicher und schnell. Bereits nach zehn Minuten erreichte er die Ausfallstraße und benutzte die Autobahn. Larry schaltete das Radiogerät an. Er fand einen französischen Sender, der die richtige Musik ausstrahlte, die ihn in Stimmung versetzte. Den eine oder anderen Song, der ihm vertraut war, pfiff er mit. Er lehnte sich zurück und ließ sich den Fahrtwind ins Gesicht wehen. Das dunkle Verdeck des Cabriolets war zurückgeklappt, und Larry hatte auch kein Interesse daran, es nach vorn zu ziehen. Es war drückend heiß. Selbst der Fahrtwind verschaffte ihm kaum Abkühlung.

Ein tiefer Atemzug hob und senkte Larry Brents breite, muskulöse Brust.

Endlich Urlaub!

Er begann bereits die erste Stunde, die er sich auf französischem Boden befand, zu genießen.

Abseits vom Betrieb der Großstadt, abseits vom hektischen Leben, vom Lärm, weit weg von Amerika. Diesen Tag hatte er lang herbeigesehnt, und er hoffte, dass sein geplanter Urlaub genauso verlief, wie er ihn sich vorstellte: Ruhe, Entspannung – und doch Eindrücke von einem fremden Land sammeln! Dies sollte seinen Urlaub vom ersten bis zum letzten Tag bestimmen.

Larry Brent befand sich fast ständig auf der Überholspur. Der rote Wagen raste wie ein Blitz über die graue Asphaltstraße. Es stimmte, was der Mann vom Dumont-Service gesagt hatte. Der Wagen war bestens in Schuss. Larry fuhr sehr schnell und doch sicher. Wenn er weiterhin dieses Tempo beibehielt, würde er früher in Nance sein als angenommen. Er hätte es weniger eilig gehabt, hätte er in diesen Sekunden geahnt, in welchen Hexenkessel er fuhr ...

Er hoffte auf Ruhe und Entspannung ... Doch genau das Gegenteil erwartete ihn!

Larry Brent sollte in einen Wirbel von Ereignissen geraten, die er nie in seinem Leben vergessen würde.

Dieser heiße Sommertag sollte für den Mann aus New York eine Bedeutung gewinnen, die seine Zukunft schicksalhaft bestimmte.

Henry Parker stand wie zur Salzsäule erstarrt. Alles Leben schien aus seinem Körper zu weichen. Das Grauen schnürte ihm die Kehle zu.

Es schien, als würde eine fremde Macht von ihm Besitz ergreifen.

Wie von unsichtbarer Hand wurde X-RAY-18 zur Seite gerissen. Er ließ sich einfach fallen. Im selben Augenblick wurde er auch schon vom linken Kotflügel des dunkelblauen Citroën erwischt. Der Amerikaner fühlte den Schlag gegen sein Bein und flog in hohem Bogen durch die Luft und in den Straßengraben.

Der Citroën raste weiter und verlor sich in der Ferne.

Der Fahrer blickte sich nicht mal um.

Henry Parker überschlug sich mehrere Male. Schmerzen durchfuhren ihn, sein Herz pochte wie rasend. Der kalte Schweiß perlte auf seiner Stirn. Zeitweise verlor er das Bewusstsein. Der Himmel über ihm nahm eine drohende, dunkle Farbe an und schien auf ihn herabstürzen zu wollen.

Henry Parker atmete heftig. Die vorher so gesunde, braune Farbe auf seinem Gesicht war einem stumpfen Grau gewichen. Er versuchte sich zu bewegen. Seine Glieder schmerzten, als ob in seiner Haut tausend glühende Nadeln steckten.

Minutenlang lag er wie ein Toter da. Zitternd hielt er die Augenlider geschlossen und atmete tief. Langsam versuchte er, innerlich zur Ruhe zu kommen. Mechanisch begannen gleichzeitig seine Gedanken den Vorfall zu verarbeiten. Er fand keine Erklärung für alles.

Canol hatte die Absicht gehabt, ihn zu töten. Henry Parker glaubte keine Sekunde daran, dass es sich um einen Unfall gehandelt hatte. Der Wagen war mit voller Absicht auf die linke Straßenseite gelenkt worden. Weit und breit gab es kein anderes Fahrzeug, dem Canol hätte ausweichen müssen.

Dafür gab es nur eine Erklärung. Der Privatgelehrte hatte Verdacht geschöpft. Es musste ihm aufgefallen sein, dass sich ein geheimnisvoller Mann intensiv mit seinem Leben und Treiben befasste.

Henry Parker biss die Zähne zusammen, stieß einen Fluch aus und ärgerte sich, dass er sich wie ein blutiger Anfänger benommen hatte. So dicht vor dem Ziel musste ihm ausgerechnet das passieren. Das konnte ihn für Wochen zurückwerfen. Irgendwann musste er in den letzten Tagen einen entscheidenden Fehler gemacht haben, dessen er sich jedoch nicht bewusst wurde. War er unvorsichtig gewesen? Gab es einen Beobachter, der ihm nicht aufgefallen war? Hatte Canol vielleicht besondere Alarmanlagen in seinem Haus installiert, weil er wissen wollte, wer und was sich auf seinem Grundstück herumtrieb?

Sich jetzt Vorwürfe zu machen, dazu war's allerdings zu spät. Henry Parker konnte das Geschehen nicht mehr rückgängig machen.

Er versuchte sich zu bewegen. Unter unsäglichen Mühen gelang es ihm, sich auf die Seite zu rollen. Ein trockener Ast streifte seine Wange und ritzte seine Haut. Doch er spürte es kaum, da die Qualen, unter denen er zu leiden hatte, weitaus größer waren als dieser kurze, heftige Schmerz.

Da zuckte Henry Parker wie unter einem Peitschenschlag zusammen.

Motorgeräusch!

Es kam vom Ende der Straße und näherte sich rasend schnell.

Ob Canol zurückkehrte? Hatte er gemerkt, dass sein Werk nicht vollendet war? Kam er nur, um dem Agenten endgültig den Garaus zu machen?

Das Motorgeräusch schwoll an – und verebbte dann ebenso schnell wieder in der entgegengesetzten Richtung. Ganz kurz streifte der flüchtige Schatten eines Autos den im Straßengraben liegenden Agenten.

Henry Parker atmete tief durch und ärgerte sich, dass er gleich so pessimistisch gedacht und dadurch wichtige Sekunden verloren hatte. Hätte er die Zeit genutzt, den Straßengraben emporzuklimmen, wäre es vielleicht besser gewesen, und der fremde Fahrer hätte ihn eventuell gesehen. Aber hier im Straßengraben liegend, halb verdeckt vom Blattwerk und niedrig stehenden Sträuchern, konnte ihn keiner so schnell wahrnehmen.

Keine Handbreit hinter ihm breitete sich ein ausgedehntes Brennnesselfeld aus.

Henry Parker versuchte in die Hocke zu kommen. Jede Bewegung wurde ihm zur Qual. Sein linkes Bein schmerzte teuflisch. Das Hosenbein war aufgerissen, und ein ausgedehnter Blutfleck tränkte den Stoff.

Der PSA-Agent machte einen ersten Versuch, auf die Füße zu kommen. Zweimal knickte er sofort wieder ein. Seine Beine fanden keinen rechten Halt.

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten, bis er langsam wieder zu Kräften kam und meinte, dass die Schmerzen etwas zurückgegangen wären.

In der Zwischenzeit hatte sich der dunkelblaue Citroën nicht wieder gezeigt. Canol war nicht zurückgekommen. Das beruhigte ihn.

Demnach war der Franzose also überzeugt davon, sein Werk vollendet zu haben.

Henry Parker biss sich auf die Lippen, um nicht vor Schmerz aufzuschreien, als er die ersten Schritte tat.

Dann kehrte langsam die braune Farbe wieder in sein Gesicht zurück, und er war endlich so weit, dass er auf den Beinen stehen konnte. Er hoffte, dass er sich nicht ernstlich verletzt hatte und seine Mission wie geplant fortführen konnte.

Die Tatsache, dass sich ein Straßengraben in der Nähe befand, war offensichtlich dafür verantwortlich zu machen, dass er mit Verletzungen glimpflicher davongekommen war, als er es zunächst vermutete.

Dieses Ereignis konnte jetzt sogar ein gewisser Vorteil für ihn sein.

Canol hielt ihn für tot. Das war gut so.

Aufmerksam spähte er zwischen Blättern und Ästen über das vor ihm liegende Feld hinüber zu dem dunklen, villenähnlichen Gebäude hinter den drei Buchen.

Canols Anwesen lag wie immer ruhig und verlassen. Doch der Eindruck konnte täuschen. Vielleicht stand der Franzose hinter einem der zahllosen Fenster seines Hauses und blickte durch ein Fernglas herüber.

Parker zog auch eine solche Möglichkeit in Betracht. Er duckte sich hinter das Gebüsch und ging dann langsam wieder in die Hocke.

Jetzt bei Tageslicht das Feld zu überqueren wäre leichtsinnig gewesen.

Er musste die Dunkelheit abwarten ...

Als die Dämmerung sich auf Wiesen und Felder herabsenkte, richtete sich der Agent langsam auf. Sein linkes Bein schmerzte beständig, und der Fuß war inzwischen stark angeschwollen. Er hatte sich eine schwere Prellung und Zerrung zugezogen. Das Laufen fiel ihm noch immer schwer, und er meinte, beim Gehen ein Zentnergewicht zu schleppen.

Trotz der hereingebrochenen Dunkelheit nutzte er jede natürliche Deckung, so gut es ging. Da er wusste, dass Canol vorgewarnt war, benahm er sich doppelt vorsichtig. Er erreichte einen alten Schuppen unterhalb des Abhangs, und es kam ihm vor, als sei er seit Stunden unterwegs, obwohl erst knapp dreißig Minuten vergangen waren.

Den Schuppen kannte er. Dort bewahrten Bauern Holz und Geräte auf.

Hinter einem verrosteten Karren machte Henry Parker die erste Verschnaufpause. Vor seinen Augen flimmerte die Luft, und er fühlte das frische, warme Blut an seinem Bein. Kurz entschlossen riss er die untere Hälfte des Hosenbeins in schmale Streifen und verband die Wunde notdürftig. Mehr als einmal wäre es ihm unterdessen möglich gewesen, einen Autofahrer oder Passanten anzuhalten. Doch er versteckte sich. Er wusste, dass es jetzt nicht ratsam war, auf sich aufmerksam zu machen.

Wolken kamen auf. Sie näherten sich rasch von Westen her, und es wurde schneller dunkel, als es normalerweise um diese Zeit der Fall gewesen wäre. Mit den Wolken kam der Wind. Eine kühle Brise strich angenehm über Henry Parkers verschwitztes Gesicht.

Irgendwo war ein Gewitter gewesen, und dieser Landstrich bekam wenigstens noch die Abkühlung mit.

Die Wipfel in den Bäumen regten sich, die Blätter rauschten. X-RAY-18 warf öfter einen Blick zu dem nahen Anwesen Canols. Das Haus lag in tiefer Dunkelheit hinter den hohen, düsteren Eichen.

Nur wenn man genauer hinsah, erkannte man, dass hinter einem der vorgezogenen Vorhänge schwacher Lichtschein herrschte. Das Fenster hatte die Farbe des Blutes!

Henry Parker atmete tief durch.

Er fühlte sich schwach und ausgepumpt. Er hatte sich nach dem Unfall verausgabt und doch offensichtlich mehr Blut verloren, als er zunächst geglaubt hatte. Manchmal musste er stehenbleiben, um Luft zu holen. Alles vor seinen Augen drehte sich, und immer wieder – mit jedem Schritt, den er ging – machten sich die Schmerzen in seinem verletzten Bein bemerkbar.

Endlich erreichte er eine knorrige Eiche und lehnte sich aufatmend gegen den rauen Stamm.

Der Weg vor ihm führte steil bergan. Um zu Canols Haus zu gelangen, musste er eine Anhöhe überwinden.

X-RAY-18 hatte in vielen Härtetrainings seine Kondition und sein Können bewiesen. PSA-Agenten wurden unter schärfsten Bedingungen ausgewählt. Um überhaupt einer zu werden, musste man zahlreiche Sondertests bestehen. Und nicht nur die körperliche Kraft war maßgebend, auch Geist und Seele wurden trainiert. In den Reihen der PSA wurde ein vollkommen neuer Typ des Kriminalbeamten entwickelt. Es wurden nur Männer aufgenommen, die zumindest einige Semester Medizin und Psychologie studiert hatten. Die Fälle, mit denen die PSA-Agenten konfrontiert wurden, waren nicht herkömmlicher Art. Außergewöhnliche Kriminalfälle waren das Spezialgebiet der Abteilung. Besondere Verbrechen und Verbrecher mussten auch mit besonderen Mitteln, durch speziell vor- und ausgebildete Agenten bekämpft werden.

Das System, wonach die PSA arbeitete, war selbst Henry Parker ein Rätsel.

Die PSA befand sich noch in der Entwicklung; sie war jedoch eine Abteilung, die für die Zukunft richtungsweisend sein konnte. Henry Parker gehörte dieser Abteilung seit sechsundzwanzig Monaten an. In dieser Zeit hatte er auch andere Mitarbeiter kennengelernt, doch bis zur Stunde war ihm nicht bekannt, wer der Kopf der X-RAY-Agenten war. Der geheimnisvolle Chef – X-RAY-1 – hielt sich stets im Hintergrund. Die Agenten bekamen ihre Aufträge fix und fertig auf den Schreibtisch, ohne dass der führende Kopf – wie dies beim FBI und auch bei der CIA zum Beispiel der Fall war – selbst in Erscheinung trat. Henry Parker wusste, dass es einen Mann mit der Bezeichnung X-RAY-1 gab. Doch den wahren Namen dieses Mannes hatte er nie gehört, den Träger noch nie gesehen. Oder etwa doch? Und er wusste es nur nicht?

Merkwürdig, dass ihm gerade jetzt all diese Gedanken durch den Kopf gingen. Das irritierte ihn ein wenig. Man sagte, dass viele seltsame Gedanken in das Bewusstsein desjenigen drangen, der sein Ende nahen fühlte.

War es mit ihm wirklich schon soweit?

Doch er verscheuchte die trüben Gedanken und löste sich von der Eiche. Es war jetzt so dunkel, dass er ohne weiteres wagen konnte, den schmalen Pfad zu benutzen, der zu Canols Anwesen führte. Dennoch ließ er auch jetzt nicht in seiner Aufmerksamkeit nach. Er hielt sich immer in der Nähe der dunklen Bäume und kam auf diese Weise ungesehen an das schmiedeeiserne Gitter, das Canols Grundstück umgab.

In einer niedrigen Sandsteinmauer steckten etwa drei Zentimeter durchmessende, kantige Eisenpfeiler, die sich nach oben hin verjüngten und in einer speerähnlichen Spitze ausliefen. Viele Pfeiler waren bereits vom Rost angefressen.

Henry Parker schätzte das Gitter drei Meter hoch. Moos wuchs auf dem Sandsteinwall, und wilde Weinreben umrankten das Gitterwerk und das große Tor, das verschlossen war. Der Agent bahnte sich einen Weg unter den etwa mannshohen Büschen hindurch. Er kannte hier jeden Fußbreit Boden. Auf der anderen Seite des Hauses gab es eine Stelle im Gitter, die er während der letzten Tage vorbereitet hatte. Dort wollte er seinen Einstieg vollziehen. Mit einer Eisensäge hatte er einen einzigen Pfeiler an der dünnsten durchgerosteten Stelle geteilt. Wie ein Pendel ließ sich der Stützpfosten hin- und herbewegen, und Henry Parker konnte ihn so weit zur Seite drücken, dass der Raum zwischen den beiden anderen Pfosten genügend breit war, um ihn durchzulassen.

Für eine Minute verhielt X-RAY-18 in der Bewegung. Er lauschte und spähte zum Haus hinüber. Alles war noch ruhig. Nach seinem Einstieg schlug er den Eisenpfeiler wieder in die ursprüngliche Stellung zurück. Nun befand sich der Agent auf dem Grundstück. Er wusste, dass kein anderer Beamter sich so hätte verhalten dürfen wie er. Doch die Sondervollmachten, mit denen er ausgestattet war, erlaubten ihm dieses Vorgehen. Er war PSA-Agent und hatte einige Beweise darüber gesammelt, dass Canol direkt etwas mit den Fällen zu tun hatte, an deren Aufklärung der französische Geheimdienst interessiert war.

Henry Parker glaubte, dass er vor der Aufklärung des großen Rätsels stand. Der letzte, entscheidende Beweis fehlte ihm noch; den wollte er sich jetzt holen.

Er schlich durch den Park. Das Gelände war nicht gepflegt.

Überall lag Laub. Canol war überhaupt nicht in der Lage, das große Anwesen als einziger Bewohner in Ordnung zu halten.

Auch das Haus selbst hätte dringend renoviert werden müssen.

In der ersten Etage des rotbraunen Gebäudes hingen zwei Fensterläden nur an einer einzigen Schraube eines Scharniers. Der Putz war fleckig, und die Fassade sah blatternarbig aus. An den großzügigen Balkons waren viele Verzierungen abgebrochen.

Totenstille umgab den Eindringling.

Der Agent näherte sich hinkend dem etwa dreihundert Meter entfernten Haus. Er zog sein linkes Bein wie einen Fremdkörper nach. Einmal musste er nach einer der Sandsteinsäulen greifen, die einen breiten Balkon stützten. Blitzartig überfiel ihn ein Schwächeanfall. Der Balkon verzog sich wie eine Gummihaut vor seinen Augen, und Henry Parker musste seinen ganzen Willen aufbieten, um die Schwäche zu besiegen.

Er atmete schnell und flach. Ärger stieg in ihm hoch, dass er hilflos wie ein kleines Kind war. Der starke Blutverlust konnte seine Mission in der entscheidenden Phase gefährden.

Wieder hieß es, einen Augenblick zu warten. Dann ging er – die vorhandenen Schatten und natürlichen Schutzmöglichkeiten bestmöglich ausnutzend – zu den gegenüberliegenden Fensterreihen. Er erreichte die vordere Ecke des stillen, dunklen, villenähnlichen Gebäudes.

Dort spähte er um die Ecke und erblickte die vorspringende Wand einer angebauten Garage. Sie stand offen, der dunkelblaue Citroën davor.

Es war das gleiche Bild, wie er es während der vergangenen Tage immer wieder angetroffen hatte. Der Citroën stand stets so, dass er jederzeit benutzt werden konnte. Aus Erfahrung wusste Henry Parker auch, dass Canol Punkt neun Uhr sein Haus wieder verließ und dabei diesen Wagen benutzte.

Mechanisch warf X-RAY-18 einen Blick auf die Uhr.

Es war halb neun.

Für einen Augenblick gelang es ihm, zu lächeln und den schmerzhaften Ausdruck aus seinem Gesicht zu vertreiben. Die Voraussetzungen waren denkbar günstig. Es war dunkler als sonst. Dichte Wolkenmassen, die rasch über ihn hinwegzogen, schluckten das Mond- und Sternenlicht. Dieser plötzliche Wetterumschwung kam ihm gerade recht. Er erleichterte in der augenblicklichen körperlichen Verfassung, in der er sich befand, sein Vorgehen gewaltig.

Henry Parker bückte sich. Er schlich in der Hocke unter den niedrigen Fensterbänken vorbei, um nicht das Risiko einzugehen, im letzten Augenblick vom Haus aus wahrgenommen zu werden.

Er war sich nicht ganz sicher, ob Canol nicht doch von Fall zu Fall fremde Gäste oder Besucher bewirtete.

Da fiel ein breiter Lichtstreifen vor seine Füße ...

Henry Parker fuhr wie unter einem heftigen Peitschenschlag zusammen.

Canol stand am Fenster und zog den schweren Vorhang zurück.

Henry Parker sah den Schatten schräg über sich auftauchen wie einen riesigen Pilz, der aus dem Boden wuchs. Wäre eine Bombe in seiner unmittelbaren Nähe explodiert, er hätte sich nicht mehr erschrocken.

Pfeifend entwich die Luft seinen Lungen. Er drückte sich an die warme Steinwand und nutzte den Kernschatten des hinter ihm liegenden Balkons, um sich den Blicken des Franzosen zu entziehen.

Henry Parker atmete flach. Seine Blicke musterten die wie aus Stein gemeißelte Gestalt. Kein Muskel bewegte das ovale, schmale Gesicht, das von einer beinahe totenähnlichen Blässe war. Das weiße Antlitz hob sich merklich von der dunklen Kleidung ab, die Canol trug.