Larry Brent Classic 018: Der Wolfsmensch - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 018: Der Wolfsmensch E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Orungu, Fratze aus dem Dschungel Ein unheimlicher Fremder reist an Board des Frachters Napoleon nach Frankreich. Im Gepäck befindet sich eine Kiste, deren geheimnisvoller Inhalt streng gehütet wird. Alle, die das Geheimnis lüften wollen, sterben eines unheilvollen Todes. Denn Orungu, die Fratze aus dem Dschungel, kann nicht nur mit Worten töten, sondern die Verstorbenen wieder ins Leben zurückrufen. Als Larry Brent einen Fall von Leichenraub untersucht, stößt er zufällig auf die Totensprecherin Orungu, die einen dämonischen Plan verfolgt und gerät in Lebensgefahr ... Der Wolfsmensch im Blutrausch Die junge Schwedin Siw Malström wurde in der Nähe von Falun ermordet. Die Leiche war so schrecklich zugerichtet, als ob ein Raubtier sie angefallen hätte. Kommissar Lund verdächtigt den Freund Erik Rydaal der Mörder zu sein. Doch Larry Brent vermutet, daß ein Wolfsmensch umgeht. Zusammen mit Morna Ulbrandson wartet X-RAY-3 auf den nächsten Vollmond, an dem X-GIRL-C freiwillig den Köder für das Ungeheuer spielt. Als Morna jedoch spurlos verschwindet, setzt Larry Brent alles daran seine Kollegin wiederzufinden ...

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 18

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-818-1

Dan Shockers Larry Brent Band 18

DER WOLFSMENSCH

Mystery-Thriller

Orungu – Fratze aus dem Dschungel

von

Dan Shocker

Prolog

Er hielt den Atem an und drückte vorsichtig die Tür auf. Alles war still. Nur das Stampfen und Dröhnen der Motoren im Maschinenraum erfüllte den Schiffskörper. Dave Hoyle starrte in die dunkle, mit muffiger Luft gefüllte Kabine. Er sah die einfache Holzkoje, in der sich schwach die Umrisse eines schlafenden Menschen abzeichneten. Der Fremde. Auf geheimnisvolle Weise war er an Bord gekommen. Nichts weiter als eine große Holzkiste hatte er bei sich gehabt. Eine Kiste, die an einen grob zusammengezimmerten Sarg erinnerte. Was transportierte der rätselhafte Passagier in dieser Kiste?

Hoyle wollte es genau wissen. Seit Beginn der Reise ließ es ihm keine Ruhe. Und heute Nacht nun war endlich die Stunde gekommen, wo die anderen erschöpft in ihren Kojen lagen, wo keiner auf ihn achtete. Der englische Seemann drückte langsam die Tür hinter sich zu. In der rechten Hand hielt er einen Enterhaken, mit dem er den Kistendeckel anheben wollte. Hoyle presste die Lippen zusammen. Die lange, mannsgroße Kiste stand genau unter der Koje des Schläfers. Seit Wochen hielt sich dieser merkwürdige Mann hier unten auf. Nicht ein einziges Mal war er an Deck gekommen. Er ließ die Kiste nicht allein in der Kajüte zurück. Der Inhalt musste sehr wertvoll sein. Vielleicht ein legendärer Schatz?

Unruhe und Neugierde erfüllten Hoyle in einem Maß, wie er es nie zuvor gekannt hatte. Wenn der Fremde seine Kajüte nicht verließ, dann musste man eben zu ihm kommen. Es war anzunehmen, dass er auch einmal schlafen musste. Kein Mensch konnte Tag und Nacht wachen. Schweiß perlte auf dem unrasierten, braungebrannten Gesicht des Seefahrers. Hoyle bückte sich, kroch unter die Koje und setzte den Enterhaken an. Es würde keine Schwierigkeiten bereiten, den nur lose angenagelten Deckel anzuheben.

Wie ein Geist tauchte der Schatten neben ihm auf. Hoyle kam nicht mehr dazu, den Ablauf der Dinge zu begreifen. Blitzschnell wurde ihm der Enterhaken entrissen, während eine zweite Hand ihn brutal auf die Seite drückte. Und dann bohrte sich der eiserne Gegenstand in seine Bauchdecke und zerriss seine Eingeweide.

Mit einem gurgelnden Laut brach Hoyle zusammen, während die unheimliche Gestalt sich auf ihn stürzte und abermals zustieß.

»Du hast nichts daran zu suchen«, wisperte eine leise, schwache Stimme. »Das ist mein Eigentum.« Erst als der Körper sich nicht mehr rührte, hörte der Mörder auf, auf sein Opfer einzuschlagen und einzustechen. Dave Hoyle lag in seinem Blut. Er war tot.

Mit dem Enterhaken schleifte der ausgemergelte Mann, an dem kein Gramm Fett war, sein Opfer zur Wand. Es bereitete dem geheimnisvollen Bewohner der Kajüte Mühe, den Toten aufzurichten, nachdem er sich selbst bis auf eine khakifarbene Hose entkleidet hatte, um seine Kleidung nicht mit Blut zu verschmieren. Er öffnete das Bullauge, und nach mehrmaligem Versuchen gelang es ihm endlich, den Toten nach draußen zu schieben. Man hörte im Pfeifen des Windes und im Rauschen der Wellen nicht einmal den Aufschlag. Der brutale Mörder setzte nun alles daran, die Spuren der Tat zu beseitigen.

Mit alten Lumpen saugte er das Blut von den ölgetränkten Dielen auf und warf auch diese hinaus ins Meer. Zuletzt folgte das Mordinstrument, der Enterhaken, nach. Der hagere Mann blickte sich mit fiebrig glänzenden Augen um und sah nach, ob er auch nichts vergessen hatte. Die kleinste Spur konnte ihm gefährlich werden. Sorgen bereiteten ihm schließlich nur noch die dunklen Flecken auf dem Boden. Man würde auf sie aufmerksam werden, sobald man den Seemann vermisste. Aber auch hier wusste sich der Mörder zu helfen. Er schob mit großer Kraftanstrengung die rohe Holzkiste ein wenig nach vorn, so dass sie die verräterischen Blutflecken verdeckte. Genugtuung spiegelte sich auf dem wächsernen Gesicht.

Dann ging der Hagere zum Bullauge und verschloss es wieder. Die Zufuhr der salzigen Seeluft wurde gestoppt. Und schon wenige Minuten später war es wieder so muffig und schwül in der kleinen Kajüte, als würde die Sonne mit aller Macht auf das Deck knallen. Mit müden Bewegungen stieg der Mann in seine Koje, streckte sich aus und starrte mit offenen Augen zur Decke. Abwesend und gedankenverloren lauschte er auf das Stampfen und Dröhnen der Maschinen. Er hörte darin ferne, wispernde Stimmen, das Brausen des Meeres an einem fernen Gestade, vernahm das Tam-Tam der Urwaldtrommeln.

Das fiebrige Glänzen in seinen Augen erlosch. Der hagere Körper, der nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien, streckte sich. Reglos, wie eine ausgetrocknete Mumie, lag der unheimliche Mörder in der Koje. Er schien nicht einmal zu atmen. Seine wächserne, pergamentene Haut passte eher zu einem Toten als zu einem Lebenden. Der rätselhafte Passagier der Napoleon sah aus, als wäre er dem Grab entstiegen.

Im Morgengrauen fiel auf, dass der Matrose Dave Hoyle fehlte. Man suchte das ganze Schiff nach ihm ab, aber man fand ihn nicht. Der Kapitän, ein Franzose namens Jean de Broulon, teilte die Mannschaft in vier Gruppen ein. Sie durchsuchten den altersschwachen Frachter vom Maschinenraum bis zur Schornsteinspitze. Keine Spur von Dave Hoyle. »Letzte Nacht, bei dem Sturm – vielleicht hat es ihn da von Deck geblasen«, meinte einer. Niemand konnte etwas dazu sagen. Keiner hatte etwas Bestimmtes gesehen.

»Fragt den Fremden, vielleicht weiß der was.«

Zwei Matrosen suchten den rätselhaften Passagier auf, den Jean de Broulon auf Neuguinea aufgelesen hatte. »Komischer Kauz«, sagte der eine, noch ehe er anklopfte. »Merkwürdig – aber sobald ich mich in der Nähe des Burschen befinde, fühle ich mich nicht mehr wohl in meiner Haut.«

»Mir ergeht es ebenso«, entgegnete der zweite Matrose, ein drahtiger Italiener, der mit sechzehn zu Hause ausgerissen war und seitdem schon alle Weltmeere befahren hatte. »Er strahlt eine – wie soll ich sagen – Kälte aus. Wenn ich diesen Mann sehe, dann weht einen der Hauch des Grabes an. Möchte bloß wissen, wo der herkommt. Man weiß nichts über ihn. Und der Alte, der es wissen müsste, hüllt sich in Schweigen.« Der erste Matrose wartete, bis der Riegel hinter der Tür zurückgeschoben wurde. Dann öffnete sich die Holztür quietschend.

»Was wollt ihr?« Der Hagere sprach mit dumpfer Stimme. Der erste Matrose senkte den Blick. Er konnte sein Gegenüber nicht ansehen. Der Mann sah krank aus, elend. Schmales Gesicht mit tiefliegenden Augen und hohlen Backen.

»Wir suchen einen Mann, Monsieur. David Hoyle, ein Matrose. War er hier?« Der Angesprochene schüttelte den Kopf mit dem dünnen, ergrauten Haar. »Ich kenne keinen Holy.«

»Hoyle, Monsieur. Sie haben den Namen falsch verstanden.«

»Kenne ich trotzdem nicht«

»Wir haben die Pflicht, jede Kajüte zu durchsuchen, Monsieur«, schaltete sich nun der zweite Matrose ein. »Routinesache.«

Die Stirn des wachsbleichen Mannes legte sich in unwillige Falten. »In meiner Kajüte ist niemand.«

Der erste Matrose nickte. »Das wissen wir, Monsieur. Aber wir müssen uns dennoch mit eigenen Augen davon überzeugen.« Verärgert zog der merkwürdige Bewohner der Kajüte die Tür auf. »Dann sehen Sie nach. Aber beeilen Sie sich. Ich möchte noch ein wenig ruhen.« Die beiden Matrosen warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Sie gingen daran, die kleine, muffige Kajüte zu durchsuchen. Das heißt, sie sahen in den dunklen Ecken und hinter der Kiste nach. Als einer der Matrosen sich wie zufällig darauf stützte, stieß der hagere Passagier ihn zurück. »Daran haben Sie nichts zu suchen!«

Drei Minuten später verließen die Seeleute die Kajüte. Wortlos und ernst. Als sie auf Deck waren, atmeten sie auf. »Ich bin froh, da wieder raus zu sein«, murmelte der erste Matrose. »Wenn sich jemand der Kiste nähert, dann wird er noch komischer, als er an sich schon ist.«

»Möchte bloß wissen, was er darin transportiert. Glaubst du, dass de Broulon es weiß?«

»Anzunehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Alte etwas transportiert, ohne zu wissen, was es ist. Aber das ist nicht unsere Sache, sondern die des Kapitäns.«

Noch während die beiden Männer ihren Weg zum Heck des Schiffes fortsetzten, verließ Kapitän Jean de Broulon seine Kabine und suchte die seines geheimnisvollen Passagiers auf.

In der Nacht um zwei Uhr legte die Napoleon im Hafen von Marseille an. Nach vielen Wochen auf See war es für alle eine Erleichterung, wieder Land zu sehen. Die Matrosen an Bord benahmen sich wie die Kinder. Trotz der vorgerückten Stunde konnten es einige nicht erwarten, sich sofort auf den Weg zu machen. Pierre Fontaine, ein quicklebendiger Kerl, warf seinen Seesack über die Schultern und marschierte zur Gangway. »Ich habe in der Rouge-Bar eine nette kleine Freundin. Die wird Augen machen, wenn ich so unverhofft aufkreuze. Nach dem offiziellen Fahrplan sollten wir erst in einer Woche hier eintrudeln. Ich freue mich schon auf ihr warmes Bett.«

»Hoffentlich musst du bei deiner kleinen Freundin nicht erst das Bett räumen lassen«, meinte ein anderer Matrose, ein rothaariger Ire mit einem Gesicht voller Sommersprossen. »Ich könnte dir da eine Geschichte erzählen, wie es mir mal ergangen ist.« Fontaine winkte ab. »Nicht alle sind gleich. Sie ist keine Prostituierte, wenn du das meinst. Wir haben die Absicht, noch in diesem Jahr zu heiraten.« Der Ire pfiff durch die Zähne. Andere Matrosen kamen hinzu und machten ebenfalls ihren Flachs. Mehr als zwanzig Männer der hundertköpfigen Besatzung verließen in dieser Nacht die Napoleon. Die anderen blieben in ihren Kajüten.

Als an Bord wieder alles ruhig war, verließ der geheimnisvolle Passagier seine Kajüte. Kapitän Jean de Broulon traf sich mit dem Hageren auf der Brücke. »Ich bin fertig, Kapitän«, sagte der wachsbleiche Mann.

»Ich hoffe, dass alles wie am Schnürchen klappt.« De Broulon nickte. Er fühlte sich in der Nähe seines Passagiers bedrückt. Es war nur gut, dass der Mann sich während der Fahrt kaum an Deck hatte sehen lassen. Die vielen Jahre, die der Fremde auf Neuguinea unter den Eingeborenen verbracht hatte, mussten ihn menschenscheu gemacht und verändert haben. De Broulon wusste nur so viel, dass der Mann, dem er Unterkunft auf der Napoleon gewährt hatte, seit über dreißig Jahren keinem Europäer mehr begegnet war. Der Kapitän hatte auch den Eindruck gewonnen, dass dieser Mann während seines Aufenthaltes auf der dschungelüberwucherten Insel sein Gedächtnis verloren hatte. Er wusste scheinbar nicht mehr, wer er war.

»Es ist alles vorbereitet, Monsieur«, nickte de Broulon. »Ich erwarte jeden Augenblick das Signal.«

In Tanger hatte er einen Brief in Empfang genommen, in dem ihm bestätigt wurde, dass der Weitertransport des Passagiers an Land problemlos sei. Allerdings würde das eine Kleinigkeit kosten. Und das wiederum schien für den Hageren kein Problem zu sein. Schon die Reise auf dem Frachter hatte er mit Gold bezahlt. Es handelte sich um kostbare Armspangen, Ringe und andere Schmuckgegenstände, wie sie ein reicher Häuptling oder Medizinmann sein eigen nannte. Woher der Abenteurer dieses Gold hatte, darüber war niemals gesprochen worden. Und de Broulon war es egal, ob der Hagere diese Dinge rechtmäßig erworben hatte oder nicht.

Damit hatte er nichts zu tun. Manchmal war ihm, dem Kapitän, schon die Idee gekommen, dass vielleicht in der geheimnisvollen Kiste weitere Reichtümer untergebracht waren. Er konnte einfach der Aussage des Fremden, der sich nicht mehr an seinen Namen erinnerte, nicht glauben, dass sich in der Kiste lediglich Kultgegenstände befänden.

Mehr als einmal war de Broulon von Neugierde getrieben worden, doch einmal einen Blick in diese Kiste zu werfen und festzustellen, ob es darin vielleicht nicht noch mehr Gold gäbe. Doch er hatte es nicht gewagt. Stets hatte der Hagere die Kiste argwöhnisch bewacht und sie nicht aus den Augen gelassen. Und zu einem Handstreich hatte de Broulon sich nicht entschließen können. Anfangs schien es ihm ein leichtes zu sein, mit einem oder zwei Matrosen einen Blick in die Kajüte des Fremden zu werfen, den Hageren einfach festzuhalten und nachzusehen, was in der Kiste wäre. Zu Beginn der Reise spielte er tatsächlich mit diesem Gedanken. Aber der merkwürdige Passagier schien von vornherein seine Gedanken erraten zu haben.

»Davor möchte ich Sie warnen, Kapitän«, hatte er gesagt. »Und zwar in Ihrem eigenen Interesse. Kommen Sie bitte niemals auf die Idee, die Kiste mit Gewalt zu öffnen und nachzuschauen, was darin ist. Das könnte das Verderben für Sie und Ihre Mannschaft sein.«

Anfangs hatte de Broulon darüber gelächelt. Er hatte den Hageren nicht für voll genommen. Der Bursche redete nur daher. Verrückt. Nun, was konnte man schon von einem Menschen verlangen, der dreißig Jahre seines Lebens unter Eingeborenen verbracht hatte, der nichts mehr von Zivilisation und der modernen Welt von heute wusste. Der Hagere war zu einem weltfremden Sonderling geworden, der dem Zauberglauben der Eingeborenen mehr zugetan war als den Gesetzen und dem Wissen der zivilisierten Menschen.

»Sie machen es spannend«, hatte de Broulon darauf geantwortet. »Wir sind hier hundert Mann, Sie sind allein. Wenn ich es darauf anlegen würde, Ihre Kiste aufzubrechen und alles an mich zu nehmen, was mir passt – Sie könnten nichts dagegen tun. Sie müssten froh sein, mit dem Leben davonzukommen.«

Der Hagere hatte nur gelächelt.

»Sie irren, Kapitän. Wenn ich es darauf anlegen würde – kein Besatzungsmitglied bliebe übrig, verstehen Sie mich? Die Napoleon wäre dann nichts anderes als ein schwimmender Metallsarg. Ein Geisterschiff, ein moderner Fliegender Holländer.« De Broulon hatte auf diese Antwort zu lachen versucht. Doch seltsamerweise war ihm das nicht gelungen.

Der Ausdruck der Augen, die Stimme, das alles hatte ihm eine Gänsehaut über den Rücken gejagt. De Broulon war schon mit den merkwürdigsten Menschen zusammengekommen. Galgenvögel der schlimmsten Art waren ihm in den Bars in Manila, Bangkok, Tanger und Marseille begegnet. Und er war mit ihnen fertig geworden. De Broulon fürchtete weder Tod noch Teufel.

Aber bei diesem unheimlichen Passagier an Bord seines Frachters, versagte das Selbstbewusstsein des Kapitäns. Er stieß bei dem Fremden wie gegen eine Mauer.

»Und damit Sie nicht doch während der Reise auf dumme Gedanken kommen, sollen Sie als einziger der Besatzung wissen, worauf Sie sich wirklich einlassen, wenn Sie einmal den Wunsch verspüren sollten, mich zu hintergehen«, hatte der Hagere noch zu ihm gesagt. Die Worte, die er mit diesem rätselhaften Weltenbummler gesprochen hatte, waren unauslöschlich in seinem Gedächtnis eingebrannt.

Genauso unauslöschlich eingebrannt wie die Szene, die er nie in seinem Leben vergessen würde. Der Abenteurer hatte ihn eines Abends eingeladen, sich davon zu überzeugen, dass er es mit seiner Warnung ernst meinte. De Broulon wurde angewiesen, irgendetwas Lebendiges mitzubringen. Er nahm seinen Kanarienvogel mit in die Kajüte des Fremden. Aus dem Lebendigen wurde in kurzer Zeit etwas Lebloses, weil der Hagere den Deckel der Kiste öffnete und de Broulon zeigte, was er aus Neuguinea mitgebracht hatte.

Und nun, in dieser Stunde, war de Broulon froh, dass dies hinter ihm lag. Die Weiterreise des Hageren war bis ins letzte organisiert. Der Kapitän stand mit ernstem Gesicht auf der Brücke und starrte in die nebelfeuchte Nacht, hinüber zu den verschwommenen Kaianlagen. Und dort blitzte zweimal hintereinander ein Licht auf. Eine Taschenlampe. An – aus. An – aus ... Das Signal.

»Es ist soweit. Wir können das Boot aussetzen.« De Broulons Stimme war nur ein Flüstern. Zwei Matrosen ließen das Boot hinunter, in dem die Kiste lag und der Hagere saß. Der Kapitän der Napoleon nahm mit einem Matrosen in dem Beiboot Platz. Drei Minuten später stieß das Boot vom dunklen Rumpf des Frachters ab. Die Wellen schlugen leicht gegen die Bootswand. Der Wind pfiff über die Männer hinweg, und die feuchte Luft schlug ihnen ins Gesicht. Der Matrose blickte zu dem nachtschwarzen, sternenlosen Himmel hinauf. »Sieht nach Regen aus«, sagte er leise, als beabsichtigte er damit, ein Gespräch in Gang zu bringen. De Broulon jedoch nickte nur. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders. Nun war das Unfassbare, das Unheimliche endlich von Bord. Das Beiboot schwamm an den dunklen Schiffen vorbei, die wie Riesenklötze im Hafenbecken lagen. Dahinter das Lichtermeer der Stadt. De Broulon und sein Matrose ruderten, dass die Riemen knarrten. Der Kapitän wusste genau, wohin die Fahrt ging.

Nach wenigen Minuten schon näherten sie sich einer abseits gelegenen Stelle an der äußeren Kaimauer. Von hier aus war das Lichtsignal gekommen. Der Hagere verließ zuerst das Boot. An dieser Stelle gab es keine Treppenstufen. Der Matrose und de Broulon waren ihm behilflich, die glitschige, kalte Mauer zu erklimmen. Der Abenteurer stand am Rand und blickte nach unten in das dunkle Wasser, wo das Boot schaukelte. De Broulon und sein Begleiter hoben als nächstes die schwere Kiste nach oben, wo der Wartende sie in Empfang nahm.

»Er hütet sie wie seinen Augapfel«, konnte sich der Matrose nicht verkneifen, leise zu seinem Kapitän zu sagen. »Er hat auch allen Grund dazu«, murmelte de Broulon ebenso leise. »Warte hier auf mich!« Mit diesen Worten erklomm de Broulon die Mauer und tauchte wie ein Schatten neben dem Hageren auf. Für Sekunden riss die Wolkendecke über dem Hafen auf, und die volle Scheibe des Mondes wurde sichtbar. Das helle, silbrige Licht ergoss sich wie eine Flüssigkeit über die Körper der am Kairand stehenden Menschen.

De Broulon sah die geheimnisvoll glühenden Augen seines Passagiers. Dunkle Ränder umgaben sie. In diesen Sekunden sah der Abenteurer, der nach dreißig Jahren in seine Heimat zurückkehrte, aus wie eine Leiche. Pergamentartig spannte sich wächserne, runzlige Haut über die durchschimmernden Knochen. Und in diesem Gesicht war etwas, das de Broulon nicht definieren konnte, das er aber genau spürte. Dieser unheimliche Mann hatte einen Blick ins Jenseits getan!

Der sieht aus, als hätte er den Tod hinter sich, dachte der Kapitän.

In der Nähe dieses Mannes fühlte de Broulon wieder die Kälte, die über seinen Rücken lief, und er musste an den Vogel denken, den er in die Kabine seines rätselhaften Passagiers mitgenommen hatte.

In den Schuppen und Lagerhallen hinter ihnen herrschte vollkommene Stille. Lautlos wie Schatten näherten sich die Männer aus dem Dunkel und kamen auf die Wartenden zu. Es waren die Verbindungsleute, deren Nachricht de Broulon in Tanger entgegengenommen hatte. Die beiden Franzosen sahen aus wie Brüder. Sie trugen karierte Mützen, und beide hatten ungepflegte Backenbärte. Das Haar wuchs ihnen weit in den Nacken. »Ist das unser Mann?«, fragte der eine, ein vierschrötiger Bursche mit schlechten Zähnen und übelriechendem Atem. Kapitän de Broulon nickte. »Ja. Ihr habt alles vorbereitet?«

»Wenn Jaques und Claude etwas unternehmen, dann geht nichts schief.« Der Sprecher drehte sich um. »Ich bin Jaques«, sagte er, zu dem Hageren gewandt. »Und das ist Claude. Wir sehen uns zwar sehr ähnlich, sind aber trotzdem keine Brüder. Das machen nur die Bärte.«

»Die Hauptsache für mich ist, dass Ihr mich aus Marseille rausschafft. Alles andere interessiert mich nicht«, sagte der Hagere. Jaques nahm die schmierige Zigarette aus dem Mundwinkel. »Unsere Spezialität. Kein Problem. Jaques und Claude sind immer bereit. Was auf dem Kerbholz, weil die Behörden nicht wissen sollen, dass Sie hier angetrudelt sind, wie? Zuletzt haben wir zwei Marokkaner und vier Algerier durchgebracht.

Natürlich ist immer ein Risiko dabei, wie überall im Leben. Aber wir haben uns auf diese eine Sache spezialisiert. Und Fachleute kosten heutzutage Geld. Wir sagen Ihnen das nur, weil wir wissen, dass Sie eine ganze Zeitlang ziemlich weit vom Schuss gelebt haben. Da ist es gut denkbar, dass Sie von diesen Dingen nichts wissen. Nicht wahr, Claude?« Der mit Claude Angesprochene schob seine Mütze ins haarige Genick und nickte. »Stimmt, Jaques.«

»Haben Sie die Kohlen beisammen?«, fragte Jaques.

»Ich kann Sie nicht mit Geld bezahlen, wenn Sie das meinen.« Die Stimme des Hageren klang sehr schwach und dumpf. Jaques zog die Augenbrauen hoch. »Du siehst mir nicht einmal so aus, als ob du die nächste Mahlzeit bezahlen könntest.« Er warf einen Blick auf Kapitän de Broulon. »Sie haben uns ein gutes Geschäft prophezeit, Kapitän. In Wahrheit sehen die Dinge ganz anders aus, wie?« Die Stimme von Jaques wurde um eine Nuance schärfer. »Wir können unsere Zeit nicht verschenken, de Broulon.«

»Er kann zahlen«, unterbrach der Kapitän der Napoleon die hitzigen Worte von Jaques. »Wenn er sagte, nicht mit Geld, dann meint er mit Gold.« Die Augen von Jaques und Claude wurden groß wie Untertassen. Jaques spie seine Zigarette einfach in das brackige, stinkende Wasser des Hafenbeckens, wo die Kippe zischend verlöschte. »Ja, wenn das so ist ...«

»Ich kann jeden Preis zahlen«, machte der Abenteurer sich bemerkbar. »Aber ich habe keine große Lust, hier lange herumzustehen und mit Ihnen zu verhandeln. Die Luft ist kühl.« Jaques musterte den Sprecher von unten bis oben.

»Nun ja, vollblütig bist du ja gerade nicht, das stimmt schon. Und wenn man von einer Sonneninsel kommt und die Kälte hier nicht mehr gewöhnt ist, da kann man sich schnell die Schwindsucht holen. Okay, Bohnenstange, du bist nicht mehr ganz in, das kann passieren. Ginge uns wahrscheinlich genauso. Mit Gold also willst du zahlen? Wird akzeptiert. Damit lässt sich auch was anfangen, ist sogar noch stabiler als Moneten. Hast wohl einen ganzen Piratenschatz auf deiner Insel ausgegraben, wie?«

Mit dem Fuß stieß er gegen die Kiste. Der Hagere reagierte augenblicklich. Seine Rechte kam hoch und landete klatschend auf der Brust von Jaques, der ein ganzes Stück zurückflog. Man hätte dem Knochengerippe von Mann eine solche Kraft nicht zugetraut.

»Tun Sie das nicht wieder!«, stieß der Abenteurer hervor. »Mein persönliches Eigentum geht Sie nichts an. Sie haben den Auftrag, mich und die Kiste aus Marseille zu schmuggeln, weiter nichts. Sie brauchen sich nicht einmal den Kopf darüber zu zerbrechen, wo Sie mich absetzen sollen. Ich werde Ihnen den Ort genau nennen. Nachher, nicht jetzt. Und nun nennen Sie mir den Preis.«

Jaques schob sich nach vorn. Wut stand in seinen Augen zu lesen.

»Oui«, sagte er zornig. Und dann nannte er den Preis. Der Hagere holte einen Jutesack aus dem Fußende der Kiste, nachdem er den Deckel an dieser Stelle etwas angehoben hatte. Zum zweiten Mal sah Kapitän de Broulon, dass der Deckel in zwei Etappen anzuheben war. Man konnte die untere Hälfte öffnen, ohne die obere Hälfte überhaupt zu bewegen. Aus Bast gefertigte Scharniere ermöglichten dies. Bei dem trüben Schein, den Jaques' Taschenlampe verbreitete, sah man ein bewegungsloses Bündel. Der Hagere klappte den Deckel wieder zu und drückte den Nagel in das Loch.

»Hier«, sagte er tonlos. Er nahm aus dem Jutesack ein paar goldblitzende Gegenstände, die zum Teil mit Brillanten besetzt waren. Jaques und Claude rissen die Augen auf, und sie hatten das Gefühl, ein Märchen zu erleben. Nie zuvor hatten sie so etwas gesehen. War der ganze Sack mit Schmuckstücken dieser Art voll? War vielleicht sogar die ganze Holzkiste voll damit – sie durften nicht darüber nachdenken.

Die beiden bärtigen Franzosen sahen sich nur an, und in ihren stummen Blicken war mehr zu lesen, als Worte es vermocht hätten. Jaques und Claude verstanden sich auch so. »Ich glaube, das reicht«, sagte der Hagere, nachdem er den beiden Franzosen insgesamt fünf Gegenstände überlassen hatte.

»Die Sachen sind echt«, bemerkte de Broulon, ohne dass er danach gefragt worden wäre. »Ich habe sie alle gesehen. Auch ich wurde damit bezahlt.« Und dann sah er den beiden Männern nach, die die schwere Kiste trugen und in den dunklen, abgestellten Planwagen verfrachteten, worin sich bereits die vom Zoll abgefertigten Güter befanden.

Der Hagere wurde ebenfalls im Innern des Wagens versteckt. Die Plane wurde zugezogen und durch einen Trick wieder verplombt. De Broulon stand wie eine Statue im Dunkeln und starrte hinüber zu den Lagerhallen, wo sich zehn Minuten später der Kleinlastwagen in Bewegung setzte. Die Scheinwerfer grellten auf, rissen die windschiefen Schuppen und altersschwachen Lagerhallen aus der Nacht. Aufgeschichtete Kisten und Ölkanister warfen lange Schatten. Das Dröhnen des Motors verebbte in der Ferne und erstarb schließlich, als sich der Wagen von der anderen Seite her der Zollschranke näherte, wo der Fahrer nur noch die Papiere kontrollieren lassen musste. Der Beamte warf einen flüchtigen Blick auf die Unterlagen, sah kurz nach der Plombe und gab dem Fahrer das Zeichen, dass alles okay wäre. Die Barriere hob sich, und die Ampel schaltete automatisch auf Grün. All diese Dinge sah de Broulon schon nicht mehr. Zur Salzsäule erstarrt, schien er vergessen zu haben, dass unten im Wasser ein Boot schwamm und dass ein Matrose auf seine Rückkehr wartete. De Broulon atmete tief durch. Es fing an zu nieseln, und erst in diesem Augenblick schien der Franzose in die Wirklichkeit zurückzufinden. War alles nur ein Traum?

Der Hafen vor ihm lag leer und verlassen da. Kein Geräusch wies mehr darauf hin, was sich hier vor wenigen Minuten abgespielt hatte. Der Unheimliche war gegangen. Wohin?

Niemand wusste es. Niemandem hatte er sein Ziel genannt. De Broulon wusste nur eines: Der Abenteurer war ein Franzose. Er war in seine Heimat zurückgekehrt. Und er hatte etwas mitgebracht. Völlig abwesend ließ de Broulon sich zurückrudern. Als er den Boden der vertrauten Napoleon unter seinen Füßen spürte, da fielen die Bedrückung und die Anspannung von ihm ab, die seit Wochen seine Begleiter gewesen waren. Nun war alles zu Ende. Für ihn jedenfalls. Er fühlte sich völlig sicher. Alles war nur eine Episode gewesen. Er irrte sich. Die Schatten des Grauens sollten auch ihn noch einmal streifen.

Jaques und Claude saßen im Führerhaus. Dunkel lag die Straße vor ihnen. Eine Allee, die in das Innere des Landes führte. Kein Wagen kam ihnen um diese Zeit entgegen. Claude warf einen Blick nach hinten. Er starrte durch das mit einer durchsichtigen Plastikschicht überzogene Guckloch. Außer den schattigen Umrissen des Frachtgutes war nichts zu sehen. Der Fremde lag scheinbar in einer Ecke und machte durch keine Bewegung auf sich aufmerksam. Jaques stopfte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und riss mit einer Hand ein Streichholz an, während er mit der anderen das Steuer hielt. Der alte, klapprige Wagen holperte über die schlechte Wegstrecke.

»Hast du gesehen, was für Werte der Bursche bei sich hat, Claude?« Der Sprecher presste die Worte leise zwischen den Zähnen hervor. Selbst wenn er lauter gesprochen hätte, war kaum anzunehmen, dass der Hagere hinten im Wagen etwas hörte. Der Motor war zu laut.

»Nicht nur der ganze Jutesack war voll, scheinbar auch die Kiste«, bemerkte Claude. Er biss sich auf die Lippen. »Sollen wir wirklich so blöd sein und uns mit den fünf Schmuckstücken zufriedengeben?«

Jaques schüttelte den Kopf. »Du scheinst meine Gedanken erraten zu haben«, grinste er. Seine Augen glänzten wie im Fieber. »Wir werden reich sein, Claude. Niemand weiß, wer dieser Bursche ist. Er steigt in Neuguinea auf ein Schiff und fährt nach Europa. Niemand erwartet ihn. Einfacher könnten wir es gar nicht haben.«

»Da niemand etwas von ihm weiß, wird logischerweise auch niemand nach ihm suchen«, wiederkäute Claude praktisch das, was Jaques bereits ausgeführt hatte. Ein Warnschild, das die grellen Scheinwerfer aus dem Dunkel rissen, zeigte an, dass gleich eine scharfe Kurve kommen musste. Jaques, der den Kastenwagen steuerte, schaltete herunter. Die Geschwindigkeit verringerte sich.

»Nach der Kurve bleibe ich stehen«, flüsterte er seinem Beifahrer zu. »Du steigst dann nach hinten und kümmerst dich um den knochigen Burschen. Er ist ziemlich zäh, ich spüre seinen Faustschlag jetzt noch. Aber für dich Muskelpaket dürfte er kein Problem darstellen. Wenn du ihn gleich richtig anpackst, ohne ihn lange zur Besinnung kommen zu lassen – päng, ist die Sache erledigt.«

»Ich werfe ihn dann einfach aus dem Wagen«, lautete der Kommentar hierzu.

»Idiot!«, zischte Jaques zwischen den Zähnen hervor und warf seinem Kollegen einen bitterbösen Blick zu. »Man könnte manchmal meinen, dass du kein Gramm Gehirn in deinem Schädel hast! Aus dem Wagen werfen! In dem Augenblick ist eine Leiche da, kapierst du? Genau das wäre der größte Blödsinn. Man wird ihn finden, und dann fangen die Nachforschungen der Polizei an. Wer war er? Woher kam er? Solchen Quatsch können wir uns nicht leisten. Wir wollen uns die Schätze unter den Nagel reißen, die er von irgendwoher mitgebracht hat. Also muss seine Leiche verschwinden. Fünf Meilen von hier liegt ein alter Friedhof. Da schaffen wir ihn hin. Niemand wird ihn dort finden, niemand ihn dort überhaupt vermuten. Kein Mensch wird jemals auf die Idee kommen, dass ein Mord passiert ist. Und jetzt reiß dich zusammen. Ich verlange von dir nicht, dass du lang und breit über die Sache nachdenkst. Mach's kurz und schmerzlos, es springt 'ne Menge dabei ab für dich.«

Während Jaques so sprach, verringerte er weiter die Geschwindigkeit.

»Ab nach hinten!«

Claude nickte, riss die Tür auf und sprang nach draußen. Mit flinker Hand löste er die Plombe, klappte ein wenig die Plane zurück und starrte in das Durcheinander von Kisten und Kästen, von Rollen und Kanistern, die das Innere des Wagens füllten. »Monsieur?«, rief Claude leise. Irgendwo zwischen diesem Durcheinander musste auch ihr versteckter Passagier hocken.

»Ja?«, antwortete eine dumpfe, müde Stimme aus dem Dunkel.

»Mein Kollege schickt mich«, fuhr Claude fort, während er mit dem Fuß gegen den Metallbügel stieß und dem Fahrer damit das Zeichen gab, weiterzufahren. »Ich soll mit Ihnen das Weitere besprechen. Es sind noch einige Fragen offen. Wir befinden uns im Moment zwanzig Kilometer von Marseille entfernt.«

Er huschte in das Dunkel, und die Plane klappte hinter ihm zu. Aber ein schmaler Spalt blieb offen, so dass der nächtliche Himmel fingerbreit zu sehen war. Jaques gab Gas, und der Kleinlastwagen kam rasch wieder auf Touren. In dieser Nacht gehörte dem Fahrer des Wagens die Straße allein. Der Regen war stärker geworden. Wind trieb ihn heftig über die Straße und gegen die Windschutzscheibe. Die Wischanlage an dem klapprigen Gefährt war nicht die modernste. Sie arbeitete zu langsam.

»Sie wollen mir also Gesellschaft leisten?«, klang die Stimme des Hageren aus der Dunkelheit des Wageninnern zurück. Claude nickte.

»Genau.« Fieberhaft überlegte er, wo der andere hocken mochte. Er arbeitete sich in Richtung der Stimme vor. Er würde keinen langen Prozess machen, schoss es ihm durch den Kopf. Sobald er vor dem Fremden war, wollte er es tun. Kehle zudrücken, aus. Das andere war dann wieder die Sache von Jaques.

Ein Streichholz flammte vor ihm auf. In der äußersten Ecke, zwischen einem Berg aus Kisten und einem Dach aus Papierballen, hockte der Fremde. Er hatte sich ein Brett quergelegt, so dass es aussah, als ob er auf einer Bank säße.

»Sie können uns Gesellschaft leisten, Monsieur Claude«, sagte der Hagere. Gesellschaft leisten? Uns? Warum sprach der Abenteurer in der Mehrzahl? Dann erkannte Claude, dass etwas nicht stimmte. Die Kiste, die der Fremde von seiner Weltreise mitgebracht hatte, war geöffnet! Am Fußende war nur der kleine Jutesack zu erkennen. Zweidrittel der sargähnlichen Kiste aber – waren leer! Gehetzt blickte sich Claude in der Runde um. Und in dem Augenblick, als die flackernde Streichholzflamme erlosch, sah der Franzose die schattengleiche Gestalt, die ihm genau gegenüberhockte, vor dem Kistenstapel. Große, dunkle Augen starrten ihn an, und er sah diese Augen noch, als es bereits wieder völlig düster im Innern des Wagens war. Claude spürte, wie eine eiskalte Hand nach seinem Herzen griff, und dies im wahrsten Sinne des Wortes.

1. Kapitel

»Wiederholen Sie, Cechoir«, sagte der Mann im Dunkel. Der unrasierte Cechoir nickte. Er zeigte keine Furcht, wenn ihn auch jedes Mal wieder die seltsame Beklemmung beschlich, sobald er sich hier in der Hütte mit dem Fremden traf. Er wusste nicht, wie der Mann hieß, und hätte ihn nicht einmal genau beschreiben können. Kontakt nahm der Unbekannte mit dem Totengräber Cechoir in einer von Hafenarbeitern besuchten Kneipe auf. Nach des Tages Müh war Cechoir dort Stammgast.

Als Vater von fünf Kindern fühlte er sich dort am wohlsten. Cechoir war einer von denen, die es nicht verstanden hatten, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Er hatte garantiert das Schlechteste daraus gemacht. Er trank, gab sich mit Dirnen ab und machte Schulden. Seine Ehe bestand nur noch auf dem Papier. Und zu diesem verpfuschten Leben war vor einiger Zeit noch eine weitere Sache hinzugekommen: Cechoir war nicht nur vom Pfad der Moral abgekommen, er hatte auch die Paragraphen des Gesetzes missachtet und war straffällig geworden. Cechoir, der Totengräber, verdiente nicht mehr nur Geld allein durch die Tatsache, dass er die Verstorbenen unter die Erde schaffte, sondern in erster Linie dadurch, dass er sie wieder zurückholte.

Cechoir war zum Grabschänder geworden. Auftragsgemäß grub er bestimmte Leichen des Nachts wieder aus und schaffte sie in die Stadt. Hier nahm der geheimnisvolle Fremde sie für hundert Francs in Empfang. Und dann hatte er nichts weiter zu tun, als auf ein nächstes Mal zu warten. Und von Zeit zu Zeit kam dann auch ein neuer Auftrag. Abends, wenn er in der Kneipe saß, sich volllaufen ließ, ein Spielchen machte oder einem Strichmädchen an den Schenkeln herumspielte, dann wurde ihm plötzlich ein Calvados serviert, den er überhaupt nicht bestellt hatte. Das war das Zeichen. Er trank den Calvados und verließ dann die Kneipe. Sekunden später folgte ihm ein nachlässig gekleideter Mann, der wie er in dieses Milieu passte. Die Zeremonie war immer die gleiche. Der Fremde sprach ihn an und forderte ihn auf, eine alte Hütte, die am Rande des Armenviertels der Stadt stand, aufzusuchen. Und dort traf er dann den anderen. Den mit der gepflegten Sprache, den Mann, dem er auch jetzt wieder gegenüberstand.

»Ich werde mir das Grab Nummer K 17 vornehmen«, leierte Cechoir herunter. Sein Atem stank nach Alkohol. Der andere wandte sich ein wenig ab, so dass in der Dunkelheit, die in der Hütte herrschte, kaum mehr als die Umrisse des hellen Gesichts wahrzunehmen waren.

»In dem Grab mit dieser Nummer wurde vor zwei Tagen eine junge Frau beigesetzt. Name: Marthe Mignon. Alter: 35 Jahre. Sie starb an einem Nierenleiden. Die Grabstätte ist noch nicht mit dem Namen gekennzeichnet. Aber ich weiß genau, wo es ist.«

Der andere lachte, als hätte Cechoir einen Scherz gemacht. »Wenn Sie das nicht wissen würden, Cechoir, wer denn sonst? Schließlich sind Sie der Totengräber der Gemeinde. Alles andere läuft wieder wie gehabt.« Der Sprecher hob den Arm und warf einen Blick auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. »Gleich zehn. Das heißt, in spätestens einer Stunde können Sie das Theater hinter sich haben, vorausgesetzt, dass Sie sich gleich auf den Weg machen. Wenige Minuten nach elf warte ich mit meinem Kombiwagen auf einem Seitenweg neben dem Hauptportal des Friedhofs.«

»Einverstanden.« Cechoir nickte.

»Machen Sie Ihre Sache gut, Cechoir. So wie immer. Die Bezahlung bleibt die gleiche: einhundert Francs bei Ablieferung der Leiche.« Damit war dieses seltsame Gespräch beendet. Der Totengräber verließ die Hütte und ging ein wenig wankend über den unbefestigten Weg, der von Pfützen übersät war. In der Nähe befand sich eine Schutthalde, auf der die Bewohner der Umgebung ihren Abfall abluden. Rauch hing in der Luft. Auf der Halde brannte ständig ein Feuer, und das unruhige Glühen und Glimmen durchbrach die Finsternis. In den armseligen Behausungen brannte kaum noch Licht. Die Bewohner, ein buntes Völkergemisch, schränkten den Stromverbrauch aus Gründen der Sparsamkeit ein. Cechoir kam sogar an einem Fenster vorbei, hinter dem eine auf dem Tisch stehende Petroleumlampe brannte.

Ein Mann hockte im Lichtkreis der Lampe und goss sich in ein Glas billigen Wermut ein. Der Trinker schimpfte vor sich hin, dass man es hörte, wenn man vorbeilief. Auf dem Boden und dem Tisch lagen Porzellan- und Glasscherben. In der Wohnung musste es zu einem handfesten Streit gekommen sein. Ob die bessere Hälfte daraufhin die Flucht ergriffen hatte oder mit einem blauen Auge irgendwie in einer dunklen Ecke lag, das ließ sich von hier aus nicht erkennen. Cechoir war diesem Milieu selbst zu sehr verhaftet, um sich weitere Gedanken über den einsamen Trinker zu machen. Dieser Mann hätte sein Spiegelbild sein können.

Der Regen durchnässte seine schmutzige Kleidung. Cechoir fand, dass es kälter geworden war. Er trug keine Jacke, obwohl er fror. Vorn am Ende des matschigen Weges stand ein alter, vom Rost angenagter Renault. Cechoir hatte dieses Vehikel vor einiger Zeit von einem Autofriedhof abgeholt und mit Hilfe eines Freundes, einem Autoschlosser, der aus vier Rädern und ein paar Ersatzteilen die tollsten fahrbaren Untersätze zusammenschustern konnte, wieder fahrbar gemacht. Der Wagen war ordnungsgemäß angemeldet, und die zusätzlichen Einkünfte aus dem Leichenraubgeschäft ermöglichten es dem Franzosen, den Wagen zu unterhalten. Cechoir schloss den Renault auf.

Die Tür schrie nach Öl. Knirschend fiel sie wieder ins Schloss, als der durchnässte Cechoir hinter dem Steuer hockte. Fünf Versuche bedurfte es, ehe der Motor ansprang. Der Wagen wackelte und zitterte an allen Ecken und Enden. Erstaunlicherweise brachte Cechoir das Vehikel dennoch zum Fahren. Man konnte hier im wahrsten Sinne des Wortes von einem Wunder der Technik sprechen und musste dem Autoschlosser, der diesen Renault wieder zum Fahren gebracht hatte, höchstes Lob zollen. Knatternd und hin und wieder durch einen Knall und eine Rauchwolke aus dem Auspuff andeutend, dass die Zündung eine Art Eigenleben führte, kam der Wagen voran.

Der Franzose verließ das Armenviertel. Die dunklen Straßen und Gassen hier waren nicht beleuchtet. Cechoir schien in eine andere Welt einzudringen, als er durch die Bezirke fuhr, in denen das Leben von Marseille erst um diese Zeit anzufangen schien. Neonlichter blinkten, Restaurants und Stripteaselokale überboten sich mit Reklame. Zehn Minuten später hatte Cechoir die mit Licht und Leben erfüllte Stadt hinter sich gelassen. Er war so sehr mit Fahren und Schalten beschäftigt, dass er den Wagen, der ihm seit dem Armenviertel folgte, glatt übersah.