Larry Brent Classic 019: Der Schlitzer - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 019: Der Schlitzer E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Bis die Ratten dich zerfetzen Ted Burton, der Starreporter der Weekly News, hört von einem alten Seefahrer die Geschichte von Sam, dem Herr der Ratten. Er reist auf die Fidschiinsel Thare, um Sam zu suchen - und findet den Tod. Burtons Kollegin Helen Powell erhält vier Wochen später einen Brief von Ted und folgt seiner Spur. Bei ihrer Nachforschung "stößt" sie mit Larry Brent zusammen, der auch dem Verschwinden mehrerer Menschen auf den Grund gehen soll. Beide wissen noch nicht, daß die Insel ein schreckliches Geheimnis besitzt und die blutrünstigen Ratten auf neue Opfer warten ... Der Schlitzer aus dem Jenseits London versinkt im Nebel und ein geisterhafter Mörder treibt sein Unwesen. Peggy Lunch und die Prostituierte Brenda sind seine ersten Opfer. Offenbar ist Jack the Ripper wieder am Werk. Doch der legendäre Mörder müßte längst tot sein. Frank Hunter hält es für möglich, daß der Killer wieder am Leben ist und bringt die Reporterin Linda Davon auf die Spur eines spiritistischen Zirkels. Inzwischen hat auch Myriam Toynbee das geisterhafte Phantom gesehen. Durch ihre Aussage wird die PSA eingeschaltet - doch ein geisterhaftes Phantom im Nebel zu finden, erscheint Larry Brent und Chief-Inspector Higgins zunächst aussichtslos ...

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 19

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-819-8

Dan Shockers Larry Brent Band 19

DER SCHLITZER

Mystery-Thriller

Bis die Ratten dich zerfetzen

von

Dan Shocker

Prolog

Kalter Angstschweiß perlte auf seiner Stirn. Mit letzter Kraft versuchte Burton sich an der glitschigen Wand emporzuziehen. Seine Finger rutschten ab und fanden keinen Halt. Jetzt kamen sie. Deutlich hörte er sie ...

Panik ergriff Burton. In seinen Augen flackerte der Wahnsinn, als er mit hastigem Schütteln versuchte den Schädling loszuwerden. Aber die spitzen Zähne, die sich in sein Fleisch gebohrt hatten, lösten sich nicht. Burton umfasste den Hals des Nagers. Hart drehte er den Kopf des Tieres herum. Deutlich hörte er das Knacken der Halswirbel. Doch selbst im Tod ließ die Ratte nicht locker. Wie Widerhaken hingen ihre Zähne in seinem Fleisch. Der Boden um ihn herum wurde zu einer einzigen brodelnden Masse. Alles war mit Leben erfüllt. Das Pfeifen und Quietschen der Schädlinge verstärkte sich.

Und dann hingen sie an ihm. Sie krochen an seinem bebenden, kraftlosen Körper empor. Ein gellender Schrei kam über seine blassen Lippen, und in seinen Mundwinkeln bildete sich blasiger Schaum. Er wurde von den unheimlichen Nagern zu Boden gezogen. Es gelang ihm noch zwei, drei Ratten abzuschütteln, einer vierten den Hals zu brechen, doch dann war seine letzte Widerstandskraft erschöpft, und es war unmöglich, gegen diesen Strom des Grauens anzuschwimmen. Zu viele waren es, die auf ihn gehetzt wurden. Warm lief das Blut über sein Gesicht und mischte sich mit dem Schweiß. Aus dem Berg der dunklen, sich wie eine Welle über ihn ergießenden Körper gelang es ihm, seine Arme herauszustrecken, und es sah so aus, als wolle er den Ratten beweisen, dass er ihnen doch überlegen war. Die Legende vom Herrn der Ratten blieb weiterhin unbestätigt.

Der Geheimnisvolle hatte wie ein General im Hintergrund seine Soldaten nach vorn geschickt, um sein, Burtons, Vordringen zu stoppen. Der Australier merkte nicht mehr, wie die Schädlinge ihm endgültig den Garaus machten. Der Blutverlust war schon so groß, dass er vor Schwäche keine Schmerzen und keine Angst mehr empfand. Sein Bewusstsein schaltete ab, und tiefe Dunkelheit umfing ihn, aus der es keine Rückkehr mehr gab. Dann fraßen ihn die Ratten ...

1. Kapitel

Als Helen Powell erwachte, fiel ihr Blick nicht wie gewohnt auf die Uhr, sondern auf den Kalender. Heute war der 27.! Ein beachtenswertes Datum. Für sie zumindest. Vor genau vier Wochen hatte Ted Burton Melbourne verlassen. Er hatte sie darum gebeten, an diesem Tag, nämlich heute, ein Schließfach auf dem Bahnhof zu öffnen. Burton war ein Kollege der hübschen Australierin, ein Mann, der mit Reporterblut in den Adern zur Welt gekommen war. Ted Burton hatte die seltene Gabe, eine Spürnase für gewisse Dinge zu haben. Die interessantesten, absonderlichsten und ungewöhnlichsten Berichte in Weekly News stammten aus seiner Feder. Helen Powell, mit Burton befreundet, war vierundzwanzig und damit zehn Jahre jünger als Burton. Sie hatte viel bei ihm gelernt, und in den letzten Monaten hatte man das Paar eigentlich nur noch zusammen gesehen. Obwohl Helen ständig in dieser Zeit mit Burton auf Tuchfühlung gewesen war, erfuhr sie so gut wie nichts über seine Pläne. Burton liebte Überraschungen. Und so war es nicht verwunderlich, dass sie eines Morgens im Hotel auf ihrem Nachttisch einen Brief vorfand, in dem stand: Bin abgeflogen. Glaube, einer einzigartigen Sache auf der Spur zu sein. Sollte ich mich bei dir innerhalb von vier Wochen nicht gemeldet haben, musst du dir aus meinem Spind in der Redaktion die Schlüssel holen. Im Schließfach findest du dann einen Brief. Gruß, Ted!

Das war typisch für ihn. Helen Powell hatte sich erst geärgert. Aber dann war dem Groll Interesse und Aufmerksamkeit gefolgt. Sie glaubte Ted Burton lange und gut genug zu kennen, um zu wissen, dass er nicht leichtfertig handelte. Er wollte sich über eine Sache erst Gewissheit verschaffen, ehe er darüber sprach und schrieb. Die letzten Wochen seit der Abreise Burtons kamen ihr jetzt, in der Rückschau, vor wie ein Traum. Die Zeit schien stillgestanden zu sein. Helen Powell konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein Datum so sehr herbeigesehnt zu haben wie den 27.

Sie war eine notorische Langschläferin und kam normalerweise kaum vor neun aus den Federn. Aber heute hielt sie nichts mehr länger im Bett, obwohl die Zeiger der Uhr noch nicht mal ganz auf sieben standen. Helen streifte das durchsichtige Baby Doll ab und ging ins Bad. Sie stellte sich zwei Minuten lang unter die warme Dusche, brauste sich dann zwanzig Sekunden eiskalt ab und machte dabei gymnastische Übungen. So begann ihr Tageslauf. Sie war der festen Überzeugung, dass ein geregeltes und gesundes Leben auch in späteren Jahren seine Erfolge zeitigen würde. Die junge Australierin war wohlproportioniert und hatte eine feste, gutdurchblutete, samtartige Haut. An diesem Körper gab es kein Gramm Fett zu viel. Die Muskeln waren elastisch, und man konnte ihr Spiel unter der Haut beobachten. Die Brüste waren straff. Die knapp bemessene Freizeit nutzte Helen dazu, nackt zu baden und sich auch im Evakostüm der Sonne auszusetzen.

Sie frottierte sich rasch ab und zog außer einem Schlüpfer und einem dünnen Leinenkleid mit großen Farbtupfern kein weiteres Kleidungsstück an. So frei und ungezwungen, wie sie sich gab, war sie auch. Nach einer Tasse Kaffee und einer Scheibe Vollkornbrot verließ sie knapp eine Stunde später ihre Wohnung. Ein dunkelroter Simca 1000 stand unten vor der Haustür. Der Wagen startete auf Anhieb. Der Weg zur Redaktion nahm kaum zehn Minuten in Anspruch. Helen Powell wurde von den Kollegen der Frühschicht mit lautem Hallo begrüßt.

»... schon aus den Federn?«, konnte sich einer der Redakteure nicht verkneifen zu sagen, als die hübsche Australierin in dem kurzen Kleid durch die Tür rauschte. »Das ist man gar nicht gewohnt bei Ihnen, Helen. Haben Sie aus Versehen die Uhr zwei Stunden vorgestellt?« Die Reporterin lächelte still. Ihr lag eine Antwort auf der Zunge, aber dann unterließ sie es doch, sie auszusprechen. Mit verschmitztem Lächeln auf den Lippen verschwand Helen hinter der Tür zum Arbeitszimmer Burtons. Die Reporterin schloss den Spind auf und fand an der angegebenen Stelle den Schlüssel in einem ursprünglich als Utensilienetui dienenden Behälter, in dem Bleistiftstummel und Büroklammern aufbewahrt wurden. Gerade als Helen den Schlüssel in ihre Handtasche gleiten ließ, wurde hinter ihr die Tür geöffnet. Die junge Australierin zuckte kaum merklich zusammen, als sie plötzlich wahrnahm, dass sie nicht mehr allein im Zimmer war. Sie drehte ruckartig den Kopf herum.

»Tut mir leid, Miss Powell«, sagte eine näselnde Stimme. Edward Croft war eingetreten. Wie Ted Burton war auch er einer der Sensationsreporter von Weekly News. »Ich habe angeklopft, aber Sie haben mich nicht gehört. Wohl ein bisschen in Gedanken gewesen, wie?« Helen Powell kniff die Augen zusammen. Sie konnte sich nicht erinnern, etwas gehört zu haben. Croft hatte sich vorhin vorn im Zimmer befunden. Sie hatte auch ihm leicht zugenickt. Helen Powell mochte diesen Mann nicht besonders. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Croft stand im Schatten des erfolgreichen Burton, dem es gelang, immer die zugkräftigeren und ungewöhnlicheren Berichte herbeizuschaffen.

Vergebens hatte Croft bisher versucht, seine Stories dementsprechend aufzumöbeln. Doch was er schrieb, blieb ohne Resonanz. Es fehlte jener gewisse Funke, der auf den Leser übersprang. Croft war ein Schreiber unter dem Durchschnitt. »Seit wann schnüffeln Sie mir nach, Croft?«, fragte Helen Powell unvermittelt. Sie ließ die Handtasche zuschnappen. Crofts Blick folgte dieser Bewegung. »Nanu, gleich so angriffslustig?«, fragte er grinsend. Seine schief gewachsenen Zähne ragten ein wenig über die Oberlippe.

»Nicht angriffslustig. Sagen wir lieber direkt. Das trifft die Situation wohl besser. Als Mann, der mit dem Wort umzugehen versteht, sollten Ihnen eigentlich die richtigen Begriffe zur richtigen Zeit einfallen.« Helen Powells Stimme klang um eine Nuance schärfer. Croft versuchte, sein Grinsen zu verstärken. Aber es gelang ihm nicht recht. Sein Gesicht wurde rot wie eine sonnengereifte Tomate. »Ich habe Ihren eigenwilligen Sinn für Humor schon immer bewundert, Miss Powell«, entgegnete er. Es sollte zynisch klingen. Aber selbst das brachte er nicht fertig. Die Waffe war stumpf. Er schob sich zwei Schritte weiter in das kleine, ordentlich aufgeräumte Arbeitszimmer hinein. »Burton hat sich seit über drei Wochen nicht mehr hier sehen lassen.«

»Vier sind es genau«, unterbrach Helen ihn.

»Der Boss meint, dass das ein bisschen lang sei. Er hat zwar auf Vorrat geschrieben, aber der geht langsam zur Neige. Der Boss macht sich Sorgen, auch wegen der Spesen.«

»Es sind nicht Ihre Sorgen, Croft. Und nun lassen Sie mich bitte hinaus! Ich habe noch etwas zu tun.«

Croft ließ die junge Reporterin mit den aufregend großen Augen an sich herankommen. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Es ist doch möglich, dass Burton diesmal in der Tinte sitzt. Er hat sich vielleicht an eine Sache gewagt, die ein paar Nummern zu groß für ihn ist. Nun hat er Ihnen offensichtlich eine Nachricht zukommen lassen, scheint mir ...«

»Sie hätten zur Kripo gehen sollen. Man braucht dort Leute, die gut kombinieren können.«

»Für eine Frau ist möglicherweise das, was Burton aufgespürt hat, zu gefährlich. Sie sollten mich nicht einfach abweisen.« In seinen Augen flackerte es. Croft war ein Nervenbündel, ein Mann, der viel rauchte, kaum schlief und ständig auf der Suche nach einem Knüller war. Im Grunde genommen tat Helen dieser Mensch leid. Er litt unter seinem krankhaften Ehrgeiz und seinem Neid. Die Australierin legte die Hand auf den Türgriff. »Wenn irgendetwas sein sollte, Croft, dann werde ich mich bei Ihnen melden. Sie werden dann Ihren Wunsch erfüllt bekommen, Ihren Namen gemeinsam mit dem Burtons unter einem Bericht zu sehen.« Ihm kaum merklich zunickend, verschwand Helen Powell aus dem Zimmer, ließ die Tür aber offen stehen. Croft verharrte auf der Schwelle und starrte der Davoneilenden nach.

Sekunden später hielt ihn nichts mehr in der Redaktion. Er verließ das Verlagsgebäude, stand sekundenlang auf der obersten Treppenstufe und blickte dem roten Auto nach, das sich gerade in den Verkehr einfädelte. Edward Croft winkte einem Taxi. »Ich darf die Dame da vorn nicht aus den Augen verlieren«, machte er den Fahrer darauf aufmerksam. »Wenn es Ihnen gelingt, dem Simca in angemessener Entfernung zu folgen, gibt es einen Schein extra.«

Der Chauffeur riss seinem Fahrgast die Tür auf. »Dann steigen Sie mal ein, Mister. Muss wohl die große Liebe sein, wie? Nun, wen's mal packt, den lässt es nicht mehr los.« Croft erwiderte nichts darauf. Er sah die Dinge aus einer ganz anderen Sicht.

Helen Powell hörte das Gewirr der Stimmen, das Rauschen der sich nähernden oder abfahrenden Züge, Lautsprecheransagen. Sie liebte das Leben auf einem Bahnhof, konnte hier oft Stunden damit zubringen, die Reisenden aus allen Teilen des Landes zu beobachten und das Verhalten der Menschen zu studieren. Doch dazu hatte sie schon lange keine Zeit mehr gehabt. Sie war selbst zur Reisenden geworden und fand das von Ted Burton angegebene Schließfach auf Anhieb. Eine seltsame Erregung hatte sich ihrer bemächtigt. Helen Powell war bekannt für ihren kühlen Kopf und ihre klaren Überlegungen. Doch die Ungewissheit, in der sie sich seit vier Wochen befand, schaffte sich nun doch in ihrer zunehmenden Erregung Luft. Im Schließfach lag ein dunkelbraunes, verschlossenes Kuvert.

Helen nahm es an sich und stopfte es mit zitternden Fingern in ihre Handtasche. Sie suchte das Bahnhofsrestaurant auf und achtete nicht darauf, dass ganz in der Nähe zwei dunkelbraune Augen jede ihrer Bewegungen verfolgten. Auch als Helen Powell an dem kleinen Ecktisch in der stillen Nische saß, konnte Edward Croft die Reporterin genau sehen. Er hielt sich im angrenzenden Raum auf, der durch eine Glaswand von dem unterteilten Restaurant abgetrennt war. Zahlreiche dicht nebeneinanderstehende Blumen bildeten eine gute Tarnung. Helen riss den Umschlag auf. Darin befand sich ein nochmals verschlossenes Kuvert, weiß und ohne Beschriftung. Und hier hatte Burton seinen Brief versteckt. Er war an sie gerichtet.

Liebe Helen, wenn du diesen Brief in Händen hast, bin ich entweder nicht mehr am Leben, oder ich kann den Ort nicht mehr verlassen, den ich freiwillig aufgesucht habe ...

Schon diese wenigen Zeilen brannten wie Feuer in ihren Augen. Helen überflog den Brief und fing wieder von vorn an. Sie begriff, dass Burton ihr etwas mitteilen wollte, aber dennoch verstand sie nicht die Einzelheiten.

... es war anfangs nur ein Gerücht, dem ich nachging. Aber dann hat es mich gepackt. Ich wollte genau wissen, was es damit auf sich hat. Das Ganze fing in einer Kneipe am Rande von Melbourne an. Dort lernte ich Jean Doree kennen. Er war Seefahrer und erzählt die tollsten Geschichten, die er erlebt hat. Richtiges Seemannsgarn. Das macht den Zuhörern Spaß, und der Erzähler selbst scheint auch seine Freude daran zu haben. Doree ist ein Sonderling. Er lebt in einer verfallenen Hütte abseits von Melbourne. Hin und wieder taucht er in der Kneipe auf, erzählt seine Geschichten, und man bezahlt ihm ein Essen oder einen Drink dafür. Doree machte mich auf eine winzige Insel vulkanischen Ursprungs zwischen den Fidschis und Neukaledonien aufmerksam. Ich war verrückt, als ich mich entschloss, die Reise anzutreten. Niemand wusste davon. Nicht mal du. Jetzt, wo ich dies zu Papier bringe, kommt mir alles lächerlich und absurd vor, denn ich befinde mich in meinem Arbeitszimmer, mitten in Melbourne, und wenn ich das Fenster aufmache, dann kann ich hinuntersehen, und überall umgibt mich Leben. Ich weiß nicht, ob du jemals diesen Brief in der Hand halten wirst. In vierzehn Tagen kann ich zurück sein und alles war nur eine Seifenblase. Möglich, dass ich einem Hirngespinst nachjage, einem Dämon aus den unheimlichen Geschichten des alten Doree, aber wenn du diesen Brief aus dem Schließfach entnommen hast, dann stimmt die Gedankenwelt nicht mehr, in der ich mich jetzt noch bewege. Ich habe irgendwie einen Endpunkt in meinem Leben erreicht. Du sollst nicht in Ungewissheit leben, Helen. Von dem Augenblick an, wo du diesen Brief in den Händen hältst, musst du mich aus deinem Leben und deinem Gedächtnis auslöschen.

Helen schluckte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Das Ganze kam ihr so unwirklich vor. Auf was für eine Sache hatte Ted sich da eingelassen? Die Reporterin starrte auf den Brief und konnte den Blick nicht davon wenden. Mechanisch griff sie nach der dampfenden Kaffeetasse. Sie stieß gegen das Gefäß und die Tasse kippte um. Das Geräusch des klirrenden Geschirrs riss die Australierin in die Wirklichkeit zurück. »Entschuldigen Sie bitte«, murmelte sie benommen und kam sich hilflos und tollpatschig vor, als die Bedienung kam und die Scherben mitnahm. »Das macht nichts«, entgegnete die Serviererin. »So etwas kann passieren.« Mit einem stillen Lächeln wechselte sie die Tischdecke und brachte gleich darauf eine neue Tasse.

»Danke.« Helen hob nicht den Kopf. Sie wollte nicht, dass man ihre verschleierten Augen sah. Sie schlürfte den heißen Kaffee und starrte vor sich hin. Sie versuchte Klarheit über sich und Burton zu gewinnen. Auf der einen Seite schilderte er seine Kenntnisse von einer fernen Insel, die er hatte aufsuchen wollen, und unterließ es, darüber nähere Angaben zu machen. Andererseits wiederum gab er ihr zu verstehen, dass er sie nicht im Unklaren lassen wolle. Das war ein nicht zu übersehender Widerspruch. Ein Widerspruch war auch der ganze Brief und das Verhalten Burtons! Warum hatte er zuvor nicht mit ihr über seine Pläne gesprochen und sie schon vor vier Wochen darauf hingewiesen, was er zu unternehmen gedachte? Helen Powell wusste nicht mehr, was sie noch glauben sollte. Sie war verwirrt. Sie bestellte eine zweite Tasse Kaffee, trank diese aber nur bis zur Hälfte leer. Unvermittelt packte sie alles zusammen, nachdem sie gezahlt hatte, und verließ das Restaurant.

Sie schleuste den Simca durch den Verkehr, und viele Handgriffe machte sie ganz automatisch. Mechanisch war auch ihre Fahrt in den Randbezirk. Sie wusste, dass es hier eine Kneipe gab, in der ein gewisser Jean Doree verkehrte. Das war nicht viel, aber immerhin etwas. In Helen Powell war die Jägerin erwacht. Sie wusste, dass sie von nun an keine Ruhe mehr haben würde, nicht eher, bis sie genau wusste, welches Schicksal Ted Burton ereilt hatte.

Die Wellen des Pazifik spülten an den weichen, weißen Strand. Die Insel ragte wie ein Kegel aus den Fluten des Meeres. Es war ein kleines Gebiet, nur acht Meilen lang und fünf Meilen breit. Am Ufer standen abwartend drei Eingeborene und blickten zu dem Frachtschiff hinüber, von dem sich jetzt ein Ruderboot löste. Flut herrschte. Der Kapitän und ein Matrose näherten sich der Mole. Die drei Eingeborenen blickten den Fremden stumm entgegen. Sie kannten den Kapitän und auch den Matrosen. Der fette Amerikaner mit dem roten Gesicht hieß Warner. Irgendwann, als Tourist, war er nach Neukaledonien gekommen. Und er war dort schließlich hängengeblieben.

Da er schon als Junge am Hafen von New York herumgelungert hatte und als Dockarbeiter tätig gewesen war, schien er der Ansicht zu sein, dass es gar nicht so übel wäre, den Seemannsberuf ernsthaft zu betreiben und auf der Insel zu bleiben. Er hatte eine Eingeborene geheiratet und einen alten, furchtbar zugerichteten Frachtdampfer wieder einigermaßen flottgemacht, den er sinnigerweise Sweet Home nannte. Mit der Sweet Home kurvte er zwischen den Inseln herum und trieb hier Handel. Sechs- bis achtmal im Jahr legte er auch vor Thare an. Dieses winzige Eiland schien nur aus Wind und Sand zu bestehen. Ein öder Platz, wo man sich als Mensch kaum wohl fühlte. Dennoch war auch dieser Fleck Erde bewohnt, und die Eingeborenen hier schienen auf ihre eigene Weise glücklich zu sein. Das war es, was Warner von Anfang an fasziniert und verzaubert hatte: die unnachahmliche Freundlichkeit, die diesen Eingeborenen zu Eigen war.

Trotz des Massentourismus, der auch Neukaledonien und die Fidschis nicht verschont hatte, gab es doch noch einige abgelegene Vulkaninseln, die kaum eines Europäers Fuß betreten hatte. Thare gehörte dazu. Hierher kam nur, wer einmal völlige Einsamkeit erleben wollte. Es gab kein Hotel, kein elektrisches Licht, kein Telefon und kein Fernsehen. Dass die Sweet Home in diesem Augenblick vor Thare auftauchte, war ein Zufall. Es geschah außerhalb der Reihe. Die Eingeborenen wussten das. Das Frachtschiff war erst in sieben Wochen wieder fällig. Doch besondere Umstände erforderten besondere Maßnahmen. Warner war darum gebeten worden, heute zu kommen. Von einem Australier namens Ted Burton, den er vor vier Wochen hier absetzte und der nach dieser Zeit die Insel wieder verlassen wollte. Armeschwenkend erhob sich Warner in dem bedrohlich schaukelnden Ruderboot, das der schnaufende Matrose, ein schwitzender Mischling, nun allein vorwärtszutreiben hatte.

»Hallo, meine Freunde!« Warner strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Er war ein fröhlicher, immer zu einem Scherz aufgelegter Bursche, der keiner Fliege etwas zuleide tat. Die drei am Strand stehenden Eingeborenen winkten mit freudigen Gesichtern zurück. »Hallo, Sweet-Home-Freund«, rief einer von ihnen in gebrochenem Englisch über die Wellen, und die Worte wurden von dem starken Wind förmlich von seinen Lippen gerissen. Hilfreiche Hände streckten sich dem Zweieinhalb-Zentner-Mann entgegen, als das Ruderboot endlich gegen die Mole schlug. Warner blickte sich im Kreis um, als vermisse er jemand.

»Wo ist der Australier?«, fragte er verwundert. Der Eingeborene Maiko wies mit der ausgestreckten Hand über die ruhige Meeresfläche. »Weg mit Touristenboot, das vor vier Tagen hier anlegte.« Warner kniff die Augen zusammen. Er wollte etwas darauf erwidern, doch Maiko fuhr fort. »Sagte, er hätte eine wichtige Nachricht aufzugeben. Wollte nach Noumea ...«

»Das verstehe ich nicht.« Der Dicke wischte sich mit der Hand über sein fleischiges Gesicht, in dem die kleinen Augen wie feuchte Perlen glitzerten. »Wir hatten doch abgesprochen, dass ich ihn heute hier abhole.« Er musterte die drei Eingeborenen. Sie lächelten ihn an. Sie sahen alle drei beinahe gleich aus und hätten Brüder sein können. Warner kannte viele Bewohner der Insel. Der Wind zerzauste die Haare des blonden Kapitäns. Er machte sich nicht die Mühe, sie zu ordnen. Dann schüttelte er den Kopf. »Da macht man extra einen Umweg ...« Warner kam die ganze Situation recht merkwürdig vor. »Das ist schon das zweite Mal in den letzten drei Monaten«, fügte er etwas lauter hinzu.

»Das zweite Mal, ja ...« Maiko lächelte. Er schien nicht zu begreifen, was der dicke Kapitän eigentlich mit seiner Bemerkung bezweckte.

»Sieht beinahe so aus, als ob ihr jeden Fremden hier mit Gewalt festhaltet«, konnte Warner sich nicht verkneifen zu sagen. »Immer wenn ich meine Leute abholen will, sind sie verschwunden.«

»Sind sie abgereist, ja. Wollte niemand warten.« Diesen feinen Unterschied schien der Eingeborene zu begreifen, und er berichtigte den Amerikaner dementsprechend.

»Das wäre noch zu verstehen. Mancher nimmt sich etwas vor, was er nachher nicht durchsteht. Burton jedoch machte mir nicht den Eindruck.« Der Kapitän ließ immer wieder den Blick in die Ferne schweifen. »Wir haben andere Passagiere für Sie, Freund«, fuhr Maiko fort. »Wollen mitfahren. Das geht?« Warner kam nicht mehr dazu, etwas zu erwidern. In der Luft lag plötzlich außer dem knatternden Wind ein anderes Geräusch, das von einem uralten asthmatischen Motor herrührte. Ein klappriger Jeep, grellbunt bemalt, tauchte im Hintergrund auf. Es war das einzige Fahrzeug auf der Insel. Die Eingeborenen pflegten es mit einer beinahe ehrfürchtigen Hingabe. Jeden Besucher, der auf die Insel kam, holten sie damit ab und brachten ihn ins Dorf. Mit dem Jeep wurden gelegentlich auch kleinere Frachtgüter von der Mole her transportiert. Diesmal wurden zwei Eingeborene zur Mole gefahren, die eine aus Zypressenholz gefertigte Kiste bei sich hatten. »Sie wollen nach Noumea, Holzschnitzarbeiten verkaufen. Wir brauchen wieder Geld«, erklärte Maiko lächelnd. »Es ist also nicht umsonst, dass Sie hierherkommen, Freund.«

Warner nickte. »Ich nehme sie mit. Aber ob sie mit der Sweet Home zurückkommen können, kann ich nicht sagen. Ich werde erst in drei Monaten die Insel wieder anlaufen.«

»Sie haben genügend Ware dabei, die sie an die Touristen verkaufen«, meinte Maiko. »Sie heißen Peter Anne und Henry Anne.« Das war eine Besonderheit der Insel. Viele Bewohner trugen englische Namen, die darauf hinwiesen, von welcher Mutter sie stammten. Die Ehe, wie man sie in Europa kannte, gab es hier nicht. Es ließ sich oft schwer feststellen, welches Kind von welchem Vater stammte, und so war und blieb die Gebärende die Namensgeberin.

Peter und Henry Anne lächelten, als sie die Kiste auf dem Ruderboot verstauten. Warner hielt sich nun auch nicht länger an Land auf, nachdem feststand, dass der Australier ihn tatsächlich im Stich gelassen hatte. Er konnte das nicht begreifen. Warner erinnerte sich noch genau an die letzten Gespräche, die er mit dem Australier gemeinsam in der Nacht vor dem Anlegen an der Reling geführt hatte. Er hatte die markante Stimme noch im Ohr.

»... haben Sie jemals etwas über den Herrn der Ratten auf der Insel gehört, Warner?«

Der Amerikaner hatte bei dieser Frage den Australier angeschaut, als wäre der Mann nicht ganz klar im Kopf. Herrn der Ratten? Was bedeutete das? Wer sollte das sein? Warner musste sich jetzt, während der Matrose und er gemeinsam mit den beiden Anne-Brüdern zur Sweet Home ruderten, ständig mit den Gesprächen und der Gestalt des Australiers befassen. Burton hatte ihm, Warner, anvertraut, dass er die Absicht hatte, eine Reportage über die Insel zu schreiben. Es sei ihm zu Ohren gekommen, dass dort etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Doch seine bisherigen Kenntnisse stützten sich lediglich auf eine Hypothese und eine mehr oder weniger phantastische Geschichte. Warner konnte sich nur noch zu gut daran erinnern, wie er darüber lauthals gelacht hatte. Touristen und Abenteurer kamen immer wieder auf die tollsten Ideen. Sie suchten in geheimen Berichten und hofften, auf das Ungewöhnliche, Unerklärliche und Außersinnliche zu stoßen. Aber hier gab es nichts Ungewöhnliches!

Wirklich nicht? Brütend starrte der Kapitän in die Dämmerung. Sie mussten sich mächtig in die Riemen legen, um gegen die Brecher, die an Land spülten, anzukommen. Als ein schmaler, heller Streifen zeichnete sich noch das Ufer ab. Warner rann der Schweiß übers Gesicht, und unter seinen Achseln bildeten sich große Schwitzflecke. Der Amerikaner keuchte und atmete schwer. Aus den Augenwinkeln heraus warf er einen Blick auf Peter und Henry Anne. Die beiden Eingeborenen hatten die große, etwa einen Meter hohe und ebenso breite Kiste genau in ihrer Mitte. Sie lächelten. Es war ein freundliches Lächeln, aber es war auch geheimnisvoll. Warner musste an den Engländer denken, den er vor einem halben Jahr auf der Insel absetzte und der ebenfalls nicht mehr mit ihm zurückkam. Auch damals hieß es, der Engländer hätte bereits die Insel verlassen. Und der Amerikaner musste an einen Fall denken, der bereits ein ganzes Jahr zurücklag. Ein junger Abenteurer, ein Deutscher, hatte durch Informationen in Noumea erfahren, dass zu den gottverlassenen Vulkaninseln hin und wieder ein Frachtschiff kam. Dieser Deutsche fand den Weg zur Sweet Home. Aber auch er kehrte nicht mehr zurück. Damals hatte sich Warner noch nichts dabei gedacht, aber nun fing er doch an, sich Gedanken zu machen. Nichts erschien ihm mit einem Mal mehr zufällig zu sein. Menschen verschwanden!

Gab es auf der weltabgeschiedenen Insel, auf der nur rund zweihundert Menschen lebten, tatsächlich ein Geheimnis? Warner nahm sich vor, die Sache auf dem Polizeipräsidium in Noumea zur Sprache zu bringen. Vielleicht musste man auf der Insel mal nach dem Rechten sehen. Warner war froh, als das Ruderboot endlich am Bauch der Sweet Home anschlug. Im Handumdrehen waren die Passagiere an Bord des alten Frachtschiffes, das in allen Fugen ächzte und stöhnte. Die Kiste wurde an Bord gehievt, dann folgten Warner und der Matrose. Während man das Ruderboot auf die Sweet Home zog, zeigte der Amerikaner seinen beiden einzigen Passagieren an Bord deren Kajüten. Danach gab Warner den Befehl, die Anker zu lichten und die Motoren des Frachtschiffes anzuwerfen. Das war eine Freude für sich. Die altersschwachen Kolben begannen sich zu drehen. Ein ungeheurer Lärm erfüllte das Schiff, als es in tiefere Gewässer einlief.

Warner zog sich gegen neun Uhr abends in seine Kajüte zurück. Der Nachtdienst war eingeteilt. Auf der ruhigen See trieb die Sweet Home in die dunkle Nacht hinaus. Bevor der Kapitän sich endgültig schlafen legte, öffnete er eines der beiden Bullaugen. Eine frische Brise streifte sein Gesicht. So weit der Blick reichte, breitete sich der Sternenhimmel über dem dunklen Meer aus. Himmel und Wasser, weit und breit kein Land. Trotz der Müdigkeit konnte der Amerikaner nicht gleich einschlafen. Seine Gedanken drehten sich im Kreis und Warner ahnte nicht, dass es für ihn in dieser Nacht nur noch ein einziges Mal ein kurzes, aber schreckliches Erwachen geben würde.

Sie warteten ab. Sie hatten Zeit. Peter und Henry Anne ließen es Mitternacht werden, ehe sie die Tür zu ihrer Kajüte öffneten und in den dunklen Mittelgang hinausspähten. Sie verhielten sich leise, obwohl das nicht notwendig war. Das laute Geräusch der laufenden Motoren verschluckte alle anderen Geräusche. In der düsteren Kajüte hinter Peter Anne stand die Kiste. Sie war jetzt geöffnet. Der Eingeborene hatte daraus zwischen Holzarbeiten einen Sack entnommen, in dem sich etwas heftig bewegte. »Die Luft ist rein«, flüsterte Henry Anne und gab seinem Bruder ein Zeichen. Er hielt ein starkes Tau zwischen den Händen, das ebenfalls in der Kiste zwischen den Holzarbeiten versteckt gewesen war. Unbemerkt erreichten die beiden Eingeborenen das Deck der Sweet Home.

Auf der Brücke stand um diese Zeit nur noch der wachhabende Steuermann, der das Schiff auf Kurs hielt. Auf dem Frachter war noch nie etwas Ungewöhnliches passiert. Warum sollte das heute Abend der Fall sein? Mit keinem Gedanken dachte der Mischling hinter dem Steuerrad daran, dass sich diese Nacht von all den tausend anderen unterscheiden würde, die er bisher schon auf dem Frachter verbracht hatte. Der Steuermann merkte nichts von den beiden schattengleichen Gestalten, die unterhalb der Brücke geduckt vorbeieilten, mittschiffs verhielten und dort an der Reling anfingen, das Tau zu befestigen. Henry Anne streifte sich lange, dicke Lederhandschuhe über, die fast bis zu den Ellbogen reichten. An dem fingerdicken Seil ließ sich Henry Anne, den Jutesack über der Schulter, an der dunkelgrauen Schiffswand herunter. Peter Anne blieb an Deck und ließ das Seil zentimeterweise durch seine Finger gleiten. Die sehnige, braune Gestalt stand da wie aus Stein gemeißelt, auf dem Gesicht spiegelte sich kaum die körperliche Anstrengung.

Am Seil ließ sich Henry Anne so weit hinab, dass das offene Bullauge zur Kapitänskajüte nur noch etwa zwanzig Zentimeter von ihm entfernt war. Dann gab er seinem Bruder ein Zeichen. Peter Anne schlang das Seil fest um die Reling, warf dann einen Blick in die Tiefe, um sich zu vergewissern, ob alles seine Richtigkeit hatte. »So wird es gehen«, hörte er wie aus weiter Ferne die Stimme seines Bruders. Im Sternenlicht sah er die Umrisse seines Begleiters, der sich wie ein Auswuchs von der Schiffswand abhob. Henry Anne kam mit den nackten Füßen gegen den Schiffsrumpf. Der Eingeborene saß auf dem starken Seil wie auf einer Schaukel und hielt das Gleichgewicht, indem er sich mit beiden Beinen an der Schiffswandung abstützte. Henry Annes Nerven und Sehnen waren aufs äußerste gespannt. Der Wind pfiff um seine Ohren. Er schwebte im wahrsten Sinne des Wortes zwischen Himmel und Wasser. Eine falsche Bewegung, und er würde abrutschen. Das Seil, das sein Bruder sicherte, war die einzige Verbindung zu einer Rückkehr auf Deck. Peter Anne, der sich nun ebenfalls lange Lederhandschuhe übergestülpt hatte, griff in den Sack, den er zuvor an sich genommen hatte, um seinem Bruder die Möglichkeit zu geben, sich mit beiden Händen frei zu bewegen.

Dann kam der letzte Teil des Unternehmens. Peter Anne griff in den Sack. Er spürte sofort, dass sich an seinem Handgelenk etwas festbiss. Aber die scharfen Zähne des vor Hunger halb wahnsinnigen Schädlings konnten ihm nichts anhaben. Er zerrte die wild schnappende Ratte heraus und reichte sie nach unten, während er mit der anderen Hand den Jutesack festhielt. Peter Anne musste sich weit über die Reling beugen. Die Fingerspitzen seines Bruders griffen nach dem Hals des Tieres, das wie irrsinnig quiekte.

»Jetzt!«, zischte Henry Anne. Er fühlte die zuckende Ratte zwischen seinen Fingern. Aber er griff eine zehntel Sekunde zu spät zu. Der Schädling, groß wie ein Kaninchen, aber bis auf die Knochen abgemagert, schnellte heran.

Wie ein Aal entwand sich der Nager dem Zugriff und klatschte in das Fahrwasser der Sweet Home. Henry Anne, der noch versuchte, das Tier zu fassen, verlor das Gleichgewicht. Sein Hintern rutschte vom Seil. Geistesgegenwärtig griff er nach dem Tau und baumelte daran wie ein lästiges Anhängsel. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Mit seinem ganzen Körpergewicht schlug er gegen den Schiffsrumpf der Sweet Home, während seine Füße die Oberfläche des schäumenden Wassers streiften. Peter Anne, der Zeuge des Schauspiels wurde, biss sich auf die Lippen. Für Bruchteile von Sekunden sah es so aus, als ob Henry Anne es nicht mehr schaffen würde, sich an dem Seil emporzuziehen. Immerhin gelang es ihm dann doch. Schweißüberströmt konnte Henry Anne wieder seine ursprüngliche Sitzstellung einnehmen. Minutenlang standen die beiden Männer Todesängste aus. Hatte jemand im Schiff etwas gehört?

Nein! Die Motorgeräusche hatten den dumpfen Schlag kompensiert, den Henry Anne mit seinem Fall gegen den Schiffsrumpf verursachte. »Jetzt vorsichtiger!«, murmelte Peter Anne im Selbstgespräch vor sich hin. Er reichte die nächste Ratte aus dem Sack. Sie war nicht weniger groß, nicht weniger abgemagert und nicht weniger wild als das erste Exemplar. Diesmal hatte Henry Anne mehr Glück. Er konnte die Ratte fassen. Ohne Zeit zu verlieren streckte er seine Rechte aus und ließ das Tier einfach durch das Bullauge in Warners Kajüte fallen. Noch drei weitere Ratten gingen diesen Weg. Eine vierte ging, wie die erste, verloren. Sie ersoff in den Fluten des Pazifik. Mit beiden Händen umspannte Henry Anne das Seil und beugte sich dann weit hinüber, um einen Blick in die Kajüte zu erhaschen. Er sah die schwachen Umrisse der Gegenstände, die Koje des Kapitäns und die vier dunklen Schatten, die sich dieser Koje näherten. Henry und Peter Anne beeilten sich den Ort ihres Verbrechens zu verlassen. Sie wollten mit dem, was sich nun in der Kapitänskajüte abspielen würde, nicht in Zusammenhang gebracht werden. Die beiden Eingeborenen huschten deshalb in ihre Kajüte zurück.

Was sie nicht mehr sahen, war das Werk, das die Ratten verrichteten. Dabei gab es keinen Zeugen. Die erste Ratte erreichte die Koje des schlafenden Kapitäns, kroch unter die schmutziggraue Baumwolldecke und schlug die spitzen Zähne sofort in das schwabbelige Fleisch der Oberschenkel.

Es war ein grässlicher Traum! Warner sah sich am Anfang eines riesigen Sumpfes. Die Luft war stickig, der Brei zu seinen Füßen brodelte. Und sie waren hinter ihm her. Schauerliche Gestalten in zerfetzten Kleidern. Gierige Hände griffen nach ihm, und er spürte die langen Fingernägel, die seine Haut aufkratzten. Sekundenlang war Warner wie benommen. Er stöhnte und warf sich im Bett hin und her, wollte aufwachen, aber es ging nicht. Der Sumpf, er musste ihn überqueren.

Du musst fliegen, schoss es ihm durch den Kopf. Du kannst fliegen!

Er hob die Arme und wedelte damit, versuchte sie wie Flügel zu benutzen. Und tatsächlich hob er ab, die Erde fiel unter ihm zurück. Er sah die unheimlichen Gestalten, die aus dem Morast im Hintergrund entstiegen zu sein schienen, die zu ihm aufsahen. Sie konnten ihn nicht mehr erreichen. Eine seltsame Leichtigkeit erfüllte ihn. Er war ihnen entkommen. Aber seine Flucht währte nur Sekunden! Er merkte, dass er absackte. Rasend schnell kam ihm der brodelnde Sumpf entgegen und er spürte, wie seine Füße darin eintauchten, seine Beine versackten. Dann steckte er wie ein Pfropfen fest und begriff, dass es nicht weiter abwärts ging. Aber die Schmerzen um seine Beine nahmen zu. Er senkte den Blick und sah zu seinem Schrecken, dass der morastige Boden plötzlich durchscheinend war. Nicht mehr schwarz und brodelnd, sondern hell und gallertartig. Und in dieser schwabbeligen Masse bewegte es sich. Riesige, durchsichtige Würmer hüllten ihn ein und bohrten sich in seine Haut. Er war nackt, und sie rissen ganze Fleischbrocken aus seinen Waden und seinen Schenkeln ...

Ich muss weg hier, grellte es durch sein fieberndes Bewusstsein. Die fressen mich auf. Bei lebendigem Leib.

Plötzlich waren die Schmerzen so unerträglich, dass er aufwachte. Er sah genau gegenüber das geöffnete Bullauge, hörte das Rauschen der See und sah das Glitzern der Sterne. Die vertraute Umgebung seiner Koje. Erleichterung breitete sich in ihm aus. Aber die Schmerzen in den Beinen ...

Es war fürchterlich, es brannte wie Feuer, und Warner hatte das Gefühl, als würde jemand seine Knochen abschaben. Die Schmerzen blieben, obwohl er wach war. Hatte ein Traum eine solche Nachwirkung? Mit zitternder Hand riss der dicke Amerikaner die Baumwolldecke zurück. Was er zu sehen bekam, war die Fortsetzung seines Alptraums – in der Wirklichkeit.

Der Kapitän öffnete den Mund zum Schrei. Doch nur ein dumpfes Gurgeln drang aus seiner Kehle. Er sah das blutverschmierte Laken, das angenagte Bein, und er musste an die riesigen Glaswürmer denken, die sich in seine Haut gebohrt hatten. Die Schmerzen waren von den Ratten verursacht worden, und die Pein hatte ihn bis in den Traum verfolgt, hatte ihn möglicherweise erst ausgelöst.

Ratten! Es waren zwei, nein drei. Vor seinen Augen flimmerte es. Er konnte nur die schattigen Umrisse wahrnehmen, die sich manchmal hinter den Blutnebeln vor seinen Blicken klarer herauskristallisierten. Seine Beine waren angefressen, wobei das rechte schlimmer aussah als das linke. Am rechten Bein schimmerte schon der blanke Knochen durch. Der Amerikaner, vom Tode gezeichnet und wachsbleich, versuchte sich blitzschnell auf die Seite zu rollen. Aber seine Bewegungen erfolgten nur langsam. Der enorme Blutverlust hatte ihn schon so geschwächt, dass es ihm schwerfiel, den Oberkörper zu drehen.

Wie leblos hingen die angenagten Beine an seinem Körper, und die Schädlinge schienen sich gar nicht daran zu stören, dass ihr Opfer sich mit einem Mal bewegte. Sie waren sich ihrer Beute sicher und ließen nicht locker. Matt hob Warner die Hände und schlug nach den kaninchengroßen, ausgehungerten Biestern, die immer und immer wieder ihre spitzen Zähne in sein Fleisch bohrten. Er schrie aus Leibeskräften und ließ sich mit der Schulter gegen die Wand fallen, in der Hoffnung, dass ihn einer der Matrosen von nebenan hörte. Doch lautes Motorengeräusch erfüllte die Luft und erstickte sein Rufen und Klopfen. In seiner Todesangst nahm er nochmal all seine Kräfte zusammen.

Er erwischte eine Ratte und wollte sie wütend auf den Boden werfen. Doch das Tier biss sich in seinem Armgelenk fest. Und dann war da noch ein weiterer Schädling. Ein vierter Nager. Den hatte er zunächst nicht bemerkt. Warner wandte den Kopf und sah den spitzen Schädel auf sich zuschnellen. Die Ratte erwischte den Amerikaner genau an der Halsschlagader.

Das Vieh leckte das warme Blut und ließ sich nicht mehr durch matte Armbewegungen verscheuchen. Warner fiel zurück. Sein schwerer Körper war wie ausgelaugt. Kalter Schweiß stand auf der Stirn des Kapitäns. Er hatte immer darauf geachtet, die Sweet Home von Schädlingen freizuhalten. Er konnte sich nicht erklären, woher diese Ratten kamen. Er hatte das Schiff immer sauber gehalten. Vor seinen Augen wurde es schwarz. Blut lief über seinen Körper und tropfte auf den Boden der Kajüte. Warners Finger krallten sich in die Wand neben ihm, ohne dass ihm das noch bewusst wurde.

2. Kapitel

»... und ich sage euch, es war aussichtslos.« Jean Doree sah sich mit funkelnden Augen um. Er befand sich wieder in seinem Metier. Der kleine drahtige Franzose, dem man seine 75 Jahre nicht ansah, war Mittelpunkt des Abends. Nach Wochen der Zurückgezogenheit, die er in seiner Hütte am Rand Melbournes verbrachte, hatte es ihn wieder mal unter Menschen gezogen. Und wenn Doree auftauchte, dann war immer was los, dann kam Leben in die Bude, wie der Wirt sich auszudrücken pflegte. Helen Powell hatte das Glück gehabt, von Dorees augenblicklichem Aufenthalt zu erfahren. Den ganzen Tag über war sie unterwegs gewesen, in der Hoffnung, den Franzosen zu treffen.

Jedermann in der Hafengegend kannte ihn, und doch wusste keiner so recht, wo er sich eigentlich aufhielt. Erst am späten Nachmittag war die Reporterin auf seine Spur gestoßen. Doree hielt sich seit kurzer Zeit im Sea Inn auf. Hier gab er eine seiner Schauergeschichten zum Besten. Seemannsgarn, wie es reiner kaum jemand zu spinnen vermochte. Helen Powell beruhigte ihre aufgepeitschten Nerven erst mal durch einen ordentlichen Drink. Sie begriff nicht, dass eine derart lokale Berühmtheit der Peripherie Melbournes ihr bisher nicht bekannt gewesen war. Jeder hier schien Doree zu kennen, und doch wusste keiner etwas Genaues über ihn. Der sehnige, braungebrannte Franzose blickte sich in der Runde um. Er hielt sein gefülltes Glas, das ihm einer der Anwesenden spendiert hatte, in der Rechten.