Macabros 009: Stadt der Monster - Dan Shocker - E-Book

Macabros 009: Stadt der Monster E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Macabros 17 - Dwylup, Stadt der Monster Als im Haus von Björn und Carminia in Genf/ Schweiz eingebrochen und der Spiegel der Hexe Macgullygosh gestohlen wird, ahnt Hellmark einige Zusammenhänge mit dem Fund des skelettierten Leichmans des Altertumsliebhaber Enio Merkel, welches vor einem ähnlichen Spiegel gefunden wird. Zudem ist da noch der Raubmord an dem Antiquitätenhändler Andreas Hoffner, der mit Enio Merkel ab und an Geschäfte machte und ihn eigentlich besuchen wollte! Allerdings weilt Björn in Baltimore/USA, um mit dem Verleger Richard Patrick den seit über dreißig Jahren im Koma liegenden Henry Burger zu besuchen, da dieser anscheinend wieder aufwacht! Doch zuvor phantasiert er scheinbar im Traum und erzählt etwas von Dwylup, die Stadt der Monster, welche in einer Welt existiert, die man nur durch gewisse Spiegel betreten kann! Macabros 18 - Knochentunnel in das Grauen Als der Archäologe Josef Görtzner und sein Assistent in einer Ausgrabungsstätte in Radenthein/Österreich eine Art Riesenei aus unbekannten Material entdecken und die Zeitungen davon berichten, weiß Björn Hellmark direkt: ein weiteres der sieben Augen des schwarzen Manjas ist gefunden! Doch als Macabros, der Zweitkörper von Björn den Professor aufsucht, ist das Auge gestohlen und der Archäologe stirbt an der Aufregung durch Herzversagen! Hellmark versucht über den Assistenten Jan Kowalski dem Auge auf die Spur zu kommen, als die ersten Auswirkungen des freigelegten Auges des schwarzen Manja zu wirken beginnen. Kurzbeschreibungen: © www.gruselromane

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 9

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-709-2

Dan Shockers Macabros Band 9

STADT DER MONSTER

Mystery-Thriller

Dwylup – Stadt der Monster

von

Dan Shocker

Prolog

»Komm mit nach Dwylup!«, sagte die eisige Stimme, und er erschauerte.

»Was soll ich in Dwylup?«

»Du wirst sehen ...«Der Mann stierte mit gläsernem Blick in die Dämmerung.

»Komm, komm«, wisperte es. Die Stimme kam aus dem dunklen Raum, wo der geheimnisvolle Gegenstand an der Wand lehnte. Er war mit einem alten Tuch zugehängt.

Seine runzlige Hand griff zum Vorhang und zog ihn ganz langsam zur Seite.

Die matte Oberfläche eines alten Spiegels kam zum Vorschein.

Im gleichen Augenblick sah er, dass sich jemand im Spiegel näherte.

Er war nicht mehr allein in seinem Zimmer ... Seine Nackenhaare sträubten sich, er ließ mit einem schrillen Aufschrei los, und der Vorhang legte sich schwer über das schreckliche Spiegelbild, das er wahrgenommen hatte.

Der Mann prallte zurück und merkte, wie sein Herz rasend zu schlagen anfing. Das Bild, das er gesehen hatte, war so schrecklich, dass Angst und Furcht ihn erfüllten, wenn er nur daran dachte.

Der Griff zum Lichtschalter folgte.

Er atmete tief durch. Mehrmals presste er fest die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Der Spuk war verflogen ...

»Es war kein Traum ... ich – weiß es genau ... jede Nacht wird es schlimmer ... ich habe Angst und bin doch gleichzeitig neugierig ... und diese Neugierde ist stärker als die Angst ...« Er wischte sich über die Stirn und kalte Schweißtropfen hafteten an seiner Hand.

»Ich darf nicht mehr allein sein ... der Ruf wird stärker ... ich möchte Dwylup kennenlernen ... und ich weiß doch, dass es das Ende bedeutet ... es wird mir so ergehen wie Peter ... ich brauche jemand ... der muss beobachten, was hier geschieht ... ich bin stundenweise nicht mehr im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte ...«

Eine Viertelstunde saß er auf dem Schemel und rührte sich nicht.

Dann schien sich sein Körper plötzlich mit neuem Leben zu füllen. Enio Merkel, in dessen Adern das Blut seiner rassigen, aus Rom stammenden Mutter floss, stolperte zum Schreibsekretär, nahm Füllfederhalter und Papier und schrieb in der Nacht vom l5. zum l6. August einen Brief, den er an seinen in St. Gallen lebenden Freund Andreas Hoffner richtete.

»Lieber Andreas, du wirst dich wundern, von mir heute diesen Brief zu erhalten. Komm her! Ich brauche dich! Erinnerst du dich an unsere Abmachung?

Wir hatten uns gegenseitig versprochen, einander zu unterrichten, wenn der eine eine Entdeckung machen sollte, die eindeutig beweist, dass es übersinnliche Phänomene gibt. Ich glaube, ich habe das Tor in eine jenseitige Welt gefunden. Beobachte mich! Mehr hier!

Alles Gute und herzliche Grüße. Dein Enio.«

Der Briefschreiber war nicht ganz zufrieden mit diesem holprigen Text, doch er faltete das Blatt zusammen und steckte es in einen Umschlag.

Enio Merkel lief insgesamt drei Kilometer. Dann kam er nach Oberhofen. Die riesige Fläche des Thuner Sees spiegelte das bleiche Mondlicht wider.

Enio Merkel steckte den Brief in den ersten Briefkasten am Ortsausgang und kehrte dann in seine Berghütte zurück.

Es war ein Uhr nachts, als er wieder die Decke über die Ohren zog, um seinen Schlaf fortzusetzen, der durch die seltsame Stimme und den beinahe hypnotischen Zwang, aufzustehen und in den Spiegel zu sehen, unterbrochen worden war.

Der l6. August, der anbrach, sollte ein denkwürdiges Datum werden.

Später erinnerte man sich daran, dass dies der Tag gewesen war, an dem man Enio Merkel zum letzten Mal sah. Ein Schafhirte konnte sich genau daran erinnern.

1. Kapitel

Am l7. frühmorgens erhielt Andreas Hoffner in St. Gallen den Brief seines alten Freundes.

Die Zeilen waren mit zittriger Hand geschrieben. Das fiel ihm sofort auf. Auch der holprige Stil passte nicht so recht zu Enio. Als er diesen Text abfasste, musste er sich in einer äußerst erregten Stimmung befunden haben.

Andreas Hoffner lebte vom Kunst- und Antiquitätenhandel nicht schlecht. Durch das Geschäft hatte er Merkel vor fast einem Vierteljahrhundert kennengelernt.

Enio Merkel war in den Laden gekommen, um das Alter einer Vase bestimmen zu lassen, die er auf einem verlassenen Hof gefunden hatte. Dieser Fund, in der Nähe von Basel, hatte zur Folge, dass man auf weitere Überreste einer ehemaligen römischen Siedlung stieß.

Enio Merkel liebte Altertümer und kannte sich selbst aus wie kein zweiter, wenn es darum ging, Zeitbestimmungen durchzuführen. Die gemeinsamen Interessen hatten sie näher zusammengeführt. Für Hoffner war das Sammeln alter Dinge nicht nur Hobby, sondern auch Geschäft. Er verkaufte vieles wieder und so kamen sie überein, dass Merkel zu einer Art Zulieferer für Hoffner werden sollte. Im Lauf der folgenden Jahre schleppte Merkel manches seltene Stück an. Hoffner zahlte gut, und Merkel war zufrieden.

Doch schon bald wurde Merkel älter und kam seltener. Die Reise war beschwerlich. Hoffner bedauerte das, hatte aber Verständnis dafür. Der Zufall wollte es, dass sie ein weiteres gemeinsames Hobby hatten: Die Welt der geheimen Mächte zog sie an. Sie glaubten beide an das Übersinnliche und an eine Welt jenseits der sichtbaren.

Merkel war auf der Suche nach etwas Bestimmtem. Diesen Eindruck hatte Hoffner immer gehabt. Aber der alte Mann aus der Nähe von Oberhofen konnte nicht nur gut und lebhaft erzählen, er konnte auch schweigen.

Er war hinter einem Geheimnis her, aber er wollte erst darüber sprechen, wenn er sicher war, es auch entdeckt zu haben.

Jahre vergingen.

Nun schien der Zeitpunkt gekommen. Enio Merkel wollte Andreas Hoffner etwas mitteilen. Er suchte das persönliche Gespräch und wollte offenbar einen Zeugen haben, dem er vertrauen konnte.

Andreas Hoffner, gut zwanzig Jahre jünger als der greise Merkel, entschloss sich noch in der gleichen Stunde, die Reise zu machen. Dazu bedurfte es jedoch einiger Vorbereitungen. Als die abgeschlossen waren, setzte er sich in seinen cremefarbenen Ford und startete.

Mit seinem Entschluss, Enio Merkel zu treffen, schlitterte er in ein tödliches Abenteuer ...

Unterwegs hatte er eine Panne. Das verzögerte seine Ankunft. Er kam erst am l9. spätnachmittags an.

Von Oberhofen aus musste er zu Fuß gehen.

Hoffner war diesen Weg erst einmal in seinem Leben gegangen. Das lag zehn Jahre zurück. Seit dieser Zeit war er nicht mehr hier gewesen.

Er lächelte und freute sich auf das Wiedersehen.

Da sah er die Hütte vor sich. Alle Fenster waren geschlossen, auch die Tür. Vor der Tür standen drei Milchflaschen.

Im ersten Moment achtete Hoffner nicht darauf.

Dann – nach mehrmaligem vergeblichem Klingeln und Klopfen – wurde er stutzig und stellte fest, dass es sich bei den Flaschen um volle handelte!

Da stimmte doch etwas nicht! War ihm etwas zugestoßen?

»Enio!« Hoffner rief den Namen dreimal laut und deutlich. Er ging ums Haus herum und rüttelte an den Läden. Der eine war nur angelehnt. Dahinter war das regenverspritzte Fenster. Hoffner drückte seine Nase daran platt, um hineinsehen zu können. In der Küche war niemand.

Enio war alt. Über den Gesundheitszustand des Freundes wusste Hoffner kaum etwas, doch wenn man Mitte siebzig ist, muss man jeden Tag damit rechnen, dass etwas passiert.

Hoffner überlegte nicht mehr länger und war bereit, das Fenster einzuschlagen, um ins Haus zu gelangen. Aber die Arbeit brauchte er sich nicht zu machen, denn das Fenster ließ sich mit leichtem Druck nach innen schieben. Es war nicht eingeklinkt. Schnell stieg Hoffner über die Brüstung.

»Enio?!«, rief er in die düstere Wohnung. Doch sein Ruf verhallte.

In keinem Zimmer fand Andreas Hoffner eine Spur seines Freundes.

Unten im Keller raschelte es. Vielleicht Ratten? – Aber es konnte auch Enio Merkel sein. Vielleicht war er gestürzt und hatte keine Hilfe holen können. Telefon gab es hier nicht.

Hoffner ging die schmalen Stufen hinab. Alles war dunkel. Er drehte am Lichtschalter. Schwach glühte eine Fünfzehn-Watt-Birne.

Vor Hoffners Füßen huschte eine Ratte davon, weiter zurück in die Dunkelheit. Ein kleiner Keller stand offen. Hoffner warf einen Blick um die Ecke und prallte zurück.

»Enio!«, entfuhr es ihm. War das wirklich Enio Merkel?

Es konnte nicht sein! Vor drei Tagen hatte er Hoffner noch geschrieben – und nun sollte er hier liegen ... nur noch ein bleiches, fast fleischloses Skelett? Hoffner schluckte und wirkte grün im Gesicht. Er blickte sich um. Sein Blick blieb an dem alten Spiegel haften, vor dem das Skelett lag. Der Spiegel war mannshoch und von einem schwarzen, modrig riechenden Rahmen umschlossen. Im ganzen Haus war Hoffner dieser Geruch aufgefallen. Er schrieb dies der Tatsache zu, dass die letzten Tage nicht gelüftet worden war. Aber nun erkannte er, dass der Geruch dem Spiegel entströmte.

Er hatte nie zuvor ein ähnliches Exemplar gesehen.

Er musste uralt sein. Ein dunkles, mottenzerfressenes Tuch hing seitlich herab und war wie ein Vorhang am Spiegel befestigt. Der Spiegel selbst war unbrauchbar und völlig zersplittert. Einzelne Scherben hingen noch im Rahmen. Sie fielen klirrend zu Boden zu den anderen Scherben, als Hoffner sie vorsichtig berührte.

War Enio in den Spiegel gefallen?

Der Boden rund um das Skelett herum war mit Glassplittern übersät. Es konnte also möglich sein.

Die Logik allerdings widersprach einem solchen Gedanken. Niemand konnte innerhalb drei Tagen zum Skelett werden. Eine Leiche ging in Verwesung über, mehr jedoch nicht.

Schaudernd erhob er sich aus der Hocke. Der seltsame Brieftext kam ihm wieder in den Sinn ... Ich glaube, ich habe das Tor zu einer jenseitigen Welt gefunden. Komm her! Beobachte mich ...!

Enios Worte ergaben plötzlich einen Sinn. Vorausgesetzt, dass es sich beidem Skelett um die sterblichen Überreste seines alten Freundes handelte, musste hier etwas vorgefallen sein, das die Gesetze der sichtbaren Welt über den Haufen warf.

Dem Spiegel genau gegenüber war ein Matratzenlager aufgeschlagen.

Enio Merkel musste hier in den letzten Tagen übernachtet haben! Im Keller!

Neben der Matratze und der wollenen Decke stand eine angebrochene Flasche Rotwein, ein abgegriffenes Buch und ein Füllfederhalter lagen daneben.

Der Eindringling griff nach dem Buch. Eng beschriebene Zeilen starrten ihn an.

Schon die ersten Worte fesselten ihn.

»Ich kann nicht mehr länger warten«, stand dort mit zittriger Handschrift, aber deutlich zu lesen. »Es zieht mich magisch an. Ich fühle die Gefahr – und ich stürze mich wie eine Motte in das verzehrende Feuer. Peter Fuerli verschwand spurlos aus dieser Welt. Die Leute sagen, es hängt mit dem magischen Spiegel zusammen. Auch ich werde wahrscheinlich spurlos verschwinden, aber ehe das geschieht, will ich der Nachwelt das Dokument meines Experiments hinterlassen. Ich komme mir vor wie ein Selbstmörder, der Gift genommen hat und nun jede einzelne Phase seines Sterbens genau schildert bis zu dem Augenblick, da ihm der Tod die Feder aus der Hand nimmt. Ich will nach Dwylup – aber es wird eine Reise ohne Rückfahrkarte.«

Seltsame, geheimnisvolle Worte ... Nur dann verständlich, wenn man den Hintergrund kannte!

Dieses Buch musste er lesen! Es war der Schlüssel zu Enios Schicksal.

Andreas Hoffner warf ruckartig den Kopf herum.

Ein Geräusch ...

Draußen vor dem Haus. Der Boden knirschte. Da kam jemand!

Er lief die Treppe nach oben, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, das Buch in der Hand.

Geräusche vor der Haustür ... Stimmen ...

»... kam mir eben komisch vor, Herr Wachtmeister. Das bin ich von Enio nicht gewöhnt. Als er gestern seine Milch nicht holte, dachte ich, er hätte sie vielleicht vergessen. Aber heute Morgen wieder. Heute Mittag hab' ich noch mal einen Blick zum Haus geworfen, als ich nach Oberhofen fuhr: Immer noch standen die Flaschen vor der Tür! Da bin ich stutzig geworden.«

»Mhm«, brummte jemand, dann folgte Klingeln und Klopfen ... »Der ist wirklich nicht da.«

Die Schritte kamen um das Haus herum.

Andreas Hoffner erstarrte.

Polizei! Sie würde mit Gewalt hier eindringen – und ihn finden.

Er handelte blitzschnell.

Mit zwei schnellen Schritten war er am Küchenfenster, durch das er eingestiegen war. Er gelangte nach draußen, drückte das Fenster zu und den Laden, huschte davon und suchte Schutz hinter einem Felsbrocken, der sich hinter dem Haus erhob.

Die Polizisten aber tauchten nicht auf der Bildfläche auf, sie blieben vor der Hausfront.

»Schön«, sagte der zweite Sprecher wieder. »Dann müssen wir eben das Schloss aufbrechen. Hoffentlich erwartet uns keine böse Überraschung.« Der Tonfall in seiner Stimme ließ jedoch erkennen, dass er mit einer Überraschung rechnete. Andreas Hoffner blieb in seinem Versteck. Von etwas erhöhter Warte aus konnte er das Geschehen verfolgen. Er sah weitere Männer den Berg emporkommen. In Tüchern eingewickelt wurde kurz darauf etwas aus dem Haus geschleppt. Das Skelett.

Murmelnde Stimmen. Uniformierte und Männer in Zivil waren anwesend. Sie sprachen über den rätselhaften Vorfall. Niemand wusste eine Erklärung dafür.

Es wurde dämmerig.

Noch lange brannte Licht im Haus. Dann verlöschte es, und die Polizisten zogen ab.

Andreas Hoffner atmete auf. Er hatte noch mal Glück gehabt.

Glaubte er ...

In der Dunkelheit löste er sich von dem Felsklotz und trat den Rückweg an. Doch ein Augenpaar beobachtete seinen Abgang.

Der gleiche Mann tauchte eine halbe Stunde später in dem kleinen Wirtshaus auf, in dem sich auch Hoffner einfand, um ein Glas Bier zu trinken.

Hoffner wurde beobachtet, wie er in dem speckigen Buch blätterte, in das Merkel geschrieben hatte.

Der Mann, der sich für ihn interessierte, war niemand anderes als Luigi Maronne, ein Italiener, ein bezahlter Killer, der vor nichts zurückschreckte. Dass er ausgerechnet Hoffner als Opfer auserkor, hatte seinen besonderen Grund.

Hoffner las in dem Buch Enio Merkels und merkte nicht, wie die Zeit verging. Er las sich fest. Was sein Freund hier zu Papier gebracht hatte, faszinierte ihn.

Enio Merkel schrieb, wie er zu dem Spiegel gekommen war und was für eine Bedeutung er angeblich hatte.

Danach lernte Merkel vor über drei Jahren bei seinen Gängen durch die in der Nähe liegenden Dörfer und Ortschaften einen Mann namens Peter Fuerli kennen. Fuerli glaubte an Geister und Spuk, an Spiritismus und Okkultismus. Wieder mal hatte Merkel eine verwandte Seele gefunden. Fuerli besaß einen Spiegel. Damit, so behauptete er, sei es möglich, diese Welt zu verlassen und Kontakte zu einer jenseitigen Welt aufzunehmen. Ein Tor in das Jenseits! Er habe schon mehrere Ausflüge nach dort unternommen und sie erfolgreich, ohne Gefahr für Leib und Leben, abgeschlossen. Dennoch sei Vorsicht geboten. Es komme nämlich ganz darauf an, an welcher Stelle der Spiegel stünde. Dies würde den Winkel zu den Dimensionen bestimmen. Würde der Spiegel nur um einen einzigen Millimeter verrückt, dann würde man einen ganz anderen Teil der jenseitigen Welt erreichen, die so farbig und so vielschichtig sei, dass man sich das gar nicht vorstellen könne.

Und das sei gefährlich. Man wisse nie, was einen erwarte und ob man überhaupt noch mal zurück könne. Außerdem würde er, Fuerli, bestimmte Nächte abwarten. Vollmondnächte, so hatte er herausgefunden, wären die besten und sichersten, die eine Rückkehr gewährleisteten.

Die beiden Männer kamen oft zusammen, nach diesem ersten Kontakt Tag für Tag.

Merkel wollte gern mal dabei sein, wenn Fuerli einen neuen Versuch unternahm. Aber dazu kam es nicht. In jener Nacht, als Merkel eingeladen wurde zu kommen, war er verhindert.

Eine fiebrige Erkältung zwang ihn dazu, im Bett zu bleiben. Erst vier Tage später machte er sich auf den Weg. Da hatte man Peter Fuerli bereits gefunden.

Später erfuhr er, dass sein Freund nur noch als Skelett existierte. Niemand hatte eine Erklärung dafür, wie es dazu gekommen war.

Der Haushalt wurde aufgelöst. Fuerli hatte allein gelebt, es gab keine Erben. Das alte, unbrauchbare Mobiliar wurde zu einem Scheiterhaufen zusammengestellt und angezündet. Bevor es dazu kam, konnte Merkel einiges beiseite schaffen. Ein paar alte Fotografien und Postkarten aus der Zeit vor l900 konnte er ergattern und vor allem den einwandfrei erhaltenen, riesigen Spiegel, den kein Mensch haben wollte.

Damit fing er an zu experimentieren. Monatelang rührte er ihn zunächst nicht an und verfolgte statt dessen aufmerksam die Zeitungsberichte über den rätselhaften Tod seines Freundes. Aber da kam nicht viel heraus. Eines Tages schrieben die Zeitungen nichts mehr darüber. Die Leute in dem Ort, wo Fuerli gewohnt hatte, behaupteten, er habe die Welt der Geister beschworen und sei der Spukgestalten nicht mehr Herr geworden.

Sie hätten ihn vernichtet.

Es fiel Hoffner auf, dass Merkel immer von einem intakten Spiegel sprach. Der geheimnisvolle Spiegel, den er zuerst in seinem Wohnzimmer und dann im Keller aufgestellt hatte, musste in jener Nacht, als Merkel den entscheidenden Schritt wagte, noch ganz gewesen sein. Doch nun war das Glas zersprungen. Die Frage nach dem Grund der Geschehnisse beantwortete auch der tagebuchähnliche Bericht Merkels nicht.

Seine letzten Sätze lauteten: »Ich kann mich nicht mehr wehren ... ich wollte verhindern, den Spiegel vom Wohnzimmer in den Keller zu bringen ... aber nicht mal das ist mir gelungen ... etwas treibt mich an, jemand oder etwas hat es sehr eilig ... und ich bin das Werkzeug ... ich gehe nach Dwylup ...«

Von dort war er nicht mehr zurückgekehrt – oder nur so, wie man ihn gefunden hatte: als Skelett.

Er entschloss sich, über Nacht in Oberhofen zu bleiben und rief seine Frau in St. Gallen an, damit sie sich keine unnötigen Sorgen machte.

Er merkte nicht, dass er den ganzen Abend beobachtet wurde. Luigi Maronne, der Killer, lag auf der Lauer.

Kurz vor zehn suchte Hoffner sein Zimmer auf.

Zum selben Zeitpunkt verließ Luigi Maronne das Gasthaus. Er telefonierte von einer öffentlichen Fernsprechzelle aus und wählte die Nummer einer Ortschaft, die nicht einmal zwanzig Kilometer entfernt lag.

Eine dunkle Stimme meldete sich mit einem knappen »Ja!«

Luigi Maronne schilderte den Verlauf des Tages und der Abendstunden.

»Er hat das Buch, auf das Sie scharf sind«, sagte er mit rauer Stimme. »Er war ein bisschen schneller als ich. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, vor ihm ins Haus zu kommen. Die Schnüffler tauchten auf. Er hat den ganzen Abend in dem Buch gelesen. Muss 'ne spannende Sache sein.«

»Er darf keine Gelegenheit bekommen, mit irgendjemand über den Inhalt zu sprechen, Maronne.«

»Geheime Staatssache, wie?«, feixte der kleine Italiener.

»Erfüllen Sie Ihren Auftrag, Maronne! Fädeln Sie alles so ein, dass jedermann glaubt, es sei ein Raubüberfall gewesen! Ich will das Buch noch heute Nacht in der Hand haben.«

»Sie können sich auf mich verlassen.«

Er sah darin keine Schwierigkeit. Er hatte es mit einem blutigen Laien zu tun, der ihm keinerlei Sorgen bereiten würde.

»Wie abgemacht, treffen Sie mich in der alten Poststation, zwanzig Kilometer weiter südlich. Ich warte auf Sie, Maronne, und wenn es morgen früh werden sollte.«

»Das ist nicht nötig. Ich bin dafür bekannt, dass ich schnell arbeite, Signore.«

Er kehrte in das Gasthaus zurück und wusste genau, in welchem Zimmer Hoffner untergebracht war. Der Antiquitätenhändler aus St. Gallen merkte nicht, dass eine dunkle, wendige Gestalt über die Balkonbrüstung glitt und lautlos das angelehnte Fenster aufdrückte. Im Handumdrehen stand der Killer im Raum.

Hoffner schlug die Augen auf, als er den leisen Luftzug spürte und instinktiv Gefahr witterte. Aber es war schon zu spät.

Die Schlinge legte sich ihm um den Hals. Hart und erbarmungslos zog Maronne die Schlaufe zu. Hoffner röchelte und bäumte sich auf. Seine Arme flatterten wie die Flügel eines Huhnes und er versuchte, der todbringenden Gefahr zu begegnen.

Vergebens!

Wen Maronne zwischen den Fingern hatte, der war verloren.

Andreas Hoffner starb und wusste nicht warum.

Maronne leistete ganze Arbeit. Die hatte seinen Ruf begründet.

Er durchwühlte das Zimmer, riss sämtliche Schubladen auf, kontrollierte das Gepäck des Antiquitätenhändlers, zog dem Toten die Uhr und den Ring ab und stopfte alles in einen mitgebrachten Plastikbeutel.

Alles, was nach Geld aussah, oder was sich zu Geld machen ließ, nahm er an sich.

Der ganze Vorgang dauerte nicht mehr als acht Minuten. Ebenso lautlos, wie Maronne in das Gästezimmer eingedrungen war, verließ er es wieder. Niemand merkte etwas.

Es war wenige Minuten nach halb elf, als ein himmelblauer Fiat vom Parkplatz der kleinen Pension rollte. Maronne fuhr am See entlang, die ersten zehn Kilometer verhältnismäßig schnell. Dann legte er eine kleine Pause ein.

Er liebte es nicht, wenn er einen Auftrag auszuführen hatte, von dem er nicht wusste, worum es sich handelte. Die Erfahrung lehrte, dass sich manchmal ein höheres Honorar herausschlagen ließ, wenn man eine Ahnung davon hatte, worum es ging. Im vorliegenden Fall sah es so aus, als ob es seinem bisher unbekannten Auftraggeber darauf ankäme, ein altes Buch in die Hand zu bekommen.

Er begann es durchzublättern und darin zu lesen. Er konnte sich vorstellen, dass es möglicherweise einen versteckten Hinweis gab, der dem Auftraggeber wichtig war. Im Text musste es etwas geben, dass der andere bereit war, soviel Geld hinzublättern. Aber wer viertausend bezahlte, würde auch sechs- oder achttausend opfern, wenn sich herausstellte, dass der Tipp in diesem komischen Buch Gold wert war.

Ein alter Spiegel – ein Besuch im Jenseits ... es ging um geheimnisvolle Versuche, die dem Menschen, der die Gesetze verstand und beherrschte, zu Macht und Ansehen verhelfen konnten. Schwarze Magie, Hexenkult? Das war mal etwas anderes.

Eine Stadt namens Dwylup spielte eine besondere Rolle. Der Besuch dort konnte das Grauen bringen, aber auch Macht, hier im Diesseits. Man musste es nur verstehen, sich die dämonischen Kräfte dienstbar zu machen.

Maronne grinste, und sein braunes Gesicht nahm einen überheblichen Ausdruck an.

»Na, warte«, sagte der Killer und dachte dabei an seinen unbekannten Auftraggeber. »Ich glaube, ich kann dir da doch noch etwas abknöpfen.«

Maronne fuhr noch rund sechs Kilometer die Straße am See entlang. Dann, an einer Weggabelung, bog er nach links ab und steuerte seinen Sportwagen weiter in das Landesinnere.

Die ehemalige Poststation gehörte einem Schweizer, der in Bern lebte und sich die Station seinerzeit kaufte, weil er Freude daran hatte, etwas nicht Alltägliches zu besitzen.

Das Haus war massiv gemauert, die Fenster vergittert.

Maronne rollte mit seinem Wagen vor die Tür. Hinter den Fenstern der Parterrewohnung brannte noch Licht.

Er wurde erwartet.

Der Italiener klopfte dreimal kurz an die massive Holztür.

Der Mann, der öffnete, überragte ihn um zwei Köpfe. Sein Gesicht war hart, die Lippen scharf geschnitten.

»Sie wollten das Buch noch heute Nacht. Ich nehme an, Sie können nicht einschlafen, ohne im Bett noch ein bisschen zu lesen«, grinste Maronne.

»Kommen Sie rein!« Der andere trat einen Schritt zurück. Im Haus war es etwas wärmer als draußen.

Maronne wurde in ein ehemaliges Büro geführt, in dem der alte Schreibtisch noch stand.

»Wo ist das Buch?«, fragte der große Mann mit den dunklen, stechenden Augen.

»Ich hab's dabei. Deswegen bin ich ja hier.«

»Kann ich es sehen?«

»Natürlich, aber nicht so schnell. Wir haben doch eine Abmachung getroffen, nicht wahr!« Luigi Maronne ließ sich einfach in einen der alten Sessel plumpsen und schlug die Beine.

Der andere lachte. Er hielt ein Banknotenbündel in der Hand und warf es auf den Tisch.

»Und nun das Buch.« Luigi Maronne griff unter sein Hemd und brachte das kleine Buch zum Vorschein. Er blätterte es durch. »Ich habe da einen Vorschlag für Sie, Signore ...« Er blickte ihn an, als erwarte er, dass der andere seinen Namen nannte, aber der tat ihm den Gefallen nicht. »Aha, kapiere. Sie sind einer von der ganz vorsichtigen Sorte.«

»Namen sind Schall und Rauch. Nennen Sie mich Pialla, Dumont oder Jenkins! Ganz wie es Ihnen beliebt.«

»Sie geben sich ja ganz international.«

»Ich glaube, unser Geschäft ist damit beendet, Maronne. Hier ist das restliche Geld. Geben Sie mir endlich das, was ich von Ihnen verlangt habe!«

»Da gibt's noch ein Problem, Signore Pialla, Dumont oder Jenkins.«

»Was für ein Problem!«

»Die Preise. Ich glaube, dass die Ware mehr wert ist. Verdoppeln Sie die Scheinchen da auf dem Tisch und das Ding hier ...«, er wedelte mit dem Buch, »... gehört Ihnen!«

»Sie sind unverschämt. Maronne!« Die Stimme klang hart und tonlos.

»Ich habe ein bisschen darin gelesen. Ich weiß, dass es etwas Besonderes bietet. Sicher gibt es noch mehr Interessenten für dieses Buch. Wie ist das eigentlich – mit Dwylup, Pialla?«

Das Gesicht des anderen blieb starr wie eine Maske.

»Sie sind unverschämt«, presste Pialla-Dumont-Jenkins zwischen den Zähnen hervor. »Aber Sie sollen haben, was Sie wollen. Sie wissen von Dwylup? Dann habe ich eine kleine Überraschung für Sie ... Ich habe zufällig Besuch aus Dwylup.«

Er klatschte einmal in die Hände. Die Zwischentür öffnete sich. Die Scharniere knarrten. Maronne warf den Kopf herum.

Vor ihm stand – ein Monster.

Der Italiener schluckte.

Er schraubte sich langsam in die Höhe und grinste ... »Glauben Sie, mit diesem Mummenschanz könnten Sie mir Angst einjagen? Sie müssen eine verdammt schlechte Vorstellung von meinen Nerven haben.«

Der Koloss, der sich aus der Dämmerung näher schob, war mindestens zwei Meter groß. Sein Körper war echsenhaft und tonnenförmig. Graue Schuppen bildeten ein dichtes Geflecht. Das schrecklich aussehende Geschöpf bewegte sich wie ein Mensch auf zwei Beinen, hatte auch Arme und Hände wie ein Mensch – aber es war keiner.

Der riesige Kopf war aufgedunsen, kahl und unförmig. Die Augen waren von unterschiedlicher Größe. Spitz wie auf Darstellungen, die den Teufel betrafen, ragten die Ohren aus dem glatten, blaugrauen Schädel.

Noch ein Schritt. Jetzt stand das unheimliche Geschöpf voll im Licht. Maronne stöhnte.

Er merkte, wie es in seinem Innern eiskalt wurde.

Den Anblick des Unheimlichen ertrug er drei volle Sekunden. Er begriff, dass dies kein Mummenschanz war und Pialla-Dumont-Jenkins niemand in ein Kostüm gesteckt hatte.

Seine Rechte zuckte unter sein Jackett. Die Beretta! Er fühlte die Waffe in der Hand, brachte sie in die Höhe und drückte ab.

Der Schalldämpfer schluckte das Geräusch der drei Schüsse, die den Lauf verließen.

Die Kugeln durchschlugen den Leib des Ungeheuers, als träfen sie in morsches Gespinst. Es raschelte wie in trockenem Laub.

Der Koloss stürzte nicht. Kein Blut floss, kein Schmerzensschrei ertönte.

Ein dumpfes, verzweifeltes Gurgeln kam aus der Kehle des Italieners, der seinem Meister begegnet war.

Er hörte noch ein leises Lachen an seiner Seite. »Das ist Kha, mein Freund aus Dwylup. Sie können sich den Weg dorthin ersparen, Maronne.«

Es waren die letzten Worte, die Luigi Maronne, der Killer aus Neapel, in seinem Leben hörte.

In seinem Körper knisterte es, als zerbräche dort etwas.

Es rieselte wie Kalk. Sein Herz schlug nicht mehr und sein Atem stand still. Das Gehirn konnte nicht mehr denken. Der Übergang vom Leben zum Tod erfolgte blitzschnell und ohne äußere Einwirkung.

Der Anblick Khas zerstörte Luigi Maronnes Leib.

Die Beretta polterte auf den Boden, und das Buch entfiel den Fingern, die plötzlich nicht mehr da waren.

Luigi Maronne zerfiel zu Staub.

Lautlos wie Mehl schwebte er zu Boden. Die äußere Hülle verging und zurück blieb das blanke Skelett. Das Knochengerüst stand noch einige Sekunden lang unbeweglich da, ehe es klappernd zusammenbrach.

Luigi Maronne war nicht mehr. Die Angst hatte ihn getötet!

»Narr«, sagte der große Mann mit den dunklen, unergründlichen Augen verächtlich. »Das hättest du dir ersparen können. Aber du hast erstaunlich lange durchgehalten.«

Er bückte sich – und hob das Buch auf, ohne auf Kha, das Monster aus Dwylup, noch sonderlich zu achten. Kha hockte sich neben das Skelett und blies den letzten grauen Staub ab.

Kha war kein Mensch und kein Tier. Er war ein Monster. Er brach sich einen Rippenknochen heraus, begutachtete ihn und schob ihn dann zwischen seine Zähne, um ihn genüsslich zu zerkauen.

Pialla-Dumont-Jenkins stand am Fenster und starrte in die Düsternis.

Ein teuflischer Zug lag um die Lippen des seltsamen Mannes. Gedankenverloren durchbohrte er mit seinen Blicken die Nacht, die schwer über dem Land lag wie ein undurchdringlicher Mantel, der die Sterne und das Mondlicht schluckte. Regenwolken bedeckten den nächtlichen Himmel. Das Buch des Enio Merkel lag in der Hand des einsamen Mannes, der ein großes Ziel verfolgte.

»Das ist erst der Anfang«, kam es im Selbstgespräch über seine schmalen Lippen. »Hier ist das Buch, das beinahe in falsche Hände gefallen wäre. Der Spiegel ist unbenutzbar geworden, aber er ist nicht der einzige, der existiert. Es gibt einen zweiten im Hause Björn Hellmarks ...«

Diesen Spiegel wollte er haben, denn es kam ihm darauf an, nicht nur Kha, das Monster aus Dwylup hier im Diesseits zu wissen, sondern das Tor noch weiter aufzustoßen, um das Grauen in diese Welt zu bringen.

»Der Mann heißt ... Fuerli, Peter Fuerli ...«, sagte er mit schwacher Stimme.

2. Kapitel

Sie lauschten seinen Ausführungen, insgesamt gab es vier Zeugen dieser Worte: Dr. Matthew, der leitende Arzt des St. Elna Hospitals, sein Kollege Dr. Louis Stephenson, ein Psychiater, Richard Patrick, Verleger der Amazing Tales, der ersten weltweiten Zeitschrift, die der Erforschung des Übersinnlichen breiten Raum gab, und Björn Hellmark.

Sie alle waren hier versammelt, um den Zeitpunkt abzuwarten, an dem Henry Burger sich anschickte, wieder zu erwachen.

Er lag da wie ein Toter. Und doch waren sie alle zuversichtlich.

Henry Burger gab endlich wieder Lebenszeichen von sich, bei denen man davon ausgehen konnte, dass er auf dem Weg der Besserung war. Endlich! Denn nicht erst seit gestern oder einer Woche oder einem Monat lag der Deutschamerikaner im Bett. Er war vor über dreißig Jahren bei einem Unfall bewusstlos geworden und seither nicht mehr aufgewacht!

Seit Jahren wusste Richard Patrick vom Schicksal dieses Mannes und finanzierte die Behandlung mit. Das geschah aus Menschlichkeit, aber auch mit dem Hintergedanken, dass Burger eines Tages vielleicht doch noch mal aufwachte und dann erzählen könnte, was er in diesen Jahren gesehen hatte.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Henry Burger noch mal aufwachte, war äußerst gering. Die Ärzte bezweifelten es und rechneten eher mit seinem Ableben, denn mit seiner Wiedergenesung.

Aber das Wunder geschah, und Henry Burgers Zustand besserte sich. Vor vier Tagen ließ sich zum ersten Mal anhand der Aufzeichnungen der elektronischen Geräte feststellen, dass Herzschlagwerte und Atmung sich verändert hatten.

Nach zweiunddreißig Jahren trat etwas ein, womit niemand mehr rechnete. Der Chefarzt unterrichtete Richard Patrick von dem Ereignis, der ausdrücklich darum gebeten hatte, über jede Veränderung – sei sie positiver oder negativer Art – informiert zu werden. Patrick wiederum rief Björn Hellmark an, der ebenfalls sein Interesse bekundet hatte, dabeizusein, wenn Burger das Bewusstsein noch mal erlangen sollte.

Mit Burger nämlich hatte es seine besondere Bewandtnis.

Patrick hatte herausgefunden, dass Henry Burger sich bereits zu einem Zeitpunkt mit der Erforschung übersinnlicher Phänomene beschäftigte, als man überhaupt noch keine rechten Vorstellungen davon hatte, wie man derartige Phänomene überhaupt einstufen konnte und ob es nicht nur Übertreibungen, Phantastereien oder Aberglauben waren.

Patrick hatte versucht, Licht in das Dunkel zu tragen, welches das Schicksal Henry Burgers umgab.

Burger war auf einer Fahrt zu einem Haus gewesen, in dem es angeblich seit längerem spukte. Er wollte Näheres darüber erfahren. Auf dem Weg nach dort ereignete sich jedoch ein Unfall, der nie geklärt werden konnte.

Burger wurde vom Fahrdamm abgedrängt. Man fand ihn schwerverletzt in seinem Autowrack und musste ihn herausschweißen. Er hatte nie selbst sagen können, wie und was passiert war, denn von der Stunde des Unfalls an war er nicht mehr aufgewacht. Die Polizei rekonstruierte später, dass Burger offenbar von einem entgegenkommenden Fahrzeug geblendet worden war und der andere Fahrer Fahrerflucht begangen hatte.

Patricks Recherchen liefen darauf hinaus, dass in jener Nacht etwas ganz Besonderes geschehen war, um Burger an seiner Absicht, das Haus zu betreten und die Phänomene zu beobachten, zu hindern.

Die Zeit war seit jenem denkwürdigen Unfalltag nicht stehengeblieben.

Die Männer, die seinerzeit in der vollen Blüte ihrer Jahre steckten, wurden alt. Jahrzehnte gingen an niemand spurlos vorüber. So wollte es die Natur, aber mit Burger hatte sie eine Ausnahme gemacht. Während er schlief, war die Zeit für ihn stehengeblieben.

Seinem Geburtsdatum nach war Henry Burger ein siebenundsechzig Jahre alter Mann. Dem Aussehen nach aber nur fünfunddreißig. Eine glatte Haut, dichtes, schwarzes Haar, ein paar Fältchen um die Augen ...

Leise surrte der Tonbandmotor. Das Band lief. Es sollte diesen historischen Augenblick festhalten.

»Mister Burger«, sagte der Chefarzt, ein Mann Anfang sechzig. »Können Sie mich hören?«

Matthew hatte eine angenehme, beruhigende Stimme. Aber er war ein Fremder für Burger. Matthew und seinem Mitarbeiter Dr. Stephenson wäre es lieber gewesen, sie hätten einen Freund oder einen Verwandten oder Familienangehörigen dabei gehabt. Ein vertrautes Gesicht, zumindest eine vertraute Stimme. Aber Burgers Eltern lebten nicht mehr.