Larry Brent Classic 002: Dämonenaugen - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 002: Dämonenaugen E-Book

Dan Shocker

0,0

Beschreibung

Im Kabinett des Grauens Der Massenmörder Derry Cromfield wird hingerichtet. In den letzten Sekunden vor seinem Tod droht er dem Henker Harold Perkins, daß er sich rächen wird. Dann weicht die Klappe unter seinen Füßen zurück, und der vielfache Mörder stirbt durch den Strang. Zwanzig Jahre später wird Harold Perkins auf grausame Art und Weise an den Fluch erinnert. Cromfield ist wieder da, und er vollzieht seine Rache. Die beiden PSA-Agenten Larry Brent und sein Freund Iwan Kunaritschew geraten mitten in die Ereignisse, als ihnen Cromfield, der Gehenkte, in einer Boeing 701 - auf dem Weg nach New York - gegenübertritt, und das Flugzeug zum Absturz bringen will. Von Stunde an reißen die unheimlichen Vorfälle nicht ab. Der Dämon mit den Totenaugen Mitten in der Nacht! Ein Mann ist alleine in einem riesigen Sportstadion auf Randall Island. Schüsse peitschen über ihn hinweg, und er wird gejagt. Doch der Mann, den man in den Reihen der PSA als Larry Brent alias X-RAY-3 kennt, kennt seinen Namen nicht mehr. Und er weiß nicht, was er hier will. Während er hinter einer Mauer Schutz sucht, taucht lautlos ein Schatten neben ihm auf. Als der Spezialagent ihn erblickt, glaubt er seinen Augen nicht trauen zu können. Ein fahl schimmernder Knochenschädel mit glühenden Augen und einem widerlichen Grinsen blickt ihn an!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 386

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 2

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-802-0

Dan Shockers Larry Brent Band 2

DÄMONENAUGEN

Mystery-Thriller

Im Kabinett des Grauens

von

Dan Shocker

Prolog

Er wusste, dass er seinem grausigen Schicksal nicht mehr entgehen würde. Der Schuldspruch war gefällt. Er stand vor der Hinrichtung. Sie schleppten ihn zur Richtstätte. Der Staatsanwalt, zwei Gerichtsdiener und der Henker waren anwesend. Der Henker war Harold Perkins, ein Mann Mitte Fünfzig mit bereits ergrautem Haar. Mit kühlen Augen musterte er den Delinquenten.

Harold Perkins prüfte ein letztes Mal den Galgen, zog am Strang und trat dann langsam zur Seite. Sein dunkelroter, weiter Umhang wurde durch den Windzug, der durch den kahlen, öden Hinterhof fuhr, in Bewegung versetzt. Es war ein kalter Novembermorgen. In London graute der Tag, doch bis zum Sonnenaufgang würden noch Stunden vergehen. Die dichte Nebeldecke lag wie eine zähe Masse über der Stadt, und es schien, als wolle sie die Häuser, die Menschen und die kahlen Bäume in den Alleen und Parkanlagen verschlingen. In dem alten Holzschuppen, der windschief außerhalb der linken Mauer stand, pfiff der Wind und rüttelte und schüttelte das morsche Gebälk.

Mit bewegungsloser Miene streifte Harold Perkins die dunkelrote blutfarbene Kapuze über seinen Kopf. Seine harten, kühlen Augen waren jetzt nur noch das einzig sichtbare Zeichen dafür, dass die Gestalt unter dem windflatternden Umhang wirklich lebte.

Der Sträfling wurde unter den Galgen geführt.

Einer der schmächtigen Begleiter an seiner Seite nahm die Binde von seinen Augen.

Derry Cromfield starrte in die Runde. Sein kantiges Gesicht mit den stets aufgeworfenen Lippen, dem energischen Kinn und den dunklen, stechenden Augen schien während der langen Zeit der Haft noch härter geworden zu sein.

Derry Cromfield, der berüchtigte Mörder, war durch seine irdischen Richter verurteilt worden. In wenigen Minuten würde er auch vor seinem himmlischen stehen. Die Zeugen dieser in aller Frühe stattfindenden Hinrichtung traten unwillkürlich zur Seite, als der Henker seines Amtes waltete. Der Wind säuselte über die hohen, mit großen Glassplittern und Stacheldraht versehenen Mauern hinweg. Nebelschwaden wurden wie von unsichtbaren Händen zerrissen, und die elektrische Lampe, welche die gespenstische Szene in ein unwirkliches Licht tauchte, quietschte in ihrer Halterung und pendelte heftig hin und her.

Regen mit Schnee vermischt nieselte den Männern in Gesicht und Augen, und auf Derry Cromfields buschigen Brauen bildete sich eine regelrechte Reifschicht. Sein markantes Gesicht war wie aus Stein gemeißelt, und selbst einem nicht psychologisch vorgebildeten Laien fiel auf den ersten Blick auf, dass diesem Gesicht ein Zug ins Brutale anhaftete, dass Cromfield ein Menschverächter, ein Menschenhasser war. Dieser Mann, der auf dem Podest stand, den Strick um den Hals gelegt, hatte einundzwanzig Menschen umgebracht. Als Würger von London ging er in die Kriminalgeschichte Englands ein. Die späten Abendstunden und die frühen Morgenstunden, wenn der Nebel aus dem Boden stieg, wenn London wie unter einer Dunstglocke lag, so dass man kaum die Hand vor den Augen sah – zu diesen Zeiten war Cromfield durch die stillen, dunklen Straßen geschlichen und hatte seinen Opfern aufgelauert.

Und nun wurde eine neblige, gespenstische Morgenstunde auch für ihn zum Schicksal. Das Gesetz hatte ihn der gerechten Strafe zugeführt. Er war ein bösartiges, gemeingefährliches Mitglied der Gesellschaft, er musste ausgemerzt werden!

Die dunklen Augen des Henkers unter der blutroten Kapuze musterten Cromfield ein letztes Mal. Cromfield war ein Bär von einem Mann. Er überragte selbst den 1,80 Meter großen Harold Perkins um ein Beträchtliches. Cromfield war breit wie ein Kleiderschrank, mit dem Nacken eines Stiers. Sein Gesicht war überzogen von Pockennarben, und unter seinem linken Auge war deutlich die Narbe zu erkennen, die er von einem Messerstich zurückbehalten hatte.

»Haben Sie noch irgendetwas zu sagen, Cromfield?« fragte Harold Perkins, und seine Stimme klang dumpf unter der Kapuze her.

Cromfields Lippen zuckten, Schweiß perlte auf seiner Stirn, und sein Gesicht schien trotz der herrschenden Kälte zu glühen.

»Nein«, kam es dann fast lautlos zwischen seinen zusammengepressten Zähnen hervor. »Das heißt – eine Kleinigkeit bliebe noch«, fügte er plötzlich hinzu, und zwar in jenem Augenblick, als Harold Perkins' Hand nach dem Hebel griff, der den Klappenmechanismus über der Grube öffnen sollte, in die Derry Cromfield stürzen würde. »Ihre rote Kapuze verdeckt ihr Gesicht – doch ich weiß, wer sich dahinter verbirgt. Der Henker Seiner Majestät des Königs, Harold Perkins! Ihre Hand, Perkins – bringt mich ins Grab. Doch ich werde mich rächen, Perkins, ich werde mich bitter rächen ...« und plötzlich überschlug sich Derry Cromfields Stimme. Sie hallte schaurig durch den Hof, seine Worte wurden von Wind und Regen davongetragen und verloren sich in der Dichte des quellenden, brodelnden Nebels. »Perkins – Perkins – diesen Namen kennt heute noch ein jeder, doch ich – ich, Derry Cromfield, werde dafür sorgen, dass dieser Name verlöschen wird. Ich belade Sie mit einem Fluch, Harold Perkins soll verflucht sein! Ich werde weiter töten, ich werde jeden töten, der Perkins heißt. Ich werde mich rächen – ich werde mich rächen.« Seine letzten Worte wurden zu einem einzigen wilden und verzweifelten Aufschrei. Ein Schrei, der augenblicklich verstummte, als die Klappe unter Cromfields Füßen zurückwich und sein schwerer Körper in die Tiefe stürzte und sich der Strick spannte ...

Derry Cromfield verstummte, doch sein Schrei, sein letzter Fluch, überlebte ihn sekundenlang. Die Worte »Ich werde mich rächen – ich werde mich rächen« hallten wie ein Echo durch den kleinen Hof und wurden von den kahlen Mauern zurückgeworfen. Den Umstehenden lief ein Schauer über den Rücken, und selbst Harold Perkins, der viele Hinrichtungen an Mördern durchgeführt hatte, schien sekundenlang wie erstarrt, ehe er sich aus dem Bann lösen konnte und langsam auf die dunkelgrau gestrichene Tür zuging, die in einen schmalen Gang führte, der seinerseits in das Gefängnisgebäude mündete.

Harold Perkins legte die Henkerkleidung ab, während der Gerichtsarzt den Leichnam Derry Cromfields untersuchte. Cromfield hatte sich das Genick gebrochen. Er war tot.

Derry Cromfield wurde am Nachmittag des gleichen Tages beerdigt. Auf dem kleinen Friedhof an der Peripherie von London. Niemand erschien zu seiner Beisetzung, niemand weinte ihm eine Träne nach. Es hieß, dass er keine Familie hatte. Man sprach von einem jüngeren Bruder, den es noch geben sollte, der jedoch zum Zeitpunkt der Beisetzung auf einem Kohlendampfer irgendwo auf dem Atlantik fuhr.

Die Totengräber verrichteten ihre Arbeit. Der billige, schmucklose Sarg wurde in die Grube gesenkt. Die Erdschollen klatschten auf den Sargdeckel, dann wurde das Geräusch der in die Grube geworfenen Erdmassen immer dumpfer und ruhiger, als der Sarg unter der schweren, kühlen und nassen Erde verschwand.

Kein Kranz, keine Blume zierte an diesem Tag den frischen Grabhügel.

Man sprach noch eine Zeitlang von Derry Cromfields Untaten, doch man vergaß ihn. Neue Mörder wurden verurteilt, neue Verbrechen beunruhigten die Bevölkerung Großbritanniens.

Vergessen war Cromfields Fluch. Die Zeugen jener Nacht dachten nicht mehr daran, und sie glaubten einfach nicht daran, dass ein toter Mörder noch einmal aus dem Jenseits zurückkommen könne.

In England wurden die Reste des Krieges beseitigt, neue Häuser wurden gebaut, Königin Elisabeth übernahm die Nachfolge von King George, in Mitteleuropa verschärfte sich der kalte Krieg, Chruschtschow knallte mit dem Absatz seines Schuhs auf das Rednerpult vor den Abgeordneten der Nation, die Amerikaner engagierten sich in Vietnam. Marylin Monroe beging Selbstmord, Hemingway kam durch eine Kugel aus dem Lauf seines eigenen Gewehres ums Leben. Präsident Kennedy wurde ermordet ... zwanzig Jahre gingen dahin. Vergessen war der kalte Novembermorgen jenes Jahres, als Derry Cromfield durch den Henker Seiner Majestät, Harold Perkins, hingerichtet wurde.

Zwanzig Jahre später, als er bereits ein greiser Mann war und in seinem ruhigen Haus am Rande von London seinen Lebensabend verbrachte, genau zwanzig Jahre später, in den ersten Novembertagen, wurde Harold Perkins durch einen schauerlichen Vorfall an die gespenstische Szene vor zwanzig Jahren erinnert, und er begann an seinem Verstand zu zweifeln ...

1. Kapitel

Tom Riggins war ein kleiner Dieb. Er stahl alles Mögliche und unmögliche, und wenn kein Bargeld darunter war, dann machte er das, was er ergattert hatte, zu barer Münze.

Tom hatte keinen festen Wohnsitz. Er war einmal in London, ein andermal hielt er sich genau in der entgegengesetzten Richtung, in Glasgow, auf. Ging seinen Geschäften in der Großstadt ebenso intensiv nach wie seinen Unternehmen in kleineren Städtchen und Dörfern. Er haute die Bauern auf dem Land über das Ohr, indem er sich als Erdstrahler ausgab, der an der Universität in Eton studiert habe, und jetzt durch das Land reiste, um die Bevölkerung vor den gefährlichen Erdstrahlen zu schützen. Gegen eine kleine, freiwillige Gebühr vergrub er an den gefährlichen, strahlenden Stellen kleine Kupferrollen, die er zuvor in einem Kaufhaus in der Nachbarschaft entwendet hatte, die einen Wert von ein paar Cent hatten und die Tom durch seine Entstrahlungstheorie zum Vielfachen des ursprünglichen Wertes verkaufte.

Tom Riggins war der Polizei und Scotland Yard nicht unbekannt. Man kannte seine kleinen Gesetzesübertretungen – und doch ließ man ihn auf freiem Fuß. Tom hatte einen guten Kontakt zur Unterwelt, und von ihm war – gegen gute Bezahlung, denn er machte grundsätzlich alles zu Geld – schon manch guter Tipp gekommen, der Licht in den einen oder anderen Fall gebracht hatte, und dessen Aufklärung wichtiger als die Gesetzesübertretungen des Diebes war.

Tom war schmal, hatte schütteres Haar und ein auffallend spitzes, pfiffiges Gesicht. Er sprach sämtliche Landesdialekte, und er konnte sich schriftlich ebenso gut ausdrücken, wenn es sein musste. Im Augenblick hatte Tom in Longtown zu tun, einer Kleinstadt an der schottischen Grenze, die einen etwas dörflichen Charakter hatte.

Es war Abend. Tom Riggins zog fröstelnd die Schultern hoch. Er hatte nur einen dünnen Mantel über seinem ebenso dünnen Anzug an.

Feiner Nieselregen fiel vom grauen Himmel. In den Häusern brannte schon überall Licht.

Die Menschen, die sich zu diesem Zeitpunkt am Stadtrand von Longtown aufhielten, waren zu zählen. Tom achtete nicht auf die Menschen und die Umgebung. Sein Gehirn hinter der niedrigen, flachen Stirn arbeitete mit der Präzision einer Maschine. Tom befand sich aus einem besonderen Grund hier in Longtown. Er hatte einen Tipp von einem Hehler bekommen. In Longtown gab es das berühmte Wachsfigurenkabinett von Mr. Flemming. Ähnlich wie Madame Tussaud hatte Flemming ein Kabinett eingerichtet, in dem man – im wahrsten Sinne des Wortes – das Gruseln lernen konnte. Während bei Madame Tussaud die höchsten Persönlichkeiten aus Politik, Kunst und Literatur in Wachs verewigt waren, gab es bei Mr. Flemming Gestalten ganz eigener Art zu sehen. Er hatte sich darauf spezialisiert, die Bösewichte nachbilden zu lassen, die während der letzten fünf Jahre Schlagzeilen für die Kriminalgeschichte lieferten. Tom Riggins hatte in Erfahrung gebracht, dass Mr. Flemming besondere Sorgfalt auf die Ausstattung seiner Figuren gelegt hatte. Es war ihm gelungen, in der Hauptsache die Originalkleidungsstücke und einen Großteil des Besitzes der Mörder, Kidnapper und Raubmörder aufzutreiben, die vor gar nicht langer Zeit ihr Unwesen getrieben, Angst und Schrecken verbreitet hatten.

Tom Riggins ging durch eine schmale, dunkle Seitenstraße, in der am vordersten Ende eine einsame Gaslaterne brannte, die ihren grünlichweißen Lichtstreifen in den flachen, wallenden Nebelschwaden verbreitete, die ständig dichter wurden.

Er beschleunigte seine Schritte. Sie hallten auf der Straße. Waren das einzige Geräusch, das diese menschenleere, verlassene Gegend erfüllte.

Irgendwo wurde ein Fenster geschlossen, ein ferner Ruf aus einer abgelegenen Seitenstraße drang an sein Ohr und verstummte ...

Am Ende der Straße wandte sich Tom nach rechts. Die Straße stieg hügelig an, an ihrer Seite standen nur noch vereinzelt ein paar alte Wohnhäuser, teilweise noch im Fachwerkbau. Ein windschiefer Schuppen schloss sich an eines der unansehnlichen Häuser an, es knackte und knirschte in dem Gebälk.

Zielstrebig setzte Tom seinen Weg fort.

Mr. Flemmings Wachsfigurenkabinett lag außerhalb von Longtown. Tom hatte sich genau erkundigt. Er hatte den Stadtplan von Longtown studiert, und jetzt wollte er sich einen letzten Eindruck an Ort und Stelle bilden. In der Theorie lag der Plan bereits in allen Einzelheiten fest. Wenn Tom einen Coup vorhatte, dann beschäftigte er sich ständig damit und schob ihn nicht auf die lange Bank. Er brachte jedes Unternehmen so schnell wie möglich zum Abschluss. Und wenn er alles vorfand, wie er aufgrund des Gesprächs mit seinem Hintermann erwartete, dann würde Mr. Flemmings Wachsfigurenkabinett noch an diesem Abend um ein paar tausend Pfund erleichtert werden. Wenn es wirklich stimmte, dass Flemming Privatbesitz der von ihm nachgebildeten Gestalten aufgetrieben hatte, dass sie sogar Originalschmuckstücke trugen, dass es Waffen und Dolche in dem Kabinett gab, die man ebenfalls zu Geld machen konnte ...

Tom warf einen Blick auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr. Dieses kostbare Stück passte nicht zu ihm. Es war wenige Minuten vor siebzehn Uhr. Flemmings Kabinett war bis um neunzehn Uhr geöffnet.

Der kühle Wind strich über sein Gesicht, und der Nieselregen durchnässte seine Haut und seine Kleidung. Tom ging auf der linken Straßenseite. Die Scheinwerfer eines Wagens tauchten vor ihm auf. Ein dunkler Morris zog an ihm vorbei. Scheinbar handelte es sich bei den Insassen um späte Besucher des Kabinetts, das Touristen aus allen Teilen des Landes anzog.

Noch zehn Schritte, dann sah Tom hinter den flachen Nebelschleiern und den kahlen Stämmen der Alleepappeln die schemenhaften Umrisse eines Gebäudes, an dem ein einziges, dunkelblaues Licht brannte, das den Eingang und die großen, aus Holzbuchstaben bestehende Beschriftung beleuchtete.

MR. FLEMMINGS

Wachsfigurenkabinett

Tom sprang über die Straße. Der Regen war heftiger geworden. Tom war bis auf die Haut durchnässt. Er fror, musste niesen. Zitternd kam er unter dem Dachvorhang zu stehen, der zu beiden Seiten von zwei handgeschnitzten Säulen abgestützt wurde.

Das einsame Haus lag etwas von der Straße zurück. Es war ein sehr altes Gebäude, das einst als Herberge gedient hatte. Es war direkt an den Berg angebaut, bestand praktisch aus zwei Teilen. Der vordere Bau war flach und schmiegte sich an den Berg an. Hinter diesem Vorbau folgte eine kleine Anhöhe, darauf stand ein ovalförmiges Häuschen, das über eine Reihe von schmalen Sandsteinstufen zu erreichen war. Hinter den vorgezogenen Vorhängen erkannte Tom einen schwachen Lichtschein. In diesem teehausähnlichen Anbau mit dem spitzen Dach, auf dem zwei dunkle Dachgauben saßen, wohnte der Besitzer des Kabinetts, Mr. Flemming.

Mit einem raschen Rundblick überzeugte sich Tom davon, dass offensichtlich nur noch sehr wenige Besucher im Kabinett waren. Auf dem Parkplatz standen drei Autos und ein Motorrad.

Tom betrat die Vorhalle. Er atmete unmerklich auf, als er die Wärme spürte, die im Innern des Hauses herrschte. Zahlreiche Bilder und großformatige Plakate zierten die Wände. Auf alt zurechtgemachte Schriftrollen machten den Besucher darauf aufmerksam, in welchem Haus er sich befand. Es wurde etwas über die Geschichte des Hauses erzählt, und Tom las flüchtig irgendetwas von einem Herzog, dem es einst als Jagdhaus gedient hatte. Später wurde es zu einer Weinkellerei, dann zu einem Gasthaus, und seit etwa zehn Jahren diente es Mr. Flemming als Wachsfigurenkabinett.

Tom Riggins ging zu dem Mann an der Kasse. Sie bestand aus einem alten, klapprigen Holztisch. Dahinter saß ein älterer Mann und blätterte in einer Zeitung.

Als Tom das Eintrittsgeld auf den Tisch legte, sah der Alte auf. »Einmal?« fragte er überflüssigerweise, während er schon mechanisch die Eintrittskarte vom Block löste und über den Tisch schob.

Tom nickte. »Einmal, wie Sie sehen. Meine Frau wollte nicht mitkommen«, fügte er noch hinzu. »Sie meint, dass ihr die Atmosphäre im Kabinett nicht bekommen würde. Sicher hätte sie in der Nacht dann einen Alptraum.«

Der Alte kicherte leise vor sich hin. »Ja, ja«, murmelte er dann, während er schon wieder nach seiner Zeitung griff. »Für schwache Nerven ist das hier nichts.«

»Es scheint nicht mehr viel los zu sein.« Tom warf einen Blick auf die breite, dunkelbraune Holztür, die zum Kabinett führte.

»Nein, nein, es ist nicht mehr viel los«, murmelte der Alte in seinen Bart. »Vielleicht noch sechs oder acht Besucher, mehr sind es nicht. Um diese Jahreszeit gehen die Geschäfte schlecht, Mister. Im Sommer drängen sich die Touristen und die Fremden in den Gewölben. Aber im Herbst ...«, er zuckte die Achseln und blätterte, während er sprach, in seiner Zeitung. »Im Herbst verirrt sich selten jemand hierher. Aber Sie sollten sich beeilen, Mister. In anderthalb Stunden wird das Kabinett geschlossen. Die Zeit ist verdammt knapp, um alles zu sehen.«

»Ich weiß«, entgegnete Tom, während er interessiert die Ansichtskarten betrachtete, die auf dem Tisch des Alten ausgebreitet lagen und den Besucher zum Kauf verlocken sollten. »Ich habe aber aus gutem Grund so lange gewartet. Ich hätte schon am frühen Morgen herkommen können, aber dann habe ich es mir doch anders überlegt. Ich finde, der Eindruck ist stärker, wenn man so ziemlich allein im Kabinett ist.«

»Ja, ja, das mag schon sein«, erwiderte der Alte beinahe gelangweilt. Er rückte die randlose Brille auf seiner Nase zurecht und lehnte sich in den mit dunkelrotem Samt überzogenen Stuhl zurück.

Tom griff noch nach zwei besonders eindrucksvollen Ansichtskarten aus dem Kabinett. Eine stellte die berüchtigten Toledo-Brothers dar, die Anfang der dreißiger Jahre mehrere amerikanische Kleinstädte durch ihre Raubmorde in Angst und Schrecken versetzt hatten. Die andere Karte bot eine recht umfangreiche Übersicht aus dem unheimlichen Kabinett in den Gewölben des ehemaligen Weinkellers.

Tom zahlte, nahm die Karten an sich und verstaute sie in seiner Brusttasche. Er gab sich ganz als interessierter Besucher des Kabinetts. Er stieß die dunkelbraune Tür auf. Quietschend bewegte sie sich in den angerosteten Scharnieren. Restaurations- und Instandhaltungsarbeiten schienen hier so gut wie gar nicht durchgeführt zu werden. Der Besitzer schien im Gegenteil Interesse daran zu haben, das Anwesen immer mehr verfallen zu lassen. An der Decke über sich erkannte Tom die zahlreichen nassen Flecke, die vom durchsickernden Regen verursacht wurden. Die groben Balken, die die Decke stützten, hätten längst mit einem neuen Anstrich versehen werden müssen. Das faulige Holz war ungeschützt dem Zahn der Zeit ausgesetzt.

Breite, ausgetretene Stufen führten in die Tiefe des Kellers. Dort hatte Mr. Flemming sein Kabinett in den geräumigen Gewölben etabliert. Der Weinkeller, der direkt in das felsige Gestein des Berges hineingeschlagen war, bildete den unheimlichen Hintergrund.

Es war kühl, es roch nach Moder. Tom hörte die Geräusche in der Tiefe des Kellers. Sie rührten von den Schritten, von dem leisen Gemurmel der noch Anwesenden her. Farbige Lampen, die in den kahlen, feuchten Wänden verborgen waren, leuchteten die einzelnen Gestalten an, die lebensecht wirkten und nur den Atem anzuhalten schienen. Der Weinkeller war so ausgebaut, dass der einzelne Besucher praktisch ständig allein war und das Gruseln genießen konnte. Säulen, vorspringende Bögen, die sich über die Decke hinweg fortsetzten, und grobe Mauern, die später angebaut worden waren, unterteilten diesen geräumigen Felsenkeller. Man konnte sich in eine dunkle Mauernische stellen, die der einen oder anderen Wachsfigur gegenüberlag, und die Gestalt eingehend mustern.

Im Augenblick stand Tom Riggins vor einem glatzköpfigen Franzosen, der vor zwölf Jahren bei einem Feuergefecht mit der Polizei ums Leben gekommen war. Bei der Wachsfigur handelte es sich um Pierre Pulloir, einen Psychopathen, der seinem Opfer seidene Schnüre ins Haus schickte – und dann selbst nachkam, um diese fein säuberlich um die Hälse zu legen, die er dafür ausgesucht hatte. Pulloir hatte nur Frauen getötet, schlanke, blonde, grazile Gestalten. Die weißen Hälse der Schönen hatten ihn verlockt ...

Grünliches Licht auf Pulloirs Wachsgesicht schien die Miene des Franzosen zu beleben. Sekundenlang glaubte Tom, das Spiel der Wangenmuskeln zu erkennen, glaubte, dass es in den Augen seines Gegenübers verräterisch aufblitzte. Je intensiver er die Gestalt betrachtete, um so stärker verspürte er das Gefühl, dass Pulloir vor ihm stand und lebte, dass er vielleicht jeden Augenblick auf die Idee kam, Feuer für die Zigarette verlangte, die er lässig zwischen seine dünnen Lippen geklemmt hatte. Tom fühlte, wie ein bisher unbekanntes Kribbeln über seinen Rücken lief. Er war niemals zuvor in seinem Leben in einem Wachsfigurenkabinett gewesen. Der Eindruck war makaber.

Tom konnte seinen Blick kaum von den kalten, starren Augen Pulloirs lösen, die ihn zu hypnotisieren schienen. Er dachte daran, dass er kein gewöhnlicher Besucher war, dass er mit einem besonderen Plan hergekommen war, dass er es sich nicht leisten konnte, sich zu gruseln. Sein Verstand musste kalt und überlegt handeln, wenn dieser Coup ein Erfolg für ihn werden sollte.

Und plötzlich sah er die Gestalt Pulloirs mit anderen Augen. Er konzentrierte sich nicht mehr auf die Augen, auf die Erscheinung des Psychopathen, nicht mehr auf die seidene Schnur, die er in seiner rechten Hand hielt – sondern sein Blick fiel auf die breite, goldene Uhrkette, die aus der Westentasche herausragte. Toms Finger zuckten unwillkürlich, doch dann unterließ er es, die Kette zu berühren. Vielleicht gab es eine Sicherheitsanlage, die Alarm auslöste. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die kostbaren Schmuckstücke vollkommen ungesichert sein sollten. Er musste das näher erkunden.

Er ging auf die nächste Gestalt zu. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er ein junges Pärchen, das durch einen Seitenausgang das Kabinett verließ. Zwei Minuten später begegnete Tom drei Personen, die ihren Rundgang ebenfalls abgeschlossen hatten und durch den gleichen Seitenausgang verschwanden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Tom sehr aufmerksam die Gestalten registriert, deren Originalutensilien einen guten Verkauf zu gewährleisten schienen. Sie trugen goldene Uhren, kostbare Ringe, und unter einer Glashaube war sogar die Beute eines Raubmörders untergebracht, wertvolle Schmuckstücke, die aus verschiedenen Beutezügen stammten und deren Besitzer man nicht ausfindig machen konnte – oder die es unterlassen hatten, aus welchem Grund auch immer, sich zu melden. Wie Mr. Flemming zu diesen Wertsachen gekommen war, würde ewig ein Rätsel bleiben.

Interessiert war Tom auch an drei Handfeuerwaffen und zwei Dolchen mit eingelegten Intarsienarbeiten.

Es wurde immer ruhiger im Kabinett, und Tom fragte sich, ob Fletcher gekommen war. Er sah sich verstohlen um, konnte ihn aber nirgends entdecken. Sie hatten sich hier treffen wollen, es gehörte zum Plan. Diesen Coup konnte er nur mit einem zweiten Mann durchführen.

Tom schlich um einen Torbogen herum. Das dunkelrote Licht einer verborgenen Lampe strahlte ihn an. Er blickte an der Wachsfigur zu seiner Seite hoch. Auf dem Namensschild, das am Sockel angebracht war, las er den Namen Derry Cromfield. Die Gestalt war über 1,90 Meter groß und recht breit. Das pockennarbige Gesicht mit der Stichwunde unter dem linken Auge hatte einen Zug ins Brutale. Toms Augenmerk fiel auf den schweren Goldring an der linken Hand Cromfields, und er nahm sich vor, diesen Ring nachher nicht zu vergessen.

Er kam an zwei leeren Sockeln vorbei, blieb kurz bei einem japanischen Schwerverbrecher stehen – und zuckte zusammen, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte.

Tom wirbelte herum, die Lippen halb geöffnet. »Fletcher«, kam es dumpf aus seiner Kehle.

Sein Gegenüber, ein ebenso schmächtiger Bursche wie Tom, mit schwarzem Haar und dunklen, ständig in Bewegung befindlichen Augen, grinste von einem Ohr zum anderen. Das Halbdunkel ließ seine weißen Zähne voll zur Wirkung kommen. »Erschrocken, Riggins?« fragte Fletcher. Er sprach so leise, dass seine Worte einen Schritt weiter nicht zu verstehen waren.

Tom nickte. »Seit ich hier bin, habe ich schwache Nerven. Das macht die Umgebung. Es ist ein bisschen unheimlich. Aber der Schauer lohnt sich. Es ist nicht zu fassen, was Mr. Flemming zusammengetragen hat. Er muss ein Vermögen hier hineingesteckt haben. Er wird sich wundern, wenn morgen bei der Öffnung des Kabinetts fast nichts mehr davon da ist.«

»Du willst es durchführen, heute noch?«

Tom nickte. »Es bleibt bei unserer Abmachung«, flüsterte er, während er kaum merklich seinen Komplizen am Ärmel zur Seite zog und weiterging, scheinbar interessiert an einer Wachsfigur, begutachtend, aufmerksam die Erklärungen dazu lesend, die auf einer Tafel an einem Gestell unmittelbar neben der Gestalt angebracht waren. Die Tafel enthielt in groben Zügen den Lebenslauf der jeweils dargestellten Figur.

Die letzten Besucher des Kabinetts kreuzten den Weg der beiden Diebe. Auch sie hatten, während sie sich unterhielten, unwillkürlich die Stimmen gesenkt. In dieser Umgebung sprach niemand ein lautes Wort.

Riggins und Fletcher schienen interessierte Besucher des Kabinetts zu sein. Während sie von einer Figur zur anderen marschierten, legte Tom ein letztes Mal seinen Plan dar. »Und wie sieht es bei dir aus, Fletcher?« fragte er abschließend.

»Es gibt zwei Seitenausgänge. Sie werden nach neunzehn Uhr vom Kassierer, der die letzte Runde durch das Kabinett macht, verschlossen. Manchmal macht er sich auch gar nicht die Mühe, das Kabinett noch einmal zu durchschreiten. Er weiß aus Erfahrung, dass niemand gern zu lange in diesen Gewölben bleibt. Wenn du mich fragst, Riggins, dann würde ich es auch nicht fertigbringen, einige Nachtstunden hier zu verbringen.«

Tom lachte leise. »Wir bilden uns alle etwas ein, Fletcher, und unsere Einbildung ist größer als unsere Vernunft. Vor den Lebenden müssen wir Angst haben, nicht vor einer Wachsfigur!« Er sah sich um. Die beiden letzten Besucher stiegen die Treppe zu einem der Seitenausgänge hoch, und ein kalter Luftzug strich durch das Gewölbe, als die schwere Eisentür aufging. »Gibt es Schwierigkeiten beim Öffnen des Schlosses?« wollte Tom noch wissen.

Fletcher schüttelte den Kopf. »Nicht die geringsten. Ich habe es vorhin mehrmals probiert. Der Nachschlüssel funktioniert einwandfrei, und eine Alarmanlage konnte ich nicht entdecken.«

»Okay, dann verschwinde! Ich verstecke mich nachher hier in dem Gewölbe. Ich werde einige Zeit verstreichen lassen, ehe ich tätig werde. Ich muss sehen, ob die Schmuckgegenstände gesichert sind und wie diese Sicherung ausgeschaltet wird. Spätestens gegen Mitternacht werde ich mich melden. Zweimaliges, leises Klopfen ist dein Zeichen. Dann öffnest du den Seitenausgang. Ein Wagen steht bereit?«

Fletcher nickte wortlos.

Tom Riggins wollte noch etwas sagen, doch im Ansatz hielt er inne. Ein Luftzug streifte sein Gesicht, eine Tür fiel ins Schloss. Unwillkürlich drückten Fletcher und er sich tiefer in den Schatten einer Nische; ihnen gegenüber stand eine bucklige Wachsfigur, die Ed Harriman darstellte. Die hässliche, ein wenig drohend wirkende Gestalt wurde von einem rötlichgrünen Schein angestrahlt, der jeden Pickel, jede Narbe, jede Pore und jede Muskelfaser des Buckligen in ein seltsam belebendes Licht tauchte. Die Rechte Harrimans war wie zum Schlag erhoben, und der Schatten des Armes, der Hand und der fünf Finger fiel vor Tom auf den Boden und berührte seine Fußspitzen.

Die beiden Diebe lauschten. Das Pochen ihrer Herzen schien tausendfach verstärkt zu werden. Wer war hinausgegangen? Ein letzter Besucher, den sie übersehen hatten? Ob vielleicht der Wind die nicht ganz geschlossene Tür ins Schloss geschlagen hatte?

Fletcher biss sich auf die Lippen. »Ich verschwinde jetzt«, hauchte er dann. »Hals- und Beinbruch, Riggins! Mich würden keine zehn Pferde in diesem Kabinett zurückhalten. Deine Nerven möchte ich haben. Die nächsten Stunden allein hier in dieser Gesellschaft ...«

Er huschte aus der Nische und eilte unter einem tunnelähnlichen Torbogen hindurch auf die Treppenstufen zum Ausgang zu.

Tom war endgültig allein in einem Kabinett des Gruselns. Allein unter unheimlichen Gestalten, die nur zu schlafen schienen, die jeder Lichtreflex, jeder Schatten zu einem unwirklich-schaurigen Leben erwachen ließ. Er sah sich um, hielt den Atem an. Er musste sich ein günstiges Versteck suchen und sich irgendwo verbergen.

Tom huschte an den Wachsfiguren vorbei, passierte den Japaner, die beiden leeren Sockel, einen dritten und wollte auf Zehenspitzen unter einen schattigen Torbogen schleichen, als er wie unter einem Peitschenschlag zusammenzuckte.

Der Sockel, dieser letzte dritte Sockel eben – täuschte er sich, oder spielten seine überreizten Nerven ihm bereits einen Streich?

Tom wirbelte herum. Er las den Namen auf dem Schild: Derry Cromfield! Hatte vorhin, als er zum ersten Mal vorbeikam, dort nicht eine Gestalt gestanden, eine Wachsfigur?

Tom schluckte. Er kramte in seiner Erinnerung, versuchte, Gewissheit zu finden. Zu viele Eindrücke waren während der letzten Stunde auf ihn eingestürmt, als dass er sich noch an Einzelheiten erinnern konnte. Doch dieser Sockel, und dafür hätte er seine Hand ins Feuer legen können, hatte vorhin noch eine Gestalt getragen, die in Wachs gefertigte Figur Derry Cromfields!

Riggins war kein furchtsamer Mensch, und doch fühlte er in diesen Sekunden zum ersten Mal etwas wie Furcht in sich aufsteigen.

Eine eiskalte Hand griff nach seinem Herzen, und das Grauen ließ das Blut in seinen Adern gefrieren.

Um Mitternacht landete die Maschine aus Glasgow in London. Larry Brent und Iwan Kunaritschew befanden sich unter den Gästen in der Wartehalle, die auf dieses Flugzeug gewartet hatten.

Die beiden X-RAY-Agenten wollten in die Staaten zurückkehren, und die soeben gelandete Maschine sollte sie nach New York bringen. Sie warteten noch die Ansage ab, in der die Passagiere für den Flug aufgefordert wurden, die Maschine zu betreten.

Der Aufenthalt der aus Glasgow gekommenen Maschine betrug genau zwanzig Minuten. In London fand ein Pilotenwechsel statt. Die beiden Flugkapitäne wurden durch den Piloten Frank Dovern und den Kopiloten Colin Perkins ersetzt.

Dreiundneunzig Passagiere befanden sich schon an Bord. Die restlichen fünf stiegen in London zu. Es handelte sich um Larry Brent und Iwan Kunaritschew, einen israelischen Fotoreporter, eine Hausfrau, die bei einem Teigwarenwettbewerb einen Flug nach New York gewonnen hatte, und das Filmsternchen Silvia de Sorente, die mit wirklichem Namen Jenny Darridge hieß und im Augenblick die Schlagzeilen der Klatschblätter füllte. Silvia de Sorente war ein kurvenreiches Mädchen, das sich seiner körperlichen Vorzüge voll bewusst war. Sie machte ganz auf Sex. Sie trug die knappsten Minis, die aufregendsten Dekolletés – und machte bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit auf sich aufmerksam.

Larry Brent hatte bereits Gelegenheit gehabt, die Schauspielerin, die vor vierzehn Tagen den zwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte, im Flughafenrestaurant kennenzulernen. Sie hatte zufällig am Nachbartisch gesessen, hatte pausenlos geplappert und von ihren aufregenden Zukunftsaussichten gesprochen.

Larry grinste vergnügt vor sich hin, als er jetzt an der Seite des ihn um Haupteslänge überragenden Russen auf die Gangway zuschritt, vor sich Silvia de Sorente, die den knappsten Pelzmantel trug, den er je gesehen hatte. Der Mantel schloss mehr als zwei Handbreit über ihren gutgeformten Schenkeln, und Larry kam unvermittelt auf die Idee, dass die de Sorente eigentlich ein hervorragendes Werbeobjekt für die Feinstrumpfhosenindustrie abgäbe.

Eine Stewardess empfing die Passagiere an der Gangway. Die Hausfrau und der Fotoreporter stiegen zuerst die Gangway hinauf; Silvia de Sorente folgte, nachdem sie ein paar belanglose Worte mit der Stewardess gesprochen hatte. Larry Brent und Iwan Kunaritschew bildeten den Abschluss.

Der Russe und der Amerikaner sahen sich an. Mit wiegenden Hüften stieg die Sorente vor ihnen auf der Gangway hoch. Ein betörender Parfümduft entströmte ihrem Körper. Larry musste sich eingestehen, dass die Sorente es verstand, sich zu kleiden und zu bewegen. Larry war keinen Augenblick bereit, den Blick von den wohlgeformten Beinen zu nehmen, die sich vor seinen Augen bewegten. Einmal stieß ihn der Russe an und schüttelte missbilligend den Kopf.

»Ein wohlerzogener X-RAY-Agent sollte das nicht tun, Towarischtsch«, wisperte der Russe, während er Larry abermals in die Seite stieß, als er bemerkte, dass der Freund noch immer nicht bereit war, den Blick von den braunen Beinen zu wenden.

Larry grinste. Er sah den Russen nicht an. »Jeder hat seine eigene Schwäche, Brüderchen«, antwortete er kaum hörbar, aber offensichtlich war seine Bemerkung doch nicht leise genug, denn in dem Moment, da er hinzufügte: »Dem einen bereiten schöne Beine Freude, während sich der andere für einen alten Whisky oder eine selbstgedrehte Zigarette begeistern kann ...«, drehte sich das Filmsternchen um und warf einen kurzen Blick auf Larry.

Ihre Blicke begegneten sich, und Larry musste sich eingestehen, dass Silvia de Sorente eine eigenartige Wirkung auf ihn ausübte. Diese Frau strömte ein Flair aus, das er beinahe körperlich spürte. Sie verfügte über einen eigenartigen Reiz und schien alles andere als eine Amerikanerin zu sein. Sie war schwarzhaarig, und ihre Haut hatte einen leichten Bronzeschimmer, der die Exotin verriet. Sie hatte große, dunkle Augen, die eine seltsame Wärme ausstrahlten.

Silvia de Sorente schien zu wissen, weshalb sie gerade diesen Namen für sich gewählt hatte. Er passte zu ihr, passte besser zu ihr, als wenn man sie Jenny genannt hätte.

Ihre Lippen öffneten sich zu einem leisen Lächeln. Dieses galt Larry. Sie schien zu wissen, dass ihr die Blicke der Männer ständig folgten. Silvia de Sorente verschwand im Flugzeug.

Larry und Iwan folgten ihr, nahmen ihre Plätze ein. Der Russe hatte einen Fensterplatz, Larry saß auf dem Außensitz. Und er traute seinen Augen nicht, als er auf der gegenüberliegenden Sitzreihe Silvia de Sorente entdeckte. Sie war seine Nachbarin.

Der Amerikaner grinste den Russen an. »Schade, Brüderchen«, meinte Larry. »Ich hatte mich so darauf gefreut, während des Fluges ein anregendes Gespräch mit dir zu führen; nun werde ich aber meine Aufmerksamkeit wohl auf die andere Seite lenken müssen. Man trifft nicht jeden Tag eine solche Sexbombe, nicht wahr?«

Der Russe nickte stillschweigend. »Wenn es dir langweilig wird, Towarischtsch, dann führen wir unser Gespräch fort. Ich bin sicher, dass du innerhalb der nächsten Stunde ein Gesprächstief erreichst und dann reumütig zu mir zurückkehrst ...«

Während ihres ersten gemeinsamen Einsatzes im Gebiet des Suffolk-Moores in England hatten sich Larry und Iwan näher kennengelernt und waren vom unpersönlichen Sie zum Du übergegangen.

Larry brauchte sich nicht einmal um ein Gespräch mit Silvia de Sorente zu bemühen. Sie begann von ganz allein.

»Das ist ein Zufall«, begann sie plötzlich, und sie schien ehrlich überrascht zu sein. »Das finde ich himmlisch!« Larry war aufgefallen, dass himmlisch ihr Schlagwort sein musste. Er hatte es bereits mehrere Male bei ihr gehört. »Vorhin – da waren wir doch schon Nachbarn im Flughafenrestaurant – und jetzt sind wir es wieder. Nein, ist das himmlisch.«

Während das Flugzeug startete, plauderte Larry unentwegt mit seiner hübschen Nachbarin. Iwan Kunaritschew hatte sich in seinem Sitz zurückgelehnt und hielt die Augen geschlossen.

Larry sprach schon nach einigen Minuten mit Silvia de Sorente, als kenne er sie seit Jahren. Die gutaussehende Schwarzhaarige hatte einen erregenden Augenaufschlag, den sie immer dann zur Anwendung brachte, wenn Larry Brent eine besonders gelungene Bemerkung machte. Silvia erzählte von ihren neuen Plänen, von ihren Erfolgen in England und davon, dass ihr Manager sie jetzt ganz groß herausbringen wolle.

»Ich habe auch eine Schwester«, erwähnte Larry. »Sie liebt die Schauspielerei über alles. Sie besucht die Schauspielschule in Washington.«

»Schauspielschule?« flüsterte Silvia, und sie brachte das Wort über die Lippen, als ekle sie sich davor. »Aber, Mr. Brent, ich bitte Sie! Was soll in unserer heutigen Zeit noch eine Ausbildung? Ich halte nichts davon. Ich bin überzeugt davon, dass Sex heute alles ist. Denken Sie an die Monroe, an Jane Mansfield – sie haben das Zeitalter des Sex eingeläutet ...«, und dann hielt sie einen regelrechten Vortrag über den Sex.

Larry hörte scheinbar aufmerksam zu, während er langsam anfing, sich für die Passagiere dieses Flugzeugs zu interessieren. Er musterte die Personen, die in seiner unmittelbaren Umgebung saßen, und er warf auch einmal einen flüchtigen Blick auf den Mann, der kurz nach dem Start den Anschnallgurt ablegte und sich von seinem Sitz erhob. Larry wurde deshalb auf ihn aufmerksam, weil der Fremde erstaunlich viele Pockennarben in seinem Gesicht hatte, weil er – ähnlich wie Iwan Kunaritschew – ein Bär von einem Mann war, mit Schultern so breit wie ein Kleiderschrank. Unter dem linken Auge war deutlich die Stichnarbe zu erkennen, die von einem Messer herrührte.

Der Fremde näherte sich der Pilotenkabine. Es war – Derry Cromfield!

Doch bis zu dieser Minute wusste Larry Brent noch nichts von davon.

Aber das sollte sich schon bald ändern. Noch in diesem Flugzeug, noch in dieser Minute ...

Die Stewardess stellte sich ihm in den Weg. »Es ist nicht erlaubt, die Pilotenkanzel zu betreten, Sir«, sagte sie freundlich. »Bitte ...« Weiter kam sie nicht. Sie sah den blauschimmernden Lauf des Revolvers in Cromfields Hand.

»Machen Sie keine Umstände, Miss! Lassen Sie mich durch!« Cromfield sprach leise, doch eindrucksvoll. Seine Stimme klang gefährlich. Sie ließ keinen Widerspruch zu. »Gehen Sie auf die Seite! Und beruhigen Sie die anderen Fluggäste. Wenn Sie sich so verhalten, wie ich es erwarte, wird niemandem ein Haar gekrümmt werden.«

Die Stewardess trat erschrocken zur Seite.

Cromfield stieß die Tür zum Cockpit auf. Er stellte sich so, dass er sowohl das Cockpit als auch den Flugzeuggang überblicken konnte. Er sah die Passagiere, die sich von der zweiten Stewardess Getränke und Speisen bringen ließen, er sah, wie sie sich unterhielten, wie sie in ihren Zeitungen und Büchern blätterten und sah auch, dass einige bereits schliefen. Niemand von ihnen hatte etwas von dem Vorfall bemerkt.

Cromfield sprach den Kopiloten an. »Ich habe lange auf diesen Tag warten müssen, Perkins – Colin Perkins! Meine Wahl ist auf Sie gefallen! Sie werden der erste sein, den meine Rache trifft!«

Der Flugkapitän und der Kopilot starrten auf den Eindringling. Der Kapitän ließ die automatische Steuerung einrasten. »Verschwinden Sie hier!« sagte er, ohne sich durch die Waffe einschüchtern zu lassen. Frank Dovern drehte sich halb zur Seite.

Cromfield hob demonstrativ den Revolver. »Sie sind sich der Situation nicht bewusst«, entgegnete er hart. »Zähmen Sie Ihren großen Mund, ich müsste ihn sonst gewaltsam stopfen! Und das wäre äußerst unangenehm für Sie!«

Cromfields Augen blickten starr, seine Iris war stumpf und glanzlos, und er strömte beinahe körperlich fühlbar eine Gefahr aus, die die beiden Männer in dem engen Cockpit erschauern ließ. »Verhalten Sie sich ruhig! Denken Sie an die Passagiere, für die Sie die Verantwortung übernommen haben! Ich habe kein Interesse daran, Sie zu töten. Mein Interesse gilt ganz allein Perkins – einem Nachkommen von Harold Perkins. Mit ihm möchte ich mich unterhalten – und mit ihm möchte ich dieses Flugzeug verlassen. Das ist alles. Es ist nicht zu viel verlangt.« Die Worte sprudelten nur so über Cromfields wulstige Lippen.

Colin Perkins starrte den Eindringling mit zusammengekniffenen Augen an. »Was wollen Sie von mir? Wir kennen uns nicht – ich kann mich nicht daran erinnern, jemals mit Ihnen zu tun gehabt zu haben.«

Derry Cromfield lachte leise, während er keinen der beiden Piloten aus den Augen ließ. »Sie kennen mich nicht – das kann sein. Umso besser kennt mich Ihr Großvater, der Henker von London, Harold Perkins! Ich habe ihm versprochen, dass sich eines Tages mein Fluch erfüllen wird. Und dieser Tag ist jetzt gekommen. Harold Perkins hat eine reiche Nachkommenschaft. Er hat vier Söhne, zwei Töchter und insgesamt neun Enkel. Sie alle tragen – oder trugen einstmals den Namen Perkins. Ich habe geschworen, diesen Namen auszulöschen. Und ich werde mein Versprechen halten!«

Colin Perkins schluckte. Sein schmales Gesicht spannte sich. Er hatte es mit einem Verrückten zu tun, daran gab es keinen Zweifel. Derry Cromfield hielt den Revolver unentwegt auf Colin Perkins gerichtet. »Ich weiß, dass Harold Perkins' besondere Liebe seinen Enkelkindern gilt, und ganz besonders Ihnen und Jane. Der Verlust wird ihn hart treffen. Und das ist meine Absicht! Er wird erleben, wie ein Mitglied seiner Familie nach dem anderen abtreten wird! Er wird der letzte sein!«

Cromfields Stimme klang hart und unpersönlich. Frank Dovern, der Flugkapitän, drückte sich langsam aus seinem Sessel hoch.

»Bleiben Sie, wo Sie sind!« warnte Cromfield. »Ich werde keinen Augenblick zögern, auch Sie umzulegen, wenn Sie sich meinen Plänen in den Weg stellen sollten! Zunächst jedoch geht es mir nur darum, dass Colin Perkins mit mir kommt. Wenn Sie meine Anordnungen genau befolgen, Kapitän, dann wird dieses Flugzeug sicher unten ankommen, ohne dass auch nur einem einzigen Außenstehenden ein Haar gekrümmt wird. Ich betone es noch einmal: Ich bin nur an Colin Perkins interessiert. Ich verlange, dass ich unbedingt mit ihm dieses Flugzeug verlassen kann. Fliegen Sie zurück, Kapitän! Aber landen Sie weder auf dem Londoner noch auf dem Glasgower Flughafen! Landen Sie auf der im Bau befindlichen Autobahn an der schottischen Grenze!«

Frank Doverns Mundwinkel klappten herab. Colin Perkins wurde noch bleicher, als er an sich schon war.

»Sie sind verrückt!« stieß Dovern hervor. »Wir haben Nacht, ich brauche Positionslampen, um landen zu können, die Hilfe eines Kontrollturmes, ich ...«

Derry Cromfield unterbrach ihn. »Sie können die Maschine auf der Autobahn aufsetzen. Sie haben Radar an Bord. Hintergehen Sie mich nicht, es hätte keinen Sinn! Sie ziehen den Kürzeren. Ich habe nur ein Leben zu verlieren – Sie aber haben die Verantwortung über 98 Menschenleben. Und noch etwas: Ein Toter kann nicht zweimal sterben.« Cromfield lachte, als er die verzerrten und verständnislosen Gesichter der beiden Piloten sah.

Doch Dovern und Perkins erkannten den Ernst der Lage. Sie mussten sich fügen. Cromfield war zu allem entschlossen. Der Eindringling ließ Colin Perkins keine Sekunde aus den Augen.

»Ich bin Derry Cromfield, Perkins, der gleiche Derry Cromfield, den Ihr Herr Großvater vor zwanzig Jahren in London durch den Strang hinrichtete!«

Das Gesicht von Colin Perkins glänzte unter einer dickten Schweißschicht. Für ihn gab es keinen Zweifel. Sie hatten es mit einem Schwachsinnigen, mit einem gefährlichen Irren zu tun.

Es war, als könnte Cromfield die Gedanken lesen, die in diesen Sekunden die Köpfe der beiden Piloten erfüllten. »Es ist die Wahrheit – und diese bittere Wahrheit wird in den nächsten Wochen und Monaten England nicht mehr ruhen lassen, Perkins!« Mit diesen Worten riss er seinen Kragen auf die Seite – und die breiten, hässlichen blauen Stranguliermerkmale wurden sichtbar, und dazu die rote Narbe im Nacken, die deutlich anzeigte, dass dieser Mann das Genick gebrochen hatte ...

Frank Dovern erkannte die Aussichtslosigkeit der Situation. Wenn Cromfield seine Warnung wahrmachte, dann stand das Leben von hundert Menschen auf dem Spiel.

»Kein Bericht an die Funkkontrolle«, warnte Cromfield. Er hatte eine Stewardess aufgefordert, die Passagiere darauf aufmerksam zu machen, dass das Flugzeug aller Wahrscheinlichkeit nach notlanden müsse. Es würde nach London zurückfliegen. »Mehr brauchen Sie nicht zu sagen«, meinte Cromfield mit harter, metallischer Stimme abschließend, während er die Stewardess wieder nach draußen schickte. »Jedes zusätzliche Wort ist sinnlos.«

Der Kapitän berechnete den neuen Kurs. Mehr als einmal noch meldete sich die Funkkontrolle des Londoner Flughafens, aber Cromfield untersagte jede Entgegnung.

Das Flugzeug stürmte durch die dichten Wolkenfelder. Dovern drückte die Maschine in die Tiefe. »Es ist ein wahnwitziges Unternehmen«, kam es wie ein Hauch über seine Lippen. »Sie bringen uns alle in Teufels Küche. Ich kann keine glatte Landung garantieren.«

»Das liegt an Ihnen«, sagte Cromfield nur, ohne die Waffe auch nur einen Millimeter zu senken oder einen der Piloten aus den Augen zu lassen. Gleichzeitig war seine Aufmerksamkeit auf die Passagierabteilung gerichtet. Doch dort war alles ruhig.

Über die Lautsprecheranlage hatte die Stewardess mit geschickten Worten darauf aufmerksam gemacht, dass die Maschine infolge schlechten Wetters umkehren müsse. Nur vereinzelt entstand Unruhe, die sich aber rasch wieder legte. Das Gros der Fluggäste nahm die Nachricht ruhig entgegen.

Silvia de Sorente geriet ein wenig außer Fassung, weil sie nun nicht mehr termingemäß mit ihrem Manager zusammentreffen würde, aber sie tröstete sich damit, dass durch die erzwungene Umkehr vielleicht eine zusätzliche Pressekonferenz für sie herausspringen könnte.

Denn sie habe sich schließlich auch an Bord der Maschine befunden, die wegen der Wetterunbilden ...

Larry Brent nahm die Nachricht mit gemischten Gefühlen entgegen. Er war der einzige aufmerksame Beobachter, dem aufgefallen war, dass die Stewardess nur mit Mühe die Beherrschung behalten hatte. Der Fremde, der zum Cockpit gegangen war – er saß noch nicht wieder auf seinem Platz.

Larry starrte zur halbangelehnten Tür hinüber, die das Cockpit vom Passagierteil trennte. Er sah dort einen Schatten, erkannte die Umrisse des Mannes. Hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu. Ein plötzlicher Wetterumschwung – wer sollte das glauben?

Mit einem leichten Antippen weckte er den Russen. »Ich weiß nicht, worum es geht, Brüderchen«, meinte X-RAY-3, »aber es scheint mir an Bord etwas faul zu sein.«

Der Russe, der nur leicht eingenickt war, war sofort hellwach. »Für faule Angelegenheiten sind wir Spezialisten, nicht wahr?«

Er tastete nach einer der zwei Berettas, die er während des Einsatzes im Schloss des Duke of Huntingdon Gangstern abgenommen hatte. Seine Smith & Wesson Laserwaffe war bei dem Einsatz in den Fluten der Waveney verlorengegangen.

Larry drückte sich langsam aus dem Sitz. »Ich sehe mal nach.« Er ging nur zwei Schritte, da kam schon eine Stewardess auf ihn zu.

»Bitte nehmen Sie wieder Platz, Sir!« Ihre Stimme klang belegt; sie konnte die Furcht, die darin mitschwang, nicht völlig unterdrücken.

Larry Brent sah sie an. Seine Blicke sagten mehr als tausend Worte. Sie zuckte zusammen; sie erkannte, dass ihm etwas aufgefallen war, dass er aber gerade durch diese Hilfe noch mehr Unheil anrichten konnte.

Ehe Larry zu einer weiteren Aktion kam, erklang eine messerscharfe Stimme hinter der angelehnten Tür zum Cockpit. Es war Cromfields Stimme. »Unterlassen Sie jeden Versuch, Mister! Es geht garantiert ins Auge! Gehen Sie zurück zu Ihrem Platz und kümmern Sie sich nicht um Dinge, die Sie nichts angehen!« Die Tür schwang etwas weiter auf. Larry sah den blauschimmerden Pistolenlauf, der auf ihn zeigte.

Larry schluckte. Es bedurfte keines weiteren Wortes. Die Piloten befanden sich in höchster Gefahr. Worum immer es auch gehen mochte – sie alle schwebten in Gefahr, wenn sich jetzt jemand falsch verhielt.

Nach diesem Ereignis waren die Dinge an Bord nicht mehr geheimzuhalten. Unruhe entstand, unter einigen Passagieren machte sich Panikstimmung breit. Die beiden Stewardessen hatten alle Hände voll zu tun.

Derry Cromfield kam aus dem Cockpit heraus. Er schob den jungen Kopiloten vor sich her, dem er den Pistolenlauf in das Genick setzte. »Wenn jemand versucht, etwas zu unternehmen, dann wird dieser junge Mann auf der Stelle sterben!« Eine tödliche Stille breitete sich aus. Es schien, als hielten die Menschen den Atem an. Sie begriffen nicht, was hier vorging. Larry biss die Lippen aufeinander. Iwan tastete nach seiner Beretta – doch der Amerikaner drückte im gleichen Augenblick die Hand des Russen herunter. Es hatte keinen Zweck, etwas zu unternehmen. Die Gefahr für das Leben des jungen Piloten oder für einen anderen unbeteiligten Passagier war zu groß. Sie mussten einen anderen günstigen Augenblick abwarten.

Cromfield stand in der Nähe des Ausstiegs. Die Maschine ging steil in die Tiefe. Durch das Sichtfenster erkannte Larry die Ketten von roten und weißen Lichtern. Für einen Augenblick glaubte er, dass der Landeplatz bereits unter ihnen lag, doch dann stockte sein Herzschlag. Dies waren keine Positionslichter, diese Lichter bewegten sich, sie bildeten lange Lichterstreifen. Es waren Autos – und unter ihnen lag eine Autobahn. In einer Schleife überflog der Pilot die Autobahn, ein gräulicher, breiter Streifen wurde sichtbar, ein neues, noch nicht eröffnetes Anschlussstück einer anderen Straße. Schwach glühten die Petroleumlampen an den markierten Arbeitsstellen, die die Straßenränder säumten.

Wie ein Stein fiel das Flugzeug in die Tiefe, die graue Straße kam blitzschnell näher. Larry Brent und Iwan Kunaritschew sahen sich an. Welch eine Anforderung wurde in diesen Sekunden an den Piloten gestellt! Er musste auf einer abgelegenen Autobahn notlanden, weil ihn ein wahnwitziger Befehl dazu zwang.