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Irrfahrt der Skelette Ryan Sanders und die hübsche Chantelle, die er auf der Insel Noumea kennengelernt hat, sind auf der Sanders Yacht unterwegs. Da entdecken sie die Discover II, das Segelboot der beiden Weltumsegler John Hendriks und Jack Sullivan. Doch niemand zeigt sich auf Deck und niemand reagiert auf ihre Rufe. Ryan wird stutzig und findet in der Kabine der Discover II zwei Skelette. Seiner Begleiterin erzählt er nichts von dem grausigen Fund, doch sie spürt, daß etwas nicht stimmt. Ryan ist bedrückt. Und da ist noch etwas. Seine zärtlichen Berührungen fühlen sich seltsam auf Chantelles Haut an. Sie sieht die Hand ihres Liebhabers, und das Grauen packt sie. Die Haut über den Fingern ist zurückgewichen, und der blanke Knochen ragt aus dem gesunden Fleisch hervor. Ryan Sanders wird zum Skelett! Hat er eine tödliche Seuche von dem Segelschiff mitgebracht? Larry Brent bucht ein Ticket auf dem Luxusdampfer Andrea Morena, um dem Unheil auf die Spur zu kommen. Sein Leben ist, als das Schiff ablegt, keinen Cent mehr wert. Die menschenfressende Bestie Lee Andrews rastet aus. Sein Kollege Johnston führt sich im Special Science Institute wie der Chef auf. Sein Erfolg und seine Position machen ihn wahnsinnig. Andrews schlägt ihn nieder. Dann zerrt er seinen Kollegen, den er für tot hält, in ein Labor, zu dem nur er Zutritt hat. Er will seinen Körper unter einem Berg von Tierkadavern verbergen, die bei Versuchen mit einer kombinierten Gamma- und CX-Strahlung verändert und getötet wurden. Doch Johnston lebt noch, und sein Körper beginnt sich zu verändern. Als zu allem Unglück verstrahlte Insekten aus dem Labor entkommen können ist die Katastrophe perfekt. Diese Gefahr ist selbst für den PSA-Agenten Larry Brent unberechenbar.
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Seitenzahl: 324
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DAN SHOCKERS LARRY BRENT
BAND 15
© 2014 by BLITZ-Verlag
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Fachberatung: Robert Linder
Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati
Titelbildgestaltung: Mark Freier
All rights reserved
www.BLITZ-Verlag.de
978-3-95719-815-0
von
Dan Shocker
Er stellte auf automatische Steuerung um und ahnte in dieser Sekunde noch nicht, dass dies die letzte Handlung seines Lebens war.
Jack Sullivan wischte sich über die schweißnasse Stirn. Es war gut, dass wieder Wind aufkam. Nach der Flaute der vergangenen Tage war das kleine Segelboot kaum mehr als fünfzehn Meilen am Tag vorangekommen.
Jetzt trieb es mit höherer Geschwindigkeit durch den Atlantik.
Sullivan wandte sich um und näherte sich der Treppe, die in die kleine enge Kabine führte. Dort schlief John Henriks, sein Partner, mit dem er die Weltumseglung durchführen wollte.
Dreißigtausend Meilen lagen bereits hinter ihnen. Sie hatten es geschafft. Fast! Noch ein paar tausend Meilen, und sie würden wieder in den sicheren Hafen von New York einlaufen, wo man sie begeistert empfangen würde – als Helden, die Mut und Entschlossenheit bewiesen hatten. Sullivan setzte seinen Fuß auf die vierte Treppenstufe, als es geschah.
Die Gestalt wuchs wie ein Pilz aus dem Boden vor ihm auf. Hände legten sich um seine Kehle und würgten ihn. Für Bruchteile von Sekunden war Sullivan von dem blitzartigen Überfall so überrascht und benommen, dass er zu keiner Gegenwehr fähig war. Als er endlich begriff, dass es um sein Leben ging, war es schon zu spät.
Vor seinen Augen begann es wild zu kreisen. Blutrote Nebel und Flecken tanzten auf und nieder; die schemenhaften Umrisse des Würgers wurden zu einem unüberwindlichen Wall.
Vergebens versuchte Sullivan, den Griff zu lockern. Wie Stahlzangen lagen die Hände um seinen Hals.
»John«, gurgelte er. Seine Stimmbänder brachten nur ein müdes Krächzen zuwege. »Bist du denn übergeschnappt?«
Dann verließen ihn seine Sinne, und Sullivan begriff nicht, weshalb er sterben musste.
Ein Tag später ...
Der Dampfer Kartanaxa kreuzte im Mittelatlantik. Vom Schiff aus entdeckte man das kleine Segelboot, das auf den blauen Gewässern trieb.
Im Vorüberfahren blickten viele Seeleute durch ihre Ferngläser.
»Seltsam«, murmelte George Haycox, während er sein Glas abermals ansetzte. »Es sieht so aus, als würde das Boot mit automatischer Steuerung segeln. Aber im Cockpit ist niemand zu sehen.«
Außer Haycox fiel dieser Umstand auch einigen anderen Seeleuten auf. Haycox beobachtete das Segelboot noch lange. Aber niemand zeigte sich darauf. Im Schatten der Segel war deutlich zu sehen, dass die Tür zu der nach unten führenden Kabine weit offen stand. Aber die Stelle war nicht genügend ausgeleuchtet, um Einzelheiten wahrzunehmen.
Er schüttelte den Kopf. »Da stimmt doch etwas nicht«, murmelte er vor sich hin. McCurner, ein gebürtiger Ire mit fuchsrotem Stoppelhaar, sah Haycox von der Seite an.
»Was soll da nicht stimmen?«, fragte der Rothaarige. Sein pockennarbiges Gesicht glänzte vor Schweiß. McCurner war ein gutmütiger Bursche, breit wie ein Kleiderschrank und stark wie ein Löwe. Der Ire war ein richtiges Arbeitstier. Er machte sich keine großen Gedanken über die Probleme dieser Welt. Wenn es um den Einsatz von Kraft und Muskeln ging, dann war er zu gebrauchen. Dabei war McCurner bei weitem nicht mit dem lapidaren Wort primitiv zu bezeichnen. Er war ein sympathischer, liebenswürdiger Kerl, der mit niemandem Streit anfing, eine eigene Lebensphilosophie entwickelt hatte und mit sich und der Welt zufrieden war.
McCurner hatte die Gabe, alles auf einen einfachen Nenner zu bringen, und er konnte im Gespräch mit Freunden die brennendsten weltpolitischen Probleme lösen. Wenn der Ire an der Spitze einer Regierung gestanden hätte, wären alle kriegführenden Mächte auf der Stelle befriedet worden. McCurners kleines Gehirn begriff die kompliziertesten Zusammenhänge, weil er sie sich einfach machte.
Alles auf der Welt war einfach. Man brauchte sich nur zu verstehen, das war seine Meinung. Und er verstand es, wenn auch ein wenig unbeholfen und ungeschickt, seine Worte zu wählen und erklärbar zu machen, was er meinte.
Manchmal waren seine Lösungen so verblüffend, dass man sich im Stillen fragte, ob McCurner nun wirklich so dumm war, wie er aussah, oder ob sich in ihm vielleicht ein genialer Weiser verbarg, der viel zu schade für diesen Globus war ...
Wortlos ließ Haycox sein Glas kreisen. Dann entdeckte er die Aufschrift am Bug des Segelbootes.
»Die Discover II«, entfuhr es ihm. »Das ist doch Sullivans und Henriks Boot!«
»Tatsächlich«, sagte McCurner. »Dann haben sie's ja bald geschafft.« Er starrte durch sein Glas und stellte die Schärfe nach. Wenn man selbst an Bord eines Dampfers war, der eine genau festgelegte Route auf dem Atlantik und dem Pazifischen Ozean hatte, dann sprach man mit besonderer Bewunderung gerade von den Männern, die das Wagnis in einer Nussschale von Boot auf sich nahmen, um den Gewalten des Ozeans zu trotzen.
»Warum zeigen sie sich nicht an Bord?«, kam es über Haycox' Lippen.
»Vielleicht schlafen sie. Das Wetter ist günstig.«
»Es ist seit Tagen so«, warf Haycox ein. »Sie hatten die ganze Zeit Gelegenheit, sich auszuruhen.«
»Das Boot ist völlig in Ordnung. Keine Anzeichen von einer Beschädigung.« Dem musste Haycox zustimmen.
»Und außerdem«, fuhr McCurner fort, ohne erst wieder eine Entgegnungseines Nebenmannes abzuwarten, »hätten sie das Boot gekennzeichnet, wenn etwas nicht okay wäre.«
Das war eine entwaffnende Argumentation. Es war sinnlos, McCurner zu widersprechen.
So passierte der Dampfer Kartanaxa die Stelle und ließ das winzige Boot zurück. Der Kapitän sah keine Veranlassung, irgendetwas zu unternehmen. Keinerlei Notzeichen wiesen darauf hin, dass an Bord des kleinen Seglers irgendetwas nicht stimme. Er trug jedoch in das Logbuch unter das betreffende Datum die Begegnung mit der Discover II ein und erwähnte auch im nächsten Funkspruch diese Tatsache. Er meldete die Sichtung des Segelbootes, das mit automatischer Steuerung durch den Atlantik trieb.
Der Funkspruch des Dampfers galt der Schifffahrtsagentur Lloyd. Ryan Sanders, der zu diesem Zeitpunkt ebenfalls auf dem Mittelatlantik segelte, fing den Funkspruch auf.
Der junge Australier, der mit seinem Einmastsegler Orpheus unterwegs war, trainierte für die kommenden australischen Segelmeisterschaften. Er war einer der Beneidenswerten, die wochen- und monatelang einem Sport frönen konnten, der nur wenigen zugänglich war, weil er zu viel Geld kostete. Allein die Orpheus war eine Million Dollar wert. Sie war ein Prunkstück aus Teakholz, Aluminium und einigen elektronischen Geräten, die man an Bord einer solchen Segeljacht nicht zu finden glaubte.
Ryan hatte es schon immer verstanden, das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden, in jeder Hinsicht. Und so war es nicht verwunderlich, dass er sich nicht allein an Bord der Orpheus aufhielt. Von seinem letzten Ausflug nach Noumea – einer märchenhaften Insel im Gebiet von Neu-Kaledonien – vor ein paar Monaten hatte er Chantelle mitgeschleppt, eine junge rassige Schönheit, in der das temperamentvolle Blut eines französischen Vaters und einer auf Noumea geborenen Einheimischen floss.
Chantelle hatte den Charakter ihres Vaters und die märchenhafte, faszinierende Schönheit ihrer Mutter geerbt. Das Mädchen war neunzehn, verfügte über eine Haut, die an einen mit Sahne aufgehellten Kaffee erinnerte, über dunkle, glutvolle Augen und schwarzes, seidiges Haar, das die makellosen Schultern berührte.
Chantelle besaß eine Figur, die beim Wettbewerb zur Miss Welt die besten Aussichten für einen der begehrenswerten ersten Plätze gehabt hätte. Vielleicht wäre sie – bei ihren Maßen – sogar tatsächlich Miss Welt geworden.
Was sie außer ihrer Schönheit noch auszeichnete, waren Klugheit und Intelligenz. Sie verstand Konversation zu machen, charmant zu plaudern und war Gesellschafterin und Geliebte. Mit Chantelle konnte man sich überall sehen lassen, und man zog die Aufmerksamkeit auf sich.
Nach dem aufgefangenen Funkspruch warf Ryan Sanders einen letzten Blick auf die Seekarte und steckte die Position seiner Orpheus ab. Er stellte fest, dass er nur zwei knappe Tagesreisen, vorausgesetzt, dass die augenblickliche Wetterlage anhielt, von der Discover II entfernt war.
Beschwingt sprang der junge Australier die Stufen hoch, verließ die Kabine und näherte sich der ruhenden Chantelle, die auf Deck lag und sich sonnte. Damit eine gleichbleibende Tönung ihres wohlproportionierten Körpers gewährleistet blieb, verzichtete sie gern auf den Bikini, ein hauchdünnes, netzartiges Gebilde, das mehr aus Löchern als aus Stoff bestand und zum Trocknen an einem Seil zwischen dem Mast und der Reling aufgehängt war.
Auf Zehenspitzen schlich er zu dem schlafenden Mädchen. Chantelle hatte das Gesicht schräg auf den angewinkelten Armen deponiert und lag ein wenig zur Seite gedreht, so dass der Ansatz der Brüste deutlich zu sehen war.
Ryan beugte sich über die Schlafende und hauchte einen Kuss zwischen ihre Schulterblätter.
Chantelle zuckte nicht einmal zusammen. »Wenn ich nicht gewusst hätte, dass wir beide uns allein auf dem Schiff befinden, wäre jetzt glatt ein markerschütternder Schrei über meine Lippen gekommen.« Ihre Stimme klang leise und angenehm, und Chantelle drehte noch ein Stückchen mehr den hübschen Kopf zur Seite, um Ryan voll anzusehen.
Der Australier legte sich neben sie.
»Du schläfst nicht«, sagte er überflüssigerweise.
»Nein, wie du inzwischen bemerkt haben wirst.« Mit diesen Worten richtete sie sich auf und reckte die vollendeten Glieder wie eine schöne Katze.
Ryan Sanders fuhr mit der einen Hand durch das dichte, seidige Haar. »Macht dir eine kleine Seereise etwas aus?«
Erstaunt hob Chantelle die Augenbrauen. »Ist das, was wir seit ein paar Wochen tun, denn etwas anderes?«
»Natürlich nicht. Und doch – genaugenommen – ich habe die Absicht, den Kurs zu ändern. Ich möchte mir etwas ansehen.«
»Und was, wenn ich fragen darf? Die Galapagos, Noumea und Tahiti sind so weit entfernt, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie du deine augenblicklichen Wünsche erfüllen könntest. Und das einzige, was sich doch wirklich anzusehen lohnt – sind die Mädchen dort, oder etwa nicht?«
Er lachte. »Das ist mit ein Grund, warum ich damals in Noumea vor Anker ging. Und was meine Wünsche betrifft, so habe ich dich ja schließlich mitgenommen, um sie mir erfüllen zu können.«
»Es ist also keine Frau. – Was ist es dann?«
»Wenn du mich nicht dauernd unterbrechen würdest, hätte ich es dir schon längst gesagt.«
Sie blitzte ihn an. »Willst du damit sagen, dass ich eine Schwätzerin bin? Gut, ich kann auch anders. Wenn es dir so zuwider ist, meine Stimme zu hören ...« Damit drehte sie sich abrupt um, zog die Beine an, schlang ihre Arme darum, legte den Kopf auf ihre Knie und wandte Ryan Sanders einfach den Rücken zu.
Der Australier lächelte stillvergnügt vor sich hin. Er glaubte Chantelle genau zu kennen. Sie war nicht so, wie ein uneingeweihter Beobachter jetzt vielleicht vermutet hätte. Sie war nicht launisch, nicht aggressiv und nicht hysterisch, sondern völlig unkompliziert und ausgeglichen.
Diese Flachserei aber war typisch für sie und frischte die Stimmung zwischen ihnen immer wieder auf.
Er erzählte von dem Funkspruch, den er aufgefangen hatte.
Chantelle wandte sich ihm wieder zu. »Und was hat das zu bedeuten?«, fragte sie mit ernster Stimme.
»Die ganze Sache hat eine Vorgeschichte«, erklärte Ryan Sanders. »Es ist nicht der erste Fall. In den letzten vier Wochen hat man insgesamt vier herrenlos treibende Segelschiffe oder Jachten gemeldet. In einem Fall fand ein Öltanker ein kieloben treibendes Boot, das völlig unversehrt war. Der Besitzer jedoch war spurlos verschwunden. Bis heute weiß man nichts über sein Schicksal. Das Rätselraten um die anderen herrenlosen Boote geht indessen unvermindert weiter. Und nun trifft es sich, dass ich etwa in dem Bezirk bin, wo man wieder ein herrenloses Segelboot gesehen zu haben glaubt. Ich möchte der Sache auf den Grund gehen!«
Chantelle nickte. »Das verstehe ich. Dein Abenteuerdrang ließ ja noch nie zu wünschen übrig.« Er gab ihr einen Kuss auf die verführerisch schimmernden Lippen.
»Es kann natürlich schiefgehen«, fuhr er fort. Als er den Blick seiner hübschen Begleiterin sah, die mit zusammengekniffenen Augen den strahlendblauen, wolkenlosen Himmel musterte, schüttelte er den Kopf. »Nein, mit dem Wetter hat das nichts zu tun. Ich meine das anders. Die Wetterlage wird sich in den nächsten Tagen wohl nicht ändern. Wir haben ein ausgedehntes Hochdruckgebiet. Ich meinte das in Bezug auf das herrenlose Segelboot. Es ist fraglich, ob ich es finden werde, selbst wenn ich die augenblickliche Geschwindigkeit aufgrund der vorherrschenden Windstärke berücksichtige und damit dem Lauf des Bootes auf der Karte praktisch folgen kann. Der Ozean ist endlos! Es ist selten, dass sich zwei Schiffe begegnen. Und ein Segelboot ist ein winziges Etwas auf den Gewässern, die wir durchkreuzen. Die Discover II hat außerdem kein Funkgerät an Bord. Und selbst wenn sie eines hätte, würde das nicht viel nützen. Ich probiere es.«
Ryan setzte die Segel, war während der nächsten Stunde mehr in der Kabine als auf Deck und studierte eingehend die Seekarte.
Er zeichnete sich genaue Markierungspunkte ein. Knapp zwei Stunden später hatte er alle Vorbereitungen abgeschlossen. Die Orpheus befand sich in voller Fahrt. Eine frische Brise blähte das schneeweiße Toppsegel. Ryan stellte auf automatische Steuerung ein. Nach seiner Berechnung näherte er sich jetzt genau von der Seite her der Discover II.
»Wenn wir in zwei Tagen keinen Segelzipfel der Discover II zu sehen bekommen«, meinte er zur hübschen Französin, »dann drehen wir wieder ab.« Chantelle nickte. »Da die Orpheus mit automatischer Steuerung läuft, hast du eigentlich die Hände frei, dich mit mir zu beschäftigen.«
Sie drängte sich leicht an ihn und ließ ihre Hände durch sein lockiges Haar gleiten. Ryan presste sie an sich, streichelte ihre Schultern, näherte sein gebräuntes Gesicht dem ihren und suchte ihre Lippen.
»Es ist gut, dass irgendwann mal jemand auf die Idee kam, dass Segelschiffe sich auch automatisch steuern lassen«, murmelte Chantelle zufrieden und schnurrte wie eine Katze. Die Halbfranzösin hatte kein Interesse mehr daran, ihr Sonnenbad fortzusetzen. Sie wollte die starken, die bezwingenden Arme Ryan Sanders fühlen.
Langsam löste sie sich von ihm und ließ sich behutsam und raubkatzengleich auf Deck niedergleiten. Ryan folgte der Bewegung des verlockenden Körpers.
»Wenn die Sonne hell und klar scheint, wirkt sich das immer auf mich aus«, wisperte sie kaum hörbar.
»Erstaunlich, wovon der Sex abhängig sein kann«, entgegnete Ryan sachlich. Das waren aber auch seine letzten Worte, denn die Lippen Chantelles verschlossen ihm den Mund.
Manchmal spielt das Schicksal mit den seltsamsten Zufällen. Oft begegnen sich monatelang keine zwei Schiffe auf dem endlosen Ozean, und dann kommt es vor, dass ein Dampfer oder ein Motorboot plötzlich die Bahn eines wagemutigen Seglers kreuzt.
Im Falle Ryan Sanders' kam noch ein bestimmtes Moment hinzu: Aufgrund seiner aufmerksamen Beobachtungen und Berechnungen gelang es ihm tatsächlich, sich der Bahn der Weltumsegler Jack Sullivan und John Henriks zu nähern. Am Morgen des zweiten Tages – der Himmel war nicht mehr so klar, und am fernen Horizont im Osten zogen düstere Wolken auf – glaubte Ryan den Punkt erreicht zu haben, den er berechnet hatte. Wenn die Discover II ihren ursprünglichen, vom Dampfer Kartanaxa festgestellten Kurs beibehalten hatte, dann musste das Boot jener kleine, weiße Fleck sein, der vielleicht noch vier oder fünf Meilen von ihm entfernt war.
Ruhig schaukelte das Schiff auf der kaum bewegten Oberfläche des azurblauen Wassers.
Stolz und Zufriedenheit kennzeichneten Ryans Gesichtsausdruck. Was er selbst kaum für möglich gehalten hatte, war in Erfüllung gegangen.
Er ließ das Schiff nicht mehr aus den Augen.
Nur millimeterweise schienen sie sich auf der spiegelglatten Fläche näherzuschieben. Chantelle stand neben ihm.
Der helle Fleck wurde nur langsam größer. Ryans Berechnungen waren so genau, dass er die Bahn der Discover II schnitt und dadurch wertvolle Zeit gewann, da jegliches Verfolgungsmanöver ausfiel.
»Ich bin gespannt, was wir zu sehen bekommen«, sagte er einmal, ohne sich bewusst zu werden, dass die Worte halblaut über seine Lippen kamen.
Es gibt Schicksale, die ungeheuerlich sind.
Ein solches Schicksal war Ryan Sanders beschieden. Aber er ahnte noch nichts davon. Sonst wäre er auf der Stelle umgekehrt ...
Noch war die See spiegelglatt, als Ryan Sanders neben der Discover II anlegte.
Die dunklen Augen der jungen Frau musterten den Australier. Chantelle fuhr sich durch das dichte, schwarze Haar. »Die Sache ist mir ein bisschen unheimlich, Ryan«, sagte sie. Unruhig blickte sie sich um, als könne ihr die endlose Weite des Meeres eine Antwort geben oder als suche sie dort einen unbekannten Feind, der irgendwo lauerte. »Ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut.«
Ryan Sanders legte den Arm um das Mädchen. »Unsinn«, murmelte er. »Du bist zu sensibel.«
»Ich habe eine feine Antenne für Gefahren«, entgegnete sie. »Und dieses stille Boot hier strahlt etwas aus, das ich förmlich körperlich spüre. Lass uns umkehren, Ryan!«
Der Australier musterte sie wie einen Geist. Wusste Chantelle nicht, was sie da sagte? Da waren sie über zwei Tage lang durch den Atlantik gekreuzt, um sich der Position der Discover II zu nähern, und nun, da sie den Punkt erreicht hatten, sollten sie einfach umkehren? Da war doch kein Sinn mehr in der Sache.
Aus schmalen Augenschlitzen beobachtete Sanders die ferne Wetterfront. Der Umschlag kam überraschend. Aber daran konnte man nichts ändern. Vielleicht war es der dunkle Horizont, der Chantelle ängstigte. Der Australier wusste, dass die Halbfranzösin als Kind einmal mit einem Boot aufs Meer hinausgetrieben worden war. Drei Tage lang hatte man sie gesucht und schließlich völlig erschöpft in einer Bucht gefunden. Das alles lag schon mehr als fünfzehn Jahre zurück. Aber das kleine Mädchen von damals hatte einen Schock davongetragen. Ryan hatte schon des Öfteren festgestellt, dass Chantelle auf See eine eigenartige Unruhe zeigte, sobald sich schlechtes Wetter ankündigte. Und sie atmete hörbar auf, wenn die Orpheus vor Anker ging oder in einen Hafen einlief.
»Ich sehe mir die Discover rasch an, und komme sofort zurück«, sagte er. »Und wegen des Wetters brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Es wird nicht schlimm werden. Es sieht so aus, als ob die Front nach Süden weiterzieht. Wir werden nur die Ausläufer zu spüren bekommen.«
Er griff nach der Kamera, die er in einem wasserdichten Gehäuse transportierte, und sprang dann in die ruhige See.
Sanders hatte die Kamera um den Hals hängen, als er sich an der weißen Bootswandung aus Plastik hochzog.
Aus nächster Nähe warf er einen Blick über das kleine, weniger als sieben Meter lange Boot. An Spezialbefestigungen hingen zahlreiche Trinkwasserbehälter, sie waren in Vertiefungen direkt hinter der Bootswand aufbewahrt. Jeder Zentimeter dieser kleinen schwimmenden Welt war ausgenutzt.
»Hallo? Mr. Sullivan?« Ehe er sich vollends hochzog, rief er lautstark in Richtung Kabine.
Dort rührte sich nichts. Aber man musste ihn doch hören! Es war im Augenblick fast völlig windstill. Die gesetzten Segel der Discover II hingen wie zwei überdimensionale Ballons, denen man die Luft abgezapft hatte, faltig und schlaff am Mast.
Ehe der Australier die Treppen nach unten ging, wandte er sich um und winkte zu Chantelle zurück, die am Mast stand und zu ihm herüberblickte. Die Orpheus hatte nicht ein einziges Segel gesetzt. Im Gegensatz zur Discover II wirkte sie wie ein Koloss mit ihren höheren Aufbauten und ihrer breiteren Bauweise. Dabei war sie aber nur doppelt so lang wie die Discover II.
Chantelle winkte zurück. Aber sie lächelte nicht. Ryan sah es ganz deutlich. Aufmerksam näherte er sich der halbgeöffneten Kabinentür und stieß sie vollends auf. Er prallte zurück, als sein Blick über den Boden streifte. Vor ihm lagen zwei blanke, fein säuberlich abgenagte menschliche Skelette ...
Er brauchte zwei Minuten, um sich von der Verwirrung und dem ersten Schock zu erholen.
Dann bemühte er sich, die Kabine einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen.
Er stieg über die Skelette hinweg. Ein würgendes Gefühl breitete sich in seinem Magen aus und stieg seine Kehle hoch. Er musste sich bemühen, nicht auf den Boden zu blicken. Aber immer wieder geschah es. Die Kabine war zu klein. Selbst wenn er in der winzigen Kochnische stand, nahm er aus den Augenwinkeln heraus die weißen Knochen wahr.
Neben einem schmalen Regalbrett hing ein kleiner Schrank, in dem ausschließlich Wasch- und Rasierzeug untergebracht war. An der Tür des Schränkchens befand sich ein Metallspiegel. Ryan Sanders sah sein Konterfei darin und erschrak vor seinem eigenen Aussehen. Er war aschgrau. Auf seiner Stirn perlte kalter Schweiß. Ihn fröstelte, obwohl in der Kabine eine drückende Hitze herrschte.
Der Australier war nicht leicht umzuwerfen. Aber hier versagte einfach sein Abwehrmechanismus. Das hing damit zusammen, dass diese Szene, die er antraf, jeglicher Beschreibung spottete und allen Gesetzen der Vernunft und der Natur zuwiderzuhandeln schien.
Was war hier geschehen? Diese Frage drängte sich ihm auf. Aber es gab keine Antwort. Sanders schoss mehrere Aufnahmen und nahm die blanken Skelette von allen Seiten auf. Nicht ein einziger Fetzen Fleisch war an den Knochen zurückgeblieben. Alles Gewebe war verschwunden und schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Ryan betrachtete die Lage der beiden Knochengerüste genauer. Die Skelette lagen dicht nebeneinander. Der Arm des einen Seglers – ob es sich dabei um Sullivan oder um seinen Partner Henriks handelte, ließ sich schlecht erkennen – lag um den Hals des anderen, so dass es im ersten Augenblick aussah, als hätte der eine den anderen gewürgt.
Ryan schoss mehrere Aufnahmen nur von diesem Ausschnitt. Die Bilder, die er mit an Land bringen würde, waren eine Sensation. Und sie stellten ein Geheimnis dar. Etwas Ungeheuerliches musste sich an Bord des kleinen Seglers ereignet haben.
Was ihn ebenfalls noch irritierte, war die Tatsache, dass beide Männer noch ihre unversehrten Badehosen trugen. Faltig und schlaff lagen sie zwischen den Knochen und wurden von den abstehenden Hüftgelenken noch gehalten. Kein Verwesungsgeruch füllte die Kabine.
Ryan Sanders hielt sich fast zwanzig Minuten auf der Discover II auf. Er blätterte flüchtig im Logbuch der beiden auf rätselhafte Weise umgekommenen Segler und nahm es dann an sich, um es an Bord seiner Orpheus genauer studieren zu können. Er nahm auch eine große Muschel mit, ein offenbar sehr seltenes und kostbares Exemplar. Er selbst war schon auf vielen Inseln gewesen und besaß eine beachtliche Muschelsammlung aus allen Teilen der Welt. Aber ein solches Exemplar hatte er nie zuvor gesehen.
Das Muschelgehäuse war doppelt so groß wie ein menschlicher Schädel. Es hatte eine grünlich-braune Farbe von eigenwilligem Seidenglanz. Der Hauptteil, flach wie eine Flunder, verjüngte sich und lief zu einer nadelspitzen Spirale aus, die aussah wie gegossenes Kupfer.
Mit der Kamera um den Hals, Muschel und Logbuch in den wasserdichten Beutel zur Kamera verstaut, sprang Ryan ins Wasser.
Das kühle Nass erfrischte ihn. Er versuchte sein Erlebnis zu vergessen, mit dem er konfrontiert worden war.
Doch die Bilder vor seinem geistigen Auge verblassten nicht. Ständig musste er an die Skelette denken, die aussahen, als hätten zahllose Rattenzähne sie bis auf den letzten Fleischrest abgenagt.
Aber hier musste etwas anderes am Werk gewesen sein als Nagetiere.
Außerdem gab es nicht den geringsten Hinweis darauf, dass an Bord der winzigen Discover II, die ein Musterbeispiel an Sauberkeit darstellte, etwa Ungeziefer lebte. Und Ryan hatte schon Leichen gesehen, die von Ratten angefressen waren. Das, was er diesmal entdeckt hatte, unterschied sich von allen seinen Kenntnissen und Erfahrungen.
Wieder an Bord der Orpheus machte er zwar einen ernsten, aber ruhigen Eindruck.
»Nun, wie sieht es drüben aus?« Man hörte der Stimme Chantelles an, dass sie sich wieder wohler fühlte, als Ryan an Bord war.
»Sie sind verschwunden! Keine Spur von Sullivan und Henriks!« Mit keinem Wort erwähnte er, welch schaurigen Fund er in Wirklichkeit gemacht hatte. Ryan Sanders verstaute die Kamera, das Logbuch und die Muschel in seiner Kabine.
Chantelle wich nicht von seiner Seite. Sie begutachtete und bewunderte ebenfalls die Muschel und gab zu erkennen, dass sie ein derart ungewöhnliches und schönes Exemplar nie zuvor gesehen habe.
»Vielleicht steht etwas darüber im Logbuch«, bemerkte der Australier. »Den Fundort eines solchen Seltenheitsexemplars werden sie sicher angegeben haben. Ich bin überhaupt gespannt darauf, was sie in ihrem Logbuch alles niedergeschrieben haben. Wir werden es nachher zusammen lesen. Ziehen wir zuerst die Segel auf, damit wir von hier wegkommen.«
Chantelle, auf einer Insel geboren, von klein auf mit dem Meer und mit Booten vertraut, langte tüchtig zu.
Die schneeweißen Toppsegel der Orpheus blähten sich auf, und das Schiff gewann an Fahrt.
Die Wetterfront näherte sich nur langsam. Der Wind kräuselte die See; kleine Wellen, die schnell und kurz aufeinanderfolgten, wiesen darauf hin, dass das Unwetter hinter ihnen herkam.
Doch noch hatte der Wind nicht gedreht, und über ihnen war der Himmel noch immer blau und wolkenlos. Aber die Hitze flirrte über dem Wasser, die See schien zu dampfen, und man spürte beinahe körperlich die Ruhe vor dem nahenden Sturm.
»Wo mögen sie wohl sein?«, fragte Chantelle unvermittelt und starrte auf das Segelschiff, dem Ryan eben einen Besuch abgestattet hatte. Der Australier war so in Gedanken versunken, dass er im ersten Augenblick gar nicht begriff, wovon Chantelle eigentlich sprach.
Er zuckte die Achseln, als er ihre Blicke auf sich gerichtet sah. Aber er schaute sie nicht an. Seine Augen waren auf das winzige weiße Segelboot Discover II gerichtet das mit automatischer Steuerung seine Geisterreise fortsetzte.
»Ob ein Brecher sie von Bord gespült hat, Ryan?«
»Vielleicht«, murmelte er. Aber er wusste, dass es nicht so war.
Die Discover II hatte ihr Geheimnis nicht preisgegeben ...
»Nutze die letzten Sonnenstrahlen noch aus«, sagte Ryan Sanders unvermittelt. Es fiel ihm schwer, sich so heiter und unbeschwert zu geben wie in den letzten Tagen. Der feinfühligen Chantelle entging das nicht.
»Du hast doch was ...«
Es ist nichts, hatte er sagen wollen. Aber er wusste, dass er seine Begleiterin damit nicht abwimmeln konnte. »Ich muss an das Schicksal der Besatzung denken. So etwas geht einem immer an die Nieren«, murmelte er. »Aber lassen wir dieses Thema jetzt. Wir können nichts an dem ändern, was geschehen ist.«
Er brachte es in der Tat fertig, sie abzulenken. Auf den sauberen Planken des Decks lagen sie nebeneinander. Eine frische Brise blies über sie hinweg und kühlte ihre von der Sonnenbestrahlung erhitzten Körper.
Chantelle und Ryan unterhielten sich leise, tauschten Zärtlichkeiten aus und küssten sich. Chantelle fielen in der Wärme die Augen zu. Arme und Beine von sich gestreckt, ließ sie die Sonnenstrahlen auf sich wirken. Da Ryan wusste, dass das Inselmädchen am liebsten oben ohne sonnenbadete, öffnete er den Verschluss ihres BH. Benommen und schläfrig drehte er die seufzende Chantelle zur Seite, streifte ihr das winzige Kleidungsstück ab und legte es vorsichtig neben sie. Ehe er sich versah, umklammerten die Arme Chantelles seinen Hals und zogen ihn mit sanfter Gewalt nach unten. »Du bist wirklich zärtlich«, murmelte sie mit leiser Stimme. »Aber wenn du das nächste Mal den Verschluss meines BH öffnest, dann zwick mich bitte nicht in die Haut. Das ist dein Schicksal, Ryan.« Sie presste ihren heißen Mund auf seine Lippen und unterdrückte damit jeden Protest.
Eine leichte Dämmerung zeigte sich, als Chantelle endlich eingeschlafen war. Mit offenen Augen lag Sanders neben ihr und starrte sinnend in den Himmel. Eine dünne Wolkendecke zog vom Westen her. Der Wind war während der letzten Stunden nicht stärker geworden. Mit gleichbleibender Fahrt bei leicht bewegter See glitt die Orpheus durch das nasse Element. Bei dieser Windstärke benötigte das Schiff rund vier Tage, um Land zu erreichen.
Leise erhob Ryan Sanders sich. Diesmal bemerkte die Schlafende nicht, wie der Australier sich entfernte. Er suchte die Kabine auf. Die riesige Muschel lag unberührt an dem Fleck, wo er sie hingelegt hatte. Auf seiner Schlafstelle. Daneben das Logbuch.
Ryan knipste die Lampe an. Den Strom hierzu lieferte ein mit Dieselöl getriebener Dynamo.
Hauptsächlich interessierten den jungen Australier die Eintragungen der letzten Tage.
Er hoffte, hier einen Hinweis auf das zu finden, was sich an Bord ereignet hatte. Vielleicht eine Andeutung, Symptome einer unbekannten Krankheit.
Aber nichts dergleichen! Regelmäßige Eintragungen schilderten die Tage auf See – ohne besondere Ereignisse. Weiter zurückblätternd stellte er fest, dass die Zweimann-Crew noch vor einem halben Jahr der Inselwelt von Polynesien und Melanesien einen Besuch abgestattet hatte. Dort hatte Sullivan die ungewöhnliche Muschel gefunden. Irgendwo auf einem nicht näher gekennzeichneten Korallenriff, wo sie einige Tage verbracht hatten.
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel musste das Unheimliche über Sullivan und Henriks hereingebrochen sein.
Die letzte Eintragung war sechs Tage alt. Zu diesem Zeitpunkt lebten Sullivan und sein Partner noch. Eine Weltumseglung hatte ein rätselhaftes, unheimliches Ende gefunden.
Immer wieder machte sich der Australier Gedanken über die Probleme und versuchte, die Fragen zu klären. Hier mussten sich Spezialisten einschalten. Es ging über sein Begriffsvermögen, dass zwei Körper innerhalb von sechs Tagen bis auf den blanken Knochen zerfallen konnten – und nicht das geringste Anzeichen von Verwesung zu erkennen war!
Er öffnete die Kamera, entnahm ihr den Film und drehte die Spule sekundenlang gedankenverloren zwischen den Fingern. Seine Kabine grenzte an eine kleine Dunkelkammer, wo er seine Fotos zu entwickeln und zu bearbeiten pflegte, wenn er längere Zeit auf Reisen war. Es juckte ihn in den Fingern, den Film ins Entwicklungsbad zu stecken, aber dann unterließ er es. Chantelle entging nichts. Sie würde die Bilder zu sehen bekommen. Er konnte es nicht vor ihr verbergen, wenn er in der Dunkelkammer arbeitete. Chantelle war neugierig.
Er verstaute den belichteten Film in einer Lade eines schmalen Einbauschrankes, zwischen Fotopapier und anderen Utensilien. Dann kümmerte er sich ein letztes Mal um die Segel der Orpheus, stellte sie auf automatische Steuerung und suchte abermals seine Kabine auf. Chantelle lag noch immer auf den warmen Planken und schlief. Er selbst war von einer unerklärlichen inneren Unruhe erfüllt, fühlte sich matt und gereizt zugleich. Es schien, als hätte sich mit seiner Rückkehr von der Discover II etwas bei ihm verändert.
Stöhnend warf Ryan sich auf die Liege, rollte sich ruhelos auf die Seite, raschelte dann mit dem Kekspapier herum, führte einen Biskuit zum Mund und knabberte daran.
Seufzend legte der Australier sich zurück. Eine seltsame Mattigkeit erfüllte seine Glieder. Es wurde ihm nicht bewusst, dass ihm die Augen zufielen. Benommenheit und Unruhe mischten sich in seinem aufgepeitschten Bewusstsein. Das sanfte Schaukeln des Bootes auf den Wellen machte ihn schläfrig.
Er wusste nicht, wie lange er so vor sich hindöste, ohne eigentlich einen tiefen Schlaf zu finden. Ein Geräusch schreckte ihn auf. Er öffnete die Augen und erblickte die schattengleiche Gestalt, die sich über ihn beugte.
»Gut geschlafen?«, flüsterte die Stimme des Inselmädchens.
Ryan brauchte einige Minuten, ehe er völlig in die Wirklichkeit zurückfand.
»Ich bin eingenickt. Ich war mit einem Male verdammt müde«, entgegnete er mit spröder Stimme.
Ein angenehmes Dämmerlicht füllte die Kabine.
Die Lampe über dem kleinen Arbeitstisch war ausgeknipst. Ryan konnte sich jedoch nicht daran erinnern, es getan zu haben.
»Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, murmelte der Australier, während er sich auf den Rand der Liege setzte. Chantelle hockte sich sofort auf seinen Schoss, legte den warmen Arm um seine Schultern. »Ich fühle mich, als hätte ich Schwerstarbeit hinter mir.«
»Vielleicht hast du das auch«, antwortete sie sanft. Und er wusste, wie das gemeint war.
Sie hauchte einen Kuss auf seine Lippen und zuckte dann zusammen. »Du hast ja ein ganz heißes Gesicht«, bemerkte sie erschrocken. Ihre Hand fasste auf seine Stirn. »Du hast Fieber!«
»So ähnlich fühle ich mich auch«, sagte er matt. Dabei streichelte er mit den Fingern seiner rechten Hand über ihren bloßen Rücken. Chantelle spannte die Schulterblätter und beugte den Kopf.
»Ah, das ist aber gar nicht angenehm.« Sie wandte sich ab. »Deine Finger fühlen sich auch so komisch an.« Sie drehte das Licht an. Ryan Sanders brachte die Hand nach vorn und streckte sie aus.
Chantelles Augen weiteten sich.
Das Fleisch über den Fingerkuppen der rechten Hand des Australiers war bis auf ein Drittel der Fingerlänge zurückgewichen. Der blanke Knochen, ohne eine Spur von Blut oder einen Geweberest, stach geisterhaft weiß von der noch gesunden Haut ab!
Bis zum Abflug hatte er noch eine Stunde Zeit.
Larry Brent hielt sich mit seinen Eltern in Los Angeles auf. Mr. und Mrs. Brent verbrachten ihren Urlaub in Kalifornien. Ihr Sohn, der sich im Augenblick für einen längeren Zeitraum in den Staaten aufhielt, hatte sie für zwei Tage dort besucht. Ursprünglich hatte Larry auch seine Schwester Miriam mitbringen wollen, die sich nach den Ereignissen in der Nervenheilanstalt von Dr. Aston dank der Hilfe Mark Shellys innerhalb kürzester Zeit von dem Schock und dem hypnotischen Auftrag Draculas erholt hatte.
Leider hatte sie nicht mitkommen können, da der Leiter der Theatergruppe, die seit einigen Monaten mit großem Erfolg am Broadway gastierte, nach dem Ausfall des männlichen Hauptdarstellers auf einen Ersatzmann zurückgegriffen hatte, um weiterarbeiten zu können.
Im Airport-Hotel saß man bei einer Tasse Kaffee und Torte zusammen, plauderte noch immer angeregt und war doch schon ein bisschen traurig darüber, dass der Abschied so nahe war. Zu selten sah man sich. Larry Brent, der erfolgreiche Sohn, hielt sich nur noch an wenigen Tagen im Jahr in den Staaten auf.
Im letzten halben Jahr war dies das erste Mal, dass er wieder amerikanischen Boden unter den Füßen hatte. Und selbst wenn er schon einmal in New York war, dann währte sein Aufenthalt auch oft nur Stunden, weil ein neuer Auftrag ihn an einen fernen Punkt irgendwo in der Welt schickte. Da blieb nicht einmal Zeit für ein Telefongespräch.
Dann kam der Aufruf.
Die Eltern begleiteten Larry noch bis zur Sperre. Ein letztes Winken, dann passierte X-RAY-3 die nachfolgende Halle und begab sich in den Transit-Raum. Wenige Minuten später schon marschierten die Fluggäste zur bereitstehenden Maschine.
Der PSA-Agent lächelte stillvergnügt vor sich hin, als eine junge, braunhäutige Schönheit neben ihm Platz nahm.
»Guten Tag«, sagte er freundlich. Mehr nicht.
Scheu und mit leiser Stimme grüßte sie ihn.
Aus dem Korb neben seinem Sitz zog er die letzte Ausgabe der New York Times, blätterte darin und überflog die Überschriften. Wenn er den Blick ein wenig zur Seite drehte, konnte er die langen braunen, übereinandergeschlagenen Beine wahrnehmen. Der Rock seiner attraktiven, hübschen Nachbarin war so kurz geschnitten, dass es auch nichts mehr nützte, wenn sie mit zarten Fingern den Rocksaum herunterzog. Die Hälfte ihrer wohlgeformten Schenkel lag sowieso frei.
Die Gangway wurde eingezogen, das Flugzeug rollte langsam der Startbahn entgegen, und vor den Passagieren leuchteten die beiden Schildchen auf: Fasten seat belts please – No smoking.
Die Maschine beschleunigte rasch und gewann schnell an Höhe.
Obwohl er die Zeitung las, merkte er, dass seine Nachbarin den Atem anhielt.
»Es ist alles halb so schlimm«, sagte er leise und wandte ihr sein Gesicht zu. »Sie fliegen wohl das erste Mal?« Sie sah trotz ihrer bronzefarbenen Hauttönung ein wenig blass um die Nase aus. Wortlos nickte sie.
Larry wollte das Gespräch weiterspinnen, aber eine Schlagzeile zwischen den Berichten aus aller Welt fesselte minutenlang seine Aufmerksamkeit:
Rätselraten um herrenlose Segelboote!
Der Fall des spurlos verschwundenen englischen Weltumseglers Donald Jonkers ist inzwischen noch rätselhafter geworden. Am Freitagabend gab die britische Schifffahrtsagentur Lloyds bekannt, dass zwischen dem 1. und 9. November noch zwei weitere herrenlos treibende Boote im Atlantik und im Pazifik gemeldet wurden. Am 2. November meldete das britische Motorschiff Hurrikan vor der Küste von Nordwestafrika ein zwanzig Meter langes Boot, das kieloben auf dem Wasser trieb. Am 4. November meldete ein britischer Dampfer im Pazifischen Ozean die Sichtung einer kleinen Jacht, die offenbar mit automatischer Steuerung segelte. Im Cockpit war niemand zu sehen. Am 7. November fischte das Motorboot Polar Star die einmastige schwedische Jacht Solveig aus dem Wasser des Mittelpazifik. Das Boot war herrenlos, aber sonst in tadelloser Ordnung. Ebenfalls vom 7. stammt die Nachricht des englischen Dampfers Kartanaxa, der nur tausend Meilen von der amerikanischen Küste entfernt auf das offenbar mit automatischer Steuerung treibende Segelboot Discover II stieß. Von der Zweimann-Crew Jack Sullivan und John Henriks war nichts zu sehen. Das nur sieben Meter lange Boot befand sich in tadellosem Zustand. Nichts wies auf äußere Beschädigungen hin. Ob es irgendeinen Zusammenhang zwischen den einzelnen Sichtungen gibt, weiß man noch nicht. Experten halten es nicht für möglich. Das Rätselraten wird umso größer, weil Jack Sullivan und John Henriks unmittelbar vor dem Abschluss ihrer Weltumseglung standen. Aufgrund der Position, die die Kartanaxa mitteilte, steht fest, dass in diesem Gebiet während der letzten vierzehn Tage kein schlechtes Wetter herrschte ...
Larrys Lippen wurden zu einem schmalen Strich.
Jack Sullivan verschwunden? Er hatte den wagemutigen Weltumsegler noch verabschiedet.
Sullivan war ein Freund von ihm, gemeinsam hatten sie die Pflichtjahre in der Army in Deutschland verbracht. X-RAY-3 hatte sich zufällig in Italien aufgehalten, als er erfuhr, dass die Discover II von Genua auslaufen sollte. Er war dorthin gefahren und hatte noch ein paar Worte mit Sullivan gesprochen. Das lag schon über zwei Jahre zurück. In der Zwischenzeit hatte er Tonbandbriefe von der Südspitze Afrikas, von Papeete, Moorea, Noumea und den Galapagosinseln erhalten. Wo Sullivan vor Anker gegangen war, hatte er Post aufgegeben und entgegengenommen.
Und diesen Mann sollte es nicht mehr geben?
Larry Brent war minutenlang wie betäubt.
Langsam wandte er den Kopf. Die Maschine lag wie ein Brett in der Luft, die Leuchtschrift vor ihm war erloschen, aber er bemerkte es nicht.
Er wandte seiner dunkelhäutigen Nachbarin den Kopf zu und meinte: »Fliegen ist eine ziemlich sichere Angelegenheit, Miss. Es passieren weitaus mehr Autounfälle ...«
»Und Unfälle mit Segelschiffen«, bekam er merkwürdigerweise zur Antwort. Das Girl hatte von der Seite den Bericht mitgelesen. »Was bewegt Sie eigentlich so sehr dabei?«
Er bewunderte ihre Beobachtungsgabe. »Die beiden Männer von der Discover II kannte ich. Einer von ihnen war mein Freund.« Sie nickte. »Ja, dann verstehe ich Sie. Aber als sie die Reise antraten, mussten sie wissen, was sie da unternahmen.«