Macabros 006: Im Leichenlabyrinth - Dan Shocker - E-Book

Macabros 006: Im Leichenlabyrinth E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Bearbeitete Original Romane Macabros 11 - Im Leichen-Labyrinth Macabros rettet in allerletzter Sekunde der Grafikerin Regina Träser, die das erklärte Opfer des okkulten Fanatikers Hans Leibold ist. Doch er begeht den großen Fehler die verletzte Person zu betreuen. So schafft es Leibold doch noch, einen Unbeteiltigten zu töten, um den einstigen Massenmörder Josef Burger, der sich gerne Herr der Toten nennt, durch dieses Opfer und dessen Blut wiederzuerwecken. Burger hatte im neunzehnten Jahrhundert mehr als achtzig Menschen in der Umgebung von Kumberg/Österreich umgebracht. Allesdings geht Leibolds Rechnung nicht auf: der Herr der Toten erweckt seine alten Opfer und fällt über den Okkultisten her. Dann setzt sich der untote Tross in Marsch, um in der Unterwelt in in das Leichenlabyrinth zu gelangen. Einen Zugang gibt es in einer Höhle in der Nähe des Ortes Krumberg. Eine tückische Falle für die Menschen der Umgebung! Macabros 12 - Molochs Totenkarussel Der CIA-Mann Phil Hunter erlebt während einer komplizierten Herzoperation schreckliches: er landet in einer grausamen Welt, wo er an das Totenkarussell - ein riesiger Totenschädel, an dem seitlich Gebeine wie Windmühlenflügel rotieren und an denen Menschen gebunden sind - gefesselt werden soll. Die Operation gut überstanden, forscht er nach dem möglichen Realitätsgehalt des Geträumten. In der Zwischenzeit wird Björn Hellmark durch den Verleger Richard Patrick auf Phil Hunters Erlebnis aufmerksam gemacht und reist nach Houston/USA. Und tatsächlich findet Hunter eine Spur: die Krankenschwester Janine Thompson, welche als Dämonendienerin in der Vision kräftig aktiv war, scheint ein Geheimnis zu haben. Und der Agent Hunter kommt dahinter, dass er bei seinem letzten Auftrag nicht nur den einfachen Spion namens Serge Pawlowitcz tötete, sondern den Menschenkörper des schwarzen Totenpriester Manko Tarlep! Und dieser will sich nun an der gesamten Familie von Phil Hunter rächen! Kurzbeschreibungen: © www.gruselromane.de

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 6

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-706-1

Dan Shockers Macabros Band 6

IM LEICHENLABYRINTH

Mystery-Thriller

Im Leichenlabyrinth

von

Dan Shocker

Prolog

Er starrte in die magische Kristallkugel. Björn Hellmarks Miene wurde ernst. Aus flatternden Nebelfahnen formten sich Bilder. Er blickte in eine düstere, erschreckende Welt. Eine dunkle Halle breitete sich vor seinen Blicken aus. Gewaltige Säulen wirkten wie ein undurchdringlicher Wald, der sich in der Ferne verlor. Tief und lichtlos wie tintengefärbte Watte war der Himmel.

In der Ferne schimmerte ein heller Fleck, der rasend schnell näherkam.

Ein Schacht! An seinem Ende breitete sich brackiges Wasser aus.

Darin lebte es ...

Menschliche Leiber schwammen darin. Sie waren schwarz wie das Meer; manchmal tauchten sie zwischen hohlen Baumstämmen auf, dann zwischen knorrigen, herumschwimmenden Ästen. Ein Fluss der Unterwelt! Dies war der Hades, das Reich der Toten!

Dort musste er hinabsteigen.

Und er sah sein weiteres Schicksal.

Ein Seil baumelte von der fernen Schachtöffnung herab. Ein Mensch hing daran. Unter ihm der Sumpf und unzählige Hände, die nach dem Menschen griffen, der mit letzter Kraft versuchte, die Schachtöffnung zu erreichen. Er rutschte ab und stürzte auf den Sumpf zu, fing sich noch einmal, doch dies war wohl das Ende.

Die Schachtöffnung glitt über ihm langsam zu und schloss sich wie die Blende einer Kamera.

Die Unterwelt würde ihn niemals wieder freigeben!

Über Björn Hellmarks Gesicht lief der Schweiß, als erlebe er diese Dinge direkt mit.

Die Nebel verwischten sich, neue Bilder erschienen. Er sah fremde Menschen, fremde Städte. Auch dort befand er sich.

Was hatten diese Dinge mit dem Geschehen in der Unterwelt zu tun? Zukünftige Bilder füllten das Innere der geheimnisvollen Kugel, und manche verstand er zu lesen.

Er konnte in dieser Nacht kaum schlafen. Im Morgengrauen verließ er den Luxusbungalow am Genfer See.

Carminia Brado, die gutaussehende, rassige Südamerikanerin, bemerkte nichts von seiner Abfahrt. Erst als sie zum Frühstück herunterkam, fand sie eine kurze Nachricht vor, die ihr sagte, dass sie mit Björn heute nicht mehr rechnen könne.

Er war wie ein Vogel, den ein geheimnisvoller Ruf in eine unbekannte Ferne lockte.

Und diesem Ruf musste er nachgehen, denn er war Björn Hellmark alias Macabros alias der Sohn des Toten Gottes, und sie war eine der Eingeweihten, die wussten, was das bedeutete ...

1. Kapitel

Wie ein Raubtier lauerte er auf sein Opfer. Er wusste, dass es ihm nicht entkommen durfte. Zuviel stand auf dem Spiel. Die entscheidende Nacht war hereingebrochen. Heute musste es sein! Der Mann in der Dunkelheit biss sich auf die Lippen. Leer lag die alte Dorfstraße vor ihm. Es war die Nacht vom 31. Mai zum 1. Juni. Ein denkwürdiges Datum. Wie gebannt blickte der einsame Gast von seinem Versteck aus auf die unter ihm liegende Straße. In einem der Häuser dort brannte noch Licht.

Dort bewegte sich jetzt ein Schatten. Eine menschliche Silhouette stand hinter dem beleuchteten Fenster. Die Umrisse einer jungen Frau. Sie zog etwas über ... einen leichten Mantel ...

Dann verschwand sie aus seinem Blickfeld. Das Licht erlosch. Es war soweit. Hans Leibold fletschte die Zähne, und seine Fäuste öffneten und schlossen sich. Sein Opfer kam. Es ahnte nicht, wozu er es auserwählt hatte.

Regina Tärser verschloss die Haustür hinter sich.

Die Zwanzigjährige hatte den üblichen Abendbesuch bei ihrer kranken Mutter hinter sich, und sie war zufrieden. Mit der Patientin ging es aufwärts. Sie machte schon wieder viel selbst. Eigentlich wäre es heute gar nicht mehr nötig gewesen, nochmals nach dem Rechten zu sehen.

Regina Tärser wohnte am Rand des Dorfes in einem alten Bauernhaus. Das hatte sie nach ihren eigenen Wünschen renoviert. Es war das Haus der Großeltern, das sie übernommen hatte. Viel Geld hatte sie schon hineingesteckt, aber sie bereute keinen Pfennig. Sie liebte es, so zu leben, wie sie wollte. Frei und ungebunden in ihrer Lebensweise und in ihrem Beruf, wirkte sie als Malerin und Grafikerin.

Ihre Arbeiten konnten sich sehen lassen und waren beliebt. Ständig nahm Regina Tärser an Ausstellungen teil. Auch in den nahen Dörfern und Städten verkaufte sie recht gut, und sie war zufrieden.

Fröstelnd zog sie die Schultern hoch. Es war kühl, trotz der Jahreszeit.

Regina lief ein bisschen schneller, als es sonst ihre Art war.

Es war elf Uhr. Sie freute sich darauf, in ihr Haus zurückzukehren. Dort fühlte sie sich wohl. Das Kaminfeuer brannte sicher noch, und sie würde noch mal kräftig nachlegen, um das Feuer richtig zu entfachen. Die Abendstunden waren ihr die liebsten. Sie saß dann träumend am Kamin, blätterte in einem Magazin, las in einem Buch oder machte neue Skizzen für kommende Arbeiten.

Regina Tärser ging die schmale, holprige Gasse hinunter – grobes Kopfsteinpflaster unter den Füßen. Rundum war alles dunkel. Hier gab es nicht einmal eine Laterne.

Verwinkelt standen Häuser und Fachwerkbauten, zum Teil zweihundert Jahre alt. Einige waren erneuert worden, an anderen hätte dringend etwas getan werden müssen, um sie vor dem Zerfall zu bewahren.

Viele alte Menschen lebten darin. Die hatten die Kraft nicht mehr, noch körperlich zu arbeiten. Sie lebten in den Tag hinein. Die Jungen aber verließen das Dorf. Es zog sie in die Stadt. Sie ließen die Alten allein.

Regina Tärser kam durch die Hauptstraße.

Auch hier war alles dunkel.

Die Straße führte bergan.

Drei Kilometer vom eigentlichen Dorfkern entfernt lag das Bauernhaus.

Ihre Schritte hallten durch die Nacht.

Als sie am Dorfwirtshaus vorbeikam, fiel ihr Blick auf die dunklen Fenster. An einem im ersten Stockwerk stand ein Mann und rauchte eine Zigarette.

Regina sah nur die schemenhaften Umrisse des Menschen und das Aufglimmen der Zigarette.

Beiläufig bekam sie mit, dass auf dem Parkplatz vor dem Gasthaus zwei Wagen parkten. Einer mit Frankfurter Kennzeichen, der andere mit einem Berliner Schild.

Die Fremden ließen noch auf sich warten.

In vierzehn Tagen würde es erst richtig losgehen, und im Juli und August waren dann sämtliche Zimmer im Dorfwirtshaus und auch die Privatquartiere belegt. Im Sommer kamen viele Städter hierher in das kleine Dorf an der bayrisch-tschechischen Grenze. Der Strom der Urlauber würde auch wieder manchen Kunden in ihr Atelier bringen. Viele nahmen Grafiken oder Aquarelle mit, hauptsächlich Landschaftsbilder.

Eine Menge Ideen gingen Regina Tärser durch den Kopf, während sie auf dem Weg nach Hause war.

Sie ließ das Dorf hinter sich. Eine schmale, asphaltierte Fahrbahn lag vor ihr, die sie gleich darauf verließ, um einen Weg zu wählen, der durch dichtbewaldetes, hügeliges Gebiet führte.

Hier lebte niemand mehr.

Tintenschwarz war die Umgebung.

Und hier passierte es ...

Der Schatten war plötzlich neben Regina Tärser. Sie fühlte den Luftzug und sah den Arm, der auf sie herabsauste.

Schreiend warf sie sich zur Seite.

Die Klinge blitzte kalt und bedrohlich. Sie fuhr direkt an ihrem Gesicht vorbei.

»Hiiillfeee!« Regina Tärser stieß abwehrend beide Hände nach vorn. Die Hand mit der Tatwaffe flog nach oben. Regina fühlte einen Druck und wurde zurückgeschleudert.

Die Überfallene stürzte.

Sofort war der Täter über ihr.

Diesmal verfehlte die Klinge nicht ihr Ziel.

Hart und schmerzhaft bohrte sich der blitzende Stahl in Reginas Oberarm, und panikartig wurde ihr klar, dass die Spitze mitten in ihrem Kopf gelandet wäre, wenn sie sich nicht so verzweifelt zur Wehr gesetzt und den Kopf herumgeworfen hätte.

Sie setzte ihre ganzen Kräfte ein. Und es sah so aus, als käme der Mörder mit dieser Situation weniger gut zurecht.

Regina Tärser wehrte sich mit der Kraft, die nur die Todesangst verleiht. Sie strampelte mit den Beinen, schrie wie von Sinnen, kämpfte wie eine Löwin und umklammerte den Arm mit der Stichwaffe.

Aber der Gegner war stärker. Nur kurz konnte sie diesem Druck Widerstand leisten. Dann erlahmten ihre Kräfte.

Die Spitze des Messers senkte sich. Die Klinge schwebte dicht vor ihren Augen.

Alles in ihr sträubte sich, und das Grauen schnürte ihr die Kehle zu.

Das war das Ende ...

Der Unheimliche wollte ihr die Augen ausstechen.

Noch einmal konnte sie den Kopf herumwerfen, aber dann hatte der andere die Hand mit der Stichwaffe frei.

Unbarmherzig und wütend stach er zu, wohin er gerade traf.

Ein, zwei, drei Messerstiche. Regina Tärser spürte den fremden Gegenstand wie einen Flammenstrahl, der in ihren Körper drang.

Immer wieder griff sie danach, hielt abwehrend die Hände ausgestreckt und griff in das Messer. Ihre Hände wurden aufgeschnitten, Blut drang aus den Stichwunden in ihren Armen.

Wie durch einen roten, wabernden Nebel sah sie plötzlich eine zweite Gestalt, die sich auf ihren Angreifer stürzte und ihn mit roher Gewalt zurückriss.

Ein Schrei fetzte durch die Nachtluft. Der Messerstecher brüllte.

Ein Zeuge der ruchlosen Tat, die er hatte vollbringen wollen, die er vollbringen musste, um ans Ziel zu kommen. Und nur in dieser Nacht war es möglich ... Oder er musste wieder ein ganzes Jahr lang warten.

Hans Leibolds Augen flackerten.

Mit diesem Gegner musste er fertigwerden. Er warf sich sofort wieder auf den jungen Menschen, der ihm das auserwählte Opfer abspenstig machen wollte.

Der wie aus dem Boden emporgetauchte Gegner achtete nicht auf den Täter; sein Interesse galt dem am Boden liegenden, stöhnenden und blutenden Mädchen.

Der Mann, der Regina Tärsers Retter werden sollte, machte einen großen Fehler.

Wie konnte er nur dem gefährlichen Messerhelden in diesem Augenblick den Rücken zuwenden?

Hans Leibold stach zu.

Die Klinge bohrte sich bis zum Heft genau zwischen die Schulterblätter des mutigen Retters.

Hans Leibold riss die dolchartige Waffe wieder heraus und stach abermals zu.

Es kam kein Blut!

Der Getroffene zuckte nicht einmal zusammen! Er warf sich herum. Seine Rechte knallte wie ein Dreschflegel gegen die Beine des Messerstechers.

Hans Leibold taumelte und kippte um. Der junge Mann mit den stählernen Muskeln schnellte in die Höhe und riss den Stürzenden wieder auf die Beine, ehe er auf dem Boden zu liegen kam.

Hans Leibold merkte, dass er sich alles zu einfach vorgestellt hatte, dass hier etwas geschah, was über die Grenzen seines Begriffsvermögens hinausging.

Er kämpfte mit einem Geist!

Die Naturgesetze hatten keine Bedeutung mehr. Nach den tiefen Wunden im Rücken hätte der Getroffene längst zusammenbrechen müssen.

Er erhielt einen Schlag gegen das Kinn, dass ihm der Kopf in den Nacken flog. Vor seinen Augen begann alles zu kreisen. Sein bleiches, hartes Gesicht mit den schmalen Lippen zeigte mit einem Mal hektische, rote Flecke, als bekäme er einen Ausschlag.

Hans Leibold sah noch ein zweites Mal die Faust seines Gegners emporkommen.

Dann war es aus ...

Der Fremde kümmerte sich um die Verletzte. Regina Tärser merkte, wie sie aufgerichtet wurde.

»Wie geht es Ihnen?«, hörte sie die sympathische Stimme leise.

Sie merkte, wie jemand ihre Hände betupfte, und wollte etwas sagen, aber sie fühlte sich nicht imstande dazu. Regina Tärser stand dicht vor einer Ohnmacht. Nur die Stimme, die sie ständig hörte und die permanent auf sie einredete, riss sie immer wieder in die Wirklichkeit zurück.

»Es ist alles gut ... Sie brauchen keine Angst mehr zu haben! Es ist vorbei ... Sie sind nicht ernsthaft verletzt. Sie haben sich tapfer zur Wehr gesetzt.«

»Vielen Dank«, brachte sie krächzend hervor.

Sie hob den Kopf. Mit verschwommenen Augen registrierte sie ein freundliches Gesicht. Ein junger Mann, ein paar Jahre älter als sie, mit dichtem, blondem Haar und blauen Augen.

»Es ist gut, dass Sie ... dazugekommen sind«, murmelte sie tonlos.

»Ich war zufällig in der Nähe. Ich werde Sie zu einem Arzt bringen.«

Regina Tärser atmete schnell und flach und schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht spiegelte die Anspannung, unter der sie stand, und die Schmerzen, unter denen sie litt.

»Das ist nicht nötig. Ich glaube, ich bin mehr erschrocken.«

Der blonde Fremde schüttelte den Kopf. »Sie haben in das Messer gegriffen. Auch Ihre Unterarme sind zerstochen. Sie bluten stark. Entschuldigen Sie bitte!«

Entschuldigung? Was sollte sie entschuldigen? Dann aber begriff sie, was er damit meinte.

Kraftvoll riss er den Saum ihres Kleides auf und löste ein breites Stück davon ab. Damit band er ihre Arme oberhalb der Stichwunden ab und verband diese auch selbst, um die Blutungen zu stillen.

»Ich werde Ihnen ein neues Kleid kaufen, das verspreche ich Ihnen«, hörte sie wieder seine Stimme.

»Es ist nicht schlimm ... die Hauptsache ist, dass es etwas nützt.« Regina konnte wieder klarer denken. Der Schleier vor ihren Augen löste sich auf.

»Wo finde ich den nächsten Arzt?«

Sie lächelte schmerzlich. »Hier in Kumberg nicht. Im Umkreis von zwanzig Kilometern überhaupt nicht. Dann müssten wir schon nach Grafenau.«

»Okay, gehen wir dorthin. Dort gibt es sogar ein Krankenhaus. Ich bringe Sie in die Ambulanz.«

Ihre Blicke irrten umher. »Der Mann ... Wo ist er?«

»Ich werde mich später um ihn kümmern. Sie gehen jetzt vor.« Er hob sie auf. Leicht wie eine Feder lag sie auf seinen starken Armen.

»Wer sind Sie?«, fragte Regina Tärser matt. Ihre grünen Augen musterten ihn. »Ich heiße Regina.«

»Björn Hellmark«, erwiderte ihr Retter.

Es war nur die halbe Wahrheit, aber es hatte keinen Sinn, Regina Tärser die volle Wahrheit zu sagen. Sie hätte sie nicht begriffen. Nicht Björn Hellmark war es, der wie ein Geist hier erschien, sondern Macabros, der Doppelkörper des Deutschen.

Regina Tärser schüttelte schwach den Kopf. »Bringen Sie mich nach Hause«, bat sie. »Ich fühle mich schon wieder besser.«

Macabros ging in den dunklen Waldweg, der zu dem noch knapp zwei Kilometer entfernt stehenden Bauernhaus führte. »Die Ärzte sollen es entscheiden, Regina.« Er bewunderte die Kondition der charmanten Grafikerin. Der Überfall hatte nicht zu dem gefürchteten Schock geführt.

Regina lag noch immer auf den Armen ihres Retters. Es gab plötzlich einen kleinen Ruck, als würde ein harter Luftzug sie treffen. Sie zuckte zusammen. Träumte sie? Hatte sie geschlafen? Die Umgebung war verändert. Keine Bäume mehr. Nur eine Häuserfront.

»Wo sind wir?«, wunderte sie sich.

»Schon da.« Irritiert blickte sie sich um.

Ein großer Eingang. Links ein schwach beleuchtetes Pförtnerhäuschen, darin ein Mann, der neugierig das eigenartige Paar musterte, das durch die geöffnete Barriere kam.

Weiter vorn parkten zwei Krankenwagen. Der Eingang zur Ambulanz war taghell erleuchtet.

Regina Tärser wunderte sich. »Ich habe gar nicht gemerkt, dass wir gefahren sind«, meinte sie überrascht. Mit weit geöffneten Augen blickte sie sich in der Runde um.

»Sie haben geschlafen wie ein Murmeltier«, meinte Macabros. Er lächelte still vor sich hin. Regina Tärser war noch nicht klar genug, um einen Blick auf ihre Uhr zu werfen. Sie hätte festgestellt, dass seit dem Überfall auf sie gerade drei Minuten vergangen waren.

Und in drei Minuten konnte selbst der schnellste Wagen die dreißig Kilometer lange Strecke von Kumberg nach Grafenau nicht schaffen.

»Warum tun Sie das alles für mich?«, fragte sie leise.

»Hätte ich Ihnen nicht helfen sollen?«, fragte Macabros.

»Aber was hält Sie jetzt noch hier?« Ehe sie weitersprechen konnte, stieß er die Tür zur Ambulanz auf. Regina stand auf ihren eigenen Beinen. Sie fühlte sich kräftig genug, erkannte aber schnell, dass sie sich doch zu viel zugemutet hatte. Sie glaubte, der Boden unter ihren Füßen wanke. Die Luft vor ihren Augen flimmerte. Sie fühlte sich schwach und elend, aber sie wollte es doch nicht eingestehen. Der Mann an ihrer Seite jedoch schien ziemlich genau zu wissen, wie es um sie stand. Er hielt sie fest und sicher am Arm.

»Ich möchte mit Ihnen reden«, erklärte Macabros.

»Reden, worüber?«

»Der Überfall auf Sie, Regina. Der Mann verfolgte etwas ganz Bestimmtes. Ich möchte ein bisschen mehr über Sie wissen, um herauszufinden, warum er gerade Sie auswählte.«

»Auswählte?« Regina Tärser glaubte sich verhört zu haben.

»Er hat Ihnen aufgelauert. Der Überfall ist von langer Hand vorbereitet. Und doch ist etwas schiefgegangen.«

Sie blieb stehen und blickte ihn lange an. Er war einen Kopf größer als sie. Ein gutaussehender Mann, fand sie. Ich werde ihn fragen, ob er mir Modell stehen will, durchzuckte es sie. Sie arbeitete zur Zeit an einer Männergruppe, die in Bronze gegossen werden sollte. Ein sportlicher Typ, so wie er vor ihr stand, fehlte ihr noch. Schmale Hüften, breite Schultern. Sympathisch, nicht arrogant und doch seiner Wirkung auf das weibliche Geschlecht bewusst.

»Es ist schiefgegangen, weil Sie dazugekommen sind, Björn.«

»Wie ist er auf Sie losgegangen?«, wollte er wissen.

Ihre Augen wurden schmal. »Jetzt, da Sie danach fragen, fällt es mir wieder ein«, sagte sie nachdenklich. »Das Messer hat vor meinem Gesicht aufgeblitzt – es wäre doch einfacher gewesen, es mir von hinten in den Rücken oder ins Herz zu stoßen. Wenn es ihm nur darauf angekommen wäre, mich zu töten, dann ... dann wäre es doch so am schnellsten gegangen.«

Macabros nickte. »Ja, das denke ich auch.« Er wollte noch hinzufügen: Der wollte mehr als Ihren Tod. Aber das sagte er nicht, um sie nicht noch stärker zu beunruhigen.

Macabros war jedoch klar, dass er zur rechten Zeit gekommen war, um Unheil abzuwenden, dass das Rätsel aber nicht gelöst war.

Regina Tärser und der Mörder, der seiner Auffassung nach unbedingt dieses Mädchen als Opfer haben wollte, mussten intensiv befragt werden.

Macabros wollte sich auch den Täter vornehmen.

Sobald Regina im Behandlungssaal war, wollte er sich schnell und heimlich absetzen und auf seine eigene Weise nochmals an den Ort des Geschehens zurückkehren, wo er den Messerstecher ins Reich der Träume geschickt hatte.

Er kam früher zu sich als erwartet.

Hans Leibold schüttelte sich wie ein Hund. Sein Schädel dröhnte, und sein Kinn schmerzte.

Benommen tastete er nach seiner Kinnspitze. Die Haut war aufgesprungen. Der Unterkiefer tat ihm weh.

Das lange, dolchartige Messer, mit dem er Regina Tärser aufgelauert hatte, steckte in dem Baumstamm, neben dem er lag.

Hans Leibold rappelte sich auf und presste mehrmals die Augen zusammen. Sein erster Blick fiel auf die Uhr, und ein Schrecken peitschte durch seinen Körper.

Noch eine halbe Stunde bis Mitternacht.

Er hätte es geschafft, wenn dieser seltsame Fremde nicht gekommen wäre.

Wütend blickte er sich um.

Nur ein Gedanke hatte in seinem fiebernden Gehirn Platz: Woher ein Opfer nehmen? Es musste sein, noch in dieser Nacht. Und es musste jung sein.

Nicht älter als fünfundzwanzig.

Er hatte sich alles so einfach vorgestellt.

Nun war er unter Druck geraten.

Taumelnd bewegte er sich durch den Wald. Er kannte sich hier gut aus. Mehr als einmal hatte er in den letzten Wochen hier gestanden. Jeden Handgriff hatte er x-mal gedacht und geübt.

Da hatte alles geklappt. Aber heute ... Er durfte nicht darüber nachdenken. Er wurde wahnsinnig, wenn er sich vorstellte, dass alles umsonst gewesen sein sollte.

Nur diese eine Nacht ... das musste man sich vorstellen! Dann hieß es wieder ein ganzes Jahr lang warten!

Jung und schön musste sie sein und ihr Blut noch frisch und warm. Und das musste er auf den Friedhof bringen. Dann würden die Toten kommen. Es gab eine besondere Stelle auf diesem Friedhof. Er hatte sie ausfindig gemacht, nach langen Jahren intensivster okkulter Forschungen.

Dicht an der bayrisch-tschechischen Grenze lag der Herr der Toten. Vor über hundert Jahren beigesetzt, schwebte über seinem Leben und Sterben ein Fluch und ein Geheimnis, das er selbst nur in Umrissen ahnte.

Als Josef Burger hatte er unter bürgerlichem Namen gelebt. 1869 hatte er hier seine letzte Ruhestätte gefunden. Man sagte ihm nach, dass er zu Lebzeiten mehr als achtzig Männer und Frauen entführt und umgebracht habe. Die Leichen der unglücklichen Opfer waren nie gefunden worden. In einem Zinksarg war Burger in die Erde gesenkt worden. Sein Körper sollte im ersten Jahrhundert nicht mit geweihter Erde in Berührung kommen.

Es gab viele ungeklärte Geheimnisse in Burgers Leben.

Eines war seine Herkunft, ein anderes seine Kenntnisse von höllischen und übernatürlichen Mächten.

Josef Burger konnte man zurückholen!

Sofern man wusste, wie man es anstellte.

Schon immer hatte es Hans Leibold die Totenbesprechung angetan. Zweimal war er erfolgreich gewesen. Doch die aus den Gräbern Zurückgekehrten waren nie lange genug existent in ihrem neuen, unwirklichen Leben gewesen.

Josef Burger musste her. Er, den man den Herrn der Toten nannte. So bezeichnete man ihn auch offiziell in der Chronik, die er studiert hatte. Hing das damit zusammen, dass er so vielen Menschen vermutlich den Tod gebracht hatte, oder hatte diese Bezeichnung noch eine andere Bedeutung?

Leibold hatte Grund zu der Annahme, dass diese Bezeichnung tatsächlich auch noch etwas anderes einschloss.

Er merkte, wie er sich wieder in Gedanken verlor, obwohl es besser war zu handeln.

Aber was blieb ihm jetzt noch zu tun?

Die Zeit rann ihm wie Sand durch die Finger.

Noch dreiundzwanzig Minuten bis Mitternacht!

Alles war vorbereitet. Jedes Detail stimmte. Aber das menschenwarme Blut fehlte.

Woher nehmen? Von welchem Opfer?

Um diese Zeit konnte er keines mehr auftreiben.

Seine Hände zitterten, und sein ganzer Körper glühte wie im Fieber. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er lief auf dem schmalen Pfad weiter. Auf irgendeine Weise geriet er wieder auf die Straße, die genau zur Grenze führte.

Zwanzig vor zwölf!

Jetzt könnte bereits alles über die Bühne gehen.

Rundum war es dunkel.

Hans Leibold stolperte durch die Nacht, dicht am Straßenrand entlang. Der Boden knirschte unter seinen Füßen. In seinem Gesicht zuckte es, und seine Augen spiegelten ein wirres Feuer wider.

Der Gedanke, alle Vorbereitungen umsonst getroffen zu haben, trieb ihn an den Rand des Wahnsinns.

»Narren!«, fluchte er und stieß mit einer heftigen Bewegung einen Stein in den Straßengraben. »Ich werde mich rächen. Ihr werdet büßen für das, was ihr mir angetan habt!« Voller Hass kamen die Worte über seine Lippen. Niemand konnte ahnen, was jetzt in ihm vorging, was er litt. Niemand wusste schließlich auch, was ihm bekannt war.

Da ... ein Lichtschein. Er kam von ganz weit her. Dann hörte er das Geräusch. Ein Motor. Ein Auto näherte sich aus der Finsternis hinter ihm. Hans Leibold schluckte. Er blieb stehen und starrte dem Wagen entgegen. Die Lichter waren noch winzig klein, dann wurden sie größer. Leibolds Herz begann schneller zu schlagen. Er schöpfte Hoffnung. War das seine letzte Chance, achtzehn Minuten vor Mitternacht? Er biss sich auf die Lippen. Mechanisch trat er einen Schritt weiter auf die Fahrbahn, hob dann die Rechte und begann zu winken. Würde der Fahrer anhalten? Wer würde der Fahrer sein? Ein Mann? Eine Frau? Das alles war so wichtig. Unwillkürlich tastete er nach dem Messer unter seiner Jacke, um festzustellen, ob es auch wirklich noch dort war.

Dann war der Wagen heran. Selbst wenn der Fahrer nicht hätte anhalten wollen, er wäre praktisch dazu gezwungen gewesen. Hans Leibold stand mitten auf der schmalen, dunklen Fahrbahn und winkte erregt.

Er sah mitleiderweckend aus.

Die Geschwindigkeit des Autos wurde herabgesetzt.

Noch konnte der Totenbeschwörer nicht erkennen, wer hinter dem Steuer saß. Der Wagen hielt kurz vor ihm.

»Bitte«, sagte Leibold und kam an die Seite, wo der Fahrer saß. Es war ein Mann, ältlich, den Rücken gebeugt. Verdammt! Aber Leibold ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie hier stoppe.«

Ehe er weitersprechen konnte, winkte der Alte schon ab. »Macht nichts. Nehm' Sie gern mit ... Sind Sie zu Fuß unterwegs, oder haben Sie eine Panne?«

»Ich bin zu Fuß unterwegs«, sagte Hans Leibold, als er im Wagen saß und die Tür zuschlug. »Aber das werde ich wohl so schnell nicht wieder tun. Schauen Sie, wie ich aussehe!«

Der Alte hinter dem Steuer musterte ihn genau. Er blickte dazu über den Rand seiner Hornbrille hinweg. »Ein bisschen mitgenommen.«

»Man hat mich niedergeschlagen. Ich bin erst vorhin zu mir gekommen und ziellos im Wald herumgeirrt.«

»Das ist ja grässlich.« Der Mann war noch älter, als es durch die Scheibe zunächst ausgesehen hatte. Sein Gesicht war verschrumpelt wie bei einem Zwerg, Kleine, lebhafte Augen funkelten hinter den Brillengläsern. Graue Stoppeln stachen aus der runzligen Haut.

»Ich muss zur Polizei und den Vorfall melden«, ächzte Hans Leibold. Es fiel ihm nicht einmal schwer, den Lädierten und Niedergeschlagenen zu spielen.

»Na klar, machen wir.«

Der Fahrer gab Gas. Aber der Wagen reagierte nur langsam auf die Benzinspritze. Er rollte schwerfällig an, als habe er ein Tonnengewicht zu tragen.

»Er ist nicht mehr der Jüngste«, sagte der Alte, als müsse er sich für sein Vehikel entschuldigen. »Aber wenn er erst mal richtig rollt, dann marschiert er auch. Besonders den Berg runter.«

Er lachte. Leibold lachte leise mit.

Seine Blicke waren auf den Mann neben ihm gerichtet.

Unruhe erfüllte den Totenbesprecher. Wie in Trance sah er plötzlich nebelumwallte Bilder vor sich.

Er glaubte, auf einem alten Friedhof zu sein. Es war eine finstere Ecke neben einer uralten Buche. Hier gab es kein Kreuz, keinen Grabstein, nichts, was auf eine Grabstätte hingewiesen hätte.

Und doch lagen hier die verblichenen Gebeine eines Menschen.

Hans Leibold sah sich vor dem Fleckchen Erde hocken, die Hände wie ein Magier über die Stelle ausgebreitet, wo die Knochen liegen mussten.

Kleine Pflöcke waren in die Erde gerammt und bildeten ein seltsames, undefinierbares Symbol.

Leibold sah in dem Nebelbild, wie er sich nach vorn beugte. Wie eine Vision lief alles vor ihm ab.

Er hielt seine Hand plötzlich wie eine Kelle. Der Hohlraum war gefüllt mit dampfendem Blut, das langsam durch seine Finger rann und den Boden tränkte.

Der vor der unbekannten Grabstätte Hockende murmelte geheimnisvoll klingende Namen.

Plötzlich riss der Boden auf.

Unter der Erdschicht, die über der Grabstätte lastete, knirschte und rumorte es. Ein breiter Spalt entstand.

Ein Blitz zuckte herab und teilte wie ein Schwert die Luft vor dem Totenbeschwörer.

Der Geruch von Moder und Verwesung mischte sich mit dem süßen, schweren Geruch des Blutes, der über die vergessene Stätte wehte.

Dann kam etwas aus dem Grab hervor.

Eine Gestalt! Düster, verwahrlost, knochig ... In Fetzen hing das Totengewand an dem von Vergänglichkeit gezeichneten Körper.

Ein verklärter Ausdruck lag auf Leibolds Gesicht. Das Blut in seinen Ohren rauschte. Seine Augen glänzten wie im Fieber. Blut, schoss es durch seinen Kopf. Er brauchte Blut.

»Was ist denn los mit Ihnen?«, hörte er wie aus weiter Ferne die Stimme des Alten. »Ist Ihnen nicht gut?«

Leibold begriff kaum den Sinn der Worte.

Blut!

Es musste nicht unbedingt das einer Zwanzigjährigen sein. Hauptsache, es war warm und frisch. Körperwarm.

»Halten Sie ... an ... bitte«, stieß er mühsam zwischen den Zähnen hervor.

Er beugte sich nach vorn, stöhnte und presste die Hände auf den Bauch. Der Alte warf einen schnellen Blick auf den Gast an seiner Seite.

»Moment ...«, sagte er verstört und steuerte weiter an den Straßenrand. Der klapprige Opel kam mit quietschenden Reifen zum Stehen.

»Wenn ich Ihnen helfen kann, mein Herr, bitte sagen Sie es mir und ...« Es waren die letzten Worte des alten Mannes. Ein Blitz schien sein Bewusstsein zu spalten. Dann wurde es um ihn für immer schwarz.

Die Messerspitze drang oberhalb der Nasenwurzel genau zwischen den Augen ins Hirn des Alten und bereitete seinem Leben von einem Atemzug zum anderen ein Ende.

Der Stich muss ins dritte Auge, sagte sich Hans Leibold, als müsse er eine auswendig gelernte Lektion wiederholen.

Jeder hatte das dritte Auge. Bei einigen Tieren konnte man es noch ganz deutlich feststellen. Beim Menschen war im Lauf seiner Entwicklung die Zirbeldrüse daraus erwachsen. In einer fernen Vorzeit jedoch hatte dieses dritte Auge eine wichtige Funktion gehabt.

Aus der tiefen Stichwunde drang nur ein einziger Blutstropfen und eine helle, flüssige Masse: das beschädigte Gehirn.

In zehn Minuten war Mitternacht!

Hans Leibolds Augen befanden sich in ständiger Bewegung. Er handelte wie ein Roboter, zerrte den Leblosen auf die Seite, wo er eben noch gesessen hatte, und nahm selbst den Platz hinter dem Lenkrad ein.

Kumberg lag nur ein paar hundert Meter weit entfernt. Gleich hinter der Ortseinfahrt ging es rechts ab.

Zum Friedhof, stand auf einem verwitterten Schild.

Dorthin fuhr Leibold.

Es ging an zwei uralten Häusern vorbei. Dann folgte ein freier Weg. Gleich darauf erblickte er die Friedhofsmauer. Einige der größten Grabsteine ragten darüber hinaus.

Leibold hielt vor dem schmiedeeisernen Tor. Es war nur angelehnt. Nach Einbruch der Dunkelheit hatte er selbst dafür gesorgt. Nun machten sich die Vorbereitungen bezahlt. Er gewann wertvolle Sekunden.

Obwohl nicht gerade von kräftiger Statur, ging er in die Hocke und warf sich den Toten über die Schulter.

So schnell es ihm möglich war, eilte er mit der Last den düsteren Friedhofsweg entlang zwischen den Kerzen und Grabsteinen.

Der vorbereitete Fleck lag ganz hinten, verdeckt hinter Bäumen und alten, verwitterten Grabsteinen.

Der nächtliche Besucher des Totenackers atmete schnell.

Er ließ die Leiche ab. Auf der ungepflegten Grabstätte vor ihm wuchsen Gräser und Unkraut, Löwenzahn und sogar Klee. In unmittelbarer Nähe dieses verfluchten und vergessenen Platzes lag kein anderes Grab. Das Gras wuchs hoch, und das Unkraut wucherte sogar über den Weg.

Hier kam niemals jemand her.

Leibold vergewisserte sich mit einem schnellen Blick, ob alle Pflöcke, die er am späten Abend nach genau vorgeschriebenem Ritus in den Boden gerammt hatte, noch saßen. Er ging in die Hocke und öffnete mit einem schnellen Schnitt die Halsschlagader des Toten und hielt die Hände darunter, um das herausfließende Blut aufzufangen.

Leibold richtete den Blick gen Himmel.

»Es gibt siebzig mal siebzig höhere Dämonen. Ihnen zur Seite stehen siebzig mal siebzig der niederen. Ihr Herr ist Molochos, darüber nur einer: Satan, in vielerlei Gestalt. Herr und Fürst der Hölle. Ein Diener war Josef Burger. Dich rufe ich. Kannst du mich hören?«

Laut hallte seine Stimme durch die Nacht und verwehte wie ein Windhauch. Das Blut des Alten, das er mit den Händen aufgefangen hatte, rann durch seine Finger und wurde von der Erde aufgenommen. Leibolds Gesicht war weiß wie Kalk.

Er sprach den magischen Vers. »Einst auf der Erde musstest du gehen. Verbannt und gefoltert haben sie dich. Doch – du würdest dich rächen – das hast du versprochen. Ich bereite dir den Weg; Josef Burger, dir, den man den Herrn der Toten genannt. Komm zurück! Erneuere den Fluch, nicht weiter seist du gebannt!«

Er hielt den Atem an.

Ein Geräusch! Aus der Erde? Ja! Es rumorte unter seinen Füßen. Um ihn herum wurde es tiefschwarz, als wäre Satan persönlich anwesend und breite seinen höllischen Mantel über diesen verfluchten Fleck.

Hans Leibold spürte die Angst, die sich in sein Herz schlich.

Jetzt wurde es ernst.

Seine Nackenhaare stellten sich auf, seine Haut zog sich zusammen. Risse zeigten sich im Boden vor ihm. Die blutigen Hände noch über die vergessene Stätte haltend, starrte er auf das Gras. Es bewegte sich.

Leibold wurde es eiskalt, und für den Bruchteil einer Sekunde stieg der Gedanke an Flucht in ihm auf.

Josef Burger hatte den Ruf vernommen. Mit satanischer Gewalt zog es ihn aus der Erde.

Ein Hügel wölbte sich auf, dann platzte der Boden wie die Schale einer überreifen Frucht.

Leibold konnte sich des Grauens kaum erwehren, und doch bannte ihn das Geschehen an die Stelle.

Dies war mehr, als ein Mensch ertragen konnte. Das hätte er nie geglaubt.

Seine Haut wurde eiskalt, sein hageres, spitzes Gesicht schien noch schmaler, noch länger. Höllische Kräfte wurden frei – die Kräfte aus einer anderen Welt. Er hatte sie beschworen. Nun konnte er nicht mehr zurück.

Es war alles ganz anders als damals, als er die beiden anderen aus dem Grab gerufen hatte.

Da waren es frische Leichen gewesen; keine hatte länger als achtundzwanzig Stunden unter der Erde gelegen.

War da auch Angst in ihm aufgestiegen? Er konnte sich nicht daran erinnern.

Die Atmosphäre um ihn herum ... die Beklemmung ... die Tiefe des Himmels, der ihn zu erdrücken drohte.

Dann ragte eine furchtbare Hand aus dem Erdspalt.

Sie war groß und knochig, und Reste alten, schwarzen Fleisches klebten daran.

Mit Macht wurde der Boden zur Seite gedrückt.

Ein Kopf stieg aus der sich öffnenden Erde.

Er sah die mit farblosem Haar bedeckte Schädeldecke. Es fiel lang zu beiden Seiten des Gesichtes herunter. Erde klebte in den Strähnen und auf dem kantigen Knochenschädel.

Dann sah Leibold das Gesicht.

Groß und breitflächig. Doppelt so groß wie das eines normalen Menschen.

Leibold stöhnte, und Zweifel stiegen in ihm auf. Zur Panik wurde dann der Gedanke, dass er einen Fehler gemacht haben könnte. Der Totenbeschwörer hätte am liebsten laut aufgeschrien. Er fühlte sich bedrängt, mit Grauen erfüllt und ahnte, dass er etwas gerufen hatte, das Unheil über ihn bringen konnte. Dennoch vermochte er nicht, sich aus dem Bann zu lösen.

Die Gestalt vor ihm war nun halb aus der Erde gewachsen. Wie ein bizarrer, fremdartiger Pilz erstand sie vor ihm. Die großen, leeren Augenhöhlen waren auf den schreckensbleichen Totenbeschwörer gerichtet. Das graue, verunstaltete Gesicht des wiedererweckten Toten war wie eine furchtbare Dämonenfratze. Angst, Verderben und Hohn glaubte Leibold in den harten Zügen zu lesen.

Die großen, abgenagten Lippen des Toten bewegten sich, und die Kiefer mahlten, dann öffnete sich das grässliche Maul mit den starken, raubtierähnlichen Zähnen.

Das unheimliche Wesen lebte wirklich. Die lederartige Haut, die noch teilweise die Knochen bedeckte, war aufgesprungen und an manchen Stellen so weit zurückgegangen, dass der blanke Knochen völlig freilag.

Die schwarze Mauer um Leibold herum war dichter geworden, und er hatte das Gefühl, unter einer lichtundurchlässigen Glocke zu hocken.

Er nahm die nähere Umgebung nicht mehr wahr.

Die Bäume, die Grabsteine und Kreuze seitlich und hinter ihm wurden durch diese unbarmherzige, bedrohliche Dunkelheit verschluckt.

Auch das war anders.

Der Unheimliche stieg vollends aus dem Grab. Er überragte den Hockenden um mehr als das Doppelte.

Das Blut, hämmerte es in Leibolds Schläfen.

Ich hätte es doch nicht tun sollen. Aber nun gab es kein Zurück mehr. Die Dinge waren in Fluss geraten.