Larry Brent Classic 014: Draculas Höllenfahrt - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 014: Draculas Höllenfahrt E-Book

Dan Shocker

0,0

Beschreibung

Draculas Liebesbiss Ein Unbekannter bricht in den Ladens des alten Antiquitätenhändlers Richmond ein. Es kommt zu einem Mord, doch nichts aus dem Bestand des Ladens scheint zu fehlen. Nichts? Es geht das Gerücht um, der alte Richmond soll den echten Umhang des Grafen Dracula besessen haben. Was niemand weiß, genau dieser schwarze Mantel mit dem roten Seidenfutter wurde aus einer Truhe im Keller entwendet. Ist das, was dann geschieht Vorhersehung, oder purer Zufall? Zwei junge Männer geraten in Streit, einer davon, mit Namen Rope, verletzt sich und sein Blut benetzt den Mantel des Grafen. Ein eingetrockneter Blutfleck auf dem Mantel wird wieder flüssig und vermischt sich mit dem frischen Blut. Allen physikalischen Gesetzen zum Trotz kehrt das Blut in einer rückläufigen Bewegung in die Adern des lebenden Menschen zurück, und Graf Dracula erwacht wieder! Draculas Höllenfahrt Die junge und hübsche Schauspielerin Lilian Bowman macht im Privatsanatorium von Dr. Aston eine unglaubliche Beobachtung. Ihre Zimmernachbarin wird von einem Vampir gebissen und getötet. Von diesem Augenblick an stellt sich Lilians komplettes Leben auf den Kopf. Bei Nacht und Nebel flieht sie, und gerät dabei vom Regen in die Traufe. Als Miriam Brent, die Schwester des PSA Agenten Larry Brent, in das Sanatorium kommt, um Lilian zu besuchen, stellt sie grausige Dinge fest, über die sie jedoch nicht mehr sprechen kann ... Miriam verschwindet, und Larry sucht sie verzweifelt. In Dr. Astons Privatklinik laufen alle Fäden zusammen. Erhielt auch Miriam dort Draculas Liebesbiß?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 313

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 14

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-814-3

Dan Shockers Larry Brent Band 14

DRACULAS HÖLLENFAHRT

Mystery-Thriller

Draculas Liebesbiss

von

Dan Shocker

Prolog

Er wich zurück. Schweiß perlte auf Richmonds weißer Stirn. »Das kannst du nicht tun«, murmelte er. Seine Stimme klang brüchig. Fiebrig glänzten seine Augen. Er wollte schreien, aber es ging nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt.

Der Alte spürte die kahle, kalte Wand im Rücken. Aus, zuckte es durch Richmonds Bewusstsein.

Der düstere Kellerraum wurde mit einem Mal zur Sauna. Die Wände schienen sich ihm zu nähern. Der Schatten schnellte wie ein Raubtier auf ihn zu. Die knochigen Hände legten sich wie Stahlzangen um den Hals des Antiquitätenhändlers.

Wie hypnotisiert ließ Richmond das Verbrechen an sich geschehen. Er war unfähig, auch nur die geringste Abwehrbewegung zu machen.

Seine Lungen schienen zu bersten. Alles um ihn herum drehte sich.

Seine zitternden Lippen wollten noch etwas sagen.

»Es wird dir kein Glück bringen.« Doch nur seine Gedanken hallten wie ein Echo in ihm nach.

Richmond starb. Schwer rutschte sein Körper an der rauen Kellerwand herunter. Mit weitaufgerissenen Augen blieb der alte Antiquitätenhändler genau vor den Füßen seines Mörders liegen ...

Ohne dem Toten noch einen Blick zu gönnen, wandte der Mörder sich ab. Im Lichtkegel der Taschenlampe bewegte er sich auf die Nische zu. Eine alte, schwere Truhe stand darin. Verschlossen.

Doch der Mann besaß den Schlüssel.

Knarrend sprang das Schloss auf. Achtlos und mit zitternden Händen warf der Eindringling es auf die Seite. Sekunden verstrichen. Er lauschte und hörte das Rascheln und Tappen kleiner Füße. Ratten! Sie kamen aus dem Gerümpel hinter Kisten und Kästen hervor. Fett und beinahe so groß wie kleine Katzen.

Wütend schüttelte der Mörder die ekelerregenden Tiere ab, die keine Furcht zu kennen schienen und die das Blut an seinen aufgekratzten Händen witterten.

Der schwere Deckel der Truhe schwang zurück. Eine weiße, knochige Hand griff in das Innere des dunklen Behälters, fühlte den seidenen Stoff und zog ihn hervor. Mit großen, vor Freude und Erstaunen aufgerissenen Augen betrachtete Richmonds Mörder das Kleidungsstück, zerrte es dann mit einem einzigen Ruck heraus. Es war ein schwarzer, gut erhaltener Umhang, mit roter Seide gefüttert. Zitternde Hände fuhren über den Stoff, glätteten ihn, suchten etwas Bestimmtes und fanden es.

Ein großes, verschnörkeltes, goldenes D ...

Er hatte gefunden, was er suchte.

Wütend stieß der Mörder zwei, drei Ratten zur Seite, die sich an seinen Fußgelenken festgebissen hatten.

Eilig verließ er den düsteren Kellerraum, den unheimlichen Fund, den er gemacht hatte, unter dem Arm.

Als am nächsten Tag der alte Laden geschlossen blieb, fiel das zunächst niemandem auf.

Die Nachbarn waren es gewohnt, dass Mister Richmond oft tagelang nicht öffnete. Er war dann meistens unterwegs, um irgendwelchen Trödelkram – Kitsch und Antiquitäten zu erstehen. Trotz seines hohen Alters war er oft von London weg. Und da Richmond auch sehr wenig Kontakt zu der dünn gesäten Nachbarschaft unterhielt, fiel es nicht auf, ob er drei oder vier, zehn oder zwölf Tage seinen Laden nicht öffnete.

Stammkundschaft gab es in diesem Sinne nicht. Meistens verirrte sich irgendein Londonbummler, der durch die Kings Road schlenderte, in diese finstere, öde Seitengasse und stieß auf das alte, vergammelte Geschäft, das in einem dreckigen, ehemaligen Lagerhaus einer Whiskyfirma untergebracht war.

In dem vom Zahn der Zeit angenagten Haus lebte außer Richmond niemand. Selbst die Whiskyfirma kümmerte sich nicht mehr um die Kistenstapel in den Räumen. Das Haus war zum Abbruch bestimmt. Die Leute, die in den kommenden zwei Tagen versuchten, das Geschäft zu betreten, mussten unverrichteter Dinge wieder umkehren. Die Tür war verschlossen, seit jener Nacht, in der Albert Richmond seinen geheimnisvollen Besucher empfangen hatte ...

Am vierten Tag nach dem Mord in dem alten, stillen Haus näherte sich eine junge Frau dem Antiquitätenladen.

Es war Susan Hayworth. Sie lebte seit über einem Jahr in einem kleinen Ort außerhalb Londons, der etwa dreißig Meilen von der Metropole entfernt lag. Einmal im Monat kam Susan nach London, und sie ließ es sich nicht nehmen, dann dem alten Richmond einen Besuch abzustatten.

Susan war dreiundzwanzig Jahre alt. Genauso alt wie Ann Richmond, die Enkelin des Antiquitätenhändlers. Doch Ann Richmond lebte nicht mehr. Bei einem Hotelbrand vor vier Jahren war die Familie Albert Richmonds ums Leben gekommen.

Der Verlust hatte den alten Richmond schwer getroffen, und er war lange Zeit nicht darüber hinweggekommen. In dieser Zeit hatte Susan noch in London gelebt, und ihre ständigen Besuche hatten dem alten Mann dann doch geholfen.

Die junge Frau wollte durch den Laden in die Wohnung gehen. Doch die Tür war verschlossen. Verwundert zog Susan die Brauen hoch. Sie war es gewohnt, dass am Freitag immer geöffnet war. Zum Wochenende hielt sich Richmond nie außerhalb Londons auf. Außerdem wusste er, dass am ersten Freitag eines Monats Susan zu ihm kam.

Das Mädchen ging um das Haus herum. Dunkel und lichtlos war der Hinterhof. In Bodenmulden standen schmutzige Pfützen. Auch der Hintereingang war verschlossen.

Susan Hayworths Stirn war in unmutige Falten gelegt. Sie klopfte mehrmals an die verwitterte Holztür, in der es nur ein winziges Fenster gab.

»Mister Richmond? Mister Richmond!«, rief sie.

Aber niemand öffnete oder antwortete.

Da ging sie in das Nachbarhaus.

Sie klingelte bei Tonlup. Ein älterer Mann öffnete. Über Brillengläser hinweg musterte er die junge Besucherin.

»Hat Mister Richmond bei Ihnen vielleicht eine Nachricht hinterlassen, Mister Tonlup? Er ist nicht zu Hause.«

Der Gefragte schüttelte den Kopf. »Mister Richmond hat nichts hinterlassen, nein. Ich habe ihn die letzten Tage auch nicht gesehen. Vielleicht ist er wieder unterwegs.«

Über die Schultern des Mannes hinweg starrte sie durch den schmalen Flur, durch ein kleines Fenster, dessen Blick genau zum Hof führte. Unten, vor einer Mauer, stand unter einem von vier Pfosten abgestützten Wellblechdach ein alter grauer Lieferwagen, übersät mit Rostflecken.

»Sein Wagen ist da«, bemerkte sie leise.

Mister Tonlup blickte sich um und rückte seine Brille zurecht. »Ja, das stimmt. Das habe ich noch gar nicht bemerkt. Wenn man Tag für Tag aus dem Fenster guckt und immer dasselbe Bild sieht, dann merkt man gar nicht mehr, wenn sich etwas verändert. Wenn der Wagen da steht, dann müsste auch Mister Richmond zu Hause sein. Vielleicht macht er auch nur kurz ein paar Besorgungen ...«

Daran hatte sie auch schon gedacht. Aber je länger sie wartete, desto unwahrscheinlicher kam ihr das vor.

Sie glaubte nicht daran, dass Richmond ihren Besuch vergessen hatte. Er freute sich jedes Mal auf diesen ersten Freitag im Monat, denn er konnte mit jemandem über Anns Kindheit plaudern, der sie gekannt hatte und mit ihr groß geworden war. Selbst wenn er plötzlich hätte verreisen müssen, wäre er sicher auf die Idee gekommen, eine schriftliche Notiz an die Tür zu heften.

Susan Hayworth fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. War etwas passiert? Albert Richmond war zweiundsiebzig. Obwohl man ihm sein Alter nicht ansah, musste man auf alles gefasst sein ...

Zur Lunchzeit, als sich noch immer nichts tat, beschloss Susan, die Polizei zu verständigen. Zwei Beamte und ein Schlosser trafen bereits eine Viertelstunde später ein. Susan Hayworth äußerte ihre Befürchtungen, stellte fest, dass dies ungewöhnlich war, und bat darum, dass man die Tür zur Wohnung des Antiquitätenhändlers mit Gewalt aufbrach.

Die Polizisten waren damit einverstanden, nachdem auch auf ihr Klopfen und Klingeln niemand öffnete.

Durch die Hintertür drangen sie in die Wohnung ein. Schlechte, verbrauchte Luft schlug ihnen entgegen. Hier war tagelang nicht gelüftet worden. Die Unruhe in Susan Hayworth nahm zu, als sie einen Blick in die Küche warf. Übelriechende Reste des Abendbrotes lagen noch auf dem Tisch. Auf die offenstehende Wurst hatten Fliegen ihre Eier gelegt.

Susan biss sich auf die Lippen, als sie das Küchenfenster öffnete, um frische Luft hereinzulassen. Die junge Besucherin fürchtete das Schlimmste, als die Tür zum Schlafzimmer geöffnet wurde. Vielleicht war es Richmond schlecht geworden, er hatte sich hingelegt und war nicht wieder aufgewacht ...

Doch im Schlafzimmer befand sich niemand. Das Bett war unberührt.

Während einer der Beamten das obere Stockwerk durchsuchte, ging der andere in den Keller. Susan Hayworth folgte ihm.

Die Kellertür stand offen. Geräusche aus der Finsternis. Quieken ...

Der Polizist drückte auf einen Schalter. Aber nirgends ging Licht an.

»Wahrscheinlich ist die Birne kaputt.«

Er leuchtete mit der Taschenlampe die Stufen vor sich aus. Alte, ausgetretene Stufen. Schmutzig. Durch ein winziges, vergittertes Kellerfenster fiel graues, verwaschenes Tageslicht.

Kälte, modrige Luft ... Susan fröstelte. Mit unruhigen Augen blickte sie sich um. Es folgte eine Gangbiegung nach links. Dann ein Kellerraum, in dem sich Kästen und anderer Unrat, alte Schuhe, Kleider, Fahrradgestelle, ein wurmzerfressener Schrank und zahllose Bilder stapelten ... Links eine kahle Kellerwand. Ein Gewimmel von Ratten ... Unter dem Berg der ekelerregenden Tiere sah man ein Paar Schuhe, ein Stück von einem Hosenbein.

Susan Hayworth schrie gellend auf, dass es schaurig durch das stille Haus hallte ...

1. Kapitel

Inspektor Tack von Scotland Yard wusste genau drei Stunden später, dass es in der Wohnung des Antiquitätenhändlers Albert Richmond nicht zu einem grausigen Unglücksfall gekommen war. Im ersten flüchtigen Augenblick hätte man glauben können, dass Richmond im Keller von den zahlreichen Ratten angefallen wurde und keine Kraft mehr fand, sich zu erheben. An zahlreichen Stellen war sein Körper bis auf den blanken Knochen abgenagt. Aber die modernen Methoden des Spurensicherungsdienstes hatten deutlich die Würgemale am geschwollenen, blau angelaufenen Hals festgestellt. Verdächtig waren auch die Schürfstellen am Rücken. Deutlich hatte man rekonstruieren können, dass Richmond vor seinem Tod noch vor der Wand gestanden haben musste. Die Spuren auf dem rauen Putz deckten sich genau mit denen auf dem Rücken Richmonds. Jemand hatte den alten Mann mit aller Kraft gegen die Wand gedrückt. Weitere Hinweise auf den Mörder gab es nicht.

Äußerst nachdenklich klappte Tack den Aktendeckel zu. Lange Erfahrung und ein gewisses Maß an Einfühlungsvermögen gaben ihm die Gewissheit, dass sich hier etwas Ungewöhnliches anbahnte.

Ein alter, alleinstehender Mann wurde ermordet. Weshalb? Er sah den Grund nicht. Richmond hatte unter armseligen Umständen gelebt. Mit Sicherheit stand fest, dass Richmond auch keine verborgenen Reichtümer besaß. Aber gerade dieser letzte Gedanke ließ Tack nicht los. Stand das wirklich hundertprozentig fest? Was wusste man wirklich über den Alten? Nicht viel. Zu gern hätte er noch einmal Susan Hayworth gehört, die als einzige etwas über das Leben, über die Gewohnheiten Albert Richmonds zu sagen gewusst hätte. Aber Susan Hayworth lag zu dieser Stunde noch im Krankenhaus. Der Arzt hatte strengste Ruhe verordnet. Das Erlebnis im Haus des Antiquitätenhändlers hatte die junge Engländerin so stark schockiert, dass eine Stunde nach der furchtbaren Entdeckung ein Nervenfieber ausbrach.

Am späten Nachmittag verließ Inspektor Tack sein Büro. Er wollte noch einmal an Ort und Stelle einen Blick riskieren. Verschiedene Dinge passten einfach nicht zusammen. Und wenn er allein war, dann kamen ihm stets die besten Ideen ...

Nicht umsonst sagte man gerade seinem Talent eine hohe Aufklärungsquote innerhalb von Scotland Yard zu.

Der Nachmittag war grau. Eine dichte Wolkendecke lag über der Stadt. Hin und wieder regnete es. Der Verkehr floss nur zäh durch die Straßen, und dieser Zustand wurde umso schlimmer, je dämmriger es wurde. Der Nebel verdichtete sich, und die Abgase der Autos vergifteten die Luft.

Als Tack den Buckingham Palast passierte, konnte er das große Gebäude hinter den Gittern kaum wahrnehmen. Nur verwaschene Lichtflecken wiesen darauf hin, dass dort Menschen wohnten.

Er fuhr fast bis zum Ende der Kings Road und bog dann in eine Gasse ein. Die Gegend war trist und menschenleer. In klotzigen Häusern brannten kaum erkennbare Lichter.

Tack stellte seinen Wagen etwa fünfzig Meter von dem Haus entfernt ab, wo Richmonds Lager war. Zu Fuß näherte er sich dann dem Eckhaus, das wie ein Requisit aus einer längst vergessenen Zeit wirkte. Die Fenster in den oberen Stockwerken waren entweder mit Brettern vernagelt oder zugemauert. Der Eingang, trübes, verschmiertes Glas in der Tür, war genau von der Straßenecke her zu erreichen. Links und rechts zwei große Schaufenster. Darin alte Möbel, Kitsch und billiger Trödel, ein Ölgemälde in düsteren Farben und einem schweren Rahmen.

Inspektor Tack ging um das Haus herum. Er beachtete den Weg, den er ging, ganz genau, blieb hin und wieder stehen und warf einen Blick in die Runde. Drüben auf der anderen Straßenseite ein altes, hohes Mietshaus, kaum wahrnehmbar im Nebel, der zusehends dichter wurde. Tack schlug den Mantelkragen hoch. Es war unangenehm kühl.

Er schritt in den Hinterhof und passierte einen Torbogen, der den Eindruck erweckte, als würde er jeden Augenblick einstürzen. Schwarz und streifig die getünchte Decke. An den dunkel verrußten Wänden klebten zerfetzte Plakate, und mit Ölfarbe und Kreide geschriebene Schmierereien weckten das Interesse des Vorübergehenden.

Zwei Minuten später stand der Inspektor vor dem Hintereingang. Auch hier klebte wie am Ladeneingang – das Siegel. Er löste es und steckte den Schlüssel in das Schlüsselloch. Als der Riegel knarrte, sagte eine Stimme hinter Tack:

»Dann hat sich das Warten doch gelohnt.« Unter anderen Umständen wäre der Inspektor wie ein Wiesel herumgeschnellt. Aber betont langsam wandte er sich um. Er hatte die Stimme sofort erkannt.

»Callaghan«, sagte er vorwurfsvoll, und schob den Hut ein wenig aus der Stirn. »Es hätte mich auch gewundert, wenn Sie in dem Film keine Rolle spielten ...«

Tack starrte auf die skelettdürre Gestalt. Robert Callaghan grinste. Der viel zu lange Schnurrbart in seinem hageren, sommersprossigen Gesicht verlieh ihm ein skurriles Aussehen. Dünne, rotblonde Haare lagen auf dem knochigen Schädel.

»Ich bin den ganzen Nachmittag schon wie eine Katze um den heißen Breiherumgelaufen, in der Erwartung, dass Sie noch auftauchen. Als ich den Polizeibericht las, war mir klar, dass es mit dem Tod Albert Richmonds etwas Besonderes auf sich haben müsste. Und Ihr Erscheinen gibt mir recht. Ich hätte die lange Wartezeit abkürzen können. Ein Polizeisiegel von der Tür zu lösen, bereitet schließlich keine großen Schwierigkeiten ... aber dann habe ich es mir doch anders überlegt und Ihre Ankunft abgewartet.«

»Das war vielleicht ganz gut so. Die Torheit mit dem Siegellösen wäre Ihnen wohl schlecht bekommen.« Tack schüttelte den Kopf und fingerte nach einer Zigarettenschachtel in seiner Brusttasche. Die Tür hinter ihm war spaltbreit geöffnet. Tack machte keine Anstalten, einzutreten.

»So lassen Sie uns doch hineingehen«, meinte Callaghan jovial. »Hier draußen ist es verdammt kalt.« Als müsse er dies unterstreichen, hauchte er seine erstarrten Hände an.

»Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag, Callaghan«, entgegnete Tack mit ruhiger Stimme. »Fahren Sie zurück! In Ihrer Wohnung ist bestimmt gut eingeheizt. Es ist kaum anzunehmen, dass bei Richmond eine angenehme Temperatur herrscht. Also, gehen Sie lieber wieder nach Hause!«

»Ich wollte Ihnen gerade ein Geschäft vorschlagen, Inspektor ...«

»Sieh einer an! Mit der Schreiberei allein ist wohl nicht mehr viel zu verdienen? Ich habe Sie noch nie für einen guten Journalisten gehalten, aber für einen tüchtigen.«

»Danke für die Blumen, Tack!« Callaghan kam einen Schritt näher. Seine blauen, ziemlich hellen Augen waren zu einem schmalen Spalt zusammengepresst.

»Wir sind beide aus demselben Grund hier. Sie haben einen Verdacht, und ich will mir eine Bestätigung holen. Wir könnten uns beide ergänzen, glaube ich.«

Tack, der erfahrene Fuchs, ließ sich nicht anmerken, dass die Worte Callaghans ihn doch etwas überraschten.

»Ich bin erstaunt, dass Sie den Tod eines einfachen Mannes mit einem Geheimnis umgeben.«

»Wenn der Tod so normal wäre, Tack, dann würden Sie jetzt nicht hierherkommen, um die Dinge noch mal unter die Lupe zu nehmen.«

»Was wissen Sie über Richmonds Ableben?« Tacks Stimme wurde um eine Nuance schärfer.

»Nicht mehr und nicht weniger als Sie. Vielleicht aber weiß ich etwas über das Motiv, das seinen Tod herbeigeführt haben könnte. Ob es so ist, wird sich herausstellen, wenn ich Gelegenheit habe, einen Blick in die Wohnung zu werfen.«

Tack drückte die Tür auf. Mit einem stillen Wink gab er dem Journalisten zu verstehen, einzutreten.

»Danke für die Einladung«, grinste Callaghan. Er klatschte sich die Feuchtigkeit vom Trenchcoat. »Ich habe doch gewusst, dass Sie kein Unmensch sind und mich draußen stehen lassen. Es soll nicht zu Ihrem Schaden sein, Tack ...«

Der Inspektor ließ den Journalisten nicht aus den Augen. »Sie sind sich Ihrer Sache verdammt sicher, Callaghan«, murmelte er.

Robert Callaghan sah sich interessiert um. »Überall gibt es hier viel zu sehen. Kunst, Kitsch, keine riesigen Werte, die Richmond aus allen Teilen der Stadt, mehr oder weniger weit entfernt, zusammengeholt hat – und doch vielleicht interessant genug, um einen Besessenen dazu zu bringen, Richmond zu ermorden.«

»Wegen des Plunders?« Tack machte eine umfassende Handbewegung.

»Nichts lässt darauf schließen, dass etwas fehlt. Allerdings lässt sich das natürlich in der Kürze der Zeit, die uns bisher zur Verfügung stand, nicht eindeutig klären. Es gibt niemand, der genau weiß, welche Dinge es hier gab. Und Richmond selbst scheint nicht Buch geführt zu haben. Unsere ersten Recherchen haben jedoch ergeben, dass offenbar nichts mit Gewalt von hier weggeschafft wurde. Das hätte ein Dieb auch einfacher haben können.«

Callaghan nickte zu den Worten Tacks. »Das ist richtig. Von Ihrer Sicht aus, Inspektor. Aber wenn es wirklich etwas gab, das jemand besitzen wollte und das er nur bekommen konnte, wenn er Richmond ausschaltete?«

»Was wissen Sie, Callaghan?«

»Sie werden es nicht glauben, wenn ich es sage, Tack. Aber ich weiß, dass es stimmt! Richmond selbst hat es mir bestätigt.«

»Bei Ihnen überrascht mich nichts mehr. Sie kannten den Antiquitätenhändler?«

»Flüchtig. Ich war vor drei Wochen zum ersten Mal hier. Danach noch zwei oder drei Mal. Aber er hat es mir nicht gezeigt. Er hat gesagt, dass es niemand zu sehen bekäme.«

»Was durfte niemand zu sehen bekommen? Was hat er Ihnen nicht gezeigt?«

»Ein Kleidungsstück.«

»Ein Kleidungsstück?«, echote Tack. Er hatte das Gefühl, es mit einem Schwachsinnigen zu tun zu haben.

»Ein sehr altes sogar.«

»Etwas anderes habe ich hier in dieser Umgebung auch nicht erwartet«, entgegnete Tack bissig. »Schließlich handelte Richmond nicht mit neuen Sachen.«

»Es war etwas Besonderes! Und obwohl Richmond behauptete, nur sehr wenige wüssten, dass er es besäße, muss er es einem offenbar besonders Hartnäckigen gezeigt haben.«

»Wovon reden Sie, Mann?«

»Von dem Kleidungsstück, das angeblich Graf Dracula gehört hat!«

Tack nahm die Zigarette aus dem Mund, als wäre sie zentnerschwer.

»Das müssen Sie mir genauer erzählen«, kam es leise über seine Lippen.

»Ich weiß nicht alles«, wich Callaghan aus. »Ich komme zwar viel herum, kenne eine Menge Leute, aber hier bin auch ich auf eine Mauer gestoßen. In einem Pub hörte ich zum ersten Mal von Richmonds Besitz. Ich weiß heute nicht mehr, wer davon erzählte, nur, dass wir ordentlich einen tranken und danach noch in eine Bar irgendwo in Soho gingen. Dieser ganze Abend ist mir nicht mehr so genau in Erinnerung. Wir haben verdammt viel getrunken. Ich konnte mich später nur noch daran erinnern, dass jemand etwas von einem Umhang erwähnt hatte, der dem Fürsten der Finsternis, dem König der Vampire gehört haben soll. An der Echtheit des Stückes gäbe es nicht den geringsten Zweifel. Und ich hatte den Namen Richmond noch im Gedächtnis und wusste, dass er Antiquitäten verkaufte. Ich fand den Laden, und ich lernte Richmond kennen. Ich wollte dem Gerücht auf die Spur kommen. Ich war mehr als überrascht, als mir Richmond persönlich bestätigte, was ich erfahren hatte: Der Umhang des echten Grafen Dracula befände sich in seinem Besitz. Er hatte ihn vor Jahren von einer Zigeunerin gekauft, die einen Sack voll alter Kleider und Lumpen bei ihm zu Geld gemacht hätte. In dem Sack wäre dieser erstaunlich gute Umhang gewesen.«

Tack presste die Lippen zusammen. Er hatte das Gefühl, zu träumen. »Und wo soll sich hier im Haus der geheimnisvolle Umhang befunden haben?«

Des Inspektors Stimme war wie ein Hauch.

»Als ich im Polizeibericht las, dass Richmond tot in seinem Keller gefunden wurde, bestätigte sich abermals, dass an der Geschichte etwas Wahres sein muss. Der Umhang soll in einer alten Truhe verschlossen aufbewahrt worden sein.«

Tack heftete seinen Blick auf Callaghan. »Für jemand, der nie seinen Fuß weiter in dieses Haus gesetzt hat als bis vorn ins Geschäft, sind Sie erstaunlich gut unterrichtet! Im Keller steht in der Tat eine alte Truhe. Aber sie ist leer.«

Sie gingen nach unten und warfen einen Blick in die Truhe. Auf dem kahlen, schmutzigen Boden war mit Kreide noch die Stellung eingezeichnet, in der man den toten Albert Richmond gefunden hatte.

»Hier lag das Schloss«, sagte Tack mit rauer Stimme und wies auf eine Stelle etwa einen halben Meter von der Truhe entfernt. »Wir schenkten diesen Dingen keine besondere Beachtung. Sie erschienen uns bedeutungslos, da uns Richmonds Armut bekannt war. Der Deckel der Truhe stand offen ...« Jetzt war er wieder geschlossen. Tack klappte ihn zurück. »Wer immer auch hier gewesen ist: Er muss den Schlüssel besessen haben! Entweder ging Richmond mit seinem Mörder hier herunter, oder der Unbekannte überraschte ihn hier und nahm ihm den Schlüssel ab.«

Der Inspektor stieß die Ratten zur Seite, die sich aus dem Berg von Unrat und Altpapier den beiden Menschen näherten. Sie zeigten nicht die geringste Scheu. »Verdammtes Viehzeug«, knurrte der Beamte von Scotland Yard.

Callaghan schien diese Dinge gar nicht mitzubekommen. Er stand vor der Truhe und starrte in das dunkle Innere. Der Gedanke, dass hier ein rätselhaftes und unter Umständen gefährliches Requisit aus einer fernen Zeit gelegen hatte, ergriff beinahe übermächtig von ihm Besitz.

Die Stimme Tacks riss ihn in die Wirklichkeit zurück.

»... eines verstehe ich nicht, Callaghan: Es ist doch kaum anzunehmen, dass Sie hier auf mich warteten, nur um sich zu vergewissern, ob der Umhang des legendären Grafen Dracula noch vorhanden ist oder nicht? Was hätten Sie davon?«

Die Blicke der beiden Männer trafen sich.

»Mein Hiersein hat noch einen anderen Grund«, entgegnete der Journalist mit dumpfer Stimme. In der Dämmerung leuchtete sein Gesicht weiß wie eine Mondscheibe. »Ich weiß, dass Richmond Tagebuch über die Kunden führte, die sich speziell für den Umhang interessierten.«

Tacks Lippen wurden hart. »Gibt es eigentlich etwas, das Sie mal nicht wissen, Callaghan?«

Der Gefragte grinste. »Das bringt mein Beruf eben so mit sich, Inspektor. Mehr noch als der Ihre. Und ich habe zudem den Vorteil, mich nicht an Dienstvorschriften halten zu müssen. Haben Sie bei Ihren Recherchen ein solches Buch gefunden, Tack?«

»Nein. Außerdem muss ich hinzufügen, dass die Untersuchungen hier im Haus noch nicht abgeschlossen sind.«

»Dann sollten wir das Versäumte schnellstens nachholen. Je rascher wir auf einen Hinweis stoßen, desto besser.« Tack begriff die letzten Worte des Journalisten nicht. »Wie meinen Sie das, Callaghan?«

Der Zeitungsmann trat einen Schritt vor. Quiekend huschte eine Ratte zwischen seinen Füßen davon und verschwand raschelnd unter einem Berg von Kisten. »Seit ich weiß, dass Richmond ein Originalkleidungsstück Draculas in seinem Besitz hatte, habe ich mich eingehend mit der einschlägigen Literatur, die dieses Phänomen behandelt, beschäftigt. Ich bin auf Dinge gestoßen, die einem das Gruseln lehren. Wenn wir nicht schnellstens den Mann finden, dem der Umhang so viel wert war, dass er einen Mord dafür riskierte, dann wird es in London und Umgebung in der nächsten Zeit zu schrecklichen Vorfällen kommen. Ich fürchte, wir werden dann mit Dingen konfrontiert, die nicht mehr in unsere Zeit passen und die über unseren Verstand gehen ...«

Ein Hinterhaus in der Meard Street im Stadtteil Soho.

Schmale, dunkle Gassen, eine Bar, ein Striptease-Lokal neben dem anderen. Dunkel glühende Lichtreklamen durchbrachen kaum die zähe Nebelwand, die wie festgewachsen in den Gassen lag. Die Menschen waren nur Schemen, kaum wahrnehmbar.

Im oberen Stockwerk des Hauses Nr. 47 waren sämtliche Vorhänge zugezogen. An der Decke des kleinen Wohnzimmers mit den schrägen Wänden hing eine nackte Glühbirne und spendete einen erbärmlichen Schein. Der Bewohner der heruntergekommenen Räumlichkeiten war ein gewisser Vincent Rope.

Er ging in seinem Zimmer auf und ab, blieb hin und wieder stehen und warf einen Blick auf den dunklen, seidig schimmernden Umhang, der über einer Stuhllehne hing.

Ein tiefer Atemzug hob und senkte die Brust des alleinlebenden Mannes. Rope war blass. Er hatte seit Tagen keinen richtigen Schlaf gefunden. Seine wie im Fieber glänzenden Augen lagen in schwarzumrandeten Höhlen.

Unter dem kleinen, schmutzigen Fenster stand ein klobiger Küchentisch. Die weiße Farbe blätterte an vielen Stellen ab. An der Wand über dem Tisch befand sich ein selbstzusammengebasteltes Regal. Ein einfaches Brett mit einer Folie überzogen. Darauf mehrere alte Bücher, an denen zum Teil der Buchrücken fehlte.

Auf dem Tisch stand ein Trinkglas, ein länglicher Behälter, der an ein Reagenzfläschchen erinnerte. Darin befand sich eine vollkommen klare Flüssigkeit.

Es war alles vorbereitet. Doch Rope zögerte noch. Er hatte sich intensiv mit den Dingen beschäftigt und wusste, welche Gefahr er heraufbeschwor.

Wie in Trance näherte er sich dem Stuhl, und seine bleichen, knochigen Finger strichen beinahe zärtlich über den dunklen Umhang, während sein Blick auf die Seiten des am oberen Tischende liegenden aufgeschlagenen Buches fiel. In alter, verschnörkelter Schrift auf vergilbten Blättern stand ein kaum noch lesbarer Text, und schwach nur waren die Zeichnungen und Bilder zu erkennen, die den Text erläuterten.

Im Schein der Glühbirne war eine Federzeichnung zu sehen, die eindeutig einen Umhang zeigte. Ein dunkler Umhang, der auf der rechten Seite ein verschnörkeltes D aufwies ...

Mit zitternden Fingern klappte Rope das rechte Seitenteil des Umhangs herum. Groß und deutlich lag vor seinen Augen das mit goldenen Fäden eingestickte D.

Eine Fälschung? Er wusste, dass es keine war. Als er in der ersten Nacht den Umhang erhielt, hatte er sofort eine Untersuchung des Stoffes eingeleitet. Das Gewebe hatte ein Alter von über hundertfünfzig Jahren!

Im Stoff gab es Blutflecke. Vincent Rope hatte insgesamt vier gezählt. Das Blut Draculas, geheimnisvolles, nie erforschtes Blut. Rope hatte die Möglichkeit, die eingetrockneten Reste wieder zu verflüssigen. Schon griff seine Hand nach dem Reagenzglas mit der farblosen Flüssigkeit. Aber wie vom Schlag getroffen, verharrte er auf halbem Weg und zog die Hand wieder zurück.

Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich über die Stirn. Kalter Schweiß stand darauf. Rope zögerte noch immer, den entscheidenden Schritt zu gehen. Jetzt, da er den Umhang besaß, ließ er kostbare Zeit verstreichen. Aber war seine Zeit wirklich so kostbar? Nein, er hatte Zeit ... viel Zeit sogar. Niemand drängte ihn.

Es wurde ihm nicht bewusst, dass er nach dem Umhang griff und ihn langsam über die Schultern zog. Ein wenig gebeugt näherte er sich dem Spiegel, der draußen in der winzigen Diele angebracht war. Rope sah sich und erschrak vor seinem eigenen Aussehen. Er hatte sich verändert. Spitz ragten die Wangenknochen aus seinem Gesicht hervor. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst.

Rope schluckte und ging in das armselige Zimmer zurück. Er war ein Mann Anfang dreißig, wirkte aber fast zehn Jahre älter.

Wieder ertappe er sich dabei, dass er nach dem Reagenzglas griff, das er mit der anderen Hand unter den Stoff hielt und den größten der dunklen Blutflecke heraussuchte, um die Flüssigkeit darübertropfen zu lassen.

Sein Herz schlug, als wollte es zerspringen.

Es war, als würde etwas Fremdes von seinem Bewusstsein Besitz ergreifen und ihn zwingen, es endlich zu tun.

Er zuckte zusammen, als er plötzlich merkte, dass er nicht mehr allein in der Wohnung war.

Jemand stand hinter ihm!

Sie durchsuchten die ganze Wohnung. Jedes einzelne Buch nahmen sie sich vor, jede Schublade. Während Tack im Laden selbst suchte, kontrollierte Callaghan in der gleichen Zeit den wuchtigen Schreibtisch im Arbeitszimmer des Toten.

Nach gut einer Stunde gaben sie auf. »Offenbar gibt es ein solches Buch nicht«, meinte Tack, während sie gemeinsam zum Ausgang gingen.

»Oder der Täter hat es an sich genommen ...«

Tack verschloss die Eingangstür und versah das Schloss mit einem neuen Siegel. Vor dem Haus trennten sich die Wege der beiden Männer.

»Halten Sie mich auf dem laufenden«, bemerkte Callaghan noch, ehe der Inspektor ging.

»Als Gegenleistung hoffe ich, auch von Ihnen etwas zu erfahren, Callaghan.«

»Darauf können Sie sich verlassen! Sobald ich etwas Greifbares in Händen halte, hören Sie von mir. Das ist vielleicht schon sehr bald der Fall«, fügte der Journalist mit leiser, geheimnisvoller Stimme hinzu. Er sah dem Inspektor nach, wie er im Nebel verschwand. Dann wandte Callaghan sich um und näherte sich seinem grünen Morris, der im Hinterhof direkt neben dem grauen, verrosteten Kastenwagen Richmonds stand.

Das Gesicht Robert Callaghans war ernst und verschlossen, als er den Wagen startete. Der Journalist verließ den düsteren Hof, fuhr zur Kings Road vor und parkte dann vor Jonny's Steak House. Er ging hinein, bestellte sich ein Steak und ein Bier. Sein Blick kreiste. Gemischtes Publikum, viel Jugendliche, Girls in Maxikleidern und mit langen Haaren. Laute Musik aus einem Lautsprecher an der Decke. Pop-Musik. Ein Stück von Jimi Hendrix und seiner Gruppe.

Rhythmische Gitarrenklänge, elektrisch verstärkt, wogten wie überdimensionale Wellen durch den kleinen schlauchähnlichen Raum.

Callaghan störte sich weder an der Musik noch an der Unruhe. Er griff in die Brusttasche seines Mantels und nahm ein kleines zerknittertes Buch heraus, das wie ein Schulheft aussah.

Albert Richmonds Tagebuch!

Er hatte es im Schreibtisch gefunden, und Inspektor Tack hatte es nicht bemerkt. Wohlweislich hatte Callaghan seinen Fund verschwiegen. Er wollte erst selbst wissen, was es mit den Eintragungen auf sich hatte.

Er klappte den zerknitterten, schmierigen Deckel zurück. Mit großen Buchstaben hatte Richmond die Worte Interessenten für Draculas Mantel hingeschrieben.

Wahllos blätterte Callaghan drei, vier Seiten weiter.

Ein Datum.

Unter dem 8. September stand folgender Vermerk: ... heute war er wieder da. Er hat sein Angebot verdoppelt. Ich bin noch nicht bereit, mich von dem Stück zu trennen ...

Unter dem 10. des gleichen Monats: ... Banders ist ebenfalls interessiert. Aber er nimmt das Ganze mehr als einen Scherz. Er will sich das Kostüm, wie er es bezeichnet, für den nächsten Maskenball ausleihen. Ich bin überzeugt davon, dass er nicht an die Echtheit des Umhangs glaubt ... Rope dagegen hat mich auch heute wieder wissen lassen, dass er an seinem Angebot festhält. Ich soll allerdings seine Geduld nicht unnötig lange strapazieren ...

Am 5. November hatte Richmond folgendes eingetragen: Nun interessiert sich auch ein Journalist namens Callaghan für den Mantel. Es scheint, dass dieser Callaghan an der Herkunft nicht zweifelt. Er wollte den Umhang sehen. Ich bin diesem Wunsch nicht nachgekommen. Ich spiele mit dem Gedanken, abzustreiten, dass sich Draculas Mantel in meinem Besitz befindet. Das Gerücht hat einen Umfang angenommen, der mich erschreckt. Ich hätte Rick niemals einweihen dürfen. Aber was geschehen ist, ist nun mal geschehen. Rick war dabei, als ich der Zigeunerin den Wäschesack abkaufte ...

Erst unter dem 19. November folgte wieder eine neue Eintragung. Und wieder tauchte der Name Rope auf. Diesmal war sogar der Vorname genannt.

Vincent Rope war wieder da. Er gibt keine Ruhe. Er war bereit, mir zehn Pfund zu bieten, nur um einen Blick in die Truhe werfen zu können. Das habe ich ihm erlaubt. Als er Draculas Mantel in Händen hielt, hat Rope gezittert. Ein merkwürdiger Bursche! Scheint sich während der letzten Jahre seines Lebens nur mit geheimnisvollen Büchern, schwarzer Magie, Vampirismus und derartigem Zeug beschäftigt zu haben. Er gestand mir selbst ein, dass er Naturwissenschaft studierte, ehe er das Studium an den Nagel hängte und sich mit dem Phänomen der Teufelskulte, der Schwarzen Messen und anderer schauriger Erscheinungen des Mittelalters beschäftigte. Sein Interesse für Übersinnliches ging weiter und beherrschte sein ganzes Denken und Fühlen. Er wurde zum Sonderling und zog sich zurück. In Soho hat er eine heruntergekommene Dachwohnung gemietet. Dennoch ist er in der Lage, den gebotenen Preis zu zahlen. Er hat wohlhabende Eltern, die weiterhin große Beträge auf sein Konto überweisen. Er rührt sie kaum an. Er verbraucht nur das Notwendigste für den Lebensunterhalt und zum Kauf von seltenen Büchern. Bei einer solchen Gelegenheit lernte ich ihn kennen. Er durchsuchte auch meine Regale nach einem antiquarischen Buch über Vampirismus, Teufelskulte und Hexensabbate. Er fand etwas Interessantes. Rope hat mich eingeladen. Ich soll mir seine Büchersammlung in seiner Wohnung ansehen. Er behauptet, mir anhand eines vor über hundert Jahren erschienenen Privatdruckes in ungarischer Sprache, von dem nur noch dieses eine Exemplar existieren soll, nachweisen zu können, ob es sich bei dem Mantel tatsächlich um das echte Kleidungsstück handelt.

Zwei Tage später:

Ich habe den Besuch gemacht. Rope ist besessen, und er ist gefährlich! Selbst wenn ich wollte, ich könnte ihm niemals den Mantel überlassen. Spiele mit dem Gedanken, ihn zu vernichten. Ich will das Teufelsding nicht mehr länger im Haus haben. Wahrscheinlich war ich bis heute Abend selbst nicht überzeugt davon, dass mehr als nur ein Verdacht an dem Mantel hängt. Nun fühle ich mich nicht mehr wohl in meiner Haut, nachdem ich die verblasste Abbildung in dem Buch gesehen habe. Rope las mir den Text vor. Er hat sich ungarische Sprachkenntnisse angeeignet, nur um dieses alte Buch ohne Hilfe selbst übersetzen zu können. Wenn seine Übersetzung stimmt, dann hat Dracula diesen Mantel bei seinem Tod getragen. Auf welche Weise der Umhang seinen Weg von den Karpaten nach Ungarn und von dort aus schließlich nach England gefunden hat, das allerdings ist und bleibt ein Rätsel ...

Callaghan merkte, wie seine Handflächen heiß wurden und zu schwitzen anfingen.

Er klappte das Heft zu, als die Bedienung an seinem Tisch auftauchte, Serviette und Besteck bereitlegte und ihn freundlich anlächelte.

Mit fahriger Bewegung steckte er das Heft ein und griff nach seiner Brieftasche.

»Ich möchte zahlen«, sagte er mit rauer Stimme.

Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an.

»Aber Ihr Steak ... ich muss es erst noch servieren. Es ist gleich soweit ...« Sie war ratlos und begriff die Reaktion des Mannes nicht, der eben noch eine Bestellung aufgegeben hatte und nun ohne zu essen bezahlen wollte.

»Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch etwas erledigen muss, das keinen Aufschub duldet«, redete er sich heraus. »Servieren Sie das Steak jemand, von dem Sie wissen, dass er schon lange keines mehr gegessen hat. Oder essen Sie es selbst und denken Sie an mich!«

Er legte fünf Pfundnoten auf den Tisch, bekam ein neues Fünfzig-Pence-Stück heraus. Er schob die Münze achtlos in seine Tasche. »Vielleicht komme ich auch nochmal zurück. Dann servieren Sie mir ein neues.«

Callaghan beeilte sich, nach draußen zu kommen. Zwei Minuten später sprang der Motor des Morris an. Hinter dem Steuer saß ein bleicher, nachdenklicher Mann. Richmond hatte sogar die Anschrift Ropes angegeben, den er einmal besuchte. Dieser Zufall konnte vielleicht seinen Mörder entlarven!

Rope war im ersten Augenblick wie gelähmt. Dann aber wirbelte er herum.

»Rick«, murmelte er mit bleichen Lippen.

Sein Gegenüber, jung, unrasiert, mit fast schulterlangen Haaren, grinste ihn an.

»Du hattest nicht abgeschlossen, Vince. Und da dachte ich, tritt einfach ein.«

Ricks Augen waren rotgerändert. Er zitterte ein wenig. »Außerdem habe ich dadurch die Möglichkeit erhalten, von dir nicht abgewiesen zu werden. Wenn ich erst angeklopft hätte, sicher hättest du mich wieder weggeschickt. Er steht dir gut«, fuhr der Eindringling fort und spielte damit auf den Umhang an. Rick griff danach.

Rope wich zurück und schlug wütend nach Ricks Hand.

»Lass die Finger davon«, stieß er hervor.

Rick winkte ab. »Nanu, seit wann so nervös? Hängt es damit zusammen, dass du einem alten Freund gegenüber dein Versprechen noch nicht eingelöst hast? Du bist mir noch etwas schuldig, Vince. Vergiss es nicht! Ich warte seit drei Tagen darauf. Mir schließlich hast du es zu verdanken, dass du diesen Fetzen trägst. Ich habe gelegentlich bei Richmond ausgeholfen, ich habe dir Abdrücke der Schlüssel besorgt, damit du dort eindringen konntest. Dass Richmond dich überraschte, das ist nicht meine Sache. Dass du ihn umgebracht hast, das ...«

»Halt's Maul!« Rope wurde puterrot.

Er stieß Rick wütend zurück.

Rick ließ sich auf einen der klapprigen Stühle fallen. »Heute verschwinde ich nicht ohne Ergebnis, Vince. Rück den Stoff heraus, und ich geh. Andernfalls aber ...«

»Was ist andernfalls?« Ropes Stimme wurde um eine Nuance schärfer. Er ging auf den Langhaarigen zu. Es ärgerte ihn, dass er vorhin vergessen hatte, die Tür wieder abzuschließen. Er war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt gewesen. Und es ärgerte ihn, dass Rick Fermon ausgerechnet in diesem Moment hier auftauchte, da er sich entschlossen hatte, das teuflische Spiel zu Ende zu führen.

»Nun, wir wollen uns nicht streiten.« Rick erhob sich wieder. Er versuchte, ruhig zu erscheinen, aber es gelang ihm nicht. »Ich brauche das Zeug, Vince! Umsonst bin ich nicht hier!«

»Ich habe dir gesagt, ich besorge dir mehr, als du gebrauchen kannst, aber ich habe dir auch gesagt, dass ich dir Nachricht gebe.«

Vincent Rope war gereizt. Er packte den unliebsamen Eindringling beim Kragen. »Du kriegst den Stoff morgen. Aber jetzt verschwinde, auf der Stelle!«

»Ich denke nicht daran. Ich will jetzt eine Spritze.«

Fermons Stimme veränderte sich. Sie klang weinerlich, bittend, hilfesuchend. Kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn. Der Rauschgiftsüchtige war verzweifelt. Sein Körper verlangte nach neuem Heroin. Seit Wochen belieferte Vincent Rope den Süchtigen mit Stoff und hatte ihn sich zum Werkzeug gemacht. Nun, am Ziel seiner Wünsche, ließ Rope dieses Werkzeug einfach fallen.

Rick wollte den anderen abwehren. Doch Rope war stärker. Er trieb den Süchtigen einfach Richtung Tür.

Es gelang Rick Fermon, sich loszureißen, als Vincent Rope mit seiner Hand die Klinke betätigte.

Blitzschnell entwand sich der unliebsame Besucher vollends dem Zugriff Ropes und suchte Schutz hinter einem Stuhl.

In seiner Wut griff Vincent Rope einen anderen Stuhl, riss ihn hoch und schleuderte ihn nach Rick.

Der andere versuchte, den unerwarteten Angriff abzuwehren. Die Stuhlbeine zersplitterten auf seinen Unterarmen.