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Moderne Bildungssyteme werden den jüngsten Generationen nicht mehr gerecht. Aber nicht nur Digitalisierung und Globalisierung sind "Störfaktoren" in der klassischen konservativen Schulbildung. Der Typus des mehr schlecht als recht universell gebildeten Angestellten ist längst dem Ideal einer sich selbst verwirklichenden Generation gewichen. Sonja Becker fordert die heutigen Entscheider auf, die wahren Potenziale von Kindern und Jugendlichen zu fördern: der Wille zur Selbstbildung ihrer eigenen Neugier. In einem Gang durch die Kultur- und Ideengeschichte nähert sie sich diesem Ideal und demonstriert anhand lebender Personen, dass Karrieren erfolgreich und erfüllend zugleich verlaufen können.
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Seitenzahl: 494
Sonja Becker
LEARNING – DIE BILDUNG ZUR NEUGIER
1. Auflage September 2020
© Sokrates Verlag München
Herausgegeben von Volker Wendel
Alle Rechte vorbehalten. Kein Titel des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, oder in elektronischen Systemen verarbeitet, eingespeichert oder vervielfältigt werden.
Sokrates Verlag München
Satz und Gestaltung: in Erinnerung an unseren
Umschlagfoto: »Eyes of Curiosity«
Graphic Designer Wolfgang Rollmann, München
von Sonja Becker
Graphische Umsetzung:
www.sokrates-verlag.eu
atelier kolar, München
www.coachingtag.eu
Printed in Germany
ISBN: 978-3-945562-09-3ISBN: 978-3-945562-10-9 (ePUB)ISBN: 978-3-945562-11-6 (Mobi)
VorwortBildung zur Selbstbildung
Ist uns Bildung egal geworden?
Lust auf das, was in mir steckt
Pisa. Bologna. Tristesse.
Neugier als Maß der Dinge
Peter Sloterdijk: Kognitive Libido im Gästehaus des Wissens
Turning Learning Upside Down!
Mara wird ein Star
Coaching ist die neue Bildung
Wissen wollen ist angeboren
Mentales Wachstum – die Performance Scale / Psychological States
TEIL 1VOM DOGMA ZUR NEUGIER IN FÜNF JAHRHUNDERTEN
EinleitungEine Geschichte vom Lernen, vom Wissen und von der Wissensvermittlung
Kapitel 1Platon, der lenkende Zauberer (Antike)
Die Geburt der Philosophie
Bildung der Seele, Liebe zum Wissen
Lernen heißt fliegen lernen
Die augustinische Wendung
Kapitel 2Seelenbildung, ein wachsender Baum: Aristoteles, der geniale Langweiler (Antike)
Der Mensch als Baum – die Möglichkeit leben
Glückauf – die Nikomachische Ethik
Kapitel 3Der antike Wissensbegriff als Machtinstrument: Augustinus
Performance Scale »Salesmanship – Learning« Level -10: Dogma
Kapitel 4Wissen in der Gutenberg-Galaxis
Performance Scale »Salesmanship – Learning« Level -9: Propaganda
Kapitel 5Die Befreiung der Sprache: Martin Luther
Performance Scale »Salesmanship – Learning« Level -8: Spin / Wirbel
Feedback auf die Erfindung des Buchdrucks: »Es ist eine Lust zu leben!«
Kapitel 6Bildung von oben herab: Philipp Melanchthons Universitätsreform (16. Jahrhundert)
Performance Scale »Salesmanship – Learning« Level -7: Enculturation / Kultur
Faust: die deutschen Extreme von Bildungsrausch und -frust
Kapitel 7Wissen als Macht: Machiavellis Gebrauchsanweisung zum Erfolg (15./16. Jahrhundert)
Performance Scale »Salesmanship – Learning« Level -6: Interpretation / Deutung
Kapitel 8Rationalismus pur: die westliche Kultur des Kartesianismus (17. Jahrhundert)
Performance Scale »Salesmanship – Learning« Level -5: Teaching / Unterricht
Die Welt in Quadraten
La Mettries Mensch-Maschine
Kapitel 9Pico und Vico: Descartes’ Gegenspieler (1486, 1708)
Performance Scale »Salesmanship – Learning« Level -5: Teaching II / Unterricht II
Der Mensch, Bildhauer seiner selbst
Vico und die »neue Wissenschaft«
Kapitel 10Die Selberdenker: Rousseau und Kant (18. Jahrhundert)
Performance Scale »Salesmanship – Learning« Level -4: Memorization / Auswendiglernen
Endlich selbst denken: Immanuel Kant
Kapitel 11Die Idealisten: Herder, Schiller, Goethe (Anfang 19. Jahrhundert)
Performance Scale »Salesmanship – Learning« Level -3: Evaluation / Bewertung
Kapitel 12Bildung als System: von Hegel zu Humboldt (Mitte 19. Jahrhundert)
Performance Scale »Salesmanship – Learning« Level -2: Study / Studium
Bildung als Selbstbildung, die Universität als Universalität
Kapitel 13Bildung als Transzendenz: die deutsche Romantik (Ende 19. Jahrhundert)
Performance Scale »Salesmanship – Learning« Level -1: Training I
Kapitel 14Mentoren zum Selbstsein: Schopenhauer und Nietzsche (bis 1900)
Performance Scale »Salesmanship – Learning« Level -1: Training II
Bildung als Befreiung
Bildung ist Stilbildung
Kapitel 15Nietzsche im 21. Jahrhundert: Peter Sloterdijk (2010)
Performance Scale »Salesmanship – Learning« Level 0: Transformation I
Die Welt, ein »Planet der Übenden«
Nach oben!
Trainieren im Basislager des Lebens
Die Bildung zur Neugier
Kapitel 16Die Bildung der Seele
Performance Scale »Salesmanship – Learning« Level 0: Transformation II
Umdenken mit Maslow
TEIL IIDIE BEFREIUNG DER BILDUNG
Kapitel 17Kinder übernehmen ihre Bildung
Kapitel 18Nicht wissen und lernen wollen: zehn Punkte zur Neugier
Lernen statt Lehren
Kapitel 19Die Jugend von heute: wie sie lebt und wie sie tickt
Drei Modelle, wie es anders gehen kann
Anthroposophie und Waldorfpädagogik
Schule des Vertrauens – die »School of Trust«
Kapitel 20Die Ursprünge der Sage Learning Method bei Wundt und Freud
Die moderne Nervosität
Die unheimliche Begegnung mit der zweiten Vergangenheit
Archetypen – C. G. Jung
Kapitel 21Joseph Campbell – die Bildung zum Helden
Helden und Heldinnen der Realität – Pretty Woman
Stationen der klassischen Heldenreise
Held und Mentor – und manchmal beides
Kapitel 22Das Wahre ist das Ganze: Gestalttheorie von Wertheimer bis Perls
Phi- und andere Phänomene
Perls und Reich: die zweite »Generation Gestalt«
Kapitel 23Motiviert, kreativ, selbstverwirklichend: die Humanistische Psychologie von Abraham A. Maslow
Self-Actualization (Selbstverwirklichung)
Lernen von den oberen Zehntausend: Maslows Analyse selbstverwirklichter Menschen
Kapitel 24Neugierforschung: Charles Spielberger
Quellen der Veränderung: Angst, Wut und Stress
Spielbergers State-Trait Anxiety Inventory Modell (STAI)
Kapitel 25Einladung zum Überdenken: Fritjof Capras Lebensnetz
Physik-Tao und »Wendezeit«
Lebensnetz
System und Selbstorganisation
Kant – Entdecker der Selbstorganisation
Produktive Abkehr vom Kartesianismus
Kapitel 26Peter F. Drucker – der Wissensmanager
Beruf, Berufung, Business
Entrepreneur- und Leadership
Sieben Prinzipien der Innovation
Kapitel 27Die Sage Learning Conferences
Die Entdeckung der Gewissheit
Ilya Prigogine: Entropie, Bifurkation und dissipative Strukturen
Spielberger: Wut, Angst und Neugier als Motoren der Veränderung
TEIL IIIDIE BEFREIUNG DER BILDUNG
Kapitel 28Martin Sage – oder die Kunst, für den »Rest des Lebens« der eigenen Neugier zu folgen
Performance Scale »Salesmanship – Learning« Level +1: Education / Bildung
Über Religion und Psychologie zum Coaching: »Ich schwor mir, zu wachsen«
Verrückte Professoren und heimliche Mentoren
Kapitel 29Guardiola und Klopp – Coaches aus dem Leben
Performing Scale »Salesmanship – Learning« Level +2: Instruction / Anweisung
Wie man Instruktionen umsetzt – zur Not auch mit Gedichten: Pep Guardiola
The Normal One: Jürgen Klopp
Kapitel 30Coco Chanel – Lernen durch Handeln
Performing Scale »Salesmenship – Learning« Level +3: Coopetition / Zusammenarbeit
Leben durch Handeln
Kapitel 31Richard Branson – The sky’s the limit
Performing Scale »Salesmenship – Learning« Level +4: Mentoring
Vom Plattenlabel bis zum Weltraumtourismus
Kapitel 32Heidi Klum – Der eigenen Neugier folgen
Performing Scale »Salesmenship – Learning« Level +5: Storytelling / Geschichtenerzählen
Kapitel 33Albert Schweitzer – Arzt, Philosoph und Musiker
Performing Scale »Salesmenship – Learning« Level +6: Research / Recherche
Kapitel 34Karajan und Madonna – Das Gesamtkunstwerk
Performing Scale »Salesmenship – Learning« Level +7: Conducting / Durchleiten
Karajan und Madonna – Dirigenten unter sich
Kapitel 35Enzo Ferrari – Arbeiten am eigenen Mythos
Performance Scale »Salesmenship – Learning« Level +8: Exploration / Erforschung
Kapitel 36Die Welt neu entdecken – mit Mike Horn
Performing Scale »Salesmenship – Learning« Level +9: Discovery / Entdeckung
Kapitel 37Pharrell Williams – der Faule, gesegnete Buddha
Performing Scale »Salesmenship – Learning« Level +10: Wonder / Wunder
Bibliografie
Buchempfehlungen
Es hat fast den Anschein, als sei Bildung uns ziemlich gleichgültig geworden. Der Grund dafür ist vor allem die Bildung selbst. Denn zwischen Bildung und der Absage an sie geht besonders in Deutschland eine große Schere auf. Das halte ich für fatal, zumal es sich bei dem deutschen Begriff »Bildung« um etwas Einmaliges handelt, das es auch schon weit vor Wilhelm von Humboldt gab: Bildung war im »Land der Dichter und Denker« Teil des deutschen Selbstverständnisses, Kulturgut und Exportartikel. Aus dem Anspruch einer universalen Selbstbildung ist heute eine Melange aus Selbstzweck, Büffelstress und Abi-Pfuscherei geworden. Wenn Franz Josef Strauß seine politischen Gegner noch mit der Frage in Schranken halten konnte, ob sie »überhaupt Abitur« hätten, hat die Reifeprüfung aufgrund ihrer Aufweichung heute das Bildungsniveau der damaligen Realschulabschlüsse. Reformen wie eine Rechtschreibung, die sich nach der gesprochenen Sprache richtet, sind keine Reformen im Sinne des Erfinders. Die relativ sinnfreie Kürzung der Schulzeit auf zwölf Jahre hat rückwirkend erhöhten Lernstress und Druck gefördert, der bei den Schülern oft auf eine Ablehnung weiterer »Schulmaßnahmen«, wie etwa ein Universitätsstudium, stößt.
Bei so viel Frust herrscht in der »Generation Doof« – so nennt sie sich selbst einem gleichnamigen Bestseller zufolge – eine Tendenz zum sogenannten »Bulimie-Lernen«: Wissen besinnungslos in sich hineinschaufeln, auf Stand-by halten und nach der Prüfung alles vergessen. In der Regel aber handelt es sich bei »Bildung« um etwas schwer Verdauliches: schnell hinunterwürgen und möglichst bald wieder ausscheiden. Denn Bildung wird als Selbstzweck, selten als Selbsterfüllung betrachtet. Daran sind wir gemeinsam schuld. Aber es gibt sogar Bemühungen von Schülern selbst, Bildung intensiver zu erleben. So ist eine ganze Schulklasse nach der Einführung des Abiturs nach dem 12. Schuljahr einfach kollektiv sitzen geblieben.
Und nach der Schule? Studien und Statistiken belegen, dass die »Jugend von heute« nach ihrer Schullaufbahn auf alles Mögliche Lust hat, nur nicht aufs Weiterlernen. Ein Großteil erwägt nicht, direkt ein Studium zu beginnen. Erst einmal Party machen, dann feiern, danach chillen, Urlaub, vielleicht ein soziales Jahr oder ein Auslandsaufenthalt, so klingt die allgemeine Ansage. Weiterbildung als Master- und Bachelorstudiengang im direkten Anschluss an die Schule ist heute nicht unbedingt ein »Must«. Ist das schlimm? Haben wir etwas falsch gemacht? Verliert sich die »Jugend von heute« in digitalem Gedaddel, wie Hirnforscher wie Manfred Spitzer zu warnen pflegen? Oder muss man, wie Richard David Precht es recht populistisch zusammenfasst, einfach alles neu gestalten, was mit Schulpädagogik zu tun hat?
In der Tat hängen so viele alte Zöpfe am Schul- und Universitätswesen, weil sie mit jeder »Reform« nicht auf den zeitgemäßen Standard gesetzt, sondern hier und da mal ein bisschen repariert werden. Das Ergebnis ist dementsprechend Flickwerk. Maßnahmen ohne Not, wie Rechtschreibreformen oder auch die Einführung von zwölf Schuljahren, scheinen zumindest teilweise sogar das Werk profilierungssüchtiger Politiker zu sein. Fakt ist: Wer seine Pflichtübung in Sachen Bildung hinter sich hat, hat erst einmal gehörig davon die Nase voll. Bildung als Schlüssel zur Selbstverwirklichung, oder sogar für eine Karriere? So wird die Büffelei nur selten vermittelt oder wahrgenommen. Extrem populäre Filme wie Fack ju Göhte scheinen den vorherrschenden Diskurs zu bestätigen, dass Allgemeinwissen, einst Statussymbol, heute geradezu verachtet wird. So viel bewusste Ablehnung von Bildung und Erziehung zu produzieren, das muss man erst einmal schaffen.
Ein paar Jahrzehnte haben genügt, um jeglichen Anspruch fahren zu lassen und die letzten Intellektuellen als Spinner hinzustellen, die den Schuss nicht gehört haben. Wo einmal Goethe und Schiller reüssiert haben, übernehmen eher Rapper die Lufthoheit, die sich nach Fitnessstudios oder Waschmitteln benennen und deren Texte sexuelle Gewalt zum Abhärten enthalten. Dass dieser Schuss möglicherweise bald nach hinten losgeht, soll gar nicht heraufbeschworen werden. Auch will ich hier nicht mit der konsensfähigen PISA-Klage von eigenem Verschulden ablenken, wie es ältere Generationen gerne tun. Vielmehr würde ich, die sieben Kinder und sieben Schulreformen überstehen musste, dieses Medium (huch, ein Buch!) nutzen, um den Wert herauszustellen, den Bildung haben kann. Und um danach zu suchen oder zu finden, wie moderne Bildung wieder daran anknüpfen und Lust auf das machen kann, was in jedem von uns steckt.
»Sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst, begehrst!« lautet Nietzsches viel zitierter »kategorischer Imperativ«. Es klingt wie das tägliche Geschäft des Coaches; dies besteht darin, die eigenen intellektuellen Fähigkeiten in anderen Menschen zu aktivieren, ihnen andere Perspektiven zu vermitteln, sie auf neue Ideen zu bringen. So wie Friedrich Nietzsche den pädagogischen Auftrag gesehen hat, und vor ihm Schopenhauer, Schiller, Goethe: Bildung ist als Selbstbildung zu verstehen, als Schatzkammer der Seele und des Selbst. Als die Lücke, die man nicht durch Verschlingen von Lexika füllt, sondern durch die Entdeckung der eigenen Anlagen, mit deren Aktivierung jeder über sich hinaus wachsen kann. Sich selbst auf die Spur zu kommen, ist das größte Abenteuer, das ein Mensch erleben kann. Und über seine vermeintlichen Grenzen hinaus zu gehen.
Die deutsche Bildung heutigen Zuschnitts hat ihren Ursprung in dem deutschen Universitätswesen, das zur Zeit Martin Luthers von Philipp Melanchthon eingeführt wurde. Seitdem wurden an den neu geschaffenen Universitäten Wissenschaften gefördert, die unmittelbar dem Staatswesen von Nutzen sind. Entsprechend entsteht eine Hierarchie, die sich dem Staat andient. Bildung diente fortan dem Nutzen der hohen Politik, und es entfaltete sich eine Art Kastenwesen, in dem das höchstdienliche Wissen zählte. Das staatsdienerische Beamtentum hat deshalb in Deutschland lange Tradition und war immer an höhere Bildung gekoppelt: Je mehr man an (dienlichem, wissenschaftlichen, politischen) Wissen anhäufte, umso besser war man bis in das 19. Jahrhundert sozial gestellt. Mit der Entfaltung von »Persönlichkeit« hatte diese Art Bildung jedoch wenig zu tun.
Bildung wurde zur Bildung um der Bildung willen, als das höhergestellte Staatsbeamtentum seinen Status langsam einbüßte und mit seinem Wissen auf der Strecke blieb. So blieb die Figur des »Bildungsbürgers« zurück, der quasi das Anhäufen von Wissen weiterverfolgte, ohne dafür finanziell entlohnt zu werden. Durch die schwindende Bedeutung der gebildeten Staatsbeamten entstand das Missverständnis, das aus ihnen Bildungsbürger machte: jenes alles aufnehmende, von eigenen Interessen getrennte Wesen, das nie auslernt, das der »leeren Unendlichkeit« verfällt, vor der Schiller in seinen Briefen zu einer ästhetischen Erziehung noch ausdrücklich gewarnt hat. Wie Adelige, die gerne melancholisch werden, wenn ihr Status an sozialer Bedeutung verliert, kriecht der Bildungsbürger typisch deutschen Zuschnitts umso tiefer in seine Domäne, der Bildung, und sammelt fleißig Daten aus Literatur, Wissenschaft und den Künsten, obwohl die Anhäufung allen Wissens nicht mehr beruflich verwertet werden kann und nur zu gelegentlichen Party-Vorträgen oder Aperçus dient; und natürlich als Statussymbol. Selbst Fachleute, die Bildung propagieren, kommen in ihren Untersuchungen zum Teil auf kärgliche Ergebnisse, die das Wesen der Bildung als Selbstzweck nur verstärken.[1]
Natürlich gibt es auch andere Perspektiven. Im Zeitalter der Aufklärung spricht Immanuel Kant auf einmal von dem »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«. Die auf Kant folgenden deutschen Idealisten, angefangen von Friedrich Schiller über Hegel bis Schopenhauer und Nietzsche, forderten, genau jene Unmündigkeit zu kassieren, dem oktroyierenden Staatswesen den Rücken zu kehren, sich – bei Schiller und Hegel – sogar dem Guten und Schönen zuzuwenden, dort die Erfüllung und sogar politische Lösungen zu finden. Die daraus resultierende Romantik, in der der Geist an seine Grenzen und darüber hinaus gehen soll, ist ein astreiner deutscher Exportartikel geworden.[2]
Der junge Philosoph Hegel entwirft zum Beispiel im Jahr 1796, kurz nach der Französischen Revolution, in der wohl berühmtesten Wohngemeinschaft Deutschlands im Tübinger Stift zusammen mit seinen WG-Genossen, dem Dichter Hölderlin und dem angehenden Philosophen Schelling, ein Pamphlet, das nichts Geringeres fordert, als den Staat umzuwälzen. Statt dem blind vor sich hin rotierenden »Maschinenwesen« Staat sollten freie Geister eine neue, aufklärerische Religion bilden. Hegels sogenanntes »Systemprogramm« wurde 150 Jahre später auf einem Dachboden gefunden. Das verknitterte Schriftstück kam nicht zur Entfaltung. Die freien Geister waren ganz offensichtlich mit ihrer universitären Ausbildung in Tübingen nicht zufrieden. Eine Gemeinschaft gleichberechtigter, von wissenschaftlichem Eifer beseelter Forscher und Sucher waren die Bildungsstätten zu Hegels Zeit schon lange nicht mehr. Waren sie ursprünglich Brutstätten frischer Köpfe, die den Humanismus im Mittelalter initiierten, und ohne bestimmte Interessen geleitet, so bildeten die Universitäten zur Zeit Hegels längst nur noch »Buchstabenmenschen« aus, wie man die »Nerds« der Neuzeit nannte, oder auch »Denker vom Gewerbe« (Kant), aber keine Individualisten.
Und dann kam Humboldt. Mit seiner Universitätsreform brachte er den Gedanken der Universität als Universalität ein – auf dass sich der Mensch an den Früchten der Welterkenntnis messen könne. Ob das in neuen philosophischen Modellen geschehen sollte oder in Entdeckungsreisen wie denen seines Bruders Alexander – gefragt war die Suche, das Aussuchen und Auslesen in der freien Wahl der Wissenschaften. Nicht alles zu wissen, sondern von allem etwas zu wissen, darüber mehr über sich selbst zu erfahren, das war nun die neue Definition von Erkenntnis und Interesse.
Humboldt sorgte mit der 1809 gegründeten Universität in Berlin für die »Einheit von Forschung und Lehre«. Sie war letzten Endes ein Resultat dessen, was der mittlerweile unterwürfig dem Staat dienende Hegel in seinem Systemprogramm heißspornig gefordert hatte. Oder, um es diplomatischer auszudrücken: Hegel hatte im »Gang durch die Institutionen« in sanfter Form erreicht, was er einmal so vehement abgelehnt hatte; eine Höhersetzung des Staatswesens (bis hinauf zum »Göttlichen«!) auf der Grundlage allgemeiner Bildung. Mit der Niederschlagung der Revolution von 1848 fiel die Idee der Universität preußisch-nationalstaatlichen Unterordnungsprinzipien anheim. Die »Republik der Lernenden und Lehrenden« war ausgelöscht. Zynisch könnte man sagen: Damit hat sich der Staat auch der Last entledigt, kritisches Gedankengut gegenüber Kapitalismus, Industrialisierung, Militarismus und Imperialismus zuzulassen.
Erst 1968 forderten die Studenten wieder wirklich, die Universität zu politisieren und herauszufordern. Das waren noch Zeiten, könnte man heute sagen. Wenn auch die Gedanken einer Revolution, die von den Bildungsstätten ausgehen sollte, damals merkwürdige Blüten trieben, würde man sich doch heute wünschen, dass von der Universität auch nur ansatzweise ein solches Denken ausginge, das die Gesellschaft herausfordert und das Individuum preist.
Immerhin kann heute dank der sozialen Interventionen aus der Politik so gut wie jeder studieren und hat die Möglichkeit, unabhängig vom sozialen Hintergrund die Gelegenheit zu ergreifen, eine Bildung seiner Wahl in Anspruch zu nehmen. Ansonsten: Pisa. Bologna. Tristesse. Die Älteren unter uns kennen noch ungebremste Bildung in Gestalt von Endlosstudium und jahrelanger Vertiefung in die Stoffe.
Eine strikte Regelstudienzeit wie in unserer Moderne hat natürlich Vorteile: Man muss viel mehr in viel kürzerer Zeit lernen. Aber nicht fürs Leben, sondern für den Abschluss. Durch die tendenzielle Verschulung der Universitäten dank Bologna-Reform haben Studenten heute ein wesentlich intensiveres Programm zu absolvieren, müssen Punkten nachjagen und dafür am Wochenende Blockseminare absitzen.
Die Lehrenden haben so viel mit Antragstellung und Argumentation ihrer Seminare zu tun, dass sie überhaupt keine Lust mehr haben, auch nur eine Stunde länger zu dozieren als nötig: Die Bürokratie hat die moderne Universität voll im Griff, gesegnet mit dem unschätzbaren Vorteil, dass ein Abschluss in ganz Europa Gültigkeit hat und von Lissabon bis Uppsala unter den gleichen Bedingungen studiert werden kann. Nutzen tun das allerdings die wenigsten. Sie schauen sich lieber nach Stipendien auf anderen Kontinenten um. Zum Beispiel in den USA, wo Bildung als größte Möglichkeit zur persönlichen Karriere vollkommen selbstverständliches Gedankengut ist und noch jeder, auch wenn er von Hause aus kaum eine Chance darauf hat, von Bildung träumt: Harvard, Yale oder Duke sind nicht nur Universitäten mit gutem Ruf, sondern Statussymbole.
Hier soll nun keineswegs eine Studentendemo in Schriftform abgehalten werden. Vielmehr geht es um zwei Punkte, die mir wichtig sind: dass die großartige Idee einer freien und zweckfreien Universität einmal eine deutsche Erfindung war. Und dass diese Idee die Möglichkeit bot, die wir heute mit Coaching unterstützen – nach dem Potenzial in uns selbst zu graben und es zutage zu fördern, Bildung als Selbstbildung und -entwicklung zu betrachten, Neugier zum Maß der Dinge zu nehmen.
Wer die Idee verfolgt, etwas für sich und seine Zwecke zu lernen, stellt bald fest, dass dafür nun wirklich keine Zeit mehr übrig ist. Lerndruck beginnt bereits in der Grundschule und setzt sich an den Gymnasien fort. Wird er auch nicht mehr wie noch zu Hermann Hesses Unterm Rad-Zeiten mit Strafen oder Pennäler-Romantizismus à la Feuerzangenbowle verbunden, gibt es kaum noch Schüler, die etwas mit dem zu bewältigenden Stoff persönlich verbinden. Oder die Eigendynamik entwickeln, etwas lernen zu wollen.
Neugier und Interesse, die Hauptsäulen der alten Bildungsreformen, haben heute in der Schule keinerlei Bestand mehr. Unter dem gegebenen Druck und der entfremdeten Lernarbeit auch noch Willen zum Verständnis und erweitertes Fachinteresse oder etwa Begeisterung zu entwickeln, scheint eher absurd.
Der Philosoph Peter Sloterdijk hat zu fast allem etwas zu sagen. Trotzdem finde ich es interessant, was ihm manchmal einfällt. In einem Interview mit der Kundenzeitschrift McK Wissen der Unternehmensberatung McKinsey definierte er das Lernen als »Vorfreude auf sich selbst«[3]. Die heutige Schule dagegen sei »ein Ernstfall eigener Art geworden«. Denn: »Wir müssen mit dem schädlichsten aller alteuropäischen Konzepte brechen: mit der Vorstellung der simplen Übertragbarkeit von Wissen. Diese Vorstellung des Einflößens ist systemtheoretisch falsch, sie ist moralisch falsch.« Stattdessen schlägt Sloterdijk ein Konzept vor, in dem Lehrer ihren Schülern allein das Lernenkönnen als größten Schatz ihres Lebens vermitteln, im Sinne von Training und Motivation: »Wir brauchen eine Schule, die den Eigensinn junger Menschen betont (…) Wir müssen die Schultüren vor Wirtschaft, Mode und sonstigen Nervensägen schließen und wieder einen Lebensraum aufbauen, in dem Menschen mit ihrer eigenen Intelligenz in ein libidinöses Verhältnis treten. (…) Die Rettung der kognitiven Libido müsste das Kernprojekt der Schule werden.«
Wir sollten vielleicht endlich davon absehen, Schule und Universität als Medien der Erziehung und des Erwachsenwerdens zu verstehen und sollten auf das Potenzial achten, das Kinder von sich aus mitbringen: ihre eigene Neugier. Um es mit Sloterdijk zu sagen: »Dabei tragen die Kinder ihre Neugier, ihre Begeisterung, dieses unschätzbare Medium der Vorfreude auf sich selbst, in den Lernvorgang hinein. Diese Vorfreude auf den nächsten eigenen Zustand ist das, worauf es ankommt. Und eine Didaktik, die das respektiert, arbeitet ganz anders und mit größeren Erfolgen, als eine Schule, in der die Pädagogen mit der Haltung auftreten: Ihr werdet euch noch wundern, und ich bin der, der es euch zeigen wird.«
In diesem Sinn wären die Schule und andere Bildungseinrichtungen ideale Medien, um Coaching als Prinzip einzuführen: Denn Coaching ist Neugierbildung. Ganz im Sinn der alten freien Geister, vor allem aber der Selbstbildung und Entwicklung der Menschen zu einem jeweils ganz eigenen Wesen. Wir warten auf eine Einladung. Denn, um Sloterdijk das Schlusswort zu gestatten: »Die Geste der Einladung ist vielleicht das Wichtigste. Durch sie werden die Schulen sozusagen Gästehäuser des Wissens und Ausflugsziele für die Intelligenz.«
Damit ist der Sinn des Lernens und der Bildung gut gekennzeichnet, was ist aber mit dem Zweck? Wofür man lernt, ist offenbar schwer vermittelbar geworden. Denn der Zweck des Lernens ist vor lauter Bildungshuberei nahezu tabuisiert worden. Es ist der Erfolg, auch jener, der sich in barer Münze auszahlt. Reichtum ist nicht das Ziel, aber Erfolg ist eine permanente Bestätigung auf dem Lernweg, den Sloterdijk beschreibt. Wer seiner Neugier folgt, geht in Aktion. Man startet Projekte und gründet Unternehmen (in Amerika ist das ganz selbstverständlich). Man setzt seine Intelligenz ein, für sich und für andere.
Kurz bevor Peter Drucker, der in Umfragen immer wieder als einflussreichster Managementdenker unserer Zeit genannt wurde, 2005 im Alter von 96 Jahren starb, gab er uns noch eine Bitte für das 21. Jahrhundert mit auf den Weg: Es sollten die Menschen doch endlich wieder wie Menschen behandelt werden. Das klingt einfach. Im Hintergrund dieser Aussage läuft jedoch ein Programm, das die jüngste Geschichte seit der industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts reflektiert. In den zweihundert Jahren seit dem Zeitalter der Aufklärung wird allgemein die Freiheit des Menschen proklamiert – und zwar in dem Sinn, dass er in seinem Dasein als »Zweck an sich« (Kant) wahrgenommen wird. Zweck bedeutet: Ziel. Ein Mensch ist nach Kant ein Wesen mit einem Ziel, das in ihm steckt. Kant argumentiert logisch: Man kann ihn, jeden Menschen, deshalb gar nicht anders begreifen, denn als das, was wir heute ein »Individuum« nennen, ein unteilbares Wesen, ausgestattet mit jenem Zweck an sich, der ihm jeweils eigen ist. Dieser Zweck ist aber nicht klar formuliert. Ein Leben lang haben wir Zeit, diesen Zweck herauszufinden und zu bilden. Je früher, umso besser.
Längst haben wir die Chance zur viel zitierten Selbstverwirklichung. Niemand ist gezwungen, in einer Fabrik zu arbeiten oder einen Beruf zu ergreifen, den er gar nicht ausüben will. Aber Peter Drucker hat noch etwas gesagt: Seit der industriellen Revolution hat sich fast alles verändert, nur der Einsatz der Menschen kaum. Industrie wurde mit Maschinenindustrie gleichgesetzt. Alles, auch die Arbeiter, wurden mehr oder minder als »Maschinen« und Arbeitskräfte wahrgenommen, visuell zum Beispiel dargestellt in Fritz Langs Film »Metropolis«: Der Fabrikarbeiter, der scheinbar sinnlos, nach einem geheimnisvollen Rhythmus, die Zeiger einer Maschinenuhr verstellt, scheint daran gefesselt zu sein. Die Maschine zwingt ihm einen Tanz auf, den er nicht beenden kann. Man kann sich nicht vorstellen, dass der Arbeiter einfach aufhören könnte. Man hat das Gefühl, dann würde das ganze System zusammenbrechen. So wie der Arbeiter selbst irgendwann einmal zusammenbrechen muss. Das ist das eigentlich Beklemmende an diesem Bild: Menschen als Teile von Maschinen oder als Maschinen selbst. Man sollte meinen, wir hätten dieses Paradigma endlich hinter uns gebracht. Keineswegs: Mitarbeiter in Schulen, Universitäten, Unternehmen und Konzernen werden auf ihre Funktionsweisen hin beurteilt. Das ist legitim. Vergessen wird dabei nur, dass sie die besten Leistungen bringen würden, wenn sie die richtigen Leute am richtigen Platz wären und mit allen Mitteln gefördert werden würden. Bei allen »Human Resources« (auch diesen Begriff könnte man schon als zynisch verstehen), Incentives, Events und lustigen Motivationsversuchen, in die Firmen Millionen investieren, soll ein sogenanntes Wir-Gefühl entstehen, ein Hauruck, das durch die Unternehmen geht. Hoch soll’n sie leben – bis der Mitarbeiter sich wieder am Schreibtisch vor seinem Beuteltee, seinen nicht zu bewältigenden Aufgaben oder umzingelt von Intrigen wiederfindet. Jeder Mensch hat die Option, sich selbstständig zu machen. Und dann kann er tun, was er will. Vor allem kann er sich von seinen eigenen Ideen tragen lassen und im Garten seiner eigenen Bildung die Wurzeln wässern, bis Blüten, Triebe oder Bäume daraus werden, die zum Himmel wachsen.
Es geht aber auch intern: Es ist bis zu einem bestimmten Grad legitim, von jemandem Leistung zu erwarten, wenn man ihm dafür Geld gibt – aber hat man ihn schon mal gefragt, was er eigentlich tun will? Welche Ziele er hat? Oder was er mal vorhatte? Wie viele Leute sind von ihrem Job wirklich begeistert? Wir dürfen es verraten: auf jeden Fall schon mal alle erfolgreichen Selbstständigen. Man kann mit guten Ideen ein neues, vitales Unternehmen gründen. Fast unmöglich aber ist es, bestehende Unternehmen zu verändern – zumindest so, wie Peter Drucker es uns aufgetragen hat.
In Friedrich Schillers Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen steht der bekannte Satz: »Der Mensch ist da ganz Mensch, wo er spielt.« Normalerweise wird das Spiel mit Kindern assoziiert. Vielleicht ist es in Bezug auf persönliche Entwicklung und Karriere auch so gemeint – wie im Fall von Mara.
Mara ist die Tochter einer High-Performance-Leadership-Trainerin aus meinem Team. Zu einer einjährigen Weiterbildung in New York hatte ihre Mutter beschlossen, die ganze Familie mitzunehmen und meldete die damals elfjährige Mara in Deutschland aus der Schule ab. In New York wollte Mara unbedingt auch am Training teilnehmen. Ihre Mutter nahm sie ernst, sie bemerkte ihren Enthusiasmus, wenn Mara darüber redete. Statt sie in die Schule zu schicken, ließ sie Mara am Kurs teilnehmen. Mara hat in dieser Zeit mehr als bereitwillig Englisch gelernt. Innerhalb des Teams nahm sie an einem Theaterworkshop teil, den sie selbst auf- und ausbaute: »Mara and the Pretty Girls«. Zurück in Deutschland bekam Mara bei einem Casting direkt eine Rolle für den ZDF-Spielfilm Liebe und Verlangen mit Katja Flint und Natalia Wörner in den Hauptrollen. Anschließend kamen mehrere Werbedrehs. Dann wechselte Mara die Agentur; über diese kam die Anfrage aus Australien, in einer TV-Serie mitzuspielen. Dieses Mal war es Mara, die ihre Familie mitnahm. Die Serie Blue Water High, eine Co-Produktion von NDR und ABC Australia, wurde in Australien ein Riesenhit, Mara ein regelrechter Star. Mit anderen Worten: Mara hatte ihre Rolle längst gefunden, ehe sie irgendwelche Abschlüsse getätigt hat. Sie war schon erfolgreicher, als man mit einem Abitur je sein kann. Und sie hatte sich in einem Fach professionell ausgebildet, ohne eine Schauspielschule je von innen gesehen zu haben. Alles aus purer Neugier, ihrem Instinkt folgend – und von niemandem abgehalten. Sie war und ist einfach da Mensch, wo sie spielt.
Das Beispiel Mara soll nicht zeigen, dass es ganz ohne Schule geht. Allgemeinbildung ist nicht das Schlechteste. Selbstverständlich ist es nicht falsch, Mathematik in den Grundzügen zu verstehen, zu wissen, wo Massachusetts liegt und wie man es schreibt. Aber irgendwann ist es auch genug. Wenn Wissen, das allenfalls bei Trivial Pursuit oder Wer wird Millionär? gewinnbringend eingesetzt werden kann, nicht mehr in Verbindung mit dem Menschen steht, dann ergibt es wenig Sinn. Mara hat das praktiziert, was ausgerechnet Heidi Klum einmal als »seiner eigenen Neugier folgen« bezeichnet hat. Weil sie sich selbst gefolgt ist und geschaut hat, wie dehnbar ihre Grenzen sind, ist sie heute als Topmodel und Show-Moderatorin auf zwei Kontinenten unterwegs. Denn hinter dem Konzept »Neugier« verbirgt sich eine vollkommen andere Lebenshaltung, eine sehr lebendige. Diese Haltung sollte meiner Meinung nach Schule machen. So könnte man zum Beispiel die Neugierpotenziale der Kinder entdecken und fördern. Herausfinden, wo sie leuchtende Augen haben und was sie animiert, tiefer in die Materie einzusteigen, um sie zu verändern.
Lehrer sollten coachen. Wo Kinder Energie entwickeln, wächst kein Gras mehr. Vermutlich ist es die Angst vor dieser Kraft, die sich in Jahrhunderten der »Erziehung«, des Drucks und der Einpressung in vorherrschende Systeme, ja auch in der Kopplung von Bildung und »gutem Benehmen« niedergeschlagen hat. Warum sonst sollte man das Gefühl haben, Kinder zähmen zu müssen? Und wieso wohl haben so viele von ihnen heute ein ADHS-Syndrom? Die neuesten Erkenntnisse münden darin, dass Kinder daran gehindert werden, sich dort auszutoben, wo sie es wollen.
Erstes Fazit: »Bildung« im klassischen (und überholten) Sinn bringt Künstlichkeit hervor, wenn man nicht dort ansetzt, wo jeder einzelne Mensch für sich geweckt wird. Das Geistes- und Kulturleben, das man so offiziös verteidigt, sollte sich nicht in staubigen Klassenräumen oder vor durchsubventionierten Opernhäusern abspielen, sondern auf Bühnen, in Camps, Clubs und Cliquen!
Ein beträchtlicher Anteil an der Traurigkeit, die man in seiner Pubertät und Jugend erfährt, liegt daran, dass man in dem Alter keine Chance eingeräumt bekommt, etwas zu unternehmen – im wahrsten Sinn des Wortes. Jungen, jugendlichen Menschen wird wenig zugetraut, und sie haben kaum Mittel, um zu fördern, was ihrer Neugier entspricht. Sie dürfen einfach noch nicht erfolgreich sein oder auf einer Bühne stehen – nicht, weil sie es nicht könnten, sondern weil man es ihnen nicht zutraut, oder vielleicht sogar, weil man sich vor ihnen fürchtet. Wehe, wenn sie losgelassen, denn »die Menschen suchen nicht nach dem Sinn des Lebens, sondern nach dem Gefühl, lebendig zu sein«, schrieb Joseph Campbell. »Lernen« wird im Allgemeinen als negative Erfahrung assoziiert, als Zwang zur Trennung von Gewohntem und mühsamer, qualvoller Prozess des Sich-Aneignens fremder und befremdlicher Themen. Ist nicht der Gedanke nahezu obszön, dass man sich beim Lernen lebendig fühlen dürfte? So richtig in seinem Element? Warum sollte das bitteschön nicht möglich sein?
Wenn ich heute gefragt werde, welches Schulsystem das Beste ist, sage ich: keins! Außer man trifft in seinem Leben auf echte Lehrer, tiefe Menschenkenner und humane Vorbilder. Fakt ist, dass wir ja immer noch am Anfang der Entdeckungsreise sind, wer wir überhaupt sind! Es ist fatal, wie Wissenschaft, Staat und Religion, Psychologie, Philosophie oder Pädagogik den Menschen immer noch bevormunden und klein halten und ihn nicht als einen zu Wachheit und Bewusstheit Fähigen erkennen. Obwohl wir schon die Erde vermessen, den Mond besiedeln und deshalb denken, wir hätten was von der Welt verstanden – aber den Menschen kennen wir noch nicht!
Bei meinen zehn Enkeln kann ich heute sehr wohl sehen, welche Talente wir Menschen haben. Denn den Genius bringen wir mit! Nur, ob wir ihn selbst entdecken, entwickeln und in unserer Intelligenz forschen dürfen und dann damit ein Beitrag für die Gemeinschaft werden, das hat mit einer liebenden Umgebung zu tun – einer Umgebung, die nicht programmiert, indoktriniert, einschüchtert und klein hält. Ein Baum braucht den richtigen Humus, Sonne, Wasser und Platz, um sich zu entfalten. Mit Menschen ist es ebenso, wie man zum Beispiel bei Aristoteles sehen wird (der hielt übrigens depressive Menschen für besonders außergewöhnlich!). Der Mensch ist das komplexeste Wesen auf der Erde, und er braucht eine tiefgreifende und komplexe Lernmethode, um sich zur echten Freiheit hin entwickeln zu können. Ich finde, die Zeit ist reif dafür!
Jeder Mensch wächst – nicht nur physisch, auch psychisch. Die von Martin Sage, Gigi Sage und mir über Jahre entwickelte »Performance Scale« skizzieren die verschiedenen Stadien dieses Wachstums, angefangen von ursprünglicher kindlicher Neugier über deren Abbau durch Erfahrungen und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen und Haltungen: Skepsis, Ironie, möglicherweise Sarkasmus oder Zynismus machen sich dann breit, um der ursprünglich naiven Neugier entgegenzutreten, ja das Überleben zu sichern: Nur durch Erfahrungen kann man überleben. Schon in grauer Vorzeit überlebte nur, wer vorsichtig ist. Wer umsichtig ist, findet Nahrung. Wer nur neugierig ist, wird schnell selbst zur Nahrung. Eine gewisse »Grundierung« ist daher vollkommen natürlich.
Jeder Mensch wächst wie ein Baum. Nicht nur nach oben, auch nach unten. So muss man die »Performance Scale« betrachten: Nach oben die Krone, nach unten die Wurzeln. Das bedeutet: Auch wenn die unteren Eigenschaften negativ klingen, machen sie Sinn. Nur über das Bewusstsein dieser Elemente gelangt man wieder zu einer aufgeklärten Neugier: die »Heiterkeit« im Sinne Nietzsches.
Die meisten Menschen durchlaufen nach dem Verlust ihrer kindlichen Neugier die unterschiedlichen Stadien – meistens befinden sie sich unterhalb der Mitte. Unser Coaching besteht darin, dieses Stadium zu erkennen und unsere Klienten quasi in das nächste höhere zu hieven – wenn es geht, bis hin zu »Bliss«. In unseren Büchern sind wir darauf intensiv eingegangen. »Coaching« zeigt mit den hundert Tools die Mittel und Wege, Menschen zu bewegen, indem sie selbst reflektieren. »Die Chefin« zeigt den Weg »nach oben« anhand unternehmerischer Entwicklung, denn diese ist ebenso eine mentale.
Man kann die »Performance Scale« auf den unterschiedlichsten Ebenen entwickeln. In diesem Buch skizzieren wir anhand der »Performance Scale« die Bildung. Speziell: die Bildung zur Neugier. Denn wir zeigen hier, dass dieses System in unserem Zeitabschnitt einen historischen Abschluss findet. Zumindest halten wir ihn für dringend angebracht und befinden uns damit in bester Gesellschaft: Peter Drucker, Peter Sloterdijk und viele andere fordern nicht nur ein Umdenken, sondern eine neue Vermittlung von Wissen. Eine menschliche Bildung, die vor allem die uns allen eigene Neugier wieder fördert, statt zu indoktrinieren, theologisieren oder theoretisieren.
Wie Sie sehen werden, hat jedes Zeitalter seine eigene Art der Vermittlung von Wissen hervorgebracht, das den Stadien der »Performance Scale« entspricht. Sogar je einen eigenen Denker, in dessen Philosophie und Wirken diese Grundlagen sehr gut abzulesen sind. Aufgrund eigener, sehr unangenehmer Erfahrungen beginnen wir mit »Dogma«, dem Instrument besonders der katholischen Kirche. Man hat unserer Arbeit unterstellt, genau das zu betreiben, was man der katholischen Kirche seit jeher unterstellt: Entmündigung, Angstmache, Abhängigkeit. Ein paar Vorurteile in die Welt – in diesem Fall natürlich ins Internet – gestreut, und schon ist man stigmatisiert. Unsere Bücher zu lesen oder uns selbst anzusprechen, hatte man nicht für nötig befunden.
Aber die »Performance Scale« ist nicht abgeschlossen. Es ginge sogar noch weiter nach unten: Folter. Die Methode, bei der Wissen hervorgebracht wird, indem man sie erzwingt. Folter oder Inquisition, wie sie im Mittelalter gängige Praxis war. Durch ein »Geständnis« wird genau die Wahrheit konstruiert, die man erwartet. Sobald der Gefolterte sagt, was man ihm einbläut, wird er erlöst. Dann ist das Ziel erreicht, aus der herausgepressten »Wahrheit« Konsequenzen folgen zu lassen.
Diese Perversion von Lernprozessen soll hier nicht erwähnt werden, weil dem Mittelalter zu verorten ist. Wer aber meint, wir befänden uns automatisch in einem hoch entwickelten kultivierten Stadium der Bildung und des Fortschritts, hat die Rechnung nicht mit den negativen Komponenten gemacht. Unsere Bildung und unsere Bildungssysteme sind weit davon entfernt, von ihren scholastischen Zöpfen und Bildungsbürgertum befreit zu sein. Was wir fordern, ist noch lange nicht erfüllt, vielmehr in weiten Teilen tabuisiert: Bildung als Spaß, als freiwillige Selbsttätigkeit der Neugier, als Wiederentdeckung der hauseigenen kreativen Kräfte, Gespannt sein auf sich selbst. Oder als »kognitive Libido«, wie Peter Sloterdijk es ausdrückt.
Gehen Sie mal mit uns zusammen durch die verschiedenen Stadien der Bildung. Lernen Sie die Lehrer der Epochen und die Lernsysteme kennen. Dann zeigen wir Ihnen, wie es mit dem Lernen und der Bildung in der Gegenwart aussieht und in der Zukunft sein könnte.
Was wissen wir, wenn wir wissen? Wie wahr ist es? Und wie wurde es uns vermittelt – durch Glaubenssätze, Verordnungen, der Verpflichtung zum (richtigen) Glauben – oder weil wir es uns selbst angeeignet haben? Oder nicht etwa einfach durch natürliche Neugier, oder »Liebe zur Weisheit« (griech.: »Philosophie«)?
Wir haben noch bis vor Kurzem gelernt, dass Lernen schmerzhaft sein soll, dass Bildung mit Erziehung einhergeht, dass man nicht nur aufpassen, sondern sich auch benehmen muss. Das amerikanische Wort »education« bedeutet sowohl »Bildung« als auch »Erziehung«. Lernen bereitet traditionell selten Vergnügen. Der Prozess des Lernens bedeutet darüber hinaus, etwas Neues zu erfahren und sich deshalb von Altgewohntem zu trennen: ein oftmals quälender Prozess, vor allem, wenn man einen Stoff gar nicht lernen will, weil er nicht interessiert. Umgekehrt kommt es manchen einer Bloßstellung gleich, wenn sie »zugeben« müssen, dass sie etwas nicht wissen – statt ihre Neugier zu belohnen und zu befördern. Wiederum andere lassen ihren Nachbarn nicht ins Heft schauen, weil sie das Gefühl haben, Besitz zu verschenken. Es wird seit Francis Bacons berühmtem Ausspruch vom »Wissen als Macht« kulturell-traditionell ein unglaublicher Veitstanz darum gemacht, wer etwas weiß und wer nicht. Denn auch die Kodierung des Wissens hat eine lange Tradition, sodass Wissen für jene Macht bedeutet, denen es zugänglich ist. Bildungsgeheimnisse wurden verrätselt, indem sie zum Beispiel einfach in der griechischen und lateinischen Sprache verfasst wurden – und dadurch nur denen zugänglich waren, die die alten Sprachen beherrschten, namentlich und fast ausschließlich Vertreter der christlichen Kasten.
Aber es hat sich viel getan in Sachen Bildung. Es gibt viele Helden und Protagonisten, die nicht unbedingt in der Geschichte der Pädagogik, sondern auch im Denken gewirkt haben. Die Weltentwerfer der Philosophie sind es, die unsere Menschwerdung befördern. Wenn man sich überlegt, dass es die Konzeption vom Menschen als Wesen mit Anspruch auf Freiheit seit der Aufklärung gibt, also gerade einmal seit 250 Jahren. Oder die Entdeckung der Menschen als Ich-Wesen mit eigener Vergangenheit, eigenen Prägungen, durchaus verletzbar und jeder für sich ein Mensch … Sigmund Freud traf einmal die Aussage, das »Ich sei nicht Herr im eignen Haus«. Der Durchbruch der Psychoanalyse ist gerade einmal 100 Jahre her. Demgegenüber klingt nichts so antiquiert wie die Indoktrination bestimmter Wahrheiten von oben herab.
»Hier stehe ich nun und kann nicht anders«: Martin Luther hat vor dem Konzil seine Schwäche zur Stärke gemacht – und man hat es durchgehen lassen. Er nahm vorher seine Verfolgung zum Anlass, die Bibel in seinem Versteck ins Deutsche zu übersetzen. Mit der Bibel-Übersetzung vom Lateinischen ins Deutsche schlug Luther gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe: Die sogenannte »hochdeutsche« Sprache war erfunden, obwohl Luther nach eigener Aussage dabei nur »dem Volke aufs Maul geschaut« hat. Durch die Bibel in deutscher Sprache war das Wort Gottes nun theoretisch jedermann zugänglich und wurde nicht allein von der Kanzel herab gepredigt. Und praktisch wurde es, wenn das deutsche Volk nun verstärkt Verlangen verspürte, die deutsche Sprache und Rechtschreibung zu lernen, um die Bibel und andere Schriften lesen zu können. Mit diesem Einsatz war der Weg zur eigenen Entfaltung bereitet. Auch wenn es ein langer Weg werden sollte. Die höheren Bildungsideale, zu Zeiten der Reformen Wilhelm von Humboldts realisiert, sind im Dritten Reich kassiert worden; in der 1968er-Revolution wurde die Antiquiertheit der Universität mit der Feststellung unterstrichen, dass »unter den Talaren der Muff von tausend Jahren« stecke.
Vom kirchlichen Dogma, der Alleinherrschaft der Kirche über die Lehre bis zum heutigen – wenn auch nicht gerade »modernen« – Bildungsbegriff lässt sich in der Geschichte der Philosophie und des Denkens sehr viel entdecken, was sich heute für einen neuen Bildungsbegriff nutzen lässt. Bis hin zu den ersten »Coaches« wie Nietzsche, den Querdenkern und Fragen-Aufwerfern des 20. Jahrhunderts bis zum heutigen Tag. Und das sollten wir aufgreifen, um schließlich zu formulieren, was Bildung sein kann und sein sollte.
Das Anprangern mangelnder »Bildung« oder auch »Wissens« und »Erziehung« ist zwar sehr populär und bestsellertauglich, geht aber im Kern noch nicht einmal davon aus, dass sich vielleicht nicht nur das Gehirn weiterentwickeln soll, sondern auch die Seele. Manch einem kommt dieser Gedanke vielleicht sogar fremd vor. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass dieser Gedanke beim Urvater der Philosophie zu finden ist: bei Platon.
Wenn man von Platon schon einmal gehört hat, dann meistens vom »Höhlengleichnis« oder der Forderung, dass die Philosophen die Könige sein müssten, die Herrscher über die griechische Polis, die übrigens viel von der Sklavenhaltung hält und aus der die Künstler als allererste vertrieben werden sollten. Von Neville Whitehead, einem Philosophen im 20. Jahrhundert, stammt das Bonmot, die gesamte Geschichte der Philosophie – und somit auch die Bildungsgeschichte – sei eine einzige Fußnote zu Platon. Und so ganz hat noch niemand Whitehead widerlegen können.
Platon lebte im 5. und 4. Jahrhundert vor Christus. Natürlich gab es schon vor ihm so etwas wie Philosophie, aber die Schulen der Vorsokratiker wie die Eleaten, die Pythagoreer oder die Sophisten verfolgten immer eine bestimmte Denkrichtung, mit der Wissenschaft wie Medizin oder auch Rhetorik betrieben wurde. Philosophen waren vor Platon vor allem in der rhetorischen Ausbildung und Beratung von Politikern oder als Mathematiker und Logiker unterwegs. Platon war der erste, der die großen Fragen nach dem Sinnganzen stellte, nach der Ordnung und Beschaffenheit des Kosmos und wie es eigentlich zu ihm und seinen Erscheinungen ringsum kommt. Und da wird es spannend.
Im antiken Griechenland kannte man keinen Bildungsanspruch, wie wir ihn heute so vehement verfolgen oder einfordern. Der durchschnittliche Grieche war um seine Geschäfte und seinen Hof (»oikos«) bemüht. Und wenn bei den Männern auch dank seiner Sklaven und Frauen alles ganz passabel lief, frönte man mit Nachdruck dem Müßiggang und den Knaben, denen der Großteil der erotischen Zuneigung zufloss, weil Homosexualität gesellschaftlich höher anerkannt war und die Beziehung zu Frauen mehr oder weniger nur der Fortpflanzung diente. Das berühmte Symposion von Platon weiß gleich mehrere Hohelieder davon zu singen. Hier, beim Müßiggang und den Festmählern, begegnen wir auch dem Protagonisten Platons, dessen Philosophie ja keineswegs auf dem eigenen Mist gewachsen ist, sondern die aus seinem Munde stammt: Sokrates, der weise Mann vom Marktplatz. Auf der »agora« fand er sein Terrain, um die wichtigen Fragen der Philosophie zu klären. Denn Sokrates selbst »wusste« nichts. Gar nichts. Einer seiner bekanntesten Sätze lautet »Ich weiß, dass ich nichts weiß«. Das ist ein wenig kokettiert – natürlich wusste Sokrates eine ganze Menge – aber es ging nicht um das Wissen, sondern um das Fragen. Und auch Dinge, von denen man schon viel gehört hat, können sich von einer ganz anderen Seite zeigen, wenn man jemanden danach befragt. Sokrates ging einfach über den Marktplatz spazieren und fragte irgendjemanden nach Dingen, die ihn beschäftigten. Diese Dialoge hat Platon nachgezeichnet in den berühmten Texten wie Menon, Phaidon, Phaidros oder eben Symposion. Und immer stellt er Fragen, die so einfach klingen, als könne man sie ohne weiteres beantworten – was dann eben nicht der Fall ist.
Sokrates war nicht daran interessiert, seine Weisheiten als Wahrheiten zu verkünden. Das kam ihm nicht einmal in den Sinn. Stattdessen kultivierte er sein Nicht-Wissen ins Extrem, um immer neue Facetten ein- und desselben Themas herauszuhören. Gleichzeitig verhalf er denjenigen, mit denen er redete zu Reflexion und Erkenntnis. Diese Kunst, etwas aus anderen förmlich »herauszuholen«, heißt folgerichtig »Maieutik«: Hebammenkunst. Sokrates war nichts anderes als eine Hebamme der Erkenntnis. Um nicht zu erwähnen, dass das, was er hervorbrachte, zu den philosophischen Monumenten unserer abendländischen Kultur zählt, die tatsächlich den Verdacht nahelegen, dass seine so grundsätzlichen Fragen den Grundstein für alles legten, was die Philosophiegeschichte als Fußnote anbrachte. Leider ist es bei den neugierigen Fragern nicht geblieben – sie wichen den wissenden Dogmatikern und Scholastikern des christlichen Abendlandes. Bevor wir uns einer Kritik der Entwicklung aus Platons Philosophie zuwenden, betrachten wir aber erst die Gleichnisse zur Bildung. Und das ist gar nicht so einfach.
Sokrates fragte immer nach dem, was in unserem Kosmos stillschweigend vorausgesetzt wird. Und so fragt er auch nach dem, was wir »Seele« nennen. Dies ist sehr elementar, denn man darf sich das Denken in der Antike nicht so vorstellen wie unser Denken. Dieses Denken war weitgehend mythisch-ästhetisch – unseres ist eher begrifflich. Auch wenn Sokrates sich umgangssprachlich von der Seele »einen Begriff machen« will, gibt es keinen dafür. Vielmehr treffen wir die Seele als Bild an, inmitten des Kosmos, mit dem sich die Griechen ihren Reim auf die Welt und das Geschehen machten. Denn sie ist es, mit der man eventuell zum Göttlichen aufstreben kann, je nachdem, wie sterblich oder unsterblich sie im Lauf eines Daseins ist. Das hängt ganz von der Ausbildung ihrer Tugenden ab. Mit anderen Worten: Es geht bei Platons Bildungsbegriff in Zusammenhang mit der Seele vielmehr um eine moralische Definition als um großartiges Wissen. Und dieser hängt vor allem mit der ethischen Vollkommenheit zusammen, um die man sich als Sterblicher kümmern muss, um möglichst unsterblich zu werden. Dann aber kann es gelingen, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen, nämlich dorthin, wo das Göttliche sitzt.
Diese Welt, der griechische Kosmos, ist eine vorhandene, die man antrifft, nicht eine, die man als erkennendes Subjekt gleich vereinnahmt. In diesem Kosmos nehmen die irdischen Dinge in »oikos« und »polis« (auf dem Hof und im Stadtstaat) ihren Lauf, während oben die Götter wohnen und tagsüber unterhalb der Wolken ständig auf ihren Wagen auf- und abfahren. Oberhalb der Wolkenkulisse, dort wohnen sie, und hier bekommt man auch eine Ahnung von dem, was »Wissen« bedeutet: »Auf dieser Umfahrt aber sieht sie die Gerechtigkeit selbst, sieht auch die Besonnenheit und sieht das Wissen, (…) das wahrhafte Wissen, das sich an dem wahrhaft Seienden zeigt. Und nachdem sie gleicherweise auch das andere Seiende gesehen und sich daran erlabt hat, senkt sie sich wieder ins Innere des Himmels und kommt nach Hause zurück.«
»Nach Hause« bedeutet also »zum Wissen«, aber auch zum Seienden im Gegensatz zum Werdenden, was das Menschliche mit der Vergänglichkeit der Existenz ausmacht. Es kann ja nur sein, dass das Göttliche für das Lebende sorgt, und entsprechend: »Alles, was Seele ist, sorgt für das gesamte Unbeseelte« (ebd.). In Platons Dialog Phaidros, in dem es um Sterblichkeit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele geht, ist der Wagenlenker die sogenannte Vernunft; die zwei Pferde, die er lenkt, leider zwei sehr auseinandergehende Charaktere, nämlich die Begierde und der Mut (245c–249c). Die Kraft, die sie beim Fahren entwickeln, bildet die menschliche Seele. Bei Platon heißt es dann:
25. »Bei uns nun lenkt zunächst der Führer das Gespann; darauf erweist sich ihm das eine Pferd als fromm und gut und von ebensolcher Herkunft, das andere dagegen von entgegengesetzter Herkunft und Beschaffenheit. Die Lenkung des Wagens ist also bei uns notwendig beschwerlich und mühsam.«
Die Beschaffenheit dieser zwei Pferde führt logischerweise zu einem ewigen Hin und Her, bei dessen Ausbildung entsprechend das eine oder andere Pferd überhandnimmt – während der Wagenlenker seine liebe Mühe hat, den Wagen auf Kurs zwischen Himmel und Erde zu bringen:
28. »Das ist die Lebensweise der Götter. Von den anderen Seelen aber erhebt diejenige, die den Göttern am besten Gefolge leistete, das Haupt ihres Wagenlenkers in den Raum außerhalb und wird im Kreislauf mit herumgeführt, voller Angst zwar vor den Pferden und deshalb das Seiende kaum sehend. Eine zweite erhebt sich bisweilen, taucht aber dann wieder unter, und von den Rossen gewaltsam dahingerissen, sieht sie zwar einiges, aber anderes wieder nicht. Und die Übrigen sehnen sich zwar nach oben und folgen alle; doch fehlt ihnen die Kraft, und sie werden unter der Oberfläche herumgetrieben, wobei sie einander schlagen und stoßen und jede sich der anderen vorzudrängen sucht. So entstehen denn Verwirrung und Streit und bitterer Schweiß, wobei infolge der Untüchtigkeit der Wagenlenker viele Seelen lahmgeschlagen werden und viele sich viele Federn zerbrechen.«
Die Vernunft ist also ein ewiges Zerreißen im Streben nach oben, wo viel Federn gelassen werden – was immer weniger dazu beiträgt, dass der Wagen zum Göttlichen hin gelangen kann. Stattdessen sinkt die Vernunft tendenziell nach unten und ist irgendwann entsprechend »geerdet«. In diesem Spannungsfeld aber steht für Platon die menschliche Existenz, und ihr Streben tendiert »nach oben«, um herauszufinden, was die Götter hinter den Wolken so tun und treiben …, um im Idealfall dazuzugehören. Mit Platon kann man also sagen: Wer sich möglichst tugendhaft verhält und die störrische, wilde Seite seiner Existenz möglichst in Zaum hält, verliert umso weniger Federn und kann umso höher fliegen.[4]
Was Platon mit »Wissen« meint, ist hier, wie bereits erwähnt, eher eine Disziplin, die unterschiedliche Facetten hat, von denen man sich zur Erreichung der Vollkommenheit eine aussuchen kann: Es geht nicht um höchste Intelligenz, sondern um die Ausbildung der Seele in einem beliebig frei wählbaren Bereich – wohl jenem, der dem einen oder anderen am meisten liegt. Oder derjenige, zu dem ihn die Neugier am meisten hinzieht. Wie auf Flammarions Holzstich mit dem Titel »Neugier«, in dem sie als Blick hinter den Himmelhorizont gedeutet wird[5], geht es bei Platon in allem darum, für ein möglichst perfektes Leben möglichst wenig Federn zu lassen, um einmal hinter den Wolkenkulissen einen Hauch göttlicher Existenz zu erfahren, denn:
»Jene (Seele), die am meisten gesehen hat, geht ein in den Lebenskeim eines Mannes, der ein Freund der Weisheit (Philosoph) oder der Schönheit oder ein Mensch mit musischer Bildung werden soll, oder einer, der sich auf die Liebe versteht; die zweite in den Keim eines Königs, der den Gesetzen gehorcht oder ein guter Krieger ist oder sich wohl auf das Herrschen versteht; die dritte in den eines Politikers, eines Wirtschafts- oder Finanzmannes; die vierte in den eines Wettkämpfers, der anstrengende Übungen liebt, oder eines, der sich mit der Heilung des Leibes befassen wird. Die fünfte wird das Leben eines Sehers oder sonst eines Priesters führen; zu der sechsten wird das Leben eines Dichters oder eines anderen nachahmenden Künstlers passen, zu der siebenten das eines Handwerkers oder Bauern, zu der achten das eines Sophisten oder Volksschmeichlers, zu der neunten schließlich das eines Tyrannen.«
Das ist das Bemerkenswerte an Platons Ausführungen: Dass nicht das Ethische, die moralische Vollkommenheit eines Menschen im Vordergrund dieser Bestrebungen steht, sondern der Antrieb, in dem möglichst hoch hinauszugelangen, was dem einzelnen am meisten liegt – vom Bauern über den Musiker bis zum Tyrannen (mit dem bei Platon kein Diktator im modernen Sinn gemeint ist, sondern ein milder Alleinherrscher in Gestalt eines Königs). So sind alle notwendigen »Berufe« abgedeckt, in denen man zur Vortrefflichkeit wachsen kann – und, um in Richtung Himmel zu blicken, über sich hinaus. »Bildung« ist also Ausbildung der Seele – und mit ihr kann man fliegen, solange die Dynamik der Neugier den Menschen förmlich nach oben zieht. Das Ziel besteht für Platon darin, ein »möglichst gutes« Leben zu führen, indem man in seiner Disziplin, sei es nun Bauer oder König, nach dem Höchsten strebt und die widerstreitenden Kräfte in Gestalt der Pferde optimal im Zaum hält.
Das Höchste der Gefühle ist – selbstredend – die Philosophie: »Philosophie« bedeutet sprichwörtlich »Liebe zum Wissen«. Entsprechend sieht Platon auch den Philosophen, sprich sich selbst, als potenziellen Thronanwärter. Sein ehemaliger Lehrer und Sprecher Sokrates aber wird zu ganz sterblichen Lebzeiten zum Tode verurteilt, weil es heißt, er habe mit seinen Ideen die Jugend verdorben. Indem er ganz irdisch entleibt wurde, entschwindet vermutlich auch seine Seele in die Unsterblichkeit – oder doch nicht?
Was bleibt, ist die bei Sokrates vermutlich unsterbliche Seele und das, was Platon das »Staunen« nennt: »Das Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen« (Platon: Theaitetos155 D). Allem Anfang liegt bekanntlich ein Zauber inne – so auch dem Anfang der Philosophie, den Platon unternommen hat. Bei Platon besteht der Zauber darin, dass er den Luxus genießt, als einer der ersten Philosophen die grundsätzlichsten und allgemeinsten Fragen der Menschheit stellen zu können, ohne sich mit vordefinierten Dingen herumzuschlagen; die negative Seite dieses »Zaubers« ist die Macht, die jeder Idee innewohnt, sei sie noch so gut. Platon selbst – nicht zu verwechseln mit Sokrates – war eher ein Diktator, zeitlebens hat er die Demokratie bekämpft.
Mit dem Staunen aber kam die Liebe zum Wissen zur Welt. Diese Form der »Bildung« ist keineswegs eine intellektuelle, sondern eine leidenschaftliche Art, den Dingen auf den Grund zu gehen. Und auch nicht, um wissenschaftlich zu einem kalkulierten Ergebnis zu gelangen, sondern voller Neugier auf das, was gleich passieren wird: In luftigen Höhen mit den zwei entgegengesetzten (und keineswegs guten und bösen) Kräften zu steuern, um den Weg hinauf zu finden, jenseits der Wolken des menschlich Erkennbaren. Nennen wir es Metaphysik, Transzendenz … oder sogar Sex. Der »Wille zum Wissen«, wie Michel Foucault mit Blick auf Platons Symposion in unserer Zeit die Erotik definiert, hat hier durchaus seine Wurzeln, wie man schon an der emotionalen Beschaffenheit der staunenden Neugier, der Liebe zum Wissen erkennen kann.[6] Insofern ist das Lernen und Streben nach dem Neuen eine regelrecht erotische Angelegenheit, die Begierde in Neugierde lenkt.
Und auch der sehr lebendige Philosoph Peter Sloterdijk hat die Wertstellung von Platon in die Neuzeit sehr anschaulich übertragen. Mit dem Philosophen und späteren Bischof Augustinus seien etwa 600 Jahre nach Platon dessen Denkformen in die europäische Ideengeschichte eingeführt worden. Immerhin, »Glaube, damit du erkennst« war das große Credo des Augustinus, und diese erstaunliche Wendung vom Glauben als Voraussetzung des Wissens setzt in der Tat die ursprüngliche Liebe zum Wissen außer Kraft.
Der herrschende Platoniker sei kein geringerer als der Papst selbst, der eine »Diktatur der Wahrheit« betreibt, wie Sloterdijk in seiner Sendung Das Philosophische Quartett einmal hervorhob: Wie im einzelnen Augustinus das Erbe Platons antritt, um daraus ein Kirchendogma zu entwickeln, bleibt zunächst einmal Gegenstand einer umfassenden Ausarbeitung; die katholische Kirche jedoch als »große monologische Philosophie« einzustufen, Sloterdijks Verdienst. Sie sei eine »Expertenherrschaft des Heilswissens, von einer atemberaubenden Unwahrscheinlichkeit; wir sollten dieses Schauspiel genießen, so lange es existiert.« Schon Goethe habe den seinerzeit amtierenden Papst als »hervorragenden Schauspieler« eingestuft, hinter dessen Verkündigungen der kirchlichen Lehre große Heuchelei wartet.
Augustinus, der in seinem kirchlichen Vorleben vor allem den, damals noch nicht sündhaften, freizügigen Verhältnissen mit Frauen zugeneigt war und seinen Trieben freien Lauf gewährte, führt mit seiner Weihe zum christlichen Bischof eben jenen Wandel durch, der die ehemalige Liebe zum Wissen ins Dogma verkehrt: Nun ist es der Glaube, der Priorität hat und der jedem verkündeten Dogma uneingeschränkten, von jedem Zweifel erhabenen Tribut zollt. Als neuer Bischof hält Augustinus zunächst gegen sich selbst Gericht, um in den Confessiones seine Sünden »ins reinigende Feuer des Bekenntnisses zu werfen« (Sloterdijk). Dieser erstmalige Akt der Selbstbezichtigung einer falschen Lebensführung wird zum Vorbild und markiert endgültig das Ende der antiken Lebensweise, die das »möglichst Gute« Platons ja noch so verstanden hat, dass man die höchste Lebensqualität erzielen sollte – Genuss und Knabenliebe inklusive.
Aber dort, wo man bestrebt war, zu den Göttern hinaufzublicken und ihnen möglichst nah zu kommen, sitzt nun der eine Gott, um seine Urteile auf irdische Wesen herabzuschleudern, die nun nicht einmal ansatzweise in der Lage sein sollen, zu fliegen. Dem »Guten« ist nun nicht mehr das »Schlechte« im Sinne von Üblem oder mangelnder Lebensqualität gegenübergestellt, sondern schlicht das »Böse«; und schon kann jeder einzelne ganz schnell in diese Kategorie hineinfallen, wenn er nicht aufpasst. Aus dem platonischen Lehrgebäude ist eine einzige große Drohgebärde geworden. Die augustinische Wendung der platonischen Ideen in die »christliche Katastrophe der Philosophie« (Sloterdijk) macht eben jener triebhaften Neugier den Garaus, die diese Leidenschaft beflügelte: die »Liebe zum Wissen« und die unumschränkte Frage nach dem Seienden. In Zukunft wird alles direkt von oben erklärt, inklusive fehlender Sinnstiftungen, die die Kirche mit ihren theologischen Deutungen bereithält. Insofern ist es tatsächlich amüsant, was die Kirche gerade zu modernen Problemstellungen immer wieder zu sagen hat, obwohl sie selbst längst aus der Zeit gefallen ist.
»Das Phänomen Augustinus« ist jedenfalls nach Sloterdijk »ideen- und mentalitätsgeschichtlich schicksalhaft geworden, weil durch ihn der meistbewegende Gedanke der alten Welt – Platons Deutung der Liebe als Heimweh nach dem präexistenziell intuierten Guten – einer folgenreichen, verdüsterten Neudeutung, ja einer Umkehrung unterworfen wurde« (Sloterdijk 2005:3). Eben jener Umkehrung, die Platons »Hoch hinaus« der individuellen menschlichen Entwicklung, das vom Himmel »nach Hause« (Platon) kehrt, in ein »Von oben herab« verkehrt und massive moralische Grenzen errichtet, um Menschen in ihrem irdischen Dasein schön auf dem Boden der Tatsachen zu lassen und dadurch Macht auszuüben. Das aber ist Leugnung der Wahrheiten, die Sokrates ausspricht oder immer gesucht hat – und die letztendlich nicht zu »der Wahrheit« schlechthin führt, die im christlichen Dogma verkündet wird, sondern zu dem guten Leben, das jeder in der Lage ist zu führen – abgesehen von den menschlichen Ausnahmen der Kultur im antiken Griechenland wie Haussklaven oder Frauen. Was hinter den Kulissen der christlichen Kirche abläuft, trieb im Lauf der Kirchengeschichte wiederum ganz andere Blüten, von Konkubinen, Papstfrauen und -kindern bis hin zu massiven Verleugnungen fundamentaler Fragen, die seit Sokrates nicht mehr gestellt wurden.
Denn nach dem Motto »Wasser predigen, Wein trinken« verfährt im gewissen Sinn auch der Befürworter des »Philosophenkönigs«, Platon selbst, der mit seinem Lehrer Sokrates oft wenig gemeinsam hat. Immerhin: In Sokrates’ Schierlingsbecher ist das Gift vermutlich mit Wein gemischt gewesen.
Was den Bestand der platonischen Gedanken angeht – die ja im Sinn Whiteheads alle moderne Philosophie als »Fußnote« erscheinen lässt –, so ist sie mit dem Rückgang des christlichen Dogmas mit der Reformation, der Renaissance und der Aufklärung wieder stark aufgelebt. Zwischen Augustinus und der Reformation herrscht immerhin philosophiegeschichtlich für tausend Jahre nahezu Stillstand. Und auch, wenn die Neuzeit seit Descartes mit ihrem wissenschaftlich-rationalen Ansatz andere Probleme schafft, so ist die Philosophie Platons, Hebammenkunst des Sokrates, so aktuell wie nie. »Platon wieder lesen: Das kann bedeuten, sich darauf einzulassen, mit Platon – und Platon zum Trotz – an der Aktualisierung unserer Intelligenz zu arbeiten« (Sloterdijk 2005:29).
Auch bei Aristoteles steht die Bildung der Seele und nicht primär des Geistes im Vordergrund. Und auch er hat in seinen Ausführungen das gleiche Motiv wie Platon: Im Zuge der Entwicklungen in der griechischen Polis und seiner Herrscher geht es vor allem um die Erziehung der potenziellen Nachfolger der Regierenden – und vor allem der Mäßigung dieser ansonsten von Moral und Besinnung ja noch unangetasteten jungen Männer. Das gesunde Maß, die Auslotung der beherrschbaren Kräfte und Triebe sind, wie bei den streitenden Rössern des platonischen Wagenlenkers, das Ziel der sogenannten »paideia« (Pädagogik), die Platon und Aristoteles regelrecht erfinden, um zornigen jungen Männern als Ersatz für Stammesrituale in der modernen Demokratie Rückhalt durch Wissen zu ermöglichen. Damit sie wissen, was sie tun, sollen sie in Zukunft wissen, wo sie herkommen und was ihren Charakter ausmacht. Bei Platon steht die distributive, also ausgleichende Gerechtigkeit im Vordergrund seiner Überlegungen, die er auf die Tyrannen Athens und seine Nachfolger anwenden will.
Aristoteles hat selbst einen solchen Schüler, dem er praktisches Wissen aneignet: den Herrscher und Feldherrn Alexander den Großen. Bis sein Weltreich an die Grenzen Indiens stößt, hat er Aristoteles’ Rat, im Sinn einer Grenzerfahrung zu leben, auf seine Weise ausgelotet. Denn das war einmal anders gemeint. Philosophische Erziehung hatte den Zweck, »aus verworrenen Stadtkindern erwachsene Weltbürger zu machen« (Sloterdijk 2005:23), sie zu gebildeten vornehmen Menschen reifen zu lassen, damit sie in ihrem späteren Machtstand keinen Unsinn anstellen, sondern mit einem gesunden Maß an die Dinge herangehen, sei es in der Ethik, der Politik oder überhaupt dem Grundverständnis dessen, was bei Aristoteles das »Seiende« ist.
Aristoteles ist, im Gegensatz zu Platon, weder jemand, der einen Sprecher wie Sokrates auftreten lässt, der sich und andere »stellt«, um bohrende Fragen zu beantworten, noch ein Denker, der besonders metaphernreich und ästhetisch auf Dinge eingehen will, die sonst möglicherweise kompliziert und sachlich erscheinen. Und was zu befürchten ist, tritt ein: Der vielleicht genialste und universellste Denker der Philosophie – Sloterdijk traut ihm sogar zu, eine Art vorweggenommene Universität in Menschengestalt zu sein – bevorzugt die sachliche, trockene Analyse der Dinge bis ins kleinste Detail hinein. Aber: Das macht er ordentlich und recht innovativ.