Leben ohne Angst - Dietrich Grönemeyer - E-Book

Leben ohne Angst E-Book

Dietrich Grönemeyer

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Beschreibung

Angst verstehen, nutzen, überwinden – Ein Wegweiser für (mehr) Lebensfreude

Angst ist allgegenwärtig: Wirtschaftliche Unsicherheit, Kriege, ständiger Stress, Sorgen um unsere Gesundheit und unsere Zukunft – Ängste sind belastend, zermürben und rauben uns zunehmend die Lebensfreude.

Mit seiner langjährigen medizinischen Expertise, sehr persönlichen Erfahrungen und einfühlsamen Herangehensweise zeigt uns Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer einen Weg, wie wir diese Angst nicht nur verstehen, sondern wie jeder von uns sie auch produktiv nutzen kann. Mit individuellen Entlastungsstrategien können wir zurückzugewinnen, was uns trotz allem gut leben lässt: Zuversicht, Selbstwirksamkeit und die pure Freude am Leben.

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Seitenzahl: 329

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Kaum etwas verbindet uns seit einiger Zeit so stark wie die Angst. Ob es um den Zustand der Welt oder unseres Landes geht, um Kriege, Inflation, um unseren Arbeitsplatz, den Leistungsdruck im Beruf, das Wohl der Familie oder unsere Gesundheit: Unsicherheit und Sorgen greifen vermehrt um sich, die Lebensfreude schwindet.

Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer zeigt, wie das Grundgefühl der Angst förmlich in unseren Genen steckt und wie es in uns wirkt – sowohl gesellschaftlich, wie auch im Job und im privaten Umfeld. Es ist schwer, sich dieser kollektiven Angst zu entziehen. Doch wir können lernen, uns mit unseren Ängsten auseinanderzusetzen, sie produktiv zu nutzen, sie immer wieder zu überwinden und damit die Kontrolle über unser Handeln zurückzugewinnen. Mit individuellen Entlastungsstrategien können wir bewusst gegensteuern, um das zurückzugewinnen, was Menschen trotz allem gut leben lässt: Zuversicht, Selbstwirksamkeit und die pure Freude am Leben.

Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer

LebenOHNE ANGST

Wie wir in schwierigen Zeiten innere Stärke und Zuversicht finden

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die in diesem Buch vorgestellten Informationen und Empfehlungen sind nach bestem Wissen und Gewissen geprüft. Dennoch übernehmen der Autor und der Verlag keinerlei Haftung für Schäden irgendwelcher Art, die sich direkt oder indirekt aus dem Gebrauch der hier beschriebenen Anwendungen ergeben. Bitte nehmen Sie im Zweifelsfall bzw. bei ernsthaften Beschwerden professionelle medizinische/psychologische Hilfe in Anspruch.

Originalausgabe 09/2024

Copyright © 2024 by Ludwig Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Unter der Mitarbeit von: Anne Jacoby und Georg Francken

Redaktion: Evelyn Boos-Körner

Umschlaggestaltung: wilhelm typo grafisch, unter Verwendung eines Fotos von © Skaiste Kuss

Illustrationen im Innenteil: Shutterstock: S. 34 (SusannSchr), S. 35 (Alexander_P); Adobe Stock: S. 84 (designua)

Bildredaktion: Tanja Zielezniak

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31198-8V001

www.Ludwig-Verlag.de

Für Anja

Mit Dir zusammen durch dick und dünn gehen, Angst und Sorge umwandeln in neue Kraft und Zuversicht, selbst in Zeiten von Corona und Kriegen die Freude am Leben nicht verlieren – das ist das Geheimnis von großer Liebe!

Leben zu dürfen, was für ein großartiges Geschenk!

Inhalt

Ein Wort zuvor

Überall Krise – und kein Ende in Sicht?

Angst ist Natur. Und Kultur.

Warum wir Spinnen bedrohlich finden

Fight, Flight, Freeze und Fawn

Wie Angst sich zeigt

Leben – jetzt erst recht!

I  DIAGNOSE  Was Angst mit uns macht

INTRO  Im Wechselbad der Gefühle

Angst ist das schwarze Schaf der Gefühlsfamilie

Wie Angst und Mut zusammenhängen

Fokus auf das Leben

Drei Blickwinkel auf das Thema Angst

MENSCH  Mir fehlt die Luft zum Atmen!

Wie Ihr Körper Ihnen sagt, dass Sie Angst haben

Angst ist Chemie

Wo beginnt krankhafte Angst?

ARBEIT  Ackern, bis der Akku leer ist

Der Mensch ist kein Tesla

Es begann mit der Angst um die Ernte

Wenn Stress und Angst zu groß werden: Posttraumatische Belastungsstörung

Raus aus der Maschine

WIR  Was ist dran an der »German Angst«?

»Auf der Flucht vor der Wirklichkeit«

Fühlen lernen

II  URSACHEN  Was hinter der Angst steckt

INTRO  Der Schock meines Lebens

Getragen sein in der Angst

MENSCH  Stress, Angst, Schmerz – eine fatale Triade

Trauma: Wenn die Seele schmerzt

Angst entsteht im Kopf – und sitzt dort fest

Angst tut weh

ARBEIT  Wenn der Job Angst macht

Das Krankenhaus ist chronisch krank

Immer schneller, immer länger, immer mehr

Wenn Angst und Stress blind machen

Was die Angst vor dem Tod mit uns macht

WIR  Was uns in Angst und Schrecken versetzt

Alles viel zu bunt hier

Wie uns die Angst vor dem Abstieg stresst

Wer Angst hat, ist leichter lenkbar

III  THERAPIE  Wie wir die Angst an die Hand nehmen

INTRO  »Meine Seele schlägt Purzelbäume«

Das Grönemeyer 2 x 2 für Kopf und Körper

Den Kopf freimachen: Mutmacher für Seele und Gehirn

Die Natur – eine unterschätzte Heilerin

Zeit für Stille

Ruhe da oben! Angstgedanken stoppen

Social Detox – mal raus aus den Medien

Die Angst vergessen? Kann man lernen!

Den Körper beruhigen: Wohlsein für Nerven und Epigenom

Die Angst-Stress-Spirale durchbrechen

Kalt macht cool

Wie Atmung uns beruhigt

Die Gene aufräumen? Das geht!

ARBEIT  Raus aus dem Angstzirkus

Arbeitsangst hat viele Gesichter

Aktiv werden – statt maulen und vermeiden

Rational handeln – statt nur gefühlsgetrieben

Kleines Nein, große Wirkung

Knoten lösen

Vom Glück der Leistung (auch mit Angst!)

Wer nicht genießt, wird ungenießbar

WIR  Zurück zum Miteinander

Zusammen gegen die Angst

Eine friedvolle Welt ist keine Utopie

EPILOG:  Krisen meistern, lachen und … leben!

INALLERKÜRZE:  Fakten, Tipps und Anti-Angst-Hacks

Angst? 5 Fakten zum Weitersagen

Angststörungen: Ein Überblick

Generalisierte Angststörung: Angst vor Dauergefahr

Alarmsignal Panikstörung: Wenn die Angst den Körper lahmlegt

Agoraphobie: Wenn der Fluchtweg fehlt

Spezifische Phobien: Angst vor Höhen, Hühnern und Spritzen

Soziale Angststörung: »Das kann ich nicht!«

Trennungsangst: Vom Horror des Alleinseins

Raus aus dem Trauma

Raus aus der Angst! Ihr 8-Punkte-Notfallplan

Was tun bei diffuser oder plötzlicher Angst?

Was tun, wenn man in der Grübelfalle sitzt?

Was tun bei Prüfungsangst und Lampenfieber?

Was tun, wenn der Humor verloren geht?

ANMERKUNGEN

»Den Puls des eigenen Herzens fühlen. Ruhe im Innern, Ruhe im Äußern. Wieder Atem holen lernen, das ist es.«

Christian Morgenstern

Ein Wort zuvor

Die Sonne brennt auf unser Familienauto. Links von der Straße ragen schroffe Klippen in den Himmel, rechts fällt die Straße Hunderte Meter steil hinab zum glitzernden Wasser. Mit schweißnassen Händen umklammere ich das Steuer und versuche krampfhaft, mich auf die haarnadelengen Kurven zu konzentrieren. Ich fühle die Panik in mir hochkochen, in den Abgrund zu stürzen. Ich schwitze Blut und Wasser … Anja dagegen erfreut die spektakuläre Aussicht: »Ah, schau mal!«, »Boah, das geht ja krass runter!«

Am Ende steige ich nassgeschwitzt und mit schlotternden Knien aus dem Auto, heilfroh, dass wir diese Fahrt bis hierhin überstanden haben. Erleichtert übergebe ich das Steuerrad in vertraute Hände. Eigentlich irrational, denn ich wusste ja, dass ich mich als routinierter Autofahrer nicht hätte fürchten müssen. Eigentlich! Trotzdem weckte diese wunderbare Panoramastraße entlang des Meeres in meinem Gehirn einen uralten Instinkt: die archaische Angst vor Höhe … und das sicher verstärkt durch meinen dramatischen Absturz aus zehn Metern Höhe in den Bergen, den ich einige Jahre zuvor nur knapp überlebt hatte. Er saß mir noch tief in den Knochen. Mir schwindelte.

Das ist akute Angst. Jeder von uns kennt sie, jeder von uns kann mindestens eine Geschichte aus seinem Leben erzählen, in der uns der Schreck in die Glieder gefahren ist, in der uns das Grauen gepackt hat, in der uns die Angst im Nacken saß.

Dann gibt es noch eine andere Angst. Eine diffuse, eine alltägliche Angst, die uns derzeit verunsichert und auch verbindet. Und das zu Recht, denn eine Krise jagt die nächste: in der Welt und in unserem Land, am Arbeitsplatz, in der Familie und oft auch ganz persönlich. Druck und Unsicherheit wachsen, von innen und von außen. Für viele hat sich das Leben auf einen Kampf ums Leben reduziert und seine eigentliche Qualität verloren: die Tatsache, dass es ein Geschenk, ein Wunder ist.

Überall Krise – und kein Ende in Sicht?

Angst und Bammel, Grausen und Furcht schwächen uns Menschen durch und durch: Angst essen Seele auf.[1] Dann folgen die körperlichen Symptome: Das Immunsystem macht schlapp, der Rücken, das Herz, der Magen ebenso. Seit mehr als 30 Jahren erlebe ich in meiner medizinischen Praxis tagtäglich Menschen in Stress und Angst. Sie haben Ängste vor Ansteckung und Krankheit, Ängste vor dem Alter, weil es mit Gebrechlichkeit, Vereinsamung, Verlust von Würde oder Wohlstand und sozialem Abstieg verbunden sein könnte, Ängste, das Ersparte zu verlieren. Rationale und irrationale Ängste vor Einbrüchen und Energiekrisen, vor Kriegen und Terroranschlägen, vor randalierenden Jugendlichen und Smartphone-süchtigen Kindern, vor Anderslebenden und Andersdenkenden.

Lang andauernde Angst macht uns Menschen krank. Denn wir ändern, wenn wir ängstlich sind, sofort unsere Haltung. Wollen weglaufen, uns verstecken oder verteidigen. Bekommen Hals- und Rückenschmerzen, fühlen uns bedrückt: Die Angst sitzt uns buchstäblich im Nacken. Chronische Angst kann zu Muskelverspannungen führen, die sich wie ein Bandscheibenvorfall anfühlen. Angst verändert die Durchblutung, Stress verkrampft die Muskeln, erhöht den Blutzuckerspiegel und den Spiegel des Stresshormons Cortisol. Das Immunsystem wird geschwächt. Viren und Bakterien haben freie Bahn, Infektionen breiten sich aus.

Angst ist eine Reaktion des Körpers auf Gefahr, die die Seele regelrecht »auffressen« kann. Angst ist auch eine Haltung der Seele, die auf den Körper einwirkt. Deshalb meine ich, dass sich die Kunst des Heilens nicht nur auf dem Operationstisch bewähren muss, sondern auch im Dialog. Mindestens genauso wie der akuten Erkrankungen hat sich die Medizin der seelischen Seite der Menschen anzunehmen: ihrer Ängste. Ich versuche in jedem Gespräch mit meinen Patientinnen und Patienten, Angst nicht kleinzureden. Nicht zu beschwichtigen. Ich will die Angst vielmehr verstehen, um ihr überhaupt begegnen und sie dann, hoffentlich, auflösen zu können.

»Die Welt nötigt uns zur Angst. Angst ist nicht eine Schwäche des Urteils, sondern sie ist eine zutreffende Erkenntnis«, hat es Carl Friedrich von Weizsäcker auf den Punkt gebracht.[2] Kriege, Terrorismus, Klimawandel, Armut und Ungleichheit sind Herausforderungen, die nicht mehr nur »irgendwo« stattfinden, sondern hier. Mitten in Europa und nebenan. Sie bedrohen das eigene Glück, die eigene Gesundheit, sie bedrohen Frieden und Fortschritt. Menschen sterben, vor allem junge Menschen als Soldaten, Menschen werden vertrieben, ihr Eigentum wird zerstört, Kulturen gehen unter. Wir stehen vor einem Trümmerhaufen, der Extremismus und anderen gefährlichen Ideologien einen Nährboden bietet. Denn, dass hatte schon Bertrand Russell gesehen: »Angst ist die Hauptquelle des Aberglaubens und eine der Hauptquellen der Grausamkeit.«[3] Dass psychische Krankheiten rapide auf dem Vormarsch sind – auch bei nicht unmittelbar von den Krisen und Herausforderungen betroffenen Menschen, ist wenig erstaunlich.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 hat messbar größere Spuren auf die psychische Gesundheit der Menschen in Europa hinterlassen als die Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 und der Corona-Lockdown 2020. Das zeigt eine Studie eines internationalen Forscherteams um die Psychologen Julian Scharbert und Mitja Back von der Universität Münster, die gerade im Fachmagazin Nature Communications veröffentlicht wurde.[4] Mein Leben und das der meisten Menschen in Europa wurde schon viel früher auf den Kopf gestellt: durch die Angst vor dem Atomtod nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Hiroshima und Nagasaki und die unzähligen Atombombentests auf den Bikini-Atollen, in Wüsten usw. hatten mich in meiner Jugend bereits sensibilisiert. Im Jahr 1986 habe ich als Reaktion auf den GAU in der Ukraine damit begonnen, die Strahlung zu messen und die Bevölkerung über die Gefahren aufzuklären. Meine jüngste Tochter war gerade geboren. Die Angst, dass sie, dass wir alle durch die radioaktive Strahlung – auch durch die kontinuierliche Niedrigstrahlung danach – sterben könnten, hat sich bis heute in meinem Kopf eingenistet und ist immer wieder Thema. Zumal als Radiologe, Strahlentherapeut und Onkologe, der ich geworden bin. Fukushima und das Auskippen des radioaktiven Kühlwassers in die Weltmeere hat diese Sorge weiter verstärkt.

Was derzeit in der Welt geschieht, macht Angst. Ich schreibe diese Zeilen im Frühjahr 2024, und das schreibe ich dazu, weil sich die zahllosen »Was-wenn!?« unserer Zeit schon nächste Woche, nächsten Monat, in einem halben Jahr in eine noch beängstigendere Realität verwandelt haben könnten: »Was«, so fragen sich viele Menschen in diesem Land, »was, wenn die Heizung noch teurer wird? Wenn KI meinen Job ruiniert? Wenn ein Bankencrash mein Vermögen zermalmt? Wenn Radikale Demokratien zerstören? Wenn machtmissbrauchende Politiker stabile demokratische Systeme kippen? Wenn die EU an der Migrationsfrage zerbricht und damit dann auch die gemeinsame Euro-Währung? Wenn der Krieg in der Ukraine weiter und weiter getrieben wird, ohne Perspektive auf eine stabile Friedenslösung? Wenn der Krieg im Nahen Osten ausufert? Wenn der Terrorismus unseren Alltag bedroht? Wenn der Golfstrom abreißt und alles ganz kalt wird? Oder viel zu heiß? Oder wie war das noch? Wenn die Atombombe fällt? Was, ja was, wenn? Und was dann?«

Je nach Gemüt reichen zwei, drei Minuten Do-it-yourself-Panikmache im eigenen Hirn völlig aus, um Herz und Lunge, Muskeln und Magen in eine Stressreaktion zu manövrieren, die durchaus vergleichbar ist mit einem steinzeitlichen Säbelzahntigerangriff. Dabei ist (»Ja, noch!«) gar nichts Konkretes passiert (»Ja, aber könnte!«).

Besonnen bleiben, mit Menschen sprechen, Zuversicht verbreiten – das ist mein tägliches Anti-Angst-Mittel. Und doch ist Angst auch für mich (und wohl auch für viele andere Menschen meiner Generation) eine alte Bekannte. Als Kind allein in der kalten Röntgenkammer, klein auf dem riesigen Zahnarztstuhl, dem Zorn und den Strafen der Lehrer, der Fußballtrainer, auch der eigenen Väter schutzlos ausgeliefert – das war Alltag in den 50er und 60er Jahren. Vor allem, wenn es zum Doktor ging, fühlte ich mich bedroht. Trotz der beschwichtigenden, liebevollen und fast mantraartig, meist flüsternd vorgetragenen Worte meiner Mutter: »Didilein, alles wird gut.« Nein, nix wurde gut. Ich wusste, dass »alles wird gut« höchstens halb stimmte, eher gar nicht, und meine Mutter wusste das sicherlich auch. Aber was blieb uns übrig, uns trotz besseren Wissens vorzumachen, die Beschwichtigungen seien wahr, zumindest ein bisschen. Es war das, was meine Mutter der Angst entgegenhalten konnte.[5] Mir schlotterten trotzdem die Knie – ich hatte schlichtweg »Schiss«. Hatte ich nicht gute Gründe, mich zu fürchten? War es nicht so, dass die Angst mir etwas Wichtiges zu sagen hatte?

Und doch war ich lange überzeugt, als Kind ein »Schisser« gewesen zu sein. Ich stelle dieses Bekenntnis voran, weil diese frühen Erfahrungen mich und mein Leben und Handeln als Arzt bis heute prägen. Ich stelle es auch voran, um zu verdeutlichen, dass wir uns nicht immer aussuchen können, wie wir uns fühlen und wie wir auf das Leben reagieren. Die Gene, die Familie, das Umfeld, die Umwelt, die Erfahrungen – es gibt so viel, auf das wir keinen Einfluss haben. Und manchmal gibt es auch keine Strategien und keine Lifehacks, wie man heute so schön sagt, um aus der Nummer rauszukommen. Das Leben ist nun mal eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Verschiedene Ängste gehören dazu: Die Achterbahn-Angst auf der Kirmes, die uns lustvoll kribbelig machen kann. Die sinnvolle Angst, die uns warnt und schützt. Und leider auch die irrationale Angst, die uns vom Leben abhält. Die genau ist gemeint, wenn ich im Buchtitel sage: »Leben ohne Angst«!

Angst ist Natur. Und Kultur.

Dabei ist Angst eigentlich gar nichts Schlimmes. Im Gegenteil: Betrachten wir sie als starkes und ursprüngliches Gefühl, das in jedem von uns wohnt. Im Grunde ist Angst ein evolutionärer Überlebensmechanismus, der sich über Millionen von Jahren entwickelt hat, um uns zu helfen, Gefahren in unserer Umwelt zu erkennen und so schnell darauf zu reagieren, dass wir uns selbst und unseren Kindern den Hals retten können. Angst hilft uns leben. Angst ist Natur.

Angst ist aber auch Kultur. Sie ist das Produkt kultureller Routinen und sozialer Konditionierung, die durch persönliche Erfahrungen erlernt und durch gesellschaftliche Erwartungen verstärkt werden. »Denn wenn ich Angst für Feigheit halte, verachte ich mich vielleicht für meine Angst, suche womöglich in Einsamkeit mit meiner Angst fertig zu werden, weil ich sie verstecken möchte«, schreibt die Medizinhistorikerin Prof. Bettina Hitzer. »Halte ich Angst für würdelos, kann mir das Bemühen um Würde innere Festigkeit geben – oder mich in die Verzweiflung treiben. Erachte ich Angst für schädlich, macht mir meine Angst eventuell sogar zusätzlich Angst, sorgt dafür, dass ich mich schuldig fühle …«[6]

Die über Jahrhunderte gewachsenen Ängste einer Gesellschaft formen das Denken und Handeln des Einzelnen: Wächst jemand in einer Gesellschaft auf, die Angst vor Fremden oder »Anderen« kultiviert, kann sich Angst vor diesen »anderen« Menschen breitmachen. Der Einzelne wird dann gar nicht mehr gesehen. Nur noch seine »Anders«artigkeit. Kollektive Überzeugungen rufen auch Ängste vor bestimmten Krankheiten, Nahrungsmitteln oder Aktivitäten hervor – und verändern sich im Laufe der Zeit immer wieder. So hat die in den 1990er Jahren grassierende Angst vor zu viel Fett im Essen (Sie erinnern sich an die »low-fat«-Welle?) Platz gemacht für die Angst vor zu vielen Kohlenhydraten (deswegen lautet das Motto jetzt »low carb«). Natürlich ist es nicht gesund, zu viel Fett oder Kohlenhydrate zu essen. Doch eine übersteigerte, ins Irrationale gehende Angst vor diesen eigentlich normalen Bestandteilen unserer Nahrung ist eben auch nicht gesund.

Warum wir Spinnen bedrohlich finden

Große Höhen, laute Geräusche, Objekte oder »Wesen« (brrr!), die mit hoher Geschwindigkeit auf uns zukommen – es gibt viele Dinge und Situationen, die uns instinktiv Angst machen. Und das aus gutem Grund: Sie alle stehen nicht nur für das Gefühl einer existenziellen Bedrohung, sie können wirklich für uns tödlich sein.

Manchmal kristallisiert sich auch aus diffusen Ängsten eine abstruse konkrete Furcht heraus, etwa vor bestimmten Tieren – vor Käfern, Mäusen, Haien beispielsweise. Nur: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass man einem Hai über den Weg läuft? Mitten in Wattenscheid? Angst fragt nicht rational nach »wahrscheinlich«, sondern brennt sich tief in unserer Psyche ein und kann zu einer tatsächlichen Phobie oder Angststörung führen, sofern sie nicht rechtzeitig und nicht richtig behandelt wird. Dabei ist die Angst vor einem Angriff, vor einem Absturz und vor anderen lebensbedrohlichen Gefahren zunächst einmal ganz normal und auch sinnvoll. Eigentlich. Als die Brüder Auguste und Louis Lumière 1895 einen ihrer ersten Kurzfilme vorführten, bei dem ein Zug genau auf die Kamera zufuhr, sollen die Zuschauer in Panik geraten sein – obwohl sie genau wussten, dass sie nur bewegte Bilder auf einer Leinwand sahen. Heute haben wir gelernt, dass die Bedrohung im Film nicht real ist – und genießen den Kitzel beim Schauen eines spannenden Gruselfilms in der wohligen Sicherheit auf unserem Sofa oder gemeinsam mit anderen im Kino … und fühlen uns total entspannt, wenn das Drama gut ausgeht. Aus der Überwindung von negativem Stress entsteht Wohlgefühl. Auf jeden Fall bei mir. Das habe ich zigfach erlebt und dadurch gelernt, schwere Stunden oder Zeiten zu überwinden.

Auch die Angst vor Schlangen und Spinnen ist angeboren, wie eine Studie des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPICBS) in Leipzig und der schwedischen Universität Uppsala zeigt. Schon wenige Monate alte Babys reagieren gestresst, wenn sie diese Tiere zum ersten Mal sehen – also schon dann, wenn sie noch keine eigenen Erfahrungen mit ihnen gemacht haben. Ausschlaggebend sind evolutionär im Gehirn gespeicherte Erfahrungen: Der Mensch und seine Vorfahren teilen sich diesen Planeten seit 40 bis 60 Millionen Jahren mit gefährlichen Schlangen und Spinnen. Nashörner oder Bären kamen erst viel später dazu. Zwar können auch sie für Menschen lebensgefährlich sein, aber ihre Bilder sind nicht so tief in unseren Gehirnen verankert. Kurz: Die heftige Angst vor Schlangen und Spinnen ist evolutionär sinnvoll und normal, die Angst vor Bären und Nashörnern ist ebenfalls normal, aber evolutionär nicht so heftig.[7] (Eine Spinnenphobie ist etwas anderes, ich komme darauf zurück.)

Fight, Flight, Freeze und Fawn

Angst kann uns wachrütteln, wenn wir wegschauen. Motivieren, wenn uns der Antrieb fehlt. Zu einem Kurswechsel einladen oder auch zwingen, wenn wir uns in eine falsche Richtung bewegen. Dann, wenn sie einen Punkt erreicht, an dem wir sagen: »Jetzt reicht’s mir! So will ich nicht leben. Ich muss was ändern.« Doch in der Regel bewirkt sie genau das Gegenteil. So offensichtlich und fast schon unweigerlich, dass die vier großen »Fs« aus der Stressforschung schon im Alltagswissen angekommen sind: Fight, Flight, Freeze und Fawn.

Gemeint ist der Kampf- (Fight) oder Flucht-Mechanismus (Flight), bei dem wir auf Angriff schalten oder den Kopf einziehen. Je nachdem, ob wir uns überlegen oder unterlegen fühlen.Nicht selten ist es aber auch das sogenannte Freezing, also das Einfrieren oder Erstarren. Jeder kennt Momente, in denen uns die Angst lähmt. Je nach Reaktionsmuster kann es passieren, dass wir den Verstand verlieren – zumindest den gesunden Menschenverstand – und uns auf irrationale oder schädliche Verhaltensweisen einlassen, um uns vor wahrgenommenen Bedrohungen zu schützen.Dazu zählt auch das sogenannte Fawning, gemeint ist beschwichtigendes oder schmeichelndes Verhalten. Mit dieser Strategie versuchen wir, der Gefahr zu entkommen, indem wir uns anpassen und unterwerfen. Im Englischen gibt es den passenden Begriff des »People Pleasers«, der einen Menschen beschreibt, der versucht, es allen recht zu machen, nur um Konflikte zu vermeiden. Das ist besonders heimtückisch, weil sich diese ängstliche Vermeidungsstrategie so wunderbar mit positiven Attributen wie Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit rechtfertigen lässt.

Je länger und öfter wir uns all diesen negativen Stressreaktionen hingeben, desto mehr laufen wir Gefahr, psychische und körperliche Schäden davonzutragen.

Wie Angst sich zeigt

Angst kann sich im täglichen Leben in allen erdenklichen Formen zeigen. Zum einen in der Psyche, unserem denkenden und fühlenden Wesen (oder, wenn Sie es anders nennen möchten: in der Seele; oder in unserem »Ich« mitsamt seiner spirituellen Dimension), etwa in Verbindung mit innerer Unruhe, Trübsal, übermäßigen Sorgen, einschränkenden Verhaltensmustern, Schlafstörungen oder Konzentrationsschwierigkeiten. Zum anderen tobt Angst im Körper. Spürbar: Ein Cocktail aus Stresshormonen kann Symptome wie Herzrasen, Schwitzen oder auch Verdauungsprobleme hervorrufen. Die Wissenschaft kommt kaum hinterher, aufzuzeigen, wie weitreichend die Folgen von chronischem Stress sind. Und in der Therapie gewinnt der Körper ebenfalls zunehmend an Bedeutung, wenn es darum geht, über die Lungen (durch tiefes Atmen) oder den Parasympathikus (mit Massagen, Kältereizen und anderen Methoden, dazu mehr in Kapitel 3) wirkungsvolle und nachhaltige Wege aus der Angst zu finden.

Die Auswirkungen von Angst auf die Gesundheit können erheblich sein. Es kann zur Entwicklung von Angststörungen wie einer generalisiertenAngststörung, einer Panikstörung oder einer sozialenAngststörung kommen. Diese Störungen können massive Belastungen und Beeinträchtigungen im Alltag verursachen, einschließlich Schwierigkeiten in Beziehungen und bei der Arbeit. Darüber hinaus können Ängste zu anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Drogenmissbrauch führen. Dauerstress begünstigt auch Entzündungen, die zur Entstehung ernsthafter körperlicher Gesundheitsprobleme wie Rückenschmerzen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes beitragen können. Angst ist ein Thema, das viele Fragen aufwirft:

Was macht die Angst mit uns als Menschen? Wie wirkt sie auf unsere Arbeit? Und: Macht sie unsere Gesellschaft »verrückt«? Das schauen wir uns im ersten Kapitel näher an.Nach dieser ersten Diagnose geht es um die Ursachen: Was steckt hinter der Angst? Woher kommt sie? Warum kommt sie uns im Job immer wieder in die Quere? Und welche politischen Folgen hat es eigentlich, wenn eine ganze Gesellschaft in Angst und Mutlosigkeit gerät – oder sie überwindet? Darum geht es im zweiten Kapitel.Wie können wir mit der Angst umgehen, damit sie nicht mit uns durchgeht? Wie können wir die Angst aushalten, würdigen und vielleicht sogar zu unseren Gunsten nutzen? Wie sie an die Hand nehmen? Mögliche Anti-Angst-Therapien verrät das dritte Kapitel. Dabei – und das ist mir sehr wichtig – liegt mein Fokus nicht nur auf »weniger Angst«, sondern auf »mehr Leben«.

Leben – jetzt erst recht!

Angst ist eine natürliche Emotion, aber sie braucht Ihr Leben nicht zu beherrschen. Wie können Sie sich also aus den Fängen der Angst befreien? Weil es so viele Wege in ein angstbefreites Leben wie Menschen gibt, zeigt Ihnen dieses Buch eine Fülle von Möglichkeiten, von denen hoffentlich einige für Sie passen. So viel vorab: Beim Leben ohne Angst geht es nicht darum, niemals Angst zu haben. Es geht darum

mutig genug zu sein, sich den eigenen Ängsten zu stellen und nicht zuzulassen, dass sie Ihr Leben bestimmen,liebevoll mit sich selbst und anderen Menschen umzugehen,nachsichtig zu sein, nicht alles so ernst zu nehmen und sich nicht unter Druck zu setzen,sich nicht »behandeln« zu lassen, sondern selbst zu handeln,Zuversicht zu wagen,das Gute im Leben zu finden, ungewiss war es schon immer,positiv zu denken und heiter zu bleiben,das Leben zu genießen – trotz allem.

Machen Sie mit mir diesen Schritt. Trauen Sie sich, öffnen Sie Ihr Herz, nehmen Sie Ihre Angst an die Hand und beginnen Sie, Ihr Leben in vollen Zügen zu genießen.

Vielleicht gibt es schönere Zeiten, aber dies ist die unsere!

Los geht’s! Keine Angst – leben Sie Ihr Leben!

Ihr

Dietrich Grönemeyer

I  DIAGNOSE  Was Angst mit uns macht

»Wir fühlen den Schmerz, aber nicht die Schmerzlosigkeit; wir fühlen die Sorge, aber nicht die Sorglosigkeit; die Furcht, aber nicht die Sicherheit.«

Arthur Schopenhauer

INTRO  Im Wechselbad der Gefühle

Übergroßes Glück und auch Angst zugleich – diese beiden Gefühle erlebte ich bei der Geburt meines ersten Kindes. Welch große Glückseligkeit die Geburt dieses wundervollen kleinen Menschen war, meines, unseres Sohnes. Hautnah dabei zu sein, das unendliche Glück zu fühlen, trotz der Angst, dass Mutter und Baby etwas zustoßen könnte. Bei jeder Wehe mitzupressen, sodass selbst mir die Äderchen in den Augen platzten. Mich hat das alles regelrecht »aus den Socken gehauen«.

Ein Gefühl wie der Himmel auf Erden. Was für eine übermächtige Freude, dieses winzige Wesen sofort lächelnd an der Brust meiner damaligen Frau zu erleben und es dann selbst in meinen Armen wiegen zu können, sein Köpfchen an mich gekuschelt. Till gluckste und piepste mit seinem leisen Stimmchen. Was für ein reines, pures Gefühl der Liebe überrollte mich! Welch ein Wunder lag da in meinen Armen. Stillstand der Zeit.

Ähnliche Glücksmomente erlebte ich bei der Geburt meiner beiden Töchter. Erst Sorgen – dann unendliches Glück. Heute arbeite ich eng mit meinen Kindern zusammen, was mir viel Freude bereitet. Aber diese Freude fühlt sich anders an als die, die ich als junger Vater spürte – als bei jeder Geburt himmelhochjauchzendes Glück zusammenprallte mit existenzieller Angst. Mit der Angst, Kinder und später auch Enkelkinder zu verlieren. Die Angst, dass die Welt diese empfindsamen Wesen negativ beeinflussen, verformen, verletzen könnte … Kommen wir nicht alle unbelastet, unschuldig, himmlisch auf die Erde? Schon am ersten Tag wird es schlagartig anders. Das Ur-Gefühl »Hurra, hier bin ich in der Welt!«, das unbändige und ansteckende Kinderlachen, das bleibt in der Regel nicht. Irgendwann kommt die Angst ins Spiel. Glücklicherweise.

Angst ist das schwarze Schaf der Gefühlsfamilie

Angst aktiviert oder lähmt, spornt an und versetzt in Alarmbereitschaft, beflügelt und blockiert, rettet uns das Leben oder macht uns das Leben schwer. Kaum ein Gefühl besitzt so viele Facetten wie die Angst. Angst gehört zum Leben dazu, doch unter den Grundemotionen ist die Angst so etwas wie das schwarze Schaf der Familie. Sie wird widerwillig akzeptiert, aber ihre Gesellschaft sucht niemand von sich aus – ausgenommen in der Variante der Angstlust, die auf Achterbahnen und in Horrorfilmen zu Hause ist.

Wir wollen die Angst nicht hören. Wie oft drängt sie sich auch ausgerechnet dann auf, wenn wir sie nicht gebrauchen können? Mitten in einer Prüfung, einem Auftritt, einem Date? Solche Ängste quälen selbst Profis immer wieder. Die begnadete Sängerin Barbra Streisand litt so stark unter Lampenfieber, dass sie 1967 bei einem Konzert im Central Park vor 125 000 Menschen den Text zu einigen Songs vergaß. Danach trat sie 27 Jahre lang nicht mehr live vor Publikum auf – ihre Angst vor einer erneuten Blamage war zu groß. 1994 fand sie schließlich ein nebenwirkungsfreies Mittel gegen ihre Angst: einen Teleprompter.[8]

Wie Angst und Mut zusammenhängen

Angst blockiert nicht nur, sie treibt auch an: Im Sport kann die Angst vor einem vielleicht überlegenen Konkurrenten ungeahnte Kräfte freisetzen, sie kann Athleten und Mannschaften beflügeln. Dahinter steht nicht zuletzt die Angst vor dem Versagen, die dazu antreibt, sich besonders akribisch auf Aufgaben und Herausforderungen vorzubereiten: Bewegungsabläufe immer wieder trainieren und einüben, bis sie »in Fleisch und Blut übergehen«, um für den Moment des Wettbewerbs optimal vorbereitet zu sein. Ähnlich verhält es sich auch bei Musikern und Theaterschauspielern, die sich durch intensives Üben auf ihre Auftritte vorbereiten. Dann kann auch das Lampenfieber beflügeln: »Ich bin aufgeregt und berste vor Energie. Endlich ist es so weit. Ich werde mein Bestes geben.« Diese positive Form des Stresses hat einen besonderen Namen: Eustress. Wir brauchen diese Art von »gutem Stress«, um motiviert zu sein, um handeln zu können und über uns hinauszuwachsen.

Und kennt nicht (hoffentlich!) jede und jeder auch die schönste Form der Angst? Zittrige Beine, Kribbeln im Bauch, feuchte Hände und trockener Mund … Da ist dieser besondere Mensch, zu dem wir uns magisch hingezogen fühlen. Ein Lächeln – und unser Herz klopft bis zum Hals. Die ganze Welt steht kopf: vor Aufregung und Freude. Verliebtsein versetzt uns in einen Ausnahmezustand. Herzflimmern … Auf einmal scheint alles möglich.

Angst kann auch wie ein Seismograf vor Unheil schützen. Deshalb sollten wir auf ihre Signale hören: Warum fühle ich mich jetzt unsicher? Wieso fühlt sich mein Rücken wie im Schraubstock an? Was hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht? Was ist mir auf den Magen geschlagen? Was für eine Last trage ich auf meinen Schultern? Unsere deutsche Sprache ist so hilfreich, so reich an psychosomatischen Erklärungen in für alle verständlichen, knappen Worten. Was kann ich tun, damit ich mich wieder sicher fühle?

Fakt ist: Jeder fühlt Angst. Selbst die Menschen, die scheinbar furchtlos durchs Leben gehen wie der Extremsportler Reinhold Messner, der als erster Mensch alle 14 Berggipfel über 8 000 Meter bestieg – ohne Sauerstoffmaske. Kennt der Bergsteiger überhaupt keine Angst? Das Gegenteil ist der Fall. »Ich bin eher ein ängstlicher, ein vorsichtiger Mensch und habe eine eigene Philosophie, was die Angst angeht – sie ist das Korrektiv, das uns sagt: bis hierher und nicht weiter. Nur weil ich Angst habe, brauche ich Mut. Und nur, wenn die beiden im Gleichgewicht sind, kann ich losgehen«, erklärte Reinhold Messner anlässlich seines 75. Geburtstags in einem Interview.[9]

Angst kennt also jeder, egal ob jung oder alt, ob berühmter Bergsteiger oder normaler Couch-Potato. Angst kann jeden lähmen, sie kann jeden anspornen. Als Arzt habe ich oft genug erlebt, wie Mut Patienten beflügeln und ihren Heilungsverlauf positiv beeinflussen kann. Auch der Mut, sich nicht immer gleich passiv zu fügen, wenn ein Arzt über den eigenen Kopf hinweg etwas entscheiden will, zahlt sich aus. Nachfragen, mitdenken, die eigenen Zweifel und Sorgen formulieren und sich im wohlverstandenen Eigeninteresse einem Arzt widersetzen, kann zwar ziemlich unbequem sein – zumal dann, wenn ein Arzt allein mit seiner Halbgott-in-Weiß-Autorität zu überzeugen versucht –, aber es lohnt sich.

Fokus auf das Leben

Wie wichtig es ist, die Sorgen von Patientinnen ernst zu nehmen, habe ich als junger Arzt auf der Frauenkrebsstation gelernt. Dort habe ich meine Ausbildung in der Strahlentherapie und Radiologie absolviert – und die Ängste der betroffenen Frauen Tag für Tag hautnah miterlebt: Angst vor dem Tumor, Angst vor der Chemotherapie, Angst vor der Strahlentherapie, Angst vor der Biopsie, Angst vor der Operation. Immer wieder Ängste, Ängste, Ängste. Sicherlich gab es auch Ängste in mir, als Arzt nicht helfen zu können. Bis ich begriffen habe, dass ich die Rolle als »Halbgott in Weiß« glücklicherweise überhaupt nicht spielen muss, sondern dass ich als Begleiter gefragt bin, als Berater – und zwar in allen medizinischen Bereichen.

Ich verstand, dass ich meine Patientinnen und Patienten mit meinem Wissen und meiner Erfahrung unterstützen muss, therapeutisch die richtigen Entscheidungen für sich selbst zu treffen. Dies mit dem Verstand und Gefühl, mit Kopf und Bauch. Die Bandbreite dieser Entscheidungen ist groß: Sie fängt an mit alltäglichen, psychologischen und psychisch-sozialen Überlegungen, geht weiter mit dem Abwägen naturheilkundlicher und sportlicher Möglichkeiten bis hin zu Entscheidungen mit großer Tragweite: Chemotherapie und Operation.

Bei einer Krebserkrankung sitzt, genau wie bei jeder anderen schweren Erkrankung, immer die Angst vor dem Tod mit im Raum. Sie sitzt bei jeder Nachsorgeuntersuchung wieder da, sie geht nicht weg. Diese Todesangst ist grundsätzlich, sie betrifft uns alle. Eine Patientin sagte mir dazu einmal: »Wissen Sie, Herr Doktor, das Leben ist zu schön, um an der Angst zu sterben, es durch den Krebs zu verlieren!« Das hat mich sehr nachdenklich gemacht. Sie hatte recht und mir die Augen geöffnet: Wir können Möglichkeiten schaffen, in der Auseinandersetzung mit der Angst die Angst zu verändern – und damit uns selbst. Hin zu mehr innerer Festigkeit, zu mehr Hoffnung, zu mehr Lebensfreude.

Drei Blickwinkel auf das Thema Angst

Ich bin fest davon überzeugt, dass es heilsam ist, Angst zum Thema zu machen. Dass wir über Angst sprechen sollten, dass wir sie an die Hand nehmen können – und so zurück zu Lebensqualität, ja, zu Lebensfreude kommen. Dies wird umso besser glücken, je besser es uns gelingt, die Angst aus verschiedenen Winkeln in den Blick zu nehmen. So können wir sie differenzierter verstehen und uns besser von ihr abgrenzen. In diesem Buch geht es um drei Blickwinkel auf die Angst:

Der Mensch, das Du und das Ich, was Angst mit unseren Körpern und Seelen macht – und was wir tun können, um mit der Angst zu leben.Der zweite Blickwinkel richtet sich auf die Arbeit, die man sich wie ein Zahnrad vorstellen kann, das das individuelle Ich mit dem großen Wir verbindet. Hier begegnet uns das Thema Angst oft, sehr oft: Ein wichtiges Gespräch, eine Vertragsverhandlung oder eine entscheidende Prüfung steht an, da ist dieses flaue Gefühl im Magen, Versagens- und damit Existenzängste brechen sich Bahn – und lassen sich zum Glück wieder einfangen.Die dritte Sichtachse ist das große Ganze: »Wir«. Der Zustand der Gesellschaft und der Welt besorgen uns zutiefst und das zu Recht. Erst die Corona-Pandemie, dann der Krieg in der Ukraine und in Israel, Inflation und Rezession, Rechtsruck und Klimakrise, dazu noch viele andere Katastrophen rund um den Globus. Steuert die Welt auf einen Abgrund zu – oder können wir etwas dagegen tun, trotz der Angst, mit der Angst?

Das Ich, die Arbeit, das Wir – Angst ist für mich ein ganzheitliches Thema, das auf jeder Ebene wirkt. Deshalb habe ich diese drei Ebenen als Struktur für jedes Kapitel gewählt.

MENSCH  Mir fehlt die Luft zum Atmen!

Als ich klein war, kamen Spritzen noch aus der Werkstatt. Die Hohlnadeln wurden von Hand eher schlecht als recht geschliffen und so sahen die Nadelspitzen dann auch aus: stumpf, bestenfalls zackig, jedenfalls nicht spitz. Für jede Impfung, für jede Blutabnahme wurde einem Kind also eine solch stumpf-zackige Kanüle in den zarten Arm gerammt. Das hat irrsinnig weh getan, und dann wurde man von den Ärzten auch noch angeschnauzt: »Stillhalten!«

Ich höre es noch, als wäre es heute. Ich fühle immer noch, wie verloren ich als kleiner Junge auf meinem Patientenschemel war, wie hilflos, ausgeliefert und sehr, sehr wütend. Weil ich oft krank war, musste ich oft zum Arzt und musste diese Prozedur immer wieder über mich ergehen lassen: Ärmel hochkrempeln, den Kopf wegdrehen, Augen zusammenkneifen, und dann … »Aaaah!« Und »Stillhalten!«

Es war schlimm. Und es wurde immer schlimmer. Irgendwann geriet ich, wenn ich nur daran dachte, dass ich zur Blutabnahme oder zum Impfen muss, in blanke Panik. So war es auch, als ich mit zwölf Jahren zu einer Sportuntersuchung in die Uniklinik Bergmannsheil Bochum gehen sollte. Ich weiß noch genau, wie ich im weißen Flur auf die Türklinke drückte, um ins Behandlungszimmer zu kommen – alles wurde weiß vor meinen Augen, und ich fiel in Ohnmacht. Heute weiß ich, dass das eine kluge Exit-Strategie meines Gehirns war: Was ich erlebte, war zu einem Horrorfilm geworden, der für mich viel zu gruselig war. Also ließ mein Hirn kurzerhand den Projektor durchbrennen. Um mich zu schützen.

Wie Ihr Körper Ihnen sagt, dass Sie Angst haben

Angst zählt zu den menschlichen Grundemotionen wie Freude, Wut, Trauer und Ekel. Das klingt zunächst einleuchtend, ist im Kontext der Emotionsforschung aber trotzdem ein komplizierter Sachverhalt.[10] Schon 1884 hatte der amerikanische Psychologe William James seine viel zitierte Frage gestellt: »Was ist eine Emotion?« Heute, nach 140 Forschungsjahren, ist sich die Wissenschaft immer noch uneins darüber, wie Emotionen zu definieren sind. Das wissenschaftliche Feld befindet sich nach wie vor in Bewegung und hat bisher nicht den einen Bezugspunkt gefunden, an dem sich Forschung orientieren und von dem aus sie Erkenntnisse aufbauen könnte.

Dabei scheint es im Alltag doch klar zu sein, was ein Gefühl ist – oder doch nicht? Die Emotionsforscher James Russell und Ernst Fehr formulieren es so: »Jeder weiß, was eine Emotion ist, bis er gebeten wird, eine Definition dafür zu geben.«[11] Emotionen sind schwierig zu fassen – und noch schwieriger zu messen. Aber sie lassen sich sehr gut erzählen, weil sie Menschen »bewegen«. (Das Wort »Emotion« kommt vom lateinischen »emovere« und meint genau das.) Wie die Geschichte von meiner Angstfahrt am Steilhang über dem Meer …

Angst sichert unser Überleben, das ist evolutionsbiologisch ihre Rolle bis heute. Wir müssen uns nur vorstellen, wie unsere Vorfahren lebten. In der freien Natur und rund um die Uhr damit beschäftigt, ihr Überleben zu sichern: Beeren und Nüsse sammeln, einen Unterschlupf finden, Tiere jagen, sich gegen Feinde verteidigen. Dass die Menschheit überleben konnte und sich sogar behaupten konnte, verdankt sie nicht zuletzt der Angst. Sie ist ein wesentlicher Teil unseres körperlichen Alarmsystems, das Menschen in gefährlichen Situationen das Leben rettet. Nur so konnten unsere Vorfahren in der Wildnis überleben und auf plötzlich auftretende Gefahrensituationen reagieren: mit Kampf oder Flucht (wir, heute: am Abhang über dem Meer also ganz vorsichtig umkehren). Ist beides nicht möglich (oder verkneifen wir uns diese Angstreaktion und fahren trotzdem weiter), schwitzen und zittern wir vor Angst – oder wir »erstarren«. Stellen uns tot.

Opossum spielen kann Leben retten

Durch das »Totstellen« wollen wir uns quasi unsichtbar machen, der Angreifer soll uns nicht sehen. In diesem Modus sinkt das Schmerzempfinden, und wir koppeln uns von unseren Gefühlen ab. Das gibt es auch in der Tierwelt: Bei Mäusen erlebe ich das immer wieder, wenn unser süßes Kätzchen eine anschleppt und uns als Geschenk präsentiert. Eine Maus kann sich erstaunlich lange tot stellen. Ich bringe sie dann vorsichtig ins Freie (in einem Glas, das ich über die Maus stülpe und mit einer Karte abdecke, um nicht gebissen zu werden) und freue mich, wenn sie blitzschnell wegläuft.

Forschungen zeigen, dass diese »Thanatose« (so heißt das Totstellen in der Fachsprache) Sekunden dauern kann, bis hin zu einigen Stunden.[12] Opossums täuschen ihren Tod übrigens so spektakulär vor, dass sich im Englischen daraus der Ausdruck »playing opossum« entwickelt hat: In höchster Gefahr legen sie sich steif und krumm auf die Seite, Atmung und Herzschlag verlangsamen sich, Speichel läuft aus dem geöffneten Maul, die Zunge hängt heraus und färbt sich blau. Ein Opossum, das sich tot stellt, starrt aus weit aufgerissenen, unbeweglichen Augen, scheidet Urin und Kot aus und reagiert nicht auf Berührungen. Mit Erfolg! Wer so tot aussieht, ist für Raubtiere nicht mehr interessant. Auch einige Schlangenarten stellen sich auf ähnliche Weise tot, ebenso einige Vögel, Bienen und Käfer.[13] Wir Menschen können zwar »Opossum spielen« – so überzeugend gelingt es uns aber nicht. Unsere typischen Stressreaktionen sind eher Angriff und Flucht.

Habe ich Angst? Oder hat die Angst mich?

Zurück zu meinem kleinen Patientenschemel. Der Arzt dreht die Spritze mit der gefährlichen Nadel nach oben Richtung Neonröhre. Er klopft ein paarmal gegen das Röhrchen. Er drückt den Kolben ein wenig hoch. Zwei, drei Tropfen quillen aus der Nadelspitze und gleiten am silbrigen Metall entlang. In meinen Ohren dröhnt es. Meine Augen filmen alles wie in Zeitlupe. Der Arzt kommt einen Schritt auf mich zu.

Mein kleines Herz rast. Ich atme schneller, meine Pupillen werden groß und größer, Adrenalin flutet durch meinen ganzen Körper, dann das Stresshormon Cortisol. Unwillkürlich spanne ich alle meine Muskeln an, als könnte ich mich so hinter einem Schutzpanzer verstecken. Zumindest bereit sein aufzuspringen, zu fliehen, wenn ich einen Fluchtweg finde. Ich schwitze. Und weil ich nicht fliehen kann, erstarre ich. Und in diesem Moment »entscheidet« mein Gehirn (ohne mich zu fragen), ob es mein Bewusstsein komplett ausschaltet (mich ohnmächtig werden lässt) oder mich mental in so etwas wie ein Paralleluniversum schickt, in dem sich alles anders anfühlt: Die Zeit läuft langsamer oder steht ganz still, Schmerzen sind abgeschaltet, Erinnerungen und Gefühle tanzen.