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»Der Dichter ist unsterblich, lernte ich damals. Selbst wenn er elendig verreckt. Da ist etwas, das ist stärker als er, unverwüstlicher, unbrechbarer als sein Körper: das ist seine Sprache, sein Lied, das von Mund zu Mund, von Lippen zu Lippen weiterlebt. Naturgemäß ist das idealisiert, der Fiebertraum aller Ohnmächtigen, aber für den jungen Menschen ist Idealisierung der Treibstoff des Lebens. Aber ich wusste auch: Literatur ist etwas, das man mit diesem Leben bezahlen muss. Die existentialistische Ganz-in-Schwarz-mit-Gitanes-Maïs-Phase war später die erste Konsequenz dieser Erkenntnis. Zum Glück haben Schriftsteller mindestens sieben Leben, die für die Katz sind. Mir war trotz allem wie dem Jungen aus dem Neandertal schon als Kind klar: dort, wo die Literatur sich verbirgt, da lauert auch der Tod. Bis ich ihm selbst begegnete.«
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Seitenzahl: 25
Albert Ostermaier, geboren 1967, machte sich zunächst als Lyriker einen Namen – sein erster Gedichtband, Herz Vers Sagen, erschien 1995. Zeitgleich eroberten seine Theaterstücke die Bühnen, bevor mit Zephyr und Schwarze Sonne scheine die ersten Romane erschienen. In seiner Dankrede zur Entgegennahme des »Welt«-Literaturpreises erzählt er, wie er zum Schreiben gefunden hat, welches seine Themen und Motive sind, wer seine Anreger sind – und wie er sich seine literarische Zukunft vorstellt.
Albert Ostermaier
Leben und sterben lassen
Rede zur Entgegennahme des
Literaturpreises der »Welt«
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2012
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eISBN 978-3-518-78320-7
www.suhrkamp.de
Sehr geehrte Damen und Herren
»Entstanden ist die Literatur«, schreibt Vladimir Nabokov in der Kunst des Lesens, »nicht an jenem Tag, da ein Junge aus dem Neandertal gerannt kam, weil ihm ein Wolf auf den Fersen war; sie trat in jenem Augenblick ins Leben, als ein Junge gelaufen kam und schrie, ein Wolf verfolge ihn, ohne dass dem so war.«
Mich hat diese Definition Nabokovs immer berührt, die Idee, wonach die Literatur beginnt mit einem Jungen und der Angst, gefressen zu werden. Nabokov hält den Jungen für einen Lügner, den Wolf für eingebildet, den Schrei für die Sehnsucht nach den schreckgeweiteten Augen der anderen. Die Literatur betritt die Bühne der Welt also mit einem, der behauptet, er sei mit dem Leben davongekommen, er sei dem Tod davongelaufen.
Das aber heißt: Um ein Wolfshaar wäre die Literatur eine Totgeburt gewesen. Warum, frage ich mich, ist der Junge in den Wald gelaufen, ins Unbekannte, ins Dunkel hinein, zu den Schatten, den Geräuschen der knackenden Zweige, zu dem Atem der Tiere, dorthin, wo der Wind durch die Kronen fährt und Bäume fällt, wo Schlangen aus dem Gesträuch schnellen, wo die unerlösten Seelen im Nebel ihre Körper suchen, doch nur kalte Luft finden und den Herzschlag des Jungen, dessen Schnaufen laut und lauter wird, so laut, dass es ihn als Donner rührt an den Ohren. Alles, was er hört, ist hinter ihm, kommt näher.
Warum hat er sich in die Welt hinausgewagt? Um Literatur zu werden? Er wollte aus dem Sichtbaren ins Unsichtbare, denke ich mir. Als er in den Wald ging, ging er zu sich selbst. Er hätte auch nur die Augen schließen müssen. Der Wald bedeutet nicht erst seit Shakespeare die Verwandlung. Der Junge wollte sich verwandeln, wie sein Körper sich verwandelte und ihm fremd wurde: ein Tier, das aus ihm wuchs, die Haare auf dem Kinn, im Hals das Fauchen des Kehlkopfs, unter der Stirn das Nachdunkeln der Pupillen und überall die Haut, die zu eng wurde und sich bis zum Zerreißen straffte.