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Was ist los mit unseren Kindern? Ständig erreichen uns verstörende Nachrichten über eine steigende Zahl von psychischen Störungen: Kinder und Jugendliche schaffen es zunehmend nicht mehr, ihren Alltag ohne psychotherapeutische oder ärztliche Unterstützung zu meistern. Zwischen Leistungsanforderungen in der Schule und der Dauerpräsenz im Netz verlieren sie die Orientierung, was das Leben lebenswert macht. Ihre Sehnsucht nach Leben wird umgelenkt in Konsum- und Unterhaltungsbedürfnisse, die diese doch nicht stillen. Wir sollten neue Wege beschreiten, um diese Sehnsucht aufzugreifen. Wenn wir Leben und Bildung als Abenteuer betrachten, die uns herausfordern und beglücken, bleibt die Sehnsucht nach Leben nicht ungestillt. Dieses Buch macht Mut: Es zeigt für alle, die mit Kindern und Jugendlichen leben und arbeiten, wie wir aus Routinen ausbrechen und eine sinnstiftende Bildung ermöglichen können.
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Seitenzahl: 222
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Regine Köhler
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2024 oekom verlag, München oekom – Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH, Goethestraße 28, 80336 München +49 89 544184 – 200
www.oekom.de
Layout und Satz: oekom
Umschlaggestaltung: Sarah Schneider, oekom verlag
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9783987264221
DOI: https://doi.org/10.14512/9783987263781
Cover
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Inhaltsverzeichnis
Hauptteil
Einführung
Kapitel 1 Ausgangspunkt: Wissensgesellschaft und Bildungsbiografie
1.1:
Schule als Ort des staatlich organisierten, vermittelten Wissens
1.2:
Die Institutionalisierung des Lernens
1.3:
Lehrpläne, Bildungsziele, Lehrkräfte
1.4:
Weltwissen und Naturraumpädagogik
1.5:
Schule und unmittelbare Erfahrung – ein Widerspruch?
1.6:
Schule als Projektionsfläche
1.7:
Schule als Antiutopie
Kapitel 2:
Erlebnisorientierung – Erlebnis als bedeutsames Ereignis für das Lernen
2.1:
Exkurs: Tradition und Neuausrichtungen des Erfahrungslernen
2.2:
Fragehaltung, Neugierde und Wissensdurst: Ausgangspunkt der Motivation für Bildung
2.3:
Reifung, seelische Gesundheit und Resilienz
2.4:
Der neue Dreischritt: erleben – erfahren – erkennen
2.5:
Die Verwirklichung der Dreischritt‐Methodik:
Indoor
‐ und
Outdoor
projekte
2.6:
Erkenntnis als Erlebnis
Kapitel 3 Möglichkeitsort Lebendige Schule
3.1:
Ausgangspunkt: Ein erweiterter Vernunftbegriff als Inspirationsquelle
3.2:
Transzendierende Elemente der Schulbildung
3.3:
Praxisbeispiele
Erlebnispädagogik – das
Projekt Herausforderung
, die
Erlebnisfahrt
Kunst und Gestaltung als Hauptfach
Der Schulgarten
Ethik als Metafach
3.4:
Der Ganztag an der Schule oder das »afrikanische Dorf«
Kapitel 4:
Schule oder Leben – wofür lernen wir?
4.1:
Individuation, Gemeinschaft und Kommunikation
4.2:
Autorität – in welcher Form brauchen wir sie?
4.3:
Zum Schluss – Das Leben in der Schule
Dank
Literatur
Monografien
Zeitschriften :
(in der Reihenfolge des Erscheinens im Text)
Weblinks :
(in der Reihenfolge des Erscheinens im Text)
Was ist los mit unseren Kindern? Ständig erreichen uns verstörende Nachrichten über eine steigende Zahl von phobischen und depressiven Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Der Schulbesuch wird dann schwierig bis unmöglich. Noch nie gab es einen so hohen Bedarf an Schulbegleitungen. Kinder und Jugendliche schaffen es in großer Zahl nicht mehr, ihren Alltag alleine ohne psychotherapeutische oder ärztliche Unterstützung zu meistern. Zwischen Leistungsanforderungen der Schule und der Dauerpräsenz im world wide web verlieren offensichtlich viele Kinder und Jugendliche die Orientierung, was das Leben lebenswert macht. Ihre ursprünglichen Entwicklungs‐ und Lebensbedürfnisse nach Teilhabe, nach Liebe und Anerkennung werden durch die widersprüchlichen Anforderungen unserer derzeitigen Lebensweise verschüttet, sodass sie mit Krankheit reagieren und sich aus dem Leben und dem (schulischen) Alltag zurückziehen.
Die große Sehnsucht nach Leben wird umgelenkt in Konsum‐ und Unterhaltungsbedürfnisse, die diese doch nicht stillen können. Wir sollten in der Schule neue Wege beschreiten, um diese Sehnsucht aufzugreifen und sinnstiftende und nachhaltige Bildung zu ermöglichen. Die Leistungsbewertung durch Ziffernnoten, der Dreh‐ und Angelpunkt im etablierten Schulsystem, ist eine momentane Rückmeldung über den Lern‐ und Leistungsstand – nicht mehr und nicht weniger. Schule ist jedoch viel mehr als Leistungserhebung und ‑bewertung! Sie trägt Verantwortung für die Sinnerfüllung in einer gelebten Gemeinschaft aus jungen Menschen und ihren Lehrkräften. Schule ist auch ein Gemeinschaftsort für Familien, wo unterschiedliche Lebenswelten aufeinandertreffen. Die Rückkopplung der Arbeit in der Schule an Erlebnis‐ und Beziehungsorientierung verhindert ein Abgleiten in sinnentleerte Routinen bei SchülerInnen und Lehrkräften. Wir können in der Schule den gefährdeten gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken, indem wir die Schulen lebendig gestalten, sodass in ihnen dieser Zusammenhalt neu gelebt wird: Gemeinsam lernen, leben, feiern. Dazu sollten wir uns auf einen Prozess der kognitiven Aktivierung und der emotionalen Präsenz einlassen; diese beiden Pole wirken einem Abgleiten in den depressiven Rückzug entgegen, der unser modernes Leben oft so dunkel färbt. Wenn wir das gemeinsame Leben und Arbeiten in der Schule als Abenteuer betrachten, das uns herausfordert und immer wieder beglückende Momente von gemeinschaftlich gelebter Verantwortung und Freude beschert, bleibt die Sehnsucht nach Sinn und Gemeinschaft nicht ungestillt.
Dieses Buch will aufzeigen, wo es neue Wege gibt: für Lehrkräfte, für Familien, aber auch für Schulen als Ganzes. Es will helfen, die Sehnsucht nach Leben als Grundlage einer gelingenden Entwicklung von Kindern und Jugendlichen anzuerkennen und zeigt, wie wir sie aus der Konsum‐ und Medienfalle befreien können: Es ist möglich, aus Routinen auszubrechen und neue Wege auszuprobieren, ohne auf systemische Änderungen zu warten oder uns in der Kritik des Bestehenden zu verlieren. Handlungsoptionen gibt es zu jeder Zeit.
Das Buch führt über die Erläuterung der Institutionalisierung des Lernens in der Schule und damit der Lehr‐ und Bildungsziele in Deutschland zu neuen Wegen der Naturraumpädagogik. Diese kann auch für die weiterführenden Schulen fruchtbar gemacht werden, da sie als Inspirationsquelle für Weltwissen in der Schule dient. Denn der Sehnsucht nach Leben junger Menschen werden wir nur dann gerecht, wenn wir den Entfremdungslogiken in Schule und Gesellschaft etwas entgegensetzen: Die unmittelbare Erfahrung.
Was als bedeutsam erlebt wird, kann besser erinnert werden. So ist es möglich, learning to the test in nachhaltige Bildung zu verwandeln. Lebensechte, erfahrungsbasierte Herausforderungen sollten das Mark des Wissens werden. Es gilt, sich einen neuen Freiraum des Erlebens, Erfahrens und Erkennens zu erschließen, zum Beispiel dadurch, indem das Wettbewerbsparadigma durch ein Wertschätzungsparadigma ersetzt wird. Das erfordert keine Schulsystemveränderung, sondern eine Änderung der Haltung der Akteure in Schule und Familie.
Die Autorin des Buches ist Gründerin und Leiterin der Herder‐Schule Pielenhofen bei Regensburg, deren Kollegium es sich zum Ziel gesetzt hat, den Widerspruch von Schule und Erfahrung bewusst zu analysieren und – soweit das im Rahmen der kultusministeriellen Vorgaben möglich ist – aufzulösen. Mit Beispielen aus dem Schulalltag werden Ideen aufgezeigt, die an jeder staatlichen oder privaten Schule ohne grundlegende systemische Wende der Schulpolitik zum Wohle der SchülerInnen und ihrer Familien umgesetzt werden können. Die Praxisbeispiele reichen über die Einrichtung eines Schulgartens bis zur Umformung der Lernroutinen in Erkenntnisabenteuer, umfassen also sowohl Aspekte der Gestaltung des Schulalltags als auch Aspekte des Unterrichts. Über aktuelle philosophische Inspirationen durch die Tiefenökologie (Arne Naes), die Resonanztheorie (Hartmut Rosa), das Zeitalter des Lebendigen (Corine Pelluchon) und die Erneuerung des Wertediskurses (Markus Gabriel) gewinnt die Autorin eine fundierte theoretische Basis für eine sinnstiftende Lebens‐ und Lernpraxis in der Schule.
Das Buch wendet sich an alle, die in dieser Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Krisen die wichtigen Belange des Kindes‐ und Jugendalters wahrnehmen und Abhilfe schaffen wollen: an Lehrkräfte, an Eltern und Großeltern, an PädagogInnen und PsychologInnen und an die Akteure der Schulpolitik – kurz an alle, die bereit sind, neue Wege zu beschreiten, um der Sehnsucht nach Leben junger Menschen gerecht zu werden.
In Deutschland herrscht Schulpflicht, nicht Bildungspflicht. Im Nachbarland Österreich beispielsweise gibt es die Möglichkeit, seine Kinder zu Hause zu unterrichten. Der Bildungsstand wird dort einmal im Jahr von staatlicher Seite überprüft und ein Zeugnis ausgestellt. Wenn die Lehr‐ und Bildungsziele der Jahrgangsstufe erreicht werden, darf weiter zu Hause unterrichtet werden, wenn nicht gilt die Schulpflicht. (Vgl. https://www.deutschlandfunk.de/bildungspflicht-statt-schulpflicht-100.html) Ob und wie an den Schulen tatsächlich Bildung und nicht nur Informationsvermittlung stattfindet, wäre zu untersuchen.
Dazu müsste man sich zuerst einmal des reichlich strapazierten Bildungsbegriffs annehmen. Dies wäre ein anderes und eigens lohnendes Thema, soll aber hier nicht im Mittelpunkt stehen. Während für die einen das Credo »mit Kopf, Herz und Hand« bestimmend ist, was ein vages und unbestimmt bleibendes Bekenntnis zu ganzheitlicher Bildung bedeuten mag, bilden die anderen »für die Wirtschaft« aus. (Ausspruch eines Realschulrektors bei der Überreichung der Abschluss‐Zeugnisse).
Immer wieder kommen alarmistische Weckrufe aus verschiedenen Teilen der Gesellschaft, dass Schule ihren Zweck – sei es nun Bildung oder Ausbildung – verfehle und es wird an den Stellschrauben des Systems hier und da eine Schraube ausgetauscht und nachgezogen. Das hat Geschichte: 1964 spricht der Theologe und Pädagoge Georg Picht von der deutschen »Bildungskatastrophe«. Er warnt vor Lehrermangel und kritisiert unzureichende Investitionen in die Bildung. 2001 lösen internationale Vergleichsstudien der OECD den PISA‐Schock aus. Im Bildungsvergleich der Industrieländer ist Deutschland nur Mittelmaß.
2008 ruft Bundeskanzlerin Angela Merkel die »Bildungsrepublik Deutschland« aus. Das Bildungssystem müsse »jedem die Chance auf Einstieg und Aufstieg ermöglichen«. (Vgl. Lernende Schule/92/2020)
Nun wird die Digitalisierung der Schulen gefordert. Der Ausbruch der Pandemie 2020 und Schulschließungen über zwei Schuljahre hinweg haben die Schulen in Deutschland im noch unzureichenden Ausbaustand der Digitalisierung überrascht. Bildung zu Hause, das sogenannte homeschooling, verschärfte die Ungerechtigkeit des deutschen Bildungssystems und machte Schulerfolg noch stärker als bisher vom Elternhaus abhängig.
2023 wurde von der neuen Bundesregierung ein nationaler Bildungsgipfel initiiert, um eine »neue Kultur in der Bildungszusammenarbeit« anzustoßen (vgl. Forschung und Lehre 4/23, S. 237). Die Bundesbildungsministerin fordert eine »bildungspolitische Trendwende«, aber die KultusministerInnen boykottierten offensichtlich diese Bemühungen, nahmen doch nur zwei Länderminister an dem »Bildungsgipfel« teil. Es sind sich zwar alle einig, dass das Bildungssystem in einer Krise steckt (vgl. ebd.), aber »warum dauern die Strukturprobleme an«? Das fragt sich Felix Grigat und empfiehlt »trotzdem weiter machen« (vgl. ebd.). Es bleibt einem ja auch nichts anderes übrig. Allerdings gibt es jenseits der Strukturprobleme und der bildungspolitischen Misere Möglichkeiten, neue Wege zu beschreiten. Dazu will dieses Buch anregen. Es geht also nicht um die Frage »schaffen die das« (vgl. ebd., Hervorhebung der Autorin), gemeint sind die KultusministerInnen, sondern vielmehr darum, schaffen wir das.
Die anhaltende Diskussion rund um schulische Lern‐ und Bildungsziele ist wichtig und spannend, nur sollten wir aufhören »die Vergangenheit schlecht, die Gegenwart als unbedingt zu reformierende und die Zukunft als das verheißende Land« zu beschreiben (vgl. ebd.). Von der Umstellung des Lehrplans hin zu Kompetenzzielen erhoffte man sich eine solche zukunftsweisende Modernisierung des Bildungsbegriffs, die vor allem einem sich wandelnden Arbeitsmarkt kompetente junge Menschen zuführen sollte. Dabei offenbart sich ein konstruierter Widerspruch zwischen dem Fokus der Persönlichkeitsbildung und der Heranbildung von Arbeitskräften, der ja eigentlich gar kein Widerspruch sein sollte. Denn wir können davon ausgehen, dass sich junge Menschen im Leben bewähren wollen: Sie wollen sich entwickeln und sich in der Welt – und damit auch der Arbeits‐ und Berufswelt – willkommen fühlen. Heißen wir sie willkommen?
Der »Ernst des Lebens« beginnt mit der Schule. Warum wird der Schuleintritt als Bruch inszeniert? Schließlich beginnt die Bildungsbiografie nicht mit der Schule, sondern mit dem Beginn des Lebens. Leben heißt lernen, heißt sich bilden, neue Erfahrungen zu machen, sie zu verarbeiten, an ihnen zu wachsen und sie ständig in die eigenen schon entwickelten Aneignungs‐Schemata zu integrieren (vgl. Piaget, Jean (1978): Das Weltbild des Kindes) – ganz besonders ausgeprägt in unserer Wissensgesellschaft. Dies beschäftigt uns das ganze Leben lang.
Was ist neu und anders, wenn ein Kind in die Schule kommt? Zum ersten Mal wird es verpflichtet, mit einer Alterskohorte im selben Raum vorgegebene Ziele innerhalb jeweils eines Jahres zu erreichen. Das Erreichen der Ziele wird mit normierten Leistungstests überprüft und benotet. Bei Nichterreichen des Klassenziels droht am Ende des Jahres Selektion. Während sich der Sprachlernprozess und die motorische Entwicklung des Kleinkindes noch spielerisch und ohne vorgegebene Zeitrahmen vollziehen dürfen und die Förderung der Kinder bei beobachtbaren Entwicklungsrückständen im Vordergrund steht, damit die »Schulreife« zum festgelegten Zeitpunkt erreicht wird, werden jetzt die Rahmenbedingungen neu definiert.
Der Schuleintritt und damit die sogenannte Schulreife wurden in den letzten Jahren so festgelegt, dass die Wahlfreiheit zwischen einem Schuleintritt mit sechs oder sieben Jahren weggefallen ist. Schulpflicht gilt ab dem Jahr, in dem ein Kind sechs Jahre alt wird. Die Gründe dafür sind unklar. Vielleicht liegen sie im Fachkräftemangel und im Wunsch, die Bildungsbiografie zu beschleunigen?
Tatsache ist, dass sich Lehrkräfte in den weiterführenden Schulen gehäuft Kindern gegenüber sehen, die dem Leistungsdruck von Realschule und Gymnasium nicht gewachsen sind und ihre verfrühte Einschulung mit einer Wiederholung »bezahlen«. Nachdem beim Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule nach der 4. Klasse (in wenigen Bundesländern nach der 6. Klasse) schon das Umfeld, die Freunde und KameradInnen verlassen werden müssen, wiederholt sich dieser Verlust durch eine erzwungene Klassenwiederholung und kann einer Entfremdung gegenüber der Schule Vorschub leisten.
Es lohnt sich also, das Konzept der Schulreife zu hinterfragen. Wir könnten dem Problem mit einer Grundschule begegnen, welche die ersten zwei Schuljahre als offene Entwicklungs‑, Lern‐ und Spielgruppen organisiert, die in Rücksprache mit den Erziehungsberechtigten und professionellen PädagogInnen in zwei oder drei Jahren durchlaufen werden können. So würden wir den Bruch zwischen KiTa und Schule abmildern und den Entwicklungs‐ Spiel‐ und Lernbedürfnissen der Kinder angemessener begegnen.
Sobald ein Kind in die Schule eintritt, wird die Bildung dort durch staatlich vorgegebene Lehr‐ und Bildungspläne bestimmt. (Vgl. Grundgesetz § 7) Der pädagogische Laie und viele Eltern fragen sich vielleicht, woran sich diese Pläne und Ziele orientieren, wer sie festlegt und wer die Zielerreichung überwacht. Hierfür gibt es Lehrplankommissionen der Kultusministerien in den Bundesländern, denen die Festlegung der Ziele obliegt.
Verbindliche Stundentafeln und Leistungsbewertungen sind juristisch in den jeweiligen Schulordnungen niedergelegt; sie werden durch kultusministerielle Schreiben oder Änderungen der Ordnungen ergänzt oder überarbeitet. Das Erziehungs‐ und Unterrichtsgesetz, die allgemeine Schulordnung sowie die Ordnungen für die einzelnen Schularten definieren juristisch bindend und engmaschig die Rahmenbedingungen von Schule. Im Bayerischen Erziehungs‐ und Unterrichtsgesetz (BayEUG) finden wir zum Bildungskanon beispielsweise bei Aufgaben der Schulen, »Die Schulen erschließen den Schülerinnen und Schülern das überlieferte und bewährte Bildungsgut und machen sie mit Neuem vertraut«. (BayEUG, Art 2/3) Im Folgenden heißt es im BayEUG zur Grundschule in Bayern: »Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht. Damit kommt der Wille zum Ausdruck, die obersten Bildungsziele der Verfassung auf der Grundlage christlicher und abendländischer Werte unter Wahrung der Glaubensfreiheit zu verwirklichen.« (BayEUG Art.7/4)
Die geschichtliche Gewordenheit der »christlichen und abendländischen Werte« und ihre Fragwürdigkeit als apriorische Setzung werden nicht problematisiert, sondern es offenbart sich hier beispielhaft ein affirmativer Charakter der systemischen Verfasstheit des staatlichen Schulwesens. Der eklatante Missbrauch dieser Werte sowohl in der Geschichte des Abendlandes (z. B. Stichwort Kolonialisierung) als auch in der deutschen Vergangenheit während des Nationalsozialismus werden genauso ignoriert wie die Doppelbödigkeit des Anspruchs christlicher Werte, waren doch gerade in kirchlichen Schulen und Erziehungseinrichtungen sexueller Missbrauch und gewaltsame Erziehungsmethoden an der Tagesordnung. Ein ideologiekritisches Hinterfragen eines sehr allgemein gehaltenen Kanons, der sich auf Tradition und Identität beruft, findet nicht statt. Im Mittelpunkt der schulischen Bildungsbemühungen stehen vielmehr die Zielerreichung der definierten Lehrplanziele und die punktgenaue Einhaltung der vorgegebenen Stundentafeln, die von den einzelnen Schulaufsichtsbehörden gegenüber den staatlichen Schulen und den staatlich anerkannten Privatschulen streng eingefordert und mit erheblichem Personalaufwand engmaschig überprüft werden.
Ein wichtiger Faktor bei der juristischen Verfasstheit von Schule stellt eine möglichst umfassende Rechtssicherheit gegenüber klagenden Eltern dar, die jenseits des Klagewegs wenig Einwirkungsmöglichkeiten haben, wie und was in der Schule gelernt und getestet wird. Der kreative Spielraum bei der Gestaltung von Schule ist also für alle beteiligten Akteure – Lehrkräfte, Eltern, SchülerInnen – eng begrenzt. Weder Lehrkräfte und Schulleitungen, noch Eltern, geschweige denn die, um die es geht – die Kinder und Jugendlichen – können aus dem vorgegebenen Rahmen ausbrechen. Die Rahmenbedingungen von Schule in Deutschland sind dabei vielfältig und unübersichtlich – wir haben aufgrund des Föderalismus in Deutschland 16 Schulsysteme.
Eines ist allen Schulsystemen in Deutschland gemeinsam: Es gilt vorgegebene Ziele zu erreichen und sich im gegebenen Rahmen einzurichten. Anpassung ist also offensichtlich ein vorrangiges Bildungsziel. Dies gilt auch für die Lehrkräfte, die den Beamtenstatus anstreben und sich einfügen und anpassen müssen, um den begehrten und privilegierten Status des gut situierten Beamten zu erreichen. Die Beförderungen, damit auch die Gehaltsstufen, werden durch periodische Beurteilungen der jeweiligen Schulleitung abgesichert; wer sich als anpassungsfähig an das bestehende Schulsystem und als unauffällig beweist, darf sich auf eine attraktive Pension freuen, die ihm das Durchhalten auch bei Frustrationen und Depressionen schmackhaft macht.
Bei Schulleitertagungen und in Gesprächen in Lehrerkollegien kann man mitverfolgen, wie über Einstufungen in Gehaltsgruppen der Beamtenbesoldung genauso leidenschaftlich und engagiert gesprochen wird, wie über Sachfragen. Die Loyalität zum Dienstherrn gilt als oberstes Gebot, wie mir von Schulleitern bei einer Schulleiterdienstbesprechung in Bayern beim Abendessen auf Nachfrage versichert wurde, obwohl der Dienstherr zuvor in Gestalt eines Ministerialdirektors in autoritärem und durchaus respektlosem Ton die Schulleitungen staatlicher Schulen auf den vom Ministerium vorgegeben Kurs eingeschworen hat.
Auch die LehramtsanwärterInnen sind dem Diktat der Anpassung spätestens nach ihrem Studium im Referendariat unterworfen, ist doch die Seminarlehrkraft z. B. in Bayern gleichzeitig die beurteilende Instanz in den Examenslehrproben. Und die Noten entscheiden über die Chancen beim Wettlauf um die Einstellung in das Beamtenverhältnis. Hier wird die Richtung vorgegeben, mit der die im System erfolgreichen Lehrkräfte später ihre SchülerInnen bewerten und einstufen, zumal Lehrkräfte von der ersten Klasse bis zum Ende ihres Studium in diesem System sozialisiert werden. Auch wenn in Zeiten des Lehrermangels dieses System etwas aufweicht, geschieht dies nur aufgrund des Drucks der Verhältnisse und wird sich, wenn dieser wegfällt, sofort wieder etablieren.
Die im Zusammenhang mit Schule viel beschworene Bedeutung der Werteerziehung verschleiert also ein Grundproblem der Werteorientierung im deutschen Schulsystem: Freiheit, Solidarität, Empathie sind eben nicht die Säulen unseres Wertefundaments, sondern Anpassung, Wettbewerb und Einzelkämpfertum. Auch die Wissensvermittlung an den Schulen schwankt zwischen durchaus hehren Kompetenzzielen, die erreicht werden sollen, und den realen Bedingungen, unter denen der Kompetenz‐ und Wissenserwerb an den Schulen stattfindet.
In jeder Zeit gibt es einen Kanon an Wissen, den es gilt, an die junge Generation weiterzugeben. Heutzutage ist im Grundschulalter dieser Kanon hauptsächlich dadurch bestimmt, dass ein Kind am Ende der vierten Klasse sicher das Lesen, die Schrift und die grundlegenden Rechenoperationen beherrschen sollte sowie Wissen auswendig lernen und wiedergeben kann. Aufgrund der Benotung der Leistungen in den drei Bereichen Mathematik, Deutsch und Heimat‐ und Sachkunde, wird es dann zur Fortsetzung der Bildungsbiografie einer Schulart, für die es nach Durchlaufen der Grundschule als geeignet gilt, zugewiesen. In den meisten Bundesländern haben die Eltern nach einer Grundschulempfehlung die Wahl. Der Elternwille zählt auch, wenn Eltern sich gegen die Grundschulempfehlung entscheiden sollten. Nur in wenigen Bundesländern wie Baden‐Württemberg, Bayern, Sachsen und Thüringen ist die Grundschulempfehlung verbindlich und steht über dem Elternwillen (https://www.bundestag.de/resource/blob/835702/1da4c50c71135c08416a99ad1478a796/WD-8-025-21-pdf.pdf)
Kompetenzen, die im vorgegebenen Kanon der Grundschule keine Rolle spielen – wie z. B. darstellendes Spiel, Musik, Sport, Fremdsprachen, Mehrsprachigkeit – erlebt das Kind als irrelevant für die Entscheidung über die Fortsetzung seiner Bildungsbiografie; diese Bereiche sind im Regelfall an den Grundschulen marginalisiert, es sei denn eine engagierte Schulleitung oder einzelne Lehrkräfte prägen mit diesen Bereichen das Schulleben.
Eine Pädagogik, die sich an den vielfältigen Lebens‐ und Entwicklungsbedürfnissen von Kindern orientiert, sähe anders aus!
Als Weltwissen wird das Ergebnis von lebenspraktischen, sozialen, motorischen, ästhetischen und kognitiven Erfahrungen bezeichnet, das sich im Umgang mit einer anregenden und herausfordernden Umwelt und Mitwelt herausbildet.
Dieses Weltwissen findet sich weder in einem Curriculum, noch kann man es an Hand einer Checkliste erwerben. Die Autorin des Buches »Weltwissen der Siebenjährigen, wie die Kinder die Welt entdecken können« wirbt für ein Panorama von Bildungserlebnissen, das Kindern in den ersten Lebensjahren im Alltag und in Erziehungseinrichtungen wie KiTa und Kindergarten zugänglich sein sollte. (Vgl. Eschenbroich, Donata (2001): Weltwissen der Siebenjährigen. Wie die Kinder die Welt entdecken können.) Spätestens sobald Kinder die Schulreife erlangt haben und in der Schule den Lehrplanzielen unterworfen werden, rückt das breite Bildungspanorama im Sinne des Erwerbs von Weltwissen in den Hintergrund. Die Welterschließung durch eigene Erlebnisse und Erfahrungen bleibt besonderen reformpädagogisch orientierten Schulen vorbehalten. Das staatliche Curriculum basiert überwiegend auf kognitiver Schulung von schulischen Fertigkeiten.
Was ab dem Schulalter ausgesprochen oder unausgesprochen also mehr als Weltwissen zählt, ist der normierte Wissens‐ und Kompetenzerwerb der schulischen Leistungen, die der Überprüfbarkeit durch Testformate genügen müssen, um die Kinder in Leistungsgruppen einzuordnen. Schließlich gilt es am Ende der Grundschulzeit festzustellen, wer für welche Schulart geeignet ist. Dafür werden ausschließlich die schulischen Testformate herangezogen.
Das Bildungspanorama zur Aneignung von Welt, das Eschenbroich für die ersten sieben Jahre zum Erwerb von Weltwissen vorstellt, spielt ab dem Schulalter zumeist nur noch in bildungsbürgerlichen Elternhäusern eine Rolle. Im schulischen Curriculum wird es vernachlässigt, was schon an der Ausbildung der Grundschullehrkräfte zu erkennen ist. Hier werden keine KünstlerInnen, MusikerInnen, TheaterspielerInnen und ÖkologInnen herangebildet, welche die Grundschulen zu Begegnungsstätten und anregenden Erfahrungsräumen für Familien machen, sondern SachwalterInnen des Leistungs‐ und Selektionsdenkens. So werden bei Übertrittsveranstaltungen die Beratungslehrkräfte der Grundschule durchaus auch mal gefragt, welchen Intelligenzquotienten (IQ) ein Kind haben müsse, um das Gymnasium besuchen zu können. Daran sieht man, dass schulische Bildung für Eltern – vielleicht sogar für die meisten von ihnen – vor allem der sozialen Eingliederung und Abstufung dient. Bildung wird kein Eigenwert eingeräumt. Auch die sogenannte Naturraumpädagogik, die sich zunehmender Beliebtheit erfreut – abzulesen an den Neugründungen von Waldkindergärten – bleibt eine Domäne der vorschulischen Bildung, die jäh abbricht, sobald die Kinder die Schule besuchen. Wie geht es einem »Waldkind«, das gewohnt war, den ganzen Vormittag draußen in der Natur unterwegs zu sein, wenn es auf einmal still am Platz sitzen muss und sich Bewegungsangebote auf die Pausenzeiten und den Sportunterricht beschränken? Wird nicht alles, was die Naturraumpädagogik angelegt hat, so wieder zunichte gemacht? Womöglich ergeben sich durch die Sozialisation im Wald Probleme mit der Anpassung an die schulischen Lern‐ und Disziplinformate? Denn es gibt keine Weiterführung des ganzheitlichen Ansatzes des Konzepts von Weltwissen oder Naturraumpädagogik in der Schule.
Im Gegenteil: Ein vielfältiges Angebot an Beratungslektüre befasst sich damit, wie »Ihr Kind die Schule schafft«. Oder noch befremdlicher: Aufgrund der offensichtlich geringer vorhandenen Anpassungsleistung von Jungen an das bewegungs‐ und erfahrungsarme Bildungsangebot der Schulen, hat sich ein eigener Zweig der Anpassungsberatung auf Jungen spezialisiert. (Vgl. z. B. Winter, Reinhard (2018): Wie Jungen die Schule schaffen. Ein Ratgeber für Eltern). Immerhin wird in diesem Buch auch vehement die Verantwortung der Politik eingefordert: »Warum werden Forschungsergebnisse zum Zusammenhang von Bewegung, Lernen und Gesundheit so konsequent übergangen? ... Warum ist die Ausbildung der Lehrkräfte so einseitig auf Fachliches beschränkt?«. (Vgl. ebd., S. 288/89)
Ja, warum? Warum wird in der Schule das lebendige Wissen auf dem Altar der Überprüfbarkeit geopfert? Die lebensfernen Strukturen der Schule führen jedenfalls bei einer zunehmenden Zahl von Kindern und Jugendlichen zu Schulangst, Schulvermeidung, Depressionen oder aber zu Überanpassung mit Spätfolgen.
Kindheit und Jugend sind Phasen des Wachstums und des Experimentierens. Grundlagen der Persönlichkeitsentwicklung werden gelegt, die das zukünftige Leben prägen werden. Die Gehirnforschung hat sich dieses Themas angenommen und treibt dabei Blüten, wie die Mode der sogenannten »Neurodidaktik«, die »gehirngerechtes« Lernen propagiert. Diese Ansätze setzen in der Regel in erster Linie auf erfolgreichen und überprüfbaren Wissenserwerb. Gerade jetzt zeigt die Diskussion um die künstliche Intelligenz und die Kompetenzen von ChatGPT, dass Wissenserschließung und Wissensgenerierung neu überdacht werden müssen. Das sogenannte »gehirngerechte Lernen« vernachlässigt die einzigartige, kreative menschliche Aneignungs‐ und Verarbeitungsleistung bei der Generierung von Wissen und Bildung. Nachhaltige Erschließung von neuen praktischen und theoretischen Kompetenzen, die Ausbildung des kritischen Denkens oder gar die Herausbildung von Haltungen, die dem traditionell eher ganzheitlich angelegten Bildungsbegriff entsprechen würden, bleiben unberücksichtigt. Das Durchdringen und Verstehen von Sachfragen, die vertiefte und persönlich gefärbte Auseinandersetzung mit Bildungsthemen, was Zeit und Einsatz braucht, spielen eine untergeordnete Rolle. Aber gerade die persönliche Betroffenheit und das individuelle Interesse zeigen sich als Voraussetzungen des nachhaltigen Lernens: »Hirnforscher haben entdeckt, dass Kinder vor allem lernen und erinnern, was für sie bedeutsam ist.« (Vgl. Egle, Jürgen (2013): Zur Bedeutung von Person und Beziehung für gelingendes Lernen. Zeitschrift SEMINAR 4/2013)
Eltern, ErzieherInnen und alle, die aufmerksam Kinder beim Aufwachsen begleiten und unterstützen, werden diese These als allgemeine Erfahrung, die nicht unbedingt der »Entdeckung« der Hirnforscher bedarf, sondern durch ihre Forschung allenfalls untermauert und analysiert werden kann, bestätigen.
Bedeutsamkeit allein ist wertneutral und was als bedeutend eingestuft wird, hängt auch vom sozialen Kontext ab, es kann gelenkt und gesteuert werden. Für Kinder heutzutage sind z. B. vorstrukturierte Erfahrungen mit Computerspielen und der soziale Austausch in digitalen Netzwerken sehr bedeutsam geworden, sodass hier ein enormer Lernzuwachs zu verzeichnen ist, dessen Erwerb beträchtliche Zeitressourcen der Kinder und Jugendlichen beansprucht und andere traditionell bedeutsame Erfahrungsfelder – wie draußen spielen, mit Freunden unterwegs sein, Sport treiben, Musik machen oder Geschichten lesen – an Bedeutung verlieren.
Es zeigt sich an diesem Beispiel aus der Hirnforschung exemplarisch die grundsätzliche Distanz zur Bedeutung der unmittelbaren Erfahrung als zentrales Moment jeden Lernens und des Lebens überhaupt. Erfahrung wird erst als wertvoll eingestuft, wenn sie wissenschaftlich belegt ist.
Wenn auch immer wieder betont wird, dass »konkrete Erfahrungen« den Lernprozess unterstützen (vgl. Ullmann, Edwin (2016): Lernen aus neurobiologischer Perspektive), bleiben diese konkreten Erfahrungen eine freiwillige Ergänzung zum festgelegten stoff‐ und zielbasierten Lehrplankonzept. So kann man festhalten, dass wir in der Schule für die Schule lernen – und zwar durch den Aufbau kognitiver Strukturen, die geeignet sind, in Vergleichsarbeiten als abrufbares Wissen überprüft zu werden.
Schule steht also in einem Widerspruch zum reichhaltigen Experimentierfeld von unmittelbaren, eigenen, Erfahrungen, die nicht in standardisierten Formaten abprüfbar sind und sich nicht in einem festgelegten Zeitkorsett eines Stundenplans bewegen. Lebensechte, erfahrungsbasierte Herausforderungen mit offenem Ausgang spielen beim Lernen in der Schule eine Nebenrolle. Dieser Widerspruch von Schule und unmittelbarer Erfahrung kann sich in beträchtlichem Maße hemmend auf die Motivation von Kindern und Jugendlichen im schulischen Kontext auswirken. Je mehr Zeit Schule im Leben von Kindern und Jugendlichen einnehmen soll – was ja eine gesamtgesellschaftliche Forderung ist –, desto fragwürdiger werden die Konzepte einer rein kognitiv überprüfbaren Bildung oder einer schulkonformen Verwahrung am Nachmittag. In der Halbtagsschule gab es – inhaltlich stark abhängig vom Wohnort und der sozialen Einbettung der Familien – zumindest noch am Nachmittag den Freiraum von echten Erfahrungen und Herausforderungen im Spiel‐ und Freizeitbereich von Kindern und Jugendlichen. Dieser Freiraum wird heute durch Ganztagsschule und Medienkonsum immer weitgehender besetzt, sodass der Raum für unmittelbare, körperbetonte, bewegungsaffine Erfahrungen weiter schrumpft.
In erlebnispädagogischen Angeboten wird diesem Umstand Rechnung getragen. Auf dem wachsenden Feld der Erlebnispädagogik wird Erleben und Lernen als untrennbare Einheit gepflegt. Allerdings wird Erlebnispädagogik zumeist als Ergänzung zum Schulbetrieb mit Angebotscharakter, z. B. bei Schullandheimaufenthalten, aufgesucht und findet seinen Niederschlag noch nicht angemessen in didaktischen Konzepten für die Schule. Es gilt bei erlebnispädagogischen Angeboten und Konzepten jeweils genau die folgende Frage zu prüfen: Werden didaktisch gelenkte Erfahrungsangebote gemacht oder handelt es sich um echte unmittelbare und subjektiv getönte Erfahrungen ohne vorgefertigtes Lernziel? Denn eine »Verschulung« von Erfahrungen untergräbt den individuellen Freiraum, der Entwicklung und Lernen durch ganzheitliche Erfahrungen erst so wertvoll und für das eigene Leben so bedeutsam machen kann.
Die Frage, ob das zu beobachtende Ausweichen von Kindern und Jugendlichen in den Aufforderungsüberschuss der vielfältigen digitalen Erfahrungsangebote eine kompensative Funktion hat, bleibt offen. Die Erfahrungsräume im Leben der Kinder und Jugendlichen werden zwar immer enger gesteckt; im weltweiten Netz scheint sich demgegenüber eine vorgefertigte aber paradoxerweise doch quasi ungesteuerte Erfahrungswildnis anzubieten. Dass nicht nur Jugendliche, sondern auch schon Kinder im Grundschulalter in dieser digitalen Wildnis Erfahrungen machen, die sie nicht verarbeiten können und die sogar das Kindeswohl gefährden, dringt erst nach und nach ins Bewusstsein. Noch werden die Eltern und Schulen in der Bewältigung der Aufgabe, der Spagat zwischen Digitalisierung des Wissens und Lernens und der Regulierung des Gefahrenpotentials des weltweiten Netzes zu leisten, alleine gelassen; es gibt diesbezüglich keine verbindlichen gesetzlichen Regulierungen. (Vgl. Müller, Silke (2023): Wir verlieren unsere Kinder. Gewalt Missbrauch, Rassismus. Der verstörende Alltag im Klassenchat.)