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Menschen mit Down-Syndrom zu Wort kommen zu lassen und ihre Lebenswelten sichtbar zu machen, ist das Anliegen dieses Buches. Gefragt wird, wie Menschen mit Down-Syndrom ihre Biografie wahrnehmen, welche Erfahrungen und Anliegen sie formulieren und welche Perspektiven sie auf ihr Leben, ihr Umfeld und die Gesellschaft haben. Das Buch verfolgt das Ziel, die stereotypen Bilder über Menschen mit Down-Syndrom zu durchbrechen und sie als AutorInnen ihrer Lebensgeschichten vorzustellen, die ihr Leben auf Autonomie und Teilhabe ausrichten wollen. Die Berichte zeigen, dass auch Personen, die sich in einem geringeren Umfang äußern, tiefe Einblicke in ihre innere Welt geben. Anhand zahlreicher Ausschnitte aus Interviews stellt der Band anschaulich dar, wie Menschen mit Down-Syndrom in Gesprächen ihre Positionen vertreten, wie sie bei der Darstellung ihrer Lebensgeschichte und ihrer Anliegen unterstützt werden können und welche Methoden hilfreich sind, um ein gemeinsames Verständnis im Gespräch zu erreichen. Die Erkenntnisse werden durch die Untersuchung von einzelnen Gesprächen sowie durch zwei Beispiele biografischer Skizzen ergänzt, die als Zusammenfassungen der individuellen Lebensgeschichten dienen.
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Seitenzahl: 484
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Cover
Titelei
MitarbeiterInnen
Einleitung
1 Biografieforschung und Biografiearbeit
1.1 Allgemeine Grundlagen
1.2 Biografieforschung bei Personen mit Assistenzbedarf
1.3 Interviewformen, ethische Grundlagen und methodische Aspekte zu Befragungen von Menschen mit Assistenzbedarf
2 Lebensgeschichten von 45 Personen mit Down-Syndrom – der Forschungsweg
2.1 Fragen
2.2 TeilnehmerInnen
2.3 Schritte
3 Individuelle Biografische Skizzen
Beispiele Biografischer Skizzen
Aus der Lebensgeschichte von Leonie
Aus der Lebensgeschichte von Jonas
4 Biografische Themen im Überblick
5 Analyse zentraler Themen
5.1 Familie
5.2 Kindheit
5.3 Kindergarten
5.4 Schule
5.5 Ausbildung
5.6 Arbeit
5.7 Wohnen
5.8 Freizeit und Interessen
5.9 Urlaub
5.10 Mobilität
5.11 FreundInnen
5.12 Partnerschaft
5.13 Konflikte
5.14 Selbst
Aussehen
Eigenschaften und Fähigkeiten
Emotionen
Selbständigkeit
Hilfebedarf
Lernen und Entwicklung
Behinderung
Gesundheit und Krankheit
Zufriedenheit mit der eigenen Person
Zufriedenheit mit dem eigenen Leben
5.15 Teilhabebarrieren
5.16 Werte
5.17 Religion und Spiritualität
5.18 Tod und Verlust
5.19 Down-Syndrom
5.20 Wünsche und Ziele
6 Analyse einzelner Gespräche
6.1 Frau Mayring
6.2 Herr Sacher
6.3 Frau Pehl
6.4 Herr Marx
6.5 Frau Jaronn
6.6 Herr Schwebel
6.7 Frau Immhoff
6.8 Fazit
7 Analyse der Interaktionen im Gespräch
7.1 Interventionen der InterviewerInnen
Fragen
Wiederholungen und Paraphrasen
Verbalisierungen
Rückmeldungen und Würdigungen
Weitere Interventionen
7.2 Differenzierte Reaktionen der Interviewten auf geschlossene Fragen
7.3 Interventionen zur Gestaltung des Gesprächsverlaufs seitens der Befragten
7.4 Besondere Gesprächssituationen
Zusammenfassung
8 Ausblick
9 Literaturverzeichnis
Praxis Heilpädagogik – Konzepte und Methoden
Herausgegeben von Heinrich Greving
Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:
https://shop.kohlhammer.de/praxis-heilpadagogik-konzepte-und-methoden
Der Autor
Dr. Bernhard Schmalenbach ist Professor für Heilpädagogik/Inklusive Pädagogik an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn. Seit 2017 Dozent für Inklusion an der Universität Bonn. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen u. a. im Bereich Hilfeplanung, Biografieforschung, Phänomenologie der Leiblichkeit, Autismus sowie der ästhetischen Dimension der Pädagogik und Heilpädagogik.
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1. Auflage 2024
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:ISBN 978-3-17-044195-8
E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-044196-5epub: ISBN 978-3-17-044197-2
Bernhard Schmalenbach
unter Mitarbeit vonAngelika GräfChristian ForssSabrina FlörkeBettina FunkeEva HermensPetra KaufmannEva LuxemFridolin NeumannAnnette RiegelSören Roters-MöllerMonika RuffertChristina SchmalenbachGalina SchneiderLisa ThomasLouisa Noëlle Welskop
Die gesellschaftlichen Wahrnehmungen und Bilder über Personen mit Down-Syndrom gehen zunächst von einer Tatsache aus: »Wer das Down-Syndrom hat, sieht anders aus als seine Mitmenschen und nimmt eine Sonderposition in der Gesellschaft ein. Man erkennt sie und meint, sie zu kennen – vor der Geburt und auch im Leben.«1 Fast durchgängig zu beobachten ist die Ineinssetzung von Down-Syndrom und »Behinderung«, in einem auf die Person bezogenen Sinn verstanden. In ihrem Buch zur Klinischen Entwicklungspsychologie schreiben die AutorInnen Nina Heinrichs und Arnold Lohaus bei der Erläuterung der Bedeutung genetischer Faktoren für die Entwicklung: »Ein Beispiel ist die Trisomie 21 (Down-Syndrom), bei der das Chromosom 21, bzw. Teile davon dreifach vorliegen. Als Folge ergeben sich schwerwiegende physische und psychische Beeinträchtigungen, die bis zur geistigen Behinderung führen können.«2 Hier werden physische und psychische Beeinträchtigungen als regelmäßige Folge der Trisomie 21 gekennzeichnet und eine geistige Behinderung als deren mögliche Konsequenz oder Steigerung. Personen mit Down-Syndrom selbst sehen diese und andere Formen von Gleichsetzung kritisch.3 Die primäre Wahrnehmung des Down-Syndroms als Behinderung hat eine große Bedeutung für die Beratung im Zusammenhang mit der Pränatalen Diagnostik und den anschließenden Entscheidungen hinsichtlich der Frage, die Schwangerschaft zu beendigen oder nicht.4 Auch wenn die Rechtsgrundlage der Abtreibung von Embryos mit Trisomie 21 in Deutschland nicht aufgrund einer embryopathischen Indikation, sondern auf die künftige psychische Belastung der werdenden Mütter bezogen ist,5 betrachten zumindest eine Reihe von Personen mit Down-Syndrom dieses Vorgehen als Infragestellung des eigenen Lebens oder der eigenen Person. »Wir tun doch niemandem was«, so formuliert es eine Befragte aus dem hier vorgelegten Projekt. Zudem befinden sich Eltern von Kindern mit Down-Syndrom in der Situation, eine Entscheidung getroffen zu haben, welche im gesellschaftlichen Bewusstsein als Ausnahme gilt und durchaus kritisch in Frage gestellt wird.6
Bei der Beurteilung der Situation von Personen mit Down-Syndrom werden jedoch auch gesellschaftliche Fortschritte erkennbar, nicht zuletzt in Zusammenhang mit der Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen. So haben sich Bildungschancen und Arbeitsmöglichkeiten weiterentwickelt, Personen mit Down-Syndrom werden mehr und mehr als kulturelle Akteure in Filmen, Theaterstücken, als AutorInnen und KünstlerInnen sichtbar. Die Ausstellung Touchdown in der Bundeskunsthalle Bonn im Jahr 2016 hat dazu beigetragen, bestehende Stereotypien in Frage zu stellen und eine Vielfalt von Perspektiven auf das Leben mit Down-Syndrom sichtbar zu machen.7 Auch machen Personen mit Down-Syndrom in zunehmenden Maße Forderungen nach Partizipation und dem Abbau von Barrieren geltend.8 Jedoch sind die Stimmen der Personen mit Down-Syndrom in der öffentlichen Wahrnehmung wie in der Forschung insbesondere im deutschsprachigen Raum noch kaum präsent.
Daher sollen in diesem Buch Menschen mit Down-Syndrom mit ihren Erfahrungen, Reflexionen und Positionen zu Wort kommen. Im Rahmen eines Forschungsprojektes wollten wir in Erfahrung bringen, wie Menschen mit Down-Syndrom ihre Biografie wahrnehmen, rekonstruieren und sprachlich präsentieren, welche Erfahrungen, Bedürfnisse und Anliegen sie formulieren und welche Schlussfolgerungen sich im Hinblick auf Lebensqualität, Teilhabe und Zukunftsplanung formulieren lassen.
Unser Ziel ist es, die stereotype Wahrnehmung von Menschen mit Down-Syndrom zu durchbrechen und Personen als AutorInnen ihrer Lebensgeschichte vorzustellen, mit ihren Vorstellungen von Lebensqualität, mit ihrer Perspektive auf das Leben und die Gesellschaft und mit dem Anliegen, ihren Beitrag geben zu können.
Und nicht zuletzt möchte diese Veröffentlichung einen Beitrag zur Erforschung von Gesprächen mit Personen mit Down-Syndrom leisten, stellvertretend auch für Gespräche mit Personen, welche entweder in ihrem sprachlichen Ausdrucksvermögen eingeschränkt sind bzw. darin eingeschränkt werden. Dies geschieht auch mit der Fragestellung nach förderlichen Gesprächshaltungen, auftretenden Schwierigkeiten, hilfreichen wie problematischen Interventionen. Dieses Forschungsinteresse steht auch im Zusammenhang mit Veränderungen im Zuge der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes, welche auch die individuelle Bedarfsermittlung betreffen. Denn die Bedarfsermittlung und die Bewertung von Maßnahmen erfolgen nunmehr auf der Grundlage von Gesprächen über die Bewertung der Teilhabesituation der antragstellenden Person und ihrer auf Teilhabe bezogenen Wünsche und Ziele. Gesprächsanalytische Forschungen von Gesprächen, an denen Personen mit Down-Syndrom oder Personen in Lebenslagen von Behinderung teilnehmen, sind noch sehr selten und stellen damit ein Forschungsdesiderat dar.
Im ersten Teil des Buches wird ein Überblick über Anliegen, Methoden und Fragenstellungen der Biografieforschung gegeben, unter besonderer Berücksichtigung von Personen, welche u. a. als lernbeeinträchtigt beschrieben werden.
Anschließend beschreiben wir das Vorgehen und unsere Erfahrungen im Rahmen unseres Biografieprojekts, in dessen Verlauf 45 Personen mit Down-Syndrom befragt wurden.
Unsere GesprächspartnerInnen haben sich zu einer Fülle von Themen geäußert. Ihre zentralen Aussagen hierzu stellen wir dar und verbinden sie mit Ergebnissen zur Forschung mit Personen mit Down-Syndrom. Einen wichtigen Schwerpunkt bilden hier die Gedanken, welche sich unsere GesprächspartnerInnen über das Down-Syndrom und über die Situation von Personen mit Trisomie 21 in der Gesellschaft machen.
Jedes biografische Gespräch hat eine einmalige Gestalt. Die weitaus meisten Studien, in denen Personen mit Down-Syndrom befragt wurden, werden ihre Aussagen zu bestimmten Fragestellungen analysieren. Doch verfügen wir bislang kaum über Studien, welche solche Gespräche in ihrer Gesamtheit untersuchen. Daher nehmen wir hier in einem weiteren Schritt eine Analyse einzelner, ausgewählter Interviews vor, in ihrem Gesamtzusammenhang, sowohl in inhaltlicher wie in formaler Hinsicht.
Den Abschluss bildet eine Rekonstruktion von typischen Interaktionssequenzen in den Gesprächen, in der die Interventionen der InterviewerInnen wie auch der Positionierungen und Antwortformen der Befragten analysiert werden. Hier wird deutlich, dass diese Gespräche eine gemeinsame Leistung darstellen und dass die Befragten eine Reihe von Mitteln nutzen, das Gespräch in ihrem Sinne zu lenken, auch wenn sie sich in der Rolle der Befragten befinden – und auch dann, wenn sie nur verhältnismäßig wenig Worte gebrauchen. Die hier gefundenen Ergebnisse können eine Anregung dafür sein, Gespräche zu analysieren und »auf Augenhöhe« zu führen.
Forschungen über Erfahrungen und Positionen von Personen mit Trisomie 21 sind in Deutschland noch sehr rar. Zu vielen Bereichen, welche unsere GesprächspartnerInnen ansprechen, liegen keine Forschungsergebnisse vor, außer, man nimmt hier Forschungen in Zusammenhang mit ›Personen mit Lernschwierigkeiten‹ oder ›Personen mit einer geistigen Behinderung‹ hinzu. Doch auch diese werden noch viel zu selten durchgeführt. In noch stärkerem Maße gilt dies für die Untersuchung von Dialogen mit dieser Personengruppe. Dies steht in einem krassen Missverhältnis zur Bedeutung dialogischer Assistenz und personenbezogener Beratung und Begleitung. Die vorliegende Veröffentlichung möchte hier neben der Darstellung der Ergebnisse methodische Anregungen und weiterführende Fragen für ähnliche Projekte geben.
Im Rahmen dieser Veröffentlichung wird der Begriff »Down-Syndrom« der alternativen Bezeichnung »Trisomie 21« vorgezogen, da der in der Öffentlichkeit eingeführte Begriff »Down-Syndrom« von Betroffenen, Arbeitskreisen, Verbänden und Projekten sowie in der – auch internationalen – Fachliteratur weitgehend als Referenzbegriff verwendet wird.
Dieses Projekt wäre nicht zustande gekommen ohne das Vertrauen und die Unterstützung der Heidehof-Stiftung Stuttgart. Wir möchten daher den hier Verantwortlichen herzlich danken.
Wir bedanken uns ferner bei Eltern, gesetzlichen VertreterInnen und MitarbeiterInnen von Einrichtungen für die Ermöglichung und Begleitung von Interviews.
Unsere GesprächspartnerInnen haben mit großem Vertrauen und Engagement an dem Projekt teilgenommen. Ihnen gebührt daher besonderer Dank!
1Peschka & de Braganca 2010, 6.
2Heinrichs & Lohaus 2020, 22.
3Achtelik 2019, sowie Dedreux 2017.
4de Graaf, Buckley, Skotko 2021.
5Merkel 2019.
6Lou, Lanther, Hagenstjerne, Petersen & Vogel 2020.
7Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland 2016.
8Plettenberg 2021.
Biografieforschung und Biografiearbeit verfolgen unterschiedliche Ziele. Während im Rahmen von Biografieforschung häufig eine Vielzahl von Biografien untersucht werden, zumeist unter einer spezifischen leitenden Fragestellung, welche anhand der Biografien untersucht wird, richtet sich Biografiearbeit auf die systematische Erkundung, Befragung oder Aneignung der eigenen Biografie.
Seit Mitte der 1980er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts erleben Biografieforschung und später auch Biografiearbeit einen bemerkenswerten Aufschwung in den empirischen Sozialwissenschaften, der Pädagogik und der Psychologie. Die Diskurse zum Thema Biografie aus verschiedenen Perspektiven zeigen die sich über Jahrhunderte wandelnden Konzeptionen der Beziehung des einzelnen Menschen zur Gesellschaft wie zu sich und seinem ›Lebenslauf‹. Bereits der Begriff Biografie vereint das ›gelebte‹ Leben und seine Beschreibung.
Über viele Jahrhunderte hinweg, beginnend mit der griechischen Antike, sind es die Viten berühmter Männer, welche den Gegenstand von Biografien bilden. Augustinus' Bekenntnisse bilden den Auftakt einer Literatur, welche Lebensbeschreibung, philosophisch-theologische Betrachtungen und Selbstreflexion verbindet. Mit dem Aufkommen des Entwicklungsgedankens im 18. Jahrhundert werden Biografien in Romanen unter dem Aspekt von Entwicklung und Veränderung erzählt. Der Entwicklungsgedanke findet auch in autobiografischen Darstellungen sein Echo, wie in Rousseaus Confessions. Infolge der Aufklärung und der mit ihr einhergehenden, neuen anthropologischen Orientierung kommen auch biografischen Skizzen und Fallgeschichten außergewöhnlicher Personen auf. Man denke hier an Éduard Séguins Bericht über Victor oder Anselm von Feuerbachs Lebensbeschreibung über Kaspar Hauser. Auch Heinrich Deinhardt und Jan Daniel Georgens berichten in ihrer Dokumentation über die Arbeit in ihrer Einrichtung Levana ausführlich über die Biografien und Entwicklungen der ihnen anvertrauten Personen.9 In hohem Maße einflussreiche Impulse für das psychologische Verständnis von Biografien im 20. Jahrhundert gehen von Sigmund Freuds autobiografischen Exkursen, seinen biografischen Studien und vor allem seinen Fallgeschichten aus. Die von Freud entworfene Prozessstruktur psychischer Entwicklung wurde vor allem von Erik H. Erikson weiter ausgestaltet, dessen Konzept die Entwicklung des Menschen als einen Gang durch biografische Konflikte beschreibt, deren Lösung zu einer jeweils neuen Stufe der persönlichen Identität führt.10 Einen anderen, auf biografisch erworbenen Kompetenzen hin ausgerichteten Akzent legte Robert J. Havighurst in der Formulierung von »Entwicklungsaufgaben«.11 Die biografisch orientierte Psychologie enthielt ferner bedeutende Impulse durch Hans Thomae, der bereits qualitative Forschungsmethoden einbezog, mit denen er die für Individuen spezifischen Daseinsthemen und Daseinstechniken als Antworten auf biografische Herausforderungen, Konflikte und Entscheidungssituationen benannte.12 Von Thomae ausgehend charakterisiert Gerd Jüttemann Biografie als einen Prozess der Autogenese, als Selbstgestaltung in Eigenverantwortung, wie sie besonders in impliziten und expliziten biografischen Entscheidungssituationen zum Ausdruck kommt.13
In der psychologischen Forschung hat sich mit der Bindungsforschung ein weiterer Zweig entwickelt, der im Hinblick auf die Arbeit mit Erwachsenen eine imminent biografieorientierte Perspektive verfolgt. Auch wenn hier der Fokus auf der Repräsentation der Bezugspersonen liegt, besteht die Methode in einem biografiezentrierten Leitfadeninterview, welches anhand definierter Kriterien, gerade hinsichtlich der Erzählweise, ausgewertet wird.14
Diese psychologischen Theorien legen eine Matrix vor, auf der sich dann individuelle Entwicklungen oder Biografien abbilden. Sie stellen in gewisser Hinsicht eine entwicklungspsychologisch belehrte Variante klassischer Konzeptionen dar, welche sich an einem idealtypischen Schema orientierten, das schon Solon in seinem Gedicht über die Lebensalter darstellt.15 Philosophische Konzepte wiederum behandeln Fragen der Lebensführung im Sinne eines ›guten Lebens‹ oder der Lebenskunst.16
Gegenüber der auf das Individuum zentrierten Perspektive nimmt die sozialwissenschaftlich orientierte Lebenslaufforschung die Formung von Biografien durch gesellschaftliche Strukturen, Diskurse und Abläufe in den Blick. Zu den entscheidenden Strukturierungsformen gehören rechtlich verfasste Altersnormen und die mit ihren einhergehenden Teilhabechancen, gesellschaftliche Erwartungen an die Stufen, Übergängen und ›Leistungen‹ einer ›normalen‹ Biografie.17 Damit einher geht eine Kritik an einer allein auf das Individuum abstellenden Perspektive, deren Höhepunkt Pierre Bourdieus »Biografische Illusion« markiert.18 Die Biografieforschung untersucht daher, wie die gesellschaftlichen Bedingungen, Abläufe und Narrative in die Lebenserzählungen eingehen, dort verarbeitet und ggf. verändert werden.19
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Strukturen, soziale und institutionelle Steuerungen wie auch individuelle Setzungen und Sinngebungen fließen in die Formung des Subjekts und die Herausbildung seiner Identität ein. Biografieforschung untersucht mithin die Frage, wie Personen Lebensentwürfe gestalten, Rückschläge und Brüche verarbeiten und ihrem Leben Sinn verleihen. Diese Entwürfe können stets auch als Ausdruck impliziter und expliziter Bearbeitung von gesellschaftlichen und sozialen Subjektivierungsprozessen verstanden werden. Sozialwissenschaftlich orientierte Biografieforschung legt damit den Schwerpunkt darauf, über die Deutungshorizonte von Subjekten einen Zugang zu sozialen Verhältnissen und Wirksamkeiten zu erhalten.20 Dabei wird vonseiten der Soziologie wie in der konkreten Biografiearbeit auch untersucht, inwieweit Normalbiografien als »sozialweltliche Orientierungsmuster« weiterhin gültig sind.21
Im Rahmen der Biografieforschung finden sich vielfältige Traditionen, Konzepte und Methoden. Manche soziologisch orientierten Forscher nehmen insbesondere gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Prägungen und Vorgaben in den Blick. Andere betonen die produktive oder ›konstruktive‹ Tätigkeit der Person in der Gestaltung ihrer Biografie. Dabei ist auch an dieser Stelle zu unterscheiden zwischen einer Verwendung des Begriffs Biografie im Sinne des Lebenslaufs und der Biografie als Erzählung oder Text. Hier bleibt zunächst die Frage offen, wieweit diese Unterscheidung tatsächlich trägt, da jede Darstellung eines Lebenslaufs über die Auflistung von Eckdaten hinaus einer sprachlichen Präsentation bedarf, die im Kern eine Erzählung ist. Dementsprechend vielfältig sind die Forschungskonzepte einer im weiteren Sinn verstandenen Biografieforschung. Viele ForscherInnen stimmen jedoch in dem Ziel überein, »subjektive Sinnstrukturen vor dem Hintergrund relevanter Kontexte (z. B. Zeitgeschichte, soziale Teilhabe, Szene, Milieu, Kultur, Alltag) systematisch (anhand qualitativer Forschungsinstrumente) als Verdichtungen und Relevanzstrukturen herauszuarbeiten und sichtbar zu machen.«22 Damit richtet sich das Forschungsinteresse auf die erzählte Biografie, welche jedoch in einigen Ansätzen in Verbindung mit den objektiven Daten interpretiert wird.23
Das Verhältnis von ›gelebten‹ und ›erzählten‹ Leben wird in der Forschung ebenfalls unterschiedlich begriffen: Während ForscherInnen wie Fritz Schütze von einer Gleichartigkeit von Erzählung und Erfahrung ausgehen, dergestalt, dass schon die Erfahrung selbst narrativ strukturiert ist,24 vertreten andere die Auffassung, dass Erzählungen im Nachhinein gebildet werden oder dass eine protonarrative Struktur der Erfahrung dann bewusst gemacht wird.25 Einigkeit besteht jedoch darin, was durch Biografien entsteht: die Ausarbeitung von Selbst- und Weltbildern, die Deutung des Geschehenen in der Verbindung von Intentionen, Handlungen, Begegnungen und Ereignissen, die Herstellung von zeitlichen und ›inneren‹ Beziehungen als Sinnzusammenhang eines Lebens mit seinen Verbindungen, Brüchen und Kontingenzen.26
Während manche Ansätze der Biografieforschung die erzählte Lebensgeschichte in Bezug zu der erlebten – und dokumentierten – Lebensgeschichte setzen,27 beschränken sich andere ForscherInnen auf die subjektive Repräsentation des Lebenslaufes in der Lebensgeschichte.28
Dabei wird es in der Biografieforschung auch für legitim erachtet, durch Nachfragen die Bedeutung von Beschönigungen oder Auslassungen in der Lebenserzählung zu reflektieren und gemeinsam bewusste oder unbewusste Deutungsmuster einer Person zum Vorschein zu bringen, unter Berücksichtigung des vielfältigen Verwobenseins von Erfahrung und Erzählung.29
Während Biografieforschung die subjektiven Konstruktionen der Befragten in Bezug auf ihre Biografie in möglichst wenig Einfluss nehmender Weise erhebt, intendiert Biografiearbeit, den Rückgriff auf die Lebensgeschichte bewusst und gezielt zu fördern und das Verständnis des Gewordenen für die Gestaltung des Lebens der KlientInnen fruchtbar zu machen. Biografiearbeit umfasst somit mehr oder weniger umfangreiche Hilfestellungen und Unterstützungsangebote zur biografischen Selbst-Reflexion.30
So hat sich unter dem Begriff Biografiearbeit eine Vielzahl unterschiedlicher Methoden, Vorgehensweisen und Verfahren etabliert, von denen einige für spezifische AdressatInnengruppen konzipiert wurden:31 Ihre Gemeinsamkeit formuliert Jansen wie folgt:
»Allen Ansätzen gemein ist jedoch die Vorstellung, dass es ein zutiefst menschliches Bedürfnis ist, dem Leben einen sinnhaften Bezug (einen Bedeutungsfaden) zu geben, sich selbst dabei als lebendigen Gestalter der eigenen Lebensgeschichte zu erleben und damit Identität unter den Bedingungen von Kontinuität und Diskontinuität zu konstituieren – kollektiv gebunden und doch individuell verschieden.«32
Biografiearbeit kann dazu verhelfen, sich die eigene Lebensgeschichte verstehend anzueignen, problematische Ereignisse zu verarbeiten oder eine Bestandsaufnahme zu machen.33 Sie kann sich auf Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft beziehen, wobei jede dieser Ausrichtungen die Gesamtgestalt der Biografie mitberücksichtigt. Jedoch ist Biografiearbeit nicht mit Psychotherapie oder Beratung gleichzusetzen, wiewohl sie auch ein Element von Beratung und Therapie darstellen kann.
Die Erforschung von Biografien von Menschen in Lebenslagen von Behinderung wird von unterschiedlichen Perspektiven aus unternommen. In der Heil- und Sonderpädagogik, der Psychiatrie sowie in der Sozialen Arbeit finden sich diverse an der Biografie orientierte Ansätze, auch im Sinne einer biografischen Diagnostik. Der Neurologe Alexander Luria veröffentlichte Fallstudien außergewöhnlicher Personen, in denen er versuchte, eine der individuellen Beschreibung gemäße Form zu finden.34 Die Rekonstruktion einer Subjektwerdung unter Bedingung der Behinderung als Isolation verfolgt das von W. Jantzen entwickelte Verfahren der Rehistorisierung.35 Heilpädagogisch-sozialtherapeutische Verfahren verbinden Biografieforschung und Biografiearbeit.36 Im Rahmen der Sozialen Arbeit wurden unterschiedliche Konzepte des Fallverstehens entwickelt, zu denen u. a. auch eine ›Narrativ-biografische Diagnostik‹ gehört.37
Eine stärker inklusionstheoretische und sozialwissenschaftliche Perspektive macht weniger den biografischen Umgang mit Behinderung zum Gegenstand als die Benachteiligung von Personen mit Beeinträchtigung durch gesellschaftliche Praxen. Sie analysiert ferner, wie deren Identität durch die Diskurse von Normalität geprägt wird.38
Die folgenden Beispiele von bisher veröffentlichten Arbeiten beziehen sich hier auf Personen mit Lernschwierigkeiten im deutschsprachigem Raum und auf Personen mit Down-Syndrom. So fand Kathrin Römisch bei einer Befragung von Frauen mit ›geistiger Behinderung‹, sowie deren Eltern und Bezugspersonen, dass sich die Lebensentwürfe der Frauen grundlegend von denen nichtbehinderter Frauen unterschieden, insofern ihnen Anerkennung in wesentlichen Lebensbereichen wie Beruf und Familie versagt bleibt.39
Die Bedeutung der Zuschreibung sonderpädagogischer Kategorien für die entstehenden Selbstbilder und Identitäten (ehemaliger) SonderschülerInnen arbeitete Lisa Pfahl heraus.40 Sie konnte auch zeigen, dass sich SchülerInnen eine Strategie der Kompensation durch Anpassung an die Normalität zu eigen machten.41 Damit kommen als Reaktion auf die Normalisierungspraktiken auch Praktiken der Selbstnormalisierung in den Blick.
Forschungen zu Lebensläufen behinderter Menschen zeigen ferner auf, dass Bildung und Wohnen in Sonderinstitutionen mit der Herausbildung eigener Lebenslaufmuster einhergeht.42 Hendrik Trescher untersuchte auf der Grundlage von Lebensgeschichten das Phänomen ›Geistige Behinderung‹ nicht als biografische Ausgangssituation, sondern als einen Prozess, der durch eine Vielzahl von Wirkmechanismen gekennzeichnet ist.43 Hierzu gehören u. a. von (Sonder-)Institutionen geprägte Lebensläufe, Abhängigkeitsverhältnisse in Verbindung mit erlernter Hilflosigkeit, die starke Abhängigkeit von der Herkunftsfamilie und von Institutionen mit ihren Vergemeinschaftungspraxen und Abläufen sowie defizitäre Selbstkonstruktionen, die in Verbindung mit dem medizinischen Modell von Behinderung stehen.44
Nancy Sorge führte Gespräche mit 40 Erwachsenen, »die für ›geistig behindert‹ gehalten werden.«45 Ihre Fragen sprachen eine Vielfalt von Bereichen an: Selbstwertgefühl, Stärken und Schwächen, Partnerschaft und Freundschaft, die Bezeichnung ›Geistige Behinderung‹, Ängste und Wünsche, die Auffassung von Glück, Tod und Spiritualität. Eine Reihe von Fragen waren auch spezifisch biografisch orientiert: Fragen zu Erinnerungen an prägende Situationen und deren gegenwärtige Bedeutung wie auch zur Antizipation der Zukunft. Die TeilnehmerInnen umfassten eine Altersspanne zwischen 24 und 56 Jahren. Die Auswertung von 30 Gesprächen ergab, dass eine Mehrzahl der Befragten keine Mühen hatte, sich an Begebenheiten aus der Kindheit zu erinnern; bis auf eine Befragte äußerten alle Wünsche für ihre Zukunft. Ebenfalls benannten die meisten der Befragten Stärken und Schwächen, sie reflektierten das Besondere ihrer Person und benannten, was ihnen im Leben wichtig ist. Fragen abstrakterer Natur wie die nach Glück, nach Gott und dem Tod bereiteten den meisten keine Schwierigkeiten.46 Damit wurde ein weiteres Mal bestätigt, dass Personen, die als geistig behindert bezeichnet werden, durchaus in der Lage (und geneigt) sind, sich im Rahmen von Gesprächen und Befragungen zu allgemeinen Themen zu äußern.47
Weitere Forschungen richten sich auf Untersuchungen zu spezifischen Themen: Hierzu gehören etwa die Untersuchungen zur Lebensqualität,48 zu Bewertung von Einrichtungen der Behindertenhilfe49 und auch zum Thema ›Geistige Behinderung‹.50
Auf die Biografie bezogene Studien mit Erwachsenen mit Down-Syndrom wurden bislang vor allem in angloamerikanischem Raum durchgeführt. In einer Befragung von Brown, Dodd und Vetere (2007) berichteten sechs ältere Personen über ihr Leben, welche in ihrer Kindheit zeitweise in Institutionen gelebt hatten. Die AutorInnen wählten eine – durch Leitfragen ergänzte – narrative Herangehensweise wegen ihrer Eignung, das Konzept von Identität zu erforschen. Die Befragten äußerten sich über ihre Kindheit, ihre gegenwärtige Lebenssituation und ihr künftiges Leben.
Eine aktuelle Metastudie demonstriert, wie sehr die Beteiligung der Betroffenen selbst noch ein Desiderat bleibt. Zum Thema »Perspektiven von Adoleszenten hinsichtlich ihrer Lebensqualität« fanden sich nur zwei Studien, in denen die Personen selbst zu Wort kamen. Stattdessen wurden in Dutzenden weiteren Studien die Angehörigen befragt.51 Melissa Scott und MitarbeiterInnen befragten 12 junge Erwachsene (Alter: 18 – 30 Jahre) nach ihrem Verständnis von einem guten Leben. Insgesamt zeigte sich eine positive Perspektive auf ihr Leben. In ihren Betrachtungen und Wünschen kam den Erfahrungen von Unabhängigkeit, selbständiges Leben und Anerkennung als Erwachsene eine große Bedeutung zu.52
Weitere Studien befassten sich mit Themen wie Lebenszufriedenheit,53 Identität und Selbstwert, mit dem Thema Pränatale Diagnostik, mit der Bedeutung von Freundschaft und FreundInnen, mit der Gestaltung der Freizeit und mit Lebensqualität im Allgemeinen u. a. Die Ergebnisse dieser und weiterer Studien werden in Zusammenhang mit der Analyse der Interviews dargestellt.
Aus dem eigenen Leben berichten zu können, ist eine Fähigkeit, die ihrerseits auf Erfahrungen und Fähigkeiten beruht. Gabriele Rosenthal zeigt auf, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit ein Mensch seine Lebensgeschichte in gestalteter Form darstellen kann:
1.
»in der Sozialisation internalisierte Muster zur Gestaltung der biografischen Präsentation, die dazu notwendigen kognitiven Kompetenzen und eine biographische Notwendigkeit zur Erzählung;
2.
eine erlebte Lebensgeschichte mit einem gewissen Ausmaß an biographischen Handlungsspielräumen und Wechseln in der Lebensführung;
3.
die Kongruenz von erlebter Lebensgeschichte und biographischer Gesamtevaluation;
4.
ein nicht ›zerstörter‹ Lebenszusammenhang.«54
Bei Personen mit einer Beeinträchtigung sind manche dieser Voraussetzungen nicht erfüllt.55
Die Fähigkeit, die eigene Biografie in Form einer Lebensgeschichte sprachlich darzustellen, kann aufgrund der reduzierten Möglichkeiten, die dazu notwendigen Kompetenzen zu erwerben, eingeschränkt sein. Insbesondere das Erzählen von Geschichten verlangt Fähigkeiten, die zum einen im Kindesalter durch das Erzählen von Familiengeschichten erworben und zum anderen in der Schule durch das Erlernen der Stilmittel zur Darstellung von selbst- und fremderlebten Ereignissen vermittelt werden. Dort erlernen die SchülerInnen die für unsere Kultur übliche Orientierung an der Temporalität des Lebenslaufes und somit die Darstellung der Lebensgeschichte in chronologischer Form.56 Für einen Teil der Personen mit Behinderung fehlen familiäre Anbindungen. Zudem konnten viele ältere Menschen nicht von einer Schulbildung profitieren, sodass sie möglicherweise nicht über die von Rosenthal genannten Erzählmuster und Stilmittel verfügen. Hinzu kommen sprachlich-kognitive Einschränkungen in unterschiedlicher Ausprägung.
Bei denjenigen Menschen, denen ein lebensgeschichtliches Ablaufmuster ohne eigene biographische Handlungsplanung auferlegt wurde, wird häufig deutlich, dass die Zeit in der Institution sich der Form einer Erzählung versagt.57 Ihre Handlungspraxis erscheint oftmals eingeschränkt, andere beeinflussen oder bestimmen die Interpretation des Lebens.58 Am Beispiel von PatientInnen einer Psychiatrie stellt Gerhard Riemann fest, »dass der narrative Bezug zur eigenen Lebensgeschichte partiell oder völlig verloren geht.«59 Fremdbestimmte Lebensbedingen beschränken möglicherweise den Bezug zur eigenen Lebensgeschichte.
Rosenthal stellt die strukturbildenden Wechselwirkungen von Erinnerung und Erzählung dar. Dabei kann der Versuch eines Autobiografen, die eigene Lebensgeschichte in sozial erwünschte oder erlernte Muster zu zwingen, umfassendes biografisches Erzählen behindern. Bei biografischen Erzählungen von Menschen mit Behinderungen muss reflektiert werden, ob bzw. inwieweit sie angesichts ihres Kontextes versuchen (müssen), ihre Lebensgeschichte in einer sozial erwünschten Form darzubieten.
Der Gestaltungsprozess während des Erzählens bedarf in der Regel keiner zusätzlichen Anstrengung und Konstruktionsleistung. Anders verhält sich dies, wenn ein Autobiograf auf ein fragmentiertes, zerrissenes und verwirrendes Leben zurückblickt. Hier sind besondere Leistungen nötig, damit sich die erlebte Lebensgeschichte nicht lediglich aus einzelnen Phasen oder Situationen, sondern als Gesamtgestalt fassen lässt. In diesem Fall kann die Hilfe von anderen nötig sein.60 Es ist durchaus möglich, dass Menschen mit Behinderungen sich in einer solchen Lage befinden und demzufolge Unterstützung zur Rekonstruktion ihrer Biografie benötigen.
Die am häufigsten verwendete Methode der qualitativen Biografieforschung ist das narrative Interview, welches eine Stegreiferzählung hervorruft. Solche Erzählungen stiften einen Erzählfluss und eine größere Nähe zu vergangenen Erfahrungen als dies bei anderen Formen der Selbstdarstellung der Fall ist.61 Die Befragten werden somit nicht mit standardisierten Fragen konfrontiert, sondern zum Erzählen animiert. Der InterviewerInnen unterstützen lediglich den universellen Ablaufplan von Erzählungen.62 Das narrative Interview wird durch eine Erzählaufforderung in Form einer Eingangsfrage eröffnet, welche die (biografische) Haupterzählung stimulieren soll. Die Eingangsfrage sollte das Potenzial haben, eine Erzählung zu erzeugen, also zeitlich und thematisch möglichst offen formuliert sein und Raum zur Entwicklung einer narrativen Gestalt geben.
Ist die Haupterzählung beendet, können Nachfragen gestellt werden. Auch hier sollen die Fragen weiterhin offen und die Gestaltung des thematischen Feldes autonom sein. Zum Abschluss werden den InterviewpartnerInnen in einer Bilanzierungsphase Fragen gestellt, die auf Erklärungen für das Geschehene abzielen und eine Form der Bilanzierung erfragen.
Angesichts der oben beschriebenen Probleme greifen ForscherInnen in der Befragung von Personen mit Assistenzbedarf häufig auf alternative Gesprächsformen zurück, vor allem auf ein strukturiertes Leitfadeninterview und die thematisch fokussierte Gruppendiskussion. Auf diese Weise können dem Forschungsanliegen entsprechende Lebensphasen und besondere Ereignisse, Erfahrungen und Deutungen thematisiert werden. Eine mögliche Synthese von Leitfadeninterview und Narrativem Interview stellt das Problemzentrierte Interview nach Andreas Witzel dar, welches zu Beginn einen Erzählimpuls vorsieht, an dem sich über weitere Fragen ein Dialog entfaltet.63 In einer Übersicht der angewandten Erhebungsmethoden in qualitativen Studien bei Personen mit ›geistiger Behinderung‹ fanden Buchner und König, dass 42,4 % der Studien halbstrukturierte Interviews durchführten, in der Form von Gruppeninterviews, Leitfadeninterviews und Problemzentrierten Interviews.64
Trotz der Teilstandardisierung des Interviews sollte das Prinzip der Offenheit gewahrt bleiben: Die Befragten können auf die Fragen ausführlich und erzählend antworten und Themen oder Akzente setzen, die von Seiten der InterviewerInnen nicht im Vorfeld berücksichtigt wurden. Gleichzeitig wird von den Befragten nicht verlangt, ihr Leben in einer umfassenden Geschichte selbst zu erzählen.
Häufig werden offene Leitfadeninterviews insbesondere zur Erhebung biografischer Daten auch bei Personen mit geringerer kommunikativer Kompetenz empfohlen. ForscherInnen, welche biografische und lebensweltbezogene Befragungen mit Menschen mit Assistenzbedarf durchgeführt haben, betonen folgende Bedingungen für gelingende Gespräche:65
•
Der Sprachgebrauch sollte sich an den Kommunikationscodes der Einrichtung oder Umgebung orientieren, welche vorher zu ermitteln sind.
•
Das Gespräch sollte in einer entspannten Atmosphäre stattfinden. Zu Beginn ist es daher sinnvoll, eine ›Aufwärmphase‹ zu durchlaufen, etwa durch Fragen, die sich auf die aktuelle Situation beziehen (Wetter, räumliches Setting, Tätigkeiten an diesem Tag oder vor der Sitzung, Lebensumfeld u. a.).
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Das lebensweltliche Setting, der institutionelle Rahmen und die Handlungskonzepte der Interviewten sollten den InterviewerInnen bekannt sein.
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Die Interviewten sollten die Umstände des Gesprächs (Zeit, Raum, TeilnehmerInnen) bestimmen können.
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Die GesprächspartnerInnen sollten sich vor dem Interview kennenlernen, damit Vertrauen entsteht. Die Interviewten sollten über den Zweck der Gespräche aufgeklärt werden.
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Die Gespräche sollten in einer vertrauten Umgebung, aber in einem separaten Raum, stattfinden.
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Da die Interviewten sich in einer für sie ungewöhnlichen Situation befinden, kann es sinnvoll sein, die Gespräche in mehreren Anläufen zu führen.
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Fotos können dem Gesprächseinstieg dienen und ›das Eis brechen‹.
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Die Verwendung von Hilfsmitteln, wie z. B. Fotos, kann den Interviewten Gelegenheit zur Selbstinszenierung geben. Dies führt zuweilen zu sehr aussagekräftigen Szenen und Bildern.
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Die Länge des Gesprächs sollte sich an den Konzentrationsfähigkeiten wie auch der Motivation der GesprächspartnerInnen orientieren.
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Wenn mit einem Leitfaden gearbeitet wird, dann sollte dieser offen gestaltet sein, wie auch die Fragen selbst, da ansonsten eine starke Beeinflussung vorliegt und dies das Auftreten von Antwortneigungen wahrscheinlich macht.
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Hilfreich können dabei die Empfehlungen des National Center on Disability and Journalism (NCDJ) sein, die insbesondere den Tipp formulieren, Menschen mit Behinderung selbst nach ihren Bedürfnissen angesichts der Interviewsituation zu fragen. Dazu gehört insbesondere die Frage, ob bei dem Interview eine dritte Person (Begleiterin, Angehörige oder Partner) anwesend sein soll.66
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Die Interviewenden sollten die Befragten durch das Interview begleiten und Verständnisprobleme klären, damit valide Aussagen entstehen.67
Eine bedeutende Rolle spielt die Haltung der InterviewerInnen: Besondere Bedeutung wird der Offenheit zukommen, mit der die beteiligten ForscherInnen die Interviewten wahrnehmen und auf Entwicklungen und im Prozess deutlich werdende Bedarfe reagieren können. Die GesprächspartnerInnen sollen als Subjekte eines schöpferischen Prozess wahrgenommen werden. Die Stimulierung der Erzählung wie auch das Aufrechterhalten der Erzählstruktur unter erschwerten Bedingungen erfordern eine sensible Art der Gesprächsführung, welche durch aktives und empathisches Zuhören im Sinne von Carl R. Rogers getragen wird.68 Eine solche Haltung einnehmen zu können, erfordert Schulung, Vorbereitung und Reflexion.
Viele der hier beschriebenen methodischen Aspekte sind zugleich Ausdruck einer spezifischen forschungsethischen Haltung, die Beziehung zwischen InterviewerInnen und Interviewten auf einer Subjekt-Subjekt-Ebene zu etablieren69 und eine Situation zu gestalten, in der Selbstbestimmung und Mitgestaltungsmöglichkeit der Befragten gewahrt bleibt. Es ist selbstverständlich, dass die Beteiligten an Forschungsprojekten über Ziel und Vorgehensweise in der ihnen angemessenen Form – und der hierfür nötigen Zeit – aufgeklärt werden, bevor sie um Mitwirkung gebeten werden. Dies bedeutet, dass das Forschungsvorhaben in nachvollziehbarer Weise erläutert wird. Hierzu kann die Verwendung von Einfacher Sprache und Unterstützter Kommunikation als obligatorisch betrachtet werden. Die Information muss alle Aspekte bzw. Schritte eines Forschungsvorhabens umfassen.70
Die AutorInnen eines grundlegenden Papiers zur Forschungsethik in der Heilpädagogik71 machen an dieser Stelle deutlich, dass Einwilligungsfähigkeit nicht (nur) eine Frage des Bestehens oder eben des Nichtbestehens von kognitiven oder anderen ›Kompetenzen‹ ist. Vielmehr geht es auch darum, im Sinne der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen Personen in einem Prozess darin zu unterstützen, dass die »Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit« hergestellt wird.72 Stellvertretend getroffene Zustimmungen sollten im Sinne des Assistenzmodells als eine Form der assistierten Selbstbestimmung weiterentwickelt werden.73 Der hiermit erreichte informed consent muss jedoch im Verlauf des Forschungsprozesses kontinuierlich bestätigt werden (ongoing consent). Forschungsethische Grundsätze sind auf unterschiedlichen Ebenen zu berücksichtigen: Aus menschenrechtlicher Perspektive sollten Forschungsprojekte den Anliegen und Belangen der Zielgruppe förderlich sein.74 Des Weiteren sollte geklärt werden, in welcher Form und an welchen Stellen des Forschungsprozesses die Partizipation der Beteiligten möglich und sinnvoll ist.75
Die von VertreterInnen der biomedizinischen Ethik entworfenen Prinzipien sind selbstverständlich auch in dem hier vorliegenden Forschungsfeld zu berücksichtigen. Sie umfassen den Respekt der Autonomie der KlientInnen, die Vermeidung jedweden Schadens, die besondere Fürsorge und Gerechtigkeit.76 Jedoch müssen diese für die Adressatengruppe präzisiert werden.77 Gerade bei biografischer Forschung ist hier in Betracht zu ziehen, dass eine Beschäftigung mit dem eigenen Leben belastend oder gar (re-)traumatisierend wirken kann, sowohl während des Gesprächs als auch im Anschluss daran – was die ForscherInnen dann möglicherweise gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen können.
Zu den forschungsethischen wie rechtlichen Bedingungen von Forschungsprojekten gehört des Weiteren, dass bei einer Veröffentlichung die erhobenen Daten anonymisiert werden, nicht nur dadurch, dass man Alias-Namen oder Kürzel verwendet, sondern auch Sorge dafür trägt, dass Identitäten nicht aus dem Material erschlossen werden können.
Grundsätzlich lassen sich Faktoren in drei Bereichen identifizieren, welche einen Einfluss auf das Antwortverhalten von Befragten in Interviews haben: Faktoren, welche die interviewte Person betreffen, solche in Zusammenhang mit den InterviewerInnen und situativen Aspekten des Interviews sowie Faktoren, welche durch die Methodik des Interviews und der Ausgestaltung der Fragen bestimmt werden.78
Personen mit Assistenzbedarf bzw. Lernschwierigkeiten werden häufig Probleme in der Kommunikation zugeschrieben, etwa wenn es um das Verständnis von komplexen grammatikalischen Strukturen, komplexen Fragen oder einzelnen Begriffen geht, um den Umgang mit abstrakten Fragestellungen oder hinsichtlich eines eingeschränkten Vokabulars.79 Interviews können daher Situationen kognitiver Überforderung darstellen.80 Dies bedeutet aber nicht, dass Personen mit Lernschwierigkeiten grundsätzlich anspruchsvolle Fragen nicht verstehen könnten.81
Eine weiteres, häufig benanntes Phänomen wird als Tendenz zur Zustimmung (Akquieszenz) beschrieben, definiert als »Disposition, eine Frage zu bejahen unabhängig davon, in welcher Form sie gestellt wird.«82 Sie ist eine der Antworttendenzen, welche als »stereotype Reaktionsweisen auf Fragebogen- oder Testitems« gelten,83 mithin also alle Befragte betreffen. Darüber hinaus gibt es Personen, die eine verhältnismäßig starke Zustimmungstendenz zeigen. Akquieszenz ist eine Tendenz, die aber auch von der kommunikativen Sitution abhängig: Man stimmt etwa eher zu, wenn Fragen schwierig oder uneindeutig sind.84
Es liegen zahlreiche Studien vor, welche Personen mit Lernschwierigkeiten eine vergleichsweise stärkere Tendenz zur Akquieszenz attestieren.85 In mehreren Studien war eine Zustimmungstendenz mit dem IQ negativ korreliert, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß.86 Jedoch gibt es auch widersprechende bzw. einschränkende Ergebnisse. So fanden manche ForscherInnen im Rahmen einer Studie an LangzeitpatientInnen mit und ohne Behinderung als den wesentlichen Faktor im Hinblick auf die Validität der Äußerungen weniger den Grad der Behinderung als die Tatsache der Hospitalisierung und das Fehlen bzw. Vorliegen von Interviewerfahrungen.87 Die Bedeutung situativer Faktoren zeigt sich auch darin, dass ForscherInnen von einer gesteigerten Zustimmungstendenz berichten, wenn die InterviewerInnen demselben Geschlecht angehören88 oder vor allem zu Beginn eines Interviews.89 Nach Markus Schäfers ist hier auch das Format der Frage insofern von Bedeutung, als Fragen mit positiver Antwortrichtung einen besonders hohen Anteil von zustimmenden Antworten auslösen.90 Auf einen wichtigen gesprächspragmatischen Faktor weist Sigrid Gromann hin: Negative Aussagen führen häufig zu einer Begründungsverpflichtung und damit zu einer sowohl kognitiven wie sozialen Beanspruchung.91 So scheinen kurze und positive Antworten, unter Wahrung der Höflichkeitsregeln, der beste Weg zu sein, sich einer als unangenehm empfundenen Situation zu entziehen.92
Problematisch sind auch Situationen, in denen die Befragten die Antworten nicht kennen, wenn Fragen uneindeutig und zu lang sind oder wenn die antwortende Person wenig Zeit oder Mühe auf die Beantwortung der Frage verwendet hat.93 Auch sollte man bedenken, dass es durchaus bisweilen zu methodologischen Artefakten auf Seiten der Interviewenden kommt, wie bizarren Frageformulierungen, Widersprüchlichkeiten, suggestiven Interventionen oder alternativen Formulierungen, die aber nicht bedeutungsgleich sind. Störungen können auch dadurch entstehen, dass die InterviewerInnen auf eine Antwort in negativer oder in leitender Weise reagieren, weil sie ihnen etwa unpassend erscheint oder gegeben wird, bevor die Frage vollständig ausgesprochen ist.
Die Zustimmungstendenz ist aus vielen Perspektiven interpretiert worden: Sie könnte auch dann verstärkt auftreten, wenn Befragte ihr Unwissen verbergen, Anstrengungen meiden oder Anerkennung erhalten möchten.94 Auch muss man bedenken, dass hier eine mangelnde Übung und Vertrautheit mit Interviewsituationen vorliegen kann95 oder diese als eine Prüfungssituation missinterpretiert werden.96 Auch eine fehlende Praxis, Normen und soziale Erwartungen in Frage zu stellen oder abzuweisen, könnten die Tendenz zur Zustimmung verstärken97, wie auch mangelndes Selbstvertrauen.98
Die Zustimmungstendenz ist tendenziell mit einer eher strukturierten Frageform verbunden. Manche ForscherInnen berichten, dass Zustimmungsneigungen und auch andere Tendenzen keine besondere Rolle spielen, wenn mit offenen und explorierenden Fragen gearbeitet wird.99
Eine weitere Tendenz, welche bei Personen mit Lernschwierigkeiten verhältnismäßig stärker ausgeprägt ist, betrifft eine Beeinflussbarkeit, welche etwa im Rahmen von kriminalistischen Befragungen dazu führt, dass in erhöhtem Maße falsche Geständnisse verzeichnet wurden. Gudjonsson und Clare definieren Suggestibilität im Rahmen von Befragungen als »das Ausmaß, bis zu dem innerhalb einer gegebenen sozialen Interaktion Personen Botschaften akzeptieren während einer formalen Befragung, mit dem Ergebnis, dass deren verhaltensbezogene Antwort beeinflusst wird.«100 Den Autoren zufolge sind damit zwei Tendenzen bezeichnet: die Tendenz, Suggestivfragen nachzugehen, und die Tendenz, auf negatives Feedback hin die eigene Antwort zu verändern.101
Eine erhöhte Suggestibilität auch hinsichtlich falscher Erinnerungen konnten verschiedene Studien nachweisen.102 Clare und Gudjonnson fanden bei einer Gruppe von Erwachsenen mit Lernbehinderungen eine gesteigerte Verwundbarkeit gegenüber negativem Feedback.103
Eine aktuelle Metastudie bestätigt das Vorliegen einer erhöhten Suggestibilität bei Personen mit Lernschwierigkeiten.104 In einer kriminologisch orientierten Studie zum Thema Erinnerung von Augenzeugen und Suggestibilität fanden Collins und Henry keine gesteigerte Suggestibilität bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Down-Syndrom im Verhältnis zu einer im Hinblick auf gleiche verbale und nonverbale Fähigkeiten gebildeten Vergleichsgruppe von Kindern mit typischer Entwicklung.105
Dieses Ergebnis steht im Einklang mit anderen Studien, welche bei Personen mit Lernschwierigkeiten einen Grad an Suggestibilität fanden, der dem (kognitiven) Entwicklungsalter entspricht – mit Ausnahme von Personen mit Autismus-Spektrum-Störungen.106
Zu den Faktoren, welche das Auftreten von Suggestibilität steigern, gehören der Wunsch, den InterviewerInnen zu entsprechen, die Unterordnung gegenüber einer Autoritätsperson und der Wunsch nach Freundschaft und positivem sozialen Kontakt.107
Als weitere Tendenzen werden in der Forschungsliteratur die Tendenz zur letzten Antwortalternative benannte (Rezenzeffekt)108, eine Abneigung gegenüber kritischen und negativen Bewertungen109 und die Möglichkeit falscher Antworten auf geschlossene Fragen. Einige ForscherInnen verweisen ferner auf ein ›irreguläres‹ oder ›spezielles‹ Antwortverhalten von Personen mit Lernschwierigkeiten im Verlauf von Interviews oder Befragungen. Dazu gehören etwa das Unterlassen einer Antwort oder die explizite Stellungnahme, nicht antworten zu wollen, sowie inhaltlich widersprechende oder unpassende Aussagen.110 Das Ausmaß an inkonsistenten Antworten wird unterschiedlich beurteilt.111 In einer Studie mit Jugendlichen im Autismus-Spektrum fanden Courchesnes et al. das Phänomen, dass die Befragten negativen Frageinhalten (»nicht mögen«, »nicht können«) eine positive Wendung gaben und darüber sprachen, was sie mochten oder konnten. Ebenfalls kann das Auftreten von spezifischen Antwortmustern, längeres Schweigen und das Wiederholen von Antworten beobachtet werden. Die AutorInnen machen hierbei geltend, dass ungewöhnliches Kommunikationsverhalten gleichwohl als Kommunikation gelesen werden sollte und kann.112
Einen weiteren Aspekt gibt M. Sigstad zu bedenken: So sei es möglich, dass Befragte sich im Laufe eines Interviews noch nicht von einem bestimmten Thema gelöst haben und ihre Antwort darauf beziehen, während die InterviewerInnen bereits ein anderes Thema aufgegriffen haben. Dies steht natürlich auch möglicherweise mit dem Problem einer zu schnellen Interviewführung in Verbindung.113
All diese und auch die vorher genannten Tendenzen und Verhaltensweisen können als universelle Tendenzen und damit bei jedem und jeder Befragten vorkommen. Ihr Vorkommen bestätigt noch einmal die Bedeutung der Gestaltung und Methodik von Interviews, eine gute Vorbereitung und eine tatsächlich offene und in hohem Maße selbstreflexive Haltung der Interviewenden.
Die Wirkung unterschiedlicher Frageformen und ihre differenzierte Eignung im Rahmen der qualitativen Forschung ist generell anerkannt.114 So werden insbesondere offene Fragestellungen als zentrales Mittel von qualitativen Interviews gesehen, denn durch sie werden beeinflussende Frageformate vermieden.115 Offene Fragen haben das Potenzial, subjektive Perspektiven zu erheben und die Befragten zu veranlassen, auf eine narrative Weise zu antworten. Andererseits gibt es Hinweise darauf, dass offene Fragen zugleich eine höhere kognitive Anforderungen stellen, vor allem in Verbindung mit negativ formulierten Inhalten.116 Es ist deutlich, dass offene Fragen für die Befragten größere kognitive Anforderungen stellen als geschlossene.117 Jedoch ist auch hier die Befundlage uneinheitlich.118 ForscherInnen berichten, dass offene Fragen häufig nicht oder mit ›weiß nicht‹ beantwortet werden.119 Dies gilt besonders für Fragen mit hypothetischen oder abstrakten Inhalten.120 Im Rahmen einer Befragung von Schäfers zur Lebensqualität von Personen in stationären Wohneinrichtungen zeigte sich, dass die Antworthäufigkeit dann zunahm, wenn geschlossene Fragen gestellt wurden, wenn nach konkreten Inhalten gefragt wurde und wenn eher kurze Fragen formuliert wurden.121 Offene Fragen sind insofern kognitiv anspruchsvoller, als sie von den Befragten fordern, eigene Akzentsetzungen vorzunehmen.122 Von weitgehend positiven Erfahrungen mit offenen Fragen hingegen berichtet Jutta Hagen.123
Geschlossene Fragen im Ja/Nein-Format weisen, wie beschrieben, eine Tendenz zur Auslösung von zustimmenden Antworten auf.124 Imke Niedek weist darüber hinaus darauf hin, dass assertive Ja/Nein-Fragen anspruchsvoll sein können, wenn sie auf einem abstrakten Niveau angesiedelt sind (»Müssen Sie regelmäßig Medikamente einnehmen?«).125 Geschlossene Fragen mit zwei Antwortalternativen weisen bei Personen mit Lernschwierigkeiten eine höhere Validität auf.126 Sie eignen sich jedoch eher für konkrete Frageinhalte.127 Doch auch hier kann es zu Problemen kommen, insofern die entsprechenden Fragen länger und komplexer werden.128 Als mögliche Variante von Entweder-Oder-Fragen werden in der Literatur auch gestufte Antwortmöglichkeiten diskutiert.129
Die jeweiligen Vor- und Nachteile der Frageformen veranlassen manche ForscherInnen, mit Kombinationen zu arbeiten und mit einem weiteren, tragenden Element: das Paraphrasieren des Gesagten. Dies führt zu einer Annäherung oder auch Überschneidung mit Interventionsformen, welche in Beratungs- oder Therapiekontexten verwendet werden.130
Angesichts der komplexen Befundlage ist es fraglich, ob man sich generell auf ein Set normativer Annahmen über die Elemente ›guter Interviews‹ verlassen kann. Sicher ist, dass man sich um Klärung darüber bemühen muss, dass es sich bei der Befragung nicht um eine Prüfungssituation handelt und dass die Möglichkeit besteht, Fragen abzulehnen. Darüber hinaus sollten sich die Interviewenden über die Wirksamkeit, aber auch die Probleme von einzelnen Fragetypen bewusst sein, wie dies an den grundsätzlich zu empfehlenden offenen Fragen gezeigt wurde. Ferner können wir der Qualitativen Interviewforschung Hinweise auf das Potenzial von spezifischeren Fragetypen entnehmen: So tragen Fragen nach Begründungen und Deutungen dazu bei, die Aussagen zu vertiefen und zu kontextualisieren.131 Verständnisfragen helfen, einen gemeinsamen Horizont aufrechtzuerhalten. Erzählgenerierende Fragen unterstützen die Präzisierung von angesprochenen Situationen oder Sachverhalten. Sie können eine bestimmte Lebensphase ansprechen oder auch um Beispiele bitten. Zu bedenken ist, dass Befragte möglicherweise nicht realisieren, welche Aspekte ihres Lebens sich von selbst oder aus den bisher gegebenen Informationen ergeben und welche explikationsbedürftig sind.132 Aufrechterhaltungsfragen greifen ein Thema auf und regen dazu an, es weiter auszugestalten.133
Als hilfreiches Element der Gesprächsführung wird ferner die Verwendung von Aufmerksamkeits- und Rezeptionssignalen empfohlen.134 Die nonverbalen Ausdrucksformen sollten insgesamt vermitteln, dass die InterviewerInnen aufmerksam und interessiert sind.135 Zu vermeiden sind vorzeitige Wiederholungen von Fragen.136 Wiederholungen des Gesagten und die oben erwähnten Paraphrasen haben verschiedene Funktionen: Sie zeigen Interesse und das Bemühen um ein Verständnis an und vermitteln, dass genügend Zeit für die Entfaltung der Äußerungen besteht.137 Darüber hinaus können sie auch den Explikations- und Reflexionsprozess der oder des Befragten anregen.138 Neben einer Wiedergabe oder Reformulierung des Inhaltes können auch emotionale Erlebnisinhalte verbalisiert werden. Man muss hier allerdings bedenken, dass diese Interventionen zugleich als geschlossene Fragen verstanden werden und die damit verbundenen Probleme evozieren. Andererseits können solche Äußerungen auch als Würdigung dessen verstanden werden, was gesagt wurde.
Detaillierungsfragen dienen dazu, bereits benannte Sachverhalte zu vertiefen, zusätzliche Informationen zu bekommen und Missverständnissen vorzubeugen.139 Konfrontierende Aussagen werden naheliegenderweise als zwiespältig empfunden: Sie können helfen, Dinge auf den Punkt zu bringen und auch Konflikthaftes zu besprechen, aber anderseits auch einschüchtern oder verwirren.140
Bereits in ihrem grundlegenden Überblicksaufsatz zu Interviews mit Personen mit Lernschwierigkeiten empfahlen Finlay und Lyons möglichst einfache Fragen in kurzen Sätzen, assoziiert mit spezifischen Situationen, welche vertraut sind.141 Sigstad weist auf das Potenzial von Fragen in leichten Variationen hin, in Verbindung mit der Aufnahme und Wiederholung der Antworten. Wiederholungen können die Situation beruhigen und den Interviewten Zeit geben, ihre Gedanken zu ordnen und zu formulieren.142
Übereinstimmung herrscht auch darin, dass die hier betrachteten Interviews und Gespräche gemeinsame kommunikative Leistungen darstellen, welche nicht auf der Basis schlichter Rezepte und Regeln geführt werden können und deren mögliche Probleme oder ›Irrtumsquellen‹ als Herausforderungen zu ergreifen sind.143
9Georgens & Deinhardt 1860/1863.
10Erikson 1973.
11Havighurst 1972.
12Thomä 1998/2007.
13Jüttemann 2007.
14Gloger-Tippelt 2012.
15Nach Böhme 2009. Im 20. Jahrhundert war es dann Romano Guardini, der diese Lebensabschnitte und die mit ihnen verbundenen Aufgaben und Erlebnisse schildert, vgl. Guardini 1953/2001.
16Vgl. etwa Thomä 1998/2007.
17Herriger 1997, 98 ff.
18Bourdieu 1998.
19Kohli bezeichnet diesen Prozess als ›Biografisierung‹ (Kohli 1985).
20Lutz et al. 2018, 5.
21Fischer & Kohli 1987, 26; Hanses 2018; Wais 2005. Andreas Hanses verweist auf eine Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Institutionen und Identitäten, gibt aber einschränkend zu bedenken, dass an die Stelle primärer Formierung durch Institutionen diejenige mittels Diskurse getreten ist.
22Jansen 2011, 20.
23Rosenthal 2010.
24Schütze, nach Griese 2010.
25Griese 2010.
26z. B. Marotzki 2000; Jakob 2010.
27Rosenthal 2010.
28Gudjons 2008, 26.
29Rosenthal 2010.
30Gudjons 2008, 16.
31Jansen 2011, 21.
32ebd.
33Lindmaier et. al. 2018; Kistner 2018.
34Luria 1993.
35Jantzen 2005.
36Kistner 2018.
37 Fischer & Goblisch 2018.
38Waldschmidt 2018.
39Römisch 2011.
40Pfahl 2011.
41a. a. O., 250.
42Römisch 2011, 35.
43Trescher 2017.
44a. a. O., 233 – 260.
45Sorge 2010.
46a. a. O.
47vgl. auch Buchner 2006, Buchner 2008, Schäfers 2008, Hagen 2002, Hagen 2007.
48z. B. Schäfers 2008.
49Gromann 1996/1998; Gromann & Niehoff-Dittmann 1999.
50Wendeler & Godde 1989.
51Sheridan et al. 2020.
52Scott et. al. 2014.
53Strupp 2006.
54Rosenthal 1995, 99.
55Möller 2004.
56Rosenthal 1995, 100 ff.
57Rosenthal 1995, 109.
58a. a. O.
59Riemann 1987, 381.
60Rosenthal 1995, 130.
61Rosenthal 2010.
62Mayring 2002, 72.
63Witzel 1985.
64Buchner & König 2008.
65Sorge 2010; Hagen 2002; Hagen 2007, Buchner 2008, Perry 2004.
66vgl. Zamzow 2017.
67vgl. Schäfers 2008, 168.
68Rogers 2020.
69Buchner 2008.
70Fachbereichstag Heilpädagogik 2017, 8.
71a. a. O., 5 f.
72Art. 12 (4), UN-BRK.
73Fachbereichstag Heilpädagogik, 6.
74a. a. O., 5.
75a. a. O., 7.
76Beauchamp & Childress 2008.
77Siehe hierzu Fachbereichstag Heilpädagogik 2017, 8.
78Diekmann 2004.
79Finlay & Lyons 2001; Booth & Booth 1996; Ottmann & Crosbie 2013.
80Bains & Turnbull 2021.
81Gromann & Niehoff-Dittmann 1999.
82Sigstad 2014.
83Bortz & Döring 2006, 236.
84a. a. O., 236 f.
85Sigelman et al. 1981a); Sigelman et al. 1981 b)
86Sigelman et al. 1981b).
87Thonicroft et al., 1993.
88Matikka & Vesala 1997.
89Hagen 2002.
90Schäfers 2009.
91Gromann 1998; Hagen 2002; Sigstad 2014; Finlay & Lyons 1998.
92Sigstad 2014.
93Sigstad 2014.
94Heal & Sigelman 1995.
95Gromann 1996.
96Rapley & Atanki 1996, Dockrell 2004.
97Gromann & Niehoff-Dittmann 1999; Sigstad 2014.
98Finlay & Lyons 2002.
99Ottmann & Crosbie 2013.
100Gudjonsson & Clark 1986.
101a. a. O.
102Danielsson et al. 2012.
103Clare & Gudjonsson 1993.
104Griego et al. 2019.
105Collins & Henry 2016.
106Griego et al. 2019.
107Perske 2004.
108Ottmann & Crosbie 2013.
109Ottmann & Crosbie 2013.
110Finlay & Lyons 2001; Rapley & Antaki 1996.
111Schäfers 2009 etwa fand diese in einem geringeren Ausmaß als Matikka & Vesala 1997 und Finlay & Lyons 2002.
112Courchesne et al. 2022.
113Sigstad 2014.
114Brinkmann & Kvale 2019.
115Voelker et al. 1990; für den Bereich juristischer Befragung in diesem Sinne auf der Basis von ExpertInneninterviews auch Bearman et al. 2021.
116Courchesne et al. 2022.
117Courchesne et al. 2022.
118Bains & Turnbull 2021.
119Finlay & Lyons 2002; Booth & Booth 1996.
120Finlay & Lyons 2002; Booth & Booth 1996; Bains & Turnbull 2020.
121Schäfers 2009.
122Niediek 2016.
123Hagen 2002.
124Sigelman et al. 1981a; Sigelman et al. 1981 b.
125Niediek 2016.
126Sigelman et al. 1981a.
127Niediek 2016.
128Finlay & Lyons 2002.
129Niediek 2016.
130Howard et al. 2021.
131Witzel 1982, S. 100 f. Witzel nennt hier auch Konfrontationen.
132Helfferich 2009, 111.
133Helfferich 2009, 101.
134Helfferich 2009, 91.
135Helfferich 2009, 90 f., 98, 101.
136Niediek 2014.
137Helfferich 2009; Niediek 2014.
138Niediek 2014.
139Helfferich 2009, 105.
140Niedek 2016.
141Finlay & Lyons 2002.
142Sigstad 2014.
143Sigstad 2014.
In unseren Gesprächen mit Personen mit Down-Syndrom wollten wir erfahren:
1.
Was und in welcher Weise berichten sie aus ihrem Leben? Wie sehen sie sich und ihren sozialen Umkreis, wie bewerten sie ihre Lebensfelder im Hinblick auf Aktivitäten, Teilhabechancen und Barrieren?
2.
Und weiter: Wie können wir Personen mit Down-Syndrom und weitere Gruppen darin unterstützen, über ihre Lebensgeschichte, ihre gegenwärtige Situation und ihre Zukunftswünsche zu sprechen: Wie müssen biografische Gespräche gestaltet werden und welche Methoden stehen zur Verfügung, um Menschen darin zu unterstützen, sich zu artikulieren? Dies führt zur Analyse von Gesprächsverläufen:
3.
Lassen sich typische Muster von Interaktionen beobachten? Welche Strategien wenden die GesprächspartnerInnen an, um Gespräche unter z. T. erschwerten Bedingungen zu führen? Wie artikulieren die Personen ihre Positionen, wenn Einschränkungen in der Kommunikation vorliegen? Ergeben sich Hinweise auf die Wirksamkeit, vielleicht auch auf die Grenzen von Antwortneigungen?
Damit standen sowohl inhaltliche wie methodische Fragen im Fokus des Forschungsinteresses. Den Ausgangspunkt bildete das Format des offenen biografischen Interviews. Dieses wird, wie bereits geschildert, als narratives Interview konzipiert, in dessen Verlauf auf eine Eingangsfrage hin eine biografische Stehgreiferzählung entsteht.144 Da im Vorhinein nicht deutlich war, wer unsere GesprächspartnerInnen sein würden, wurden verschiedene Variationen vorbereitet. Angesichts von Erfahrungen aus früheren Projekten wie aus der Literatur war zu erwarten, dass womöglich die Mehrzahl der Befragten auf die Eingangsfrage wie auf weitere Fragen eher in kurzer Form antworten würde, sodass sich ein Format ergeben würde, in dem sich Elemente von Interview und Gespräch verbinden. Gleichwohl wurde mit einer Erzählaufforderung begonnen, um eine Erzählung bzw. eine offene Form des Antwortens zu ermöglichen. Diese lautete wie folgt:
»Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für dieses Gespräch nehmen. Ich freue mich, dass Sie aus ihrem Leben erzählen wollen. Wir können uns heute so viel Zeit nehmen, wie Sie möchten, denn ich bin ganz gespannt auf Ihr Leben, auf Ihre Geschichte.«
Da damit zu rechnen war, dass unsere GesprächspartnerInnen u. U. weitere Hilfestellungen benötigen würden, waren folgende Anschlussfragen vorbereitet worden:
•
Was möchten Sie mir über Ihre Kindheit erzählen? (ergänzt durch Fragen nach Lebensort, Familie, Spiel, besonderen Kindheitserinnerungen, schönen und nicht schönen Erlebnissen)
•
Was möchten Sie mir über Ihre Schulzeit erzählen? (ergänzt durch Fragen nach LehrerInnen, MitschülerInnen, Fächern und Tätigkeiten)
•
Was möchten Sie mir über Ihre Arbeit, über Ihren beruflichen Lebensweg erzählen? (ergänzt durch Fragen nach Arbeitsorten, Ausbildung, Tätigkeiten, Neigungen, Zufriedenheit)
•
Sie haben in Ihrem Leben sicher schon viele Menschen kennengelernt – Familie, FreundInnen, MitbewohnerInnen, KollegInnen, PartnerInnen. An welche wichtigen Menschen erinnern Sie sich (gerne)? Zu wem haben Sie noch immer Kontakt? (ergänzt durch Fragen nach Einflüssen, Prägungen und weiter bestehenden Kontakten)
•
Welche Ereignisse waren in Ihrem Leben wichtig für Sie? (ergänzt durch Fragen nach schönen und traurigen Ereignissen, nach guten und weniger guten Zeiten)
•
Wie sehen Sie sich selbst? (Frage nach Eigenschaften, Überzeugungen, Motiven)
•
Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft? Wie soll Ihr Leben weitergehen? Was möchten Sie unbedingt einmal machen? Was ist ein Lebenstraum von Ihnen?
•
Was ist Ihnen wichtig im Leben?
•
Interessieren Sie sich für Politik? Was ist Ihnen in der Politik wichtig? Wie sehen Sie unsere Gesellschaft?
•
Was möchten Sie aus Ihrem Leben erzählen, wonach wir gar nicht gefragt haben?
An dem Projekt nahmen insgesamt 45 Personen mit Down-Syndrom teil und stellten sich für ein oder mehrere Gespräche über ihr Leben zur Verfügung. Die Befragten wurden auf unterschiedliche Weise gewonnen: über Kontakte in Einrichtungen, Initiativen und durch private Kontakte.
Tab. 1:Alter der TeilnehmerInnen
Alter der TeilnehmerInnen (N=45)
Alter
Anzahl
< 20
1
20 – 29
16
30 – 39
13
40 – 49
11
> 50
3
Alter unbekannt
1
insgesamt
45
Das Durchschnittsalter der Befragten liegt bei 33,9 Jahren.
Tab. 2:Geschlechter der TeilnehmerInnen
Geschlecht der TeilnehmerInnen (N=45)
weiblich
männlich
25
20
Unter den Befragten waren 25 weiblich, 20 männlich. In keinem der Gespräche wurde eine Zuordnung zu einem non-binären Gender thematisiert.Die Befragten geben unterschiedliche Wohnformen an:
Tab. 3:Von den Befragten angegebene Wohnformen
Von den Befragten angegebene Wohnformen (N=45)
Elternhaus
11
eigene Wohnung
1
Betreutes Wohnen, Wohngemeinschaft
12
Wohnheim, Lebens- und Arbeitsgemeinschaft
20
keine Angabe
1
Diese Angaben beziehen sich auf die von den Befragten angegebenen Wohnformen und Orte. Ob die Befragten hier richtig verstanden wurden, kann nicht mit Sicherheit angegeben werden. Auch bleiben hier weitere Aspekte der Wohnsituation und die damit verbundene soziale Struktur offen. So können im Rahmen von Lebens- und Arbeitsgemeinschaften wie auch im Rahmen von Wohnheimen sehr unterschiedliche Wohnformen vorliegen. Eine nähere Beschreibung der Wohnsituation mit den hier einschlägigen Kriterien war nicht Teil des Interviewleitfadens, auch wurden keine externen Validierungen eigens vorgenommen, wenn diese nicht durch die InterviewerInnen selbst möglich waren.
Der Forschungsprozess umfasste die folgenden Schritte, von denen einige das ursprüngliche Konzept erweiterten: In Anlehnung an frühere Arbeiten hatten wir ein Interviewprojekt vorbereitet, in dem wir vor allem die inhaltlichen Aussagen unserer GesprächspartnerInnen erheben und auswerten wollten. Jedoch entwickelten sich die Interviews, wie bereits erwähnt, sehr in Richtung von Gesprächen. Vor dem Hintergrund der zahlreichen Forschungen zu Frageformen und Antwortneigungen in Interview schien es uns notwendig und fruchtbar, die dialogische Interaktion zu untersuchen und hierfür geeignete Methoden zu finden. Auch die zweite Erweiterung im Forschungsprozess knüpfte an den Dialog an. Auch wenn das Projekt nicht primär in Richtung Biografiearbeit orientiert war, entstand im Verlauf der Gespräche das Bedürfnis, unsere GesprächspartnerInnen an den Ergebnissen des Prozesses zu beteiligen bzw. ihnen diese zukommen zu lassen. Dies führte zur Entwicklung eines neuen Formates, den ›biografischen Skizzen‹ auf der Basis der Interviews.
Für die Durchführung der Interviews wurden fünf Personen ausgewählt, welche eine Forschungsausbildung als Teil eines MA-Studiengangs in Pädagogischer Praxisforschung oder eines MA-Studiengangs Heilpädagogik absolviert hatten. Zur Vorbereitung und Reflexion der Interviews wurde eine Gruppe gegründet, in der die InterviewerInnen eine gemeinsame Vorbereitung und Reflexion der Interviews durchführen konnten. Im Rahmen dieser Gruppe erfolgte auch eine Sichtung von Materialien aus dem Bereich der Unterstützten Kommunikation sowie die Erwägung alternativer und ergänzender Vorgehensweisen für die Durchführung der Interviews.
Des Weiteren wurde eine Gruppe von MitarbeiterInnen gegründet, welche die Interviews transkribierten und analysierten. Diese Gruppe arbeitete während des gesamten Projektzeitraums zusammen, wobei einige Mitglieder jeweils spezifische Aufgaben übernahmen, wie z. B. die der Transkription oder der Themenanalyse.
Bei der Durchführung stellte sich heraus, dass die Interviews in eingehender Weise mit den Befragten vorbereitet werden mussten. Dies führte bei mehr als der Hälfte der Personen dazu, dass mehr als ein Termin vereinbart wurde. In dem ersten Gespräch wurde unser Forschungsinteresse und die Vorgehensweise erläutert sowie die Bedeutung der Einverständniserklärung und der Umgang mit dieser. Für mehrere Gespräche wurden auch deshalb weitere Termine vereinbart, weil die Befragten gerne noch ein weiteres Gespräch führen wollten oder die InterviewerInnen dies anboten, weil deutlich wurde, dass es noch mehr zu erzählen gab, als im Rahmen eines Termins möglich war. Die Interviews wurden in einem Setting durchgeführt, welches die Interviewten selbst bestimmen konnten und ihnen daher auch vertraut war. Die Interviewten wurden gefragt, ob sie die Gespräche in Begleitung führen wollten. Etwa ein Fünftel von ihnen entschied sich, die Gespräche gemeinsam mit Angehörigen oder mit AssistentInnen zu führen.
Nach Einschätzung der Interviewenden, der TranskribentInnen und der Auswertungsgruppe verliefen die Interviews zumeist in einer positiven Atmosphäre. Die Befragten zeigten sich häufig gut vorbereitet: Eine Person hatte ihr Zimmer aufgeräumt und Mappen, Schnellhefter und Mitgliedsausweise bereitgelegt. Ein anderer Befragter erschien in seinem Sonntagsanzug. Einige der Befragten wirkten besonders zu Anfang unsicher und etwas nervös, viele begegneten uns selbstbewusst und offen. Die Interviewten schienen durchweg gerne aus ihrem Leben zu erzählen, sie waren motiviert und wirkten gut gelaunt. Die Dauer einzelner Interviews erstreckte sich von 20 Minuten bis eineinhalb Stunden. Die durchschnittliche Gesprächsdauer lag bei 48 Minuten.
Wenngleich die Interviews als narrative Interviews geplant waren, antworteten die Befragten in der Regel nicht mit einer Stegreiferzählung, sondern mit verhältnismäßig kurzen Ausführungen, einzelnen Worten oder einigen Sätzen. Nur wenige Personen erzählten über mehrere Minuten hinweg. Dies führte dazu, dass sich die Gespräche zu Dialogen entwickelten, welche eine sehr individuelle Gestalt annahmen. Die Interviewten setzten bald eigene Akzente, und zwar unabhängig davon, wie umfangreich die Beiträge waren. So entwickelten sich die Gespräche auch in thematische Bereiche hinein, welche nicht durch den Leitfaden vorgegeben wurden; gleichzeitig war es auch in vielen Gesprächen nicht sinnvoll, den Leitfaden durchzuarbeiten: aus Gründen der Präferenzen der Interviewten, ihrer Konzentration und Ausdauer oder weil die Besprechung einiger Punkte sehr großen Raum einnahm. Auch die Klärung von Missverständnissen bzw. die Sicherung des Verständnisses auf beiden Seiten brauchte Zeit. Im Rahmen dieser Bedingungen jedoch wurde versucht, so weit wie möglich die Fragen des Leitfadens bei den Nachfragen und im Gespräch zu berücksichtigen. Die leitende Intention der InterviewerInnen bestand darin, einen Raum zu schaffen, in dem die Befragten über dasjenige aus ihrem Leben sprechen konnten, was ihnen am Herzen lag. Wenngleich also eine Narration im formalen Sinn häufig nicht zustande kam, so erzählten die Befragten, angeregt durch die Fragen, im Rahmen eines Dialoges aus ihrem Leben.
Doch gab es unter den 45 Interviews zwei, in denen problematische Aspekte nicht nur benannt oder erzählt wurden, sondern sich auch manifestierten. Eine Befragte kam bei der Beschreibung eines Erlebnisses in eine emotional sehr aufgewühlte Verfassung. Daraufhin bot die Interviewerin an, diese Situation gemeinsam zu besprechen und mit der Gesprächspartnerin gemeinsam zu überlegen, wie sie sich hier helfen könnte bzw. wer sie unterstützen könnte. Damit wurde der gegebene Rahmen des biografischen Interviews verlassen. Eine andere Befragte berichtete über eine Situation, in der ein Übergriff vorgekommen war. Hier wurden, mit Billigung der Befragten, die Bezugspersonen verständigt mit der Frage bzw. dem Vorschlag, eine therapeutische Bearbeitung des Vorfalls einzuleiten.