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Marthas Flügel und Bettys blaues Sofa 24 Verschwundene. Deportiert aus dem Haus, in dem Ingke Brodersen wohnt. Ein »Judenhaus«. Einige flüchten, andere verstecken sich. Von ihnen erzählt die Historikerin. Und von denen, die heute Zuflucht suchen. Hanns-Stephan ist zwölf, als er 1939 in London Liverpool Station auf dem Bahnsteig steht. Gerettet mit dem Kindertransport. Seine Mutter stirbt im Bombenhagel. Sein Vater Siegfried Jacob taucht unter und überlebt. Ihm gehört das Haus, in das andernorts vertriebene Juden zwangseingewiesen werden. Ein sogenanntes »Judenhaus«, wie es auch in anderen Ländern Europas zu finden war. Als Ingke Brodersen in eine Wohnung im vierten Stock genau dieses Hauses einzieht, weiß sie nichts von Martha, Clara und Bertha. In einer beeindruckenden Recherche rekonstruiert sie die Lebenswege der Verfolgten. Und sie wendet sich denen zu, die heute Vertriebene sind: Safed aus Bosnien oder Aziz und Rana aus Kabul. So ist ihr Buch ein bewegendes Zeugnis des Gedenkens und gelebter Mitmenschlichkeit. »Dieses Buch erzählt von 24 Verschwundenen. 1942 deportiert aus dem Haus, in dem ich wohne. Und von den anderen, die entkamen. Ich lernte sie alle erst Jahre nach meinem Einzug kennen. Ich erzähle ihre Geschichten. Und meine.« Ingke Brodersen
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Seitenzahl: 349
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Ingke Brodersen
Die Geschichten der jüdischen Bewohner meines Hauses
kanon verlag
Für Siegfried Kurt Jacob (1884–1954), einst Eigentümer des Hauses, in dem ich heute wohne. Er hatte den Mut und den Eigensinn, sich dem Schicksal zu verweigern, das die Nationalsozialisten ihm aufzwingen wollten.
Der Verlag dankt der Inge Deutschkron Stiftung für die freundliche Unterstützung dieses Projekts.
ISBN 978-3-98568-074-0
eISBN 978-3-98568-075-7
1. Auflage 2023
© Kanon Verlag Berlin GmbH, 2023
Umschlaggestaltung: Anke Fesel / bobsairport
Herstellung: Daniel Klotz / Die Lettertypen
Satz: Marco Stölk
Druck und Bindung: Pustet, Regensburg
Printed in Germany
www.kanon-verlag.de
Ingke Brodersen
Lebewohl, Martha
Vierundzwanzig
Die jüdischen Bewohner des Hauses
Zehnter August 1942
Die Lücke im Stuck
Ihre Namen
Rusts Kautsch
Die »Mauer des Gedenkens«
Marthas Stein
Der Himmel blieb stumm: Martha Cohen
Die Frau im schwarzen Kleid
Der jüdische Gelehrte
Geld, Schreibmaschine, Emanzipation
Das Testament
Vier Frauen und ein Flügel
Marthas Vermögenserklärung
Deutsche Bank und der Oberfinanzpräsident
Spurensuche
Die Unbekannten
Die doppelte Edith
Vom anderen Leben
Aktenlektüre
Eine blieb zurück: Clara Marcus
Das rettende Affidavit
Bürokratische Schikanen
Ein Haus in Berlin
Das Bayerische Viertel
Begegnung im Grundbuchamt
Die Letzte: Bertha Sternson
Die Männer flüchten
Shanghai, Stadt der Extreme
Sidneys Rente
14. Dezember 1942
Der Architekt des Führers
Der rote Einband
Mietverhältnisse mit Juden
»Weltstadt« Berlin
»Entjuden«
Räumen, umsiedeln, abreißen
Speer unterm Weihnachtsbaum
Das »Judenhaus«
Der Sternträger
»Schachteln«
Zwangswohngemeinschaften
Sara, Israel und der Beerdigungskommissar
Mutter und Tochter
Die »arischen« Hausbewohner
Die Tore schließen sich
Wer flieht, wird heimatlos
Safed und seine mörderischen Nachbarn
Winston Churchill und die »enemy aliens«
Abschied für immer
Vom Leben in der Erinnerung
Wer nicht flieht, wird ermordet
Der Krieg gegen das Buch
Die Papier-Brigade
Sarajewos Ruine
Mutabor: eine andere werden
Das Wort: eine Waffe
Flucht nach Italien
Die getrennten Brüder
»Polen-Aktion«
Abgeschoben
Verhaftet in Mailand
Mussolinis Judengesetze
Antrag auf Entschädigung
Rosenkrieg
Ins Warschauer Getto
Vermögenserklärung und »Abtransport«
»Umsiedlung« nach Treblinka
Im Tower
Herbert Marcuse und die »Feindabwehr«
Die Schwestern
Tod im Grunewald
Deutsch-argentinische Beziehungen
Buenos Aires oder Auschwitz
Gefangenennummer 95448
Kampf um ein Todesdatum
Gefangen im »Deutschtum«
Ausreiseverbot
Trennung und Trauma
Vom Leben im »Dazwischen«
Entwurzelt
Senat, zwölf Jahre
In letzter Minute
Am Genfer See
Fake-Visum
Comandante Che
Auf Kuba
Illimani
»Most loyal enemy alien«
Im »Paradiesgetto«
27. August 1942
Oskars Tod
Die Reichsvereinigung
Heimeinkaufsverträge
Zum Sterben nach Sobibór
Himmlers Schmach
Bettys blaues Sofa
Zwei Töchter und die Hoffnung auf Zukunft
Ausgeplündert
Bettys Schwester
»Entjudungsgewinne«
Nach der »Evakuierung«
Die Profiteure
»Judenhäuser« zum Schnäppchenpreis
»Station Z«: Max Markus
»I desire the passport for the purpose of protection«
Vom Gefängnis ins Lager
»Schikanen-Promenade«
Iwan mit der Mundharmonika
Großrazzia
Ausgeliefert
Das »Wiener Modell«
Die einzige Tochter
Ein Zug fährt durch die Nacht
Etwas Besseres als den Tod
Verhaftung
Edith und die britische Dienstbotenkrise
Hanns-Stephan und der Kindertransport
Untertauchen
Bratkartoffeln im Versteck
Jüdische Greifer
Jacobs Kampf um Entschädigung
Rosenbaums Vermächtnis
Wiedergutmachung
Walter Janka und die »Gruppe Mexiko«
Entschädigungsverfahren
Die Balken von Ravensbrück
Verschwunden
Meine Schützlinge
Verstreut in alle Welt
Zonen-Pakete und Baracken
Kopfbilder
Familiengeschichten
Heldenglanz
Geschäftsbilanz
Lebewohl, Martha
Dank
Quellen
Antisemitische Verordnungen
In Memoriam
Personenregister
Dieses Buch erzählt von vierundzwanzig Verschwundenen. Sie wurden 1942 deportiert aus dem Haus, in dem ich wohne. Ich erfuhr von ihnen erst Jahre nach meinem Einzug. Sie befanden sich auf einer Liste mit Namen von mehr als 6000 verschwundenen Jüdinnen und Juden aus Berlin-Schöneberg, die ermordet worden waren. Darunter die Vierundzwanzig.
Ich wohne dort, in Schöneberg, im Bayerischen Viertel, wo um die Wende zum 20. Jahrhundert ein urbanes Quartier erbaut worden war. In seinen Jugendstilhäusern entstanden großbürgerliche Wohnungen mit Bad und Zentralheizung, besonders begehrt bei den assimilierten Juden, die es ökonomisch zu etwas gebracht hatten. So wie der Rechtsanwalt Siegfried Kurt Jacob, der das Haus in der Berchtesgadener Straße 37 kaufte, wenige Jahre bevor die Nationalsozialisten die Macht übernahmen. Seine Wohnungen vermietete er an Juden und Nichtjuden. Das Judentum spielte für ihn, wie für die meisten jüdischen Bewohner dieses Viertels, keine verpflichtende Rolle mehr. Sie selbst sahen sich als deutsche Bürger, so wie andere auch, viele als Patrioten. Die Nationalsozialisten änderten das: Dass Jacob Jude war, wurde zu seinem »rassischen« Merkmal, seinem Identitätskern erklärt und begründete den Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft – mit allen daraus abgeleiteten Konsequenzen.
Von dem, was in Jacobs Haus passiert war, wusste ich nichts, als ich in eine Wohnung im vierten Stock zog. Einige Jahre später wurden Tafeln an den Straßenlaternen des Bayerischen Viertels aufgehängt, ein Bildmotiv auf der einen, eine der vielen antijüdischen Verordnungen der Nationalsozialisten auf der Rückseite. Eine Chronik der täglichen und immer straffer angezogenen »Einschnürungen« (Victor Klemperer), mit denen den jüdischen Bürgern in Deutschland schon vor ihrer Deportation Schritt für Schritt das Leben genommen wurde.
Vor unserem Haus hängt eine dieser Tafeln: »26.3.1942 Kennzeichnungszwang für jüdische Wohnungen durch den Judenstern«. Auch an unserer Wohnungstür wird der schwarze Stern auf weißem Grund befestigt gewesen sein. Hinter der Tür wohnte Martha Cohen. Im September 1942 wurde sie nach Theresienstadt verschleppt.
Davon erfuhr ich aus dem Katalog »Orte des Erinnerns«, der Straße für Straße, Hausnummer für Hausnummer auflistet, wer aus diesem Viertel »in den Osten« deportiert worden war. Nach Theresienstadt, Auschwitz, Riga, Trawniki, Sobibór, Treblinka, Majdanek, Piaski. So lernte ich die Namen aller vierundzwanzig kennen, die in die »Judenwohnungen« des Hauses Berchtesgadener Straße 37 zwangseingewiesen worden waren. Ihre eigenen Wohnungen hatten sie räumen müssen. Der Generalbauinspektor Albert Speer brauchte Platz für seine geplante Neugestaltung Berlins zur »führenden Weltstadt«. Dafür ließ er abreißen und wegschaffen, was im Wege war. Dazu gehörten auch die Juden.
Davon erzähle ich. Von den Vierundzwanzig, für die das Haus, in dem ich wohne, die letzte Adresse war. Wie sie sozial isoliert, ausgeplündert, stranguliert wurden. Ein legalisierter Mord, »ordnungsgemäß« und vor aller Augen durchgeführt. Ich erzähle von der Verzweiflung jener, die aus dem Deutschen Reich fliehen wollten, aber vor immer mehr verschlossenen Toren standen; von dem »kleinen Tod«, wenn Eltern Abschied von ihren Kindern oder Kinder Abschied von Vater, Mutter und Geschwistern nehmen mussten und sie alle einander nie wiedersahen; von dem finanziellen Raub der Nationalsozialisten, die Geld für die Kriegskasse brauchten – vor 1933 war Siegfried Kurt Jacob ein vermögender Mann gewesen, 1945 mittellos und zudem herzkrank; von dem Jahre dauernden Kampf um Entschädigung für alles, was ihm und anderen geraubt worden war.
Von dem Verschwinden der Vierundzwanzig profitierten ihre nichtjüdischen Nachbarn. Für das Haus in der Berchtesgadener Straße war im Grundbuch schon eine »arische« Interessentin als künftige Eigentümerin vorgemerkt. Vor den Mietern trat sie auch so auf, sie glaubte, sicher sein zu können, dass der eigentliche Eigentümer Siegfried Kurt Jacob nicht wiederkehren würde. Aber er überlebte, so wie einige andere seiner jüdischen Mieter. Nicht alle warteten auf den ihnen von den Nationalsozialisten zugedachten Tod. Sie tauchten unter, oder sie wurden vertrieben in alle Welt, nach Quito, Shanghai, Buenos Aires, Kapstadt, Havanna, ihre neue Bleibe konnten sie sich nicht mehr aussuchen. Von ihrer Flucht, ihrem Leben in der Fremde, von ihrem Heim-Weh – auch davon handelt dieses Buch, es soll nicht nur ein Buch über Tote sein.
Die Liebsten, die Heimat, die eigene Sprache, die Kultur, all das, was vertraut ist, zu verlieren, hinterlässt Wunden. Entwurzelung blockiert die soziale Lebenskraft. Ich erzähle von zerbrochenen Ehen, gewaltsamen Trennungen, von Selbstmorden, Vertrauensverlust und von zerschnittenen Lebensfäden selbst der Entkommenen.
Es sind Geschichten von den jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern dieses einen Hauses in Berlin, aber sie stehen für viele andere, denen Gleiches angetan wurde. Es sind Bruchstücke ihres Lebens, von denen ich schreibe, allzu oft nur aus der Zeit des Schreckens, vom Ende her gesehen. Ein unvollständiges Bild: Ich wollte nicht zulassen, dass die mir Anvertrauten nur als Transportnummer, als Sterbeurkunde, als Opfer, Gedemütigte und Ohnmächtige auftauchten. Deshalb rief ich die Dinge zu Hilfe, die ihnen etwas bedeutet hatten, bevor sie ihnen genommen wurden: Marthas Steinway-Flügel, der die Pianistin bis zuletzt begleitete; Bettys mit Lyoner Seide bezogene Armsessel, ein Geschenk ihres Vaters; Ediths Singer-Nähmaschine, die sie mitnehmen wollte nach Großbritannien in ihr neues Leben; und Siegfried Kurt Jacobs Bratkartoffeln, die er sich im Versteck machte – ohne Butter, aber eine Hoffnung gebende Reminiszenz an eine bessere Vergangenheit, die ihm half, das einsame Leben eines Untergetauchten weiter durchzustehen.
Begehe ich eine unzulässige Grenzübertretung, wenn ich von »Martha«, »Edith«, »Betty«, »Hermann«, »Kurt« spreche? Wenn ich die jüdischen Bewohner dieses Hauses oft nur mit ihrem Vornamen benenne, als seien sie gute Freunde? Ich könnte auf praktische Gründe verweisen: Es wäre ermüdend gewesen, immer den ganzen Namen in der hier erforderlichen Häufigkeit erwähnt zu finden. Aber das war nicht der einzige, nicht einmal der vorrangige Grund.
Die Verschwundenen sind mir während der Arbeit immer näher gekommen durch das, was ich über sie in Erfahrung brachte. Sie wurden, ob ich es wollte oder nicht, zu ständigen Begleitern, die sich nicht mehr fortschicken ließen. Doch trotz aller Vertrautheit, die dabei entstand, blieb eine Mauer zwischen uns. Eine Mauer des Schreckens. Eines Schreckens, wie ich ihn nie kennengelernt habe. Ich kann mir nicht vorstellen, was sich in ihren Seelen, ihren Herzen, ihren Köpfen abspielte, als aus ihrem Dasein unaufhaltsam ein Alptraum wurde.
Wir wissen inzwischen viel über diese mörderische Zeit, über die Entrechtung der Juden, ihre Knechtung, Ausgrenzung, Verarmung, über die Transporte, die Lager, die Todesmärsche, die Ermordung – über das »Knochengerüst« (Olga Tokarczuk) der nationalsozialistischen Verfolgung. Unverzichtbar dieses Wissen, aber abstrakt und fern bleibt es, solange darauf nicht die unverwechselbare Textur eines bestimmten Lebens gespannt ist, ein Gesicht erkennbar, eine Stimme hörbar wird. Erst dann begreifen wir.
Die Ermordeten selbst, schreibt Primo Levi, italienischer Jude, der Auschwitz überlebte, konnten ihre Geschichten nicht mehr erzählen, von ihnen ist keiner je zurückgekommen, »um über seinen Tod zu berichten«. Es ist an uns, ihre Stimmen zu hören, zu verstehen, sie sprechen zu lassen und so vor dem Vergessen, der Verlorenheit zu bewahren.
Mit der »Inbesitznahme« dieser Wohnung in diesem einstigen »Judenhaus« bin ich in seine Geschichte eingetreten, die mich nicht mehr aus der Verantwortung entließ: Spuren der Verschwundenen aufzufinden und ihre Geschichten zu erzählen, auch wenn mich dabei ängstigt, dass jene, die hier, von diesem Haus auf die Straße des Todes geschickt wurden, nur durch die Worte vorstellbar werden, die ich für sie finde.
Berlin im Februar 2023
Kurt Baron, Handelsvertreter für Textilien
Jakob und Helena Berger, Kaufmann und »Geschäftsfrau«
James Brandus, Rechtsanwalt und Notar, und seine Frau Elsbeth
Hermann Bratt, Pelzhändler, und seine Frau Klara
Martha Cohen, Pianistin
Hertha und Charlotte Glücksmann
Alice Heinrichsdorff
Else und Heymann Herzfeld
Sara Ihlenfeld, Verkäuferin
Siegfried Kurt Jacob, Notar und Rechtsanwalt, Eigentümer des Hauses, seine Frau Edith und der gemeinsame Sohn Hanns-Stephan Günther
Moritz und Martha Kallmann, Kaufmann und »Geschäftsinhaberin«
Hermann Katz, Dentist
Levy Louis David Kayser, Textilfabrikant, und seine Frau Emmy
Hermann Salomon Hirsch Kriss
Max Lewin, Inhaber einer Brauerei, und seine Frau Johanna
Clara Marcus, Korrespondentin
Max Markus
Oskar Mendelsohn, Handelsvertreter
Kurt Rechnitz, Geschäftsführer eines Getreidewarenhandels, und seine Frau Betty
Alfred Rosenbaum, Arzt
Klara Seldis, Rentnerin
Hedwig Steiner, Modistin, Tochter Lilly und Sohn Gerald
Martha Steinitz
Bertha Sternson, »Lageristin«, ihr Mann Simon Siegmund, Geschäftsführer einer Zigarettenfabrik
Paula Pauline Suransky
Ida Wolle, Verkäuferin
An diesem Tag wurde Clara Marcus aus dem vierten Stock des Vorderhauses der Berchtesgadener Straße 37 in Berlin-Schöneberg zum »Abtransport« nach Theresienstadt geholt. Zwei Wochen später war sie tot. Diese Wohnung, in die die Gestapo eindrang, ist heute mein Zuhause.
Von der Gewalttat an jenem Tag wusste ich nichts, und den Namen von Clara Marcus kannte ich nicht, als ich an einem regnerischen Dezemberabend zum ersten Mal den Hausflur unseres künftigen Zuhauses betrat. Ich hatte höchstens einen flüchtigen Blick für die von einer großbürgerlichen Vergangenheit zeugenden Spiegelwände, die Marmorsäulen, die Jugendstil-Ornamente im Eingangsflur. Ich war erschöpft von einem langen Arbeitstag, müde und hungrig, vor meinem leeren Magen hing meine einjährige Tochter im Tragetuch, die mit mir frühmorgens auf den Flug nach Berlin gegangen war. Dort wartete in Charlottenburg ein neuer Arbeitsplatz auf mich, ich sollte ein nach der Wende gegründetes Unternehmen aufbauen und suchte eine Bleibe für meine Familie und mich.
In den letzten Monaten hatte ich mir schon etliche Mietwohnungen angeschaut, keine schien mir geeignet. Und alle teuer. An diesem Abend hatte mich der hartnäckige Makler Herr K. nach Schöneberg gelockt, ins Bayerische Viertel, dort waren wir mit einer Wohnung im vierten Stock verabredet. Bei meinen ersten Besichtigungen war ich noch die anliegenden Straßen abgelaufen, hatte Lärmpegel, Kita-Nähe, öffentliche Verkehrsanbindung und Einkaufsmöglichkeiten geprüft. Diese Vergewisserung, ob das Umfeld halbwegs tauglich war, hatte ich inzwischen aufgegeben – ich wollte einfach nur noch eine Wohnung mit Heizung und Badewanne.
Der Fahrstuhl hielt direkt neben der Wohnungstür. Ihr abblätterndes Dunkelbraun schien mich wissen lassen zu wollen, dass mich keine ästhetischen Überraschungen hinter der Tür erwarteten. Am liebsten hätte ich gleich abgewunken und wieder kehrtgemacht, aber da hatte Herr K. mit seinem feinen Gespür für die Absprungbereitschaft seiner Kundin schon entschlossen den Klingelknopf gedrückt.
In der Wohnung lebte eine Männer-Wohngemeinschaft, die in der Zeit des Nachwende-Hypes auf dem Berliner Wohnungsmarkt, vermutlich im Schulterschluss mit Eigentümern und Maklern, ein neues Win-win-Geschäftsmodell entdeckt hatte: Als Mieter signalisierte man Bereitschaft zum Auszug – gegen eine beträchtliche und durch nichts gerechtfertigte »Abstandszahlung«, die der Käufer zu leisten hatte. Das ermöglichte dem Makler, eine »bezugsfertige« Wohnung zum Verkauf anzubieten, ein barwerter Vorteil. In mir fand das Modell eine willige, weil wehrlose Kundin. Ich war die monatelang erfolglose Suche längst leid. Außerdem war ich an diesem Abend auch noch spät dran, ich musste mein Flugzeug erreichen. Also sagte ich ja, nachdem ich mit gleichgültigem Blick die abgehängte Decke im Flur registriert und sinniert hatte, ob damit wohl feuchte Stellen oder ein anderer Makel kaschiert werden sollten, bevor ich dann für einige tausend D-Mark Eigentümerin eines rotgestrichenen, sechzig Zentimeter breiten Sperrholzregals wurde.
Darunter bettete ich zwei Wochen später eine Luftmatratze mit Schlafsack für mein Kind und mich. Der Raum war leer, die Wohngemeinschaft inzwischen ausgezogen. Nur das Rot des Regals gab dem Zimmer ein bisschen Rouge. Kurz vor dem Einschlafen fielen die Scheinwerfer eines Autos, das in unsere Straße einbog, auf eine merkwürdige Lücke im Stuck der Zimmerdecke – eine große Ecke der Rosetten-Girlande fehlte. Ein Bombenschaden? Schlampigkeit? Konkurs des Stuckateurs? Bis in die Träume dieser ersten Nacht hinein verfolgte mich der Auftrag, irgendwann nachzuforschen, was es damit auf sich hatte.
Von Clara Marcus und den anderen jüdischen Bewohnern unseres Hauses hörte ich erst Jahre später. Der Berliner Finanzbeamte Andreas Wilcke hatte die Namen aus den Akten der nationalsozialistischen Oberfinanzdirektion geborgen, 6069 Jüdinnen und Juden, die aus unserem Quartier deportiert worden waren; ohne Wilcke wären sie spurlos im mörderischen Getriebe des »Dritten Reiches« und der eifrig schreddernden deutschen Nachkriegsgesellschaft untergegangen. Wilcke hielt ihre Namen, zusammen mit ihren Geburts- und Deportationsdaten, handschriftlich auf Karteikarten fest. Oft sind das die einzigen dokumentarischen Zeugnisse, die es von ihnen noch gibt. Sie tapezieren heute die Wände des Willy-Brandt-Saals im Rathaus Schöneberg.
Auf diesen Karteikarten war erst ein Drittel der Juden erfasst, die damals im Bayerischen Viertel beheimatet waren. Hier wohnten überwiegend jene, die es sich leisten konnten – Ärzte, Rechtsanwälte, Künstler, Unternehmer –, unter ihnen viele, die international bekannt wurden. Der Psychoanalytiker Erich Fromm war am Bayerischen Platz zu Hause, dort, wo sich heute die Commerzbank mit neun Stockwerken dem Himmel entgegenreckt, Billy Wilder kurzzeitig am Viktoria-Luise-Platz, die Fotografin Gisèle Freund und Albert Einstein in der Haberlandstraße. Von ihnen las ich, als ich den vom Bezirk und dem Haus der Wannseekonferenz erarbeiteten Katalog »Orte des Erinnerns« in den Händen hielt, in den die Namen von Wilckes Karteikarten Eingang gefunden hatten.
Die Lektüre war ein Augenöffner. Penibel listet der Katalog auf, wer aus welcher Straße, aus welchem Haus zum »Transport« gezerrt worden ist. In unserer Straße aus den Nummern 2, aus dem Nachbarhaus mit der Nummerierung 2/3, aus 3, 4, 7, 13, 24, und die meisten aus den Nummern 35 und 37. So las ich die Namen der Menschen, die aus unserem Haus auf die Todesreise geschickt worden waren: Jacob und Helena Berger ins Warschauer Getto, James und Elsbeth Brandus, Martha Cohen, Oskar Mendelsohn, Alfred Rosenbaum, Paula Pauline Suransky, Ida Wolle, Hermann Katz, Clara Marcus nach Theresienstadt, Bertha Sternson und Hedwig Steiner nach Riga, Betty und Kurt Rechnitz nach Sobibór, Else Herzfeld und Alice Heinrichsdorff nach Auschwitz, Hertha Glücksmann und Sara Ihlenfeld nach Trawniki, Max Markus ins KZ Sachsenhausen. Und das waren noch nicht alle, was ich aber erst später wusste.
Der Schreck des Begreifens saß: Was für ein Haus war das, in das meine Kinder, ihr Vater und ich gezogen waren? Wer waren diese einstigen Bewohner? Woher kamen sie? Was wurde aus ihnen? Wer von ihnen wurde aus unserer Wohnung im vierten Stock geholt? Irritierende Fragen. Ich wurde sie nicht mehr los.
Wenn ich zur U-Bahn am Bayerischen Platz gehe, komme ich an der Löcknitz-Grundschule vorbei. Hier sind meine Kinder zur Schule gegangen. 1904 war sie eingeweiht worden, zwei Jahre später hatte sie schon mehr als 1000 Schüler, und mitten im Ersten Weltkrieg führte sie gemischte Klassen aus Jungen und Mädchen ein. Das war damals ungewöhnlich.
Vor der Schule steht ein Schild: »Sämtliche Berliner Bezirksämter sind angewiesen, jüdische Lehrkräfte an den städtischen Schulen sofort zu beurlauben. 1.4.1933«. Das Schild gehört zu den achtzig Tafeln, die die Künstler Renata Stih und Frieder Schnock 1993 in den Straßen unseres Viertels an den Laternenmasten installiert haben. Auf jedem Schild findet sich eine der zahlreichen antisemitischen Verordnungen, mit denen die Juden in den Jahren des Nationalsozialismus gedemütigt (»An Juden werden keine Seife und Rasierseife mehr ausgegeben oder verkauft«), isoliert, entrechtet (»Jüdische Ärzte dürfen nicht mehr praktizieren«), enteignet, ausgehungert wurden (»Die Versorgung von Juden mit Fleisch, Fleischprodukten und anderen zugeteilten Lebensmitteln wird eingestellt«). Die Tafeln führen jedem Vorübergehenden die fortlaufend erlassenen Maßnahmen zur Enteignung des Lebens der Juden vor Augen: Berufsverbote für Rechtsanwälte, Ärzte, Lehrer, Schauspieler und Musiker, Kündigung von Telefonanschlüssen, Badeverbot im Wannsee, Verbot des Verkaufs von Zeitungen und Bücher an Juden, Verbot der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Zwangsabgabe des Führerscheins, Promotionsverbot, Abgabe warmer Kleidung.
Ab dem 11. November 1938 wurden jüdische Kinder auf Weisung des Reichserziehungsministers Bernhard Rust von allen öffentlichen Schulen verbannt (»Jüdische Kinder dürfen keine öffentlichen Schulen mehr besuchen«). Es könne »keinem deutschen Lehrer und keiner Lehrerin mehr zugemutet« werden, ihnen Unterricht zu erteilen, behauptete der Minister. Rust, vor seinem Antritt als »Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung« selbst Lehrer für Latein und Deutsch, sah die nationalsozialistische Ausrichtung aller Bildungsinstitutionen als seine Mission. Die gymnasiale Schulzeit wurde verkürzt, der Religionsunterricht abgeschafft, »Vererbungslehre« eingeführt und die Anzahl der Sportstunden erhöht, schließlich sollten die Jungen »schnell wie Windhunde und hart wie Kruppstahl« werden – ein so einprägsamer Slogan, dass ihn Erwachsene in meiner Kindheit noch dermaßen oft zitierten, dass alle Kinder meiner schleswig-holsteinischen Heimatstadt ihn irgendwann auswendig herunterleiern konnten.
Auf Rusts Germanisierungs-Agenda stand zudem eine Rechtschreibreform, aus der englischsprachigen Couch sollte die deutsche »Kautsch« werden – auch dieser Vorschlag stieß noch in der autoritären Nachkriegsgesellschaft bei der älteren Generation auf Zustimmung. Ihr waren alle Insignien der angelsächsischen Welt – Kaugummi, Jeans, Parka – suspekt. Ebenso alle Anglizismen. Das war die Sprache, der Habitus der einstigen Sieger.
Womöglich verdanke ich es dem bleibenden Einfluss von Rust, dass mir noch in der Oberstufe meines Gymnasiums das Wort »Radio« als Ausdrucksfehler angestrichen wurde. Als ich verständnislos nachfragte, wurde ich belehrt, dass in einem Deutsch(!)-Aufsatz nur der »Rundfunkempfänger« auftauchen sollte. Ich hatte es an meiner Schule überwiegend mit Lehrkräften zu tun, die ihr pädagogisches Rüstzeug in der Zeit des »Dritten Reiches« erworben hatten, einige ihrer Glaubenssätze hatten sie aus der »dunklen Zeit« herübergerettet.
Rusts Schulverbot zwang die damals katholische Löcknitz-Schule, ihre jüdischen Schüler zu entlassen. Nationalsozialistischen Ideologen muss »die Löcknitz« ohnehin ein Dorn im Auge gewesen sein: Geprägt von dem demokratischen Aufwind der Weimarer Republik, galt sie als ausgesprochen modern mit ihren koedukativen Klassen, ihrem obligatorischen Schwimmunterricht und ihren Mädchenclubs »gegen die Gefahren der Großstadt«. Ebendeshalb wurde sie von den liberalen jüdischen Familien als Bildungseinrichtung bevorzugt.
Auf ihrem Schulhof stand eine 1910 eingeweihte Synagoge, die die Reichspogromnacht vom November 1938 fast unbeschädigt überstand, zu dicht war sie umringt von Häusern »arischer« Besitzer. Nur Teile des vorgelagerten Wohnbereichs mit Bibliothek, Schul- und Horträumen brachen ein, für die Beseitigung der Ruinen hatten die Juden aufzukommen.
Als das Bayerische Viertel nach den letzten »Abtransporten« 1943 als »judenfrei« gemeldet wurde, fielen Grundstück und Gebäude an die Gestapo, in den viergeschossigen Wohntrakt zogen Mitglieder des Reichssicherheitshauptamtes ein – vermutlich nach gründlicher »Entwesung«, das war häufige Praxis bei »frei gewordenen« Judenwohnungen, wie Dokumente zu Rechtsstreitigkeiten über die Kostenübernahme zeigen. Lange konnten die Neumieter sich ihres Wohnortes nicht erfreuen: Im November 1943 fiel eine Brandbombe auf das Haus und zerstörte es – in dem Jahr war der englische Premierminister Winston Churchill zum »moral bombing« übergegangen, um den Widerstand des Deutschen Reiches zu schwächen und die Bevölkerung zur Rebellion gegen die Nazi-Führung zu provozieren. Das ist, wie wir wissen, nicht gelungen.
1995 errichteten Schülerinnen und Schüler der Löcknitz-Grundschule, unter ihnen meine damals sechsjährige Tochter, auf den zugeschütteten Resten der Synagoge eine »Mauer des Gedenkens«, ihre Ziegelsteine beschriftet mit den Namen ermordeter jüdischer Bewohner, die von den Kindern auf dem zentralen Platz von Berlin-Schöneberg laut aufgerufen wurden. Ich erinnere nicht mehr, welchen Namen unsere Tochter wählte, es könnte der von Ida Wolle gewesen sein, die zwei Wochen nach Clara Marcus aus unserem Haus getrieben wurde. Ich erinnere aber deutlich, dass der Kontrast zwischen den so viel Leben ausstrahlenden hellen Kinderstimmen und dem dumpfen Schicksal der Ermordeten mich, die Zuhörerin, fast körperlich schmerzte. Auch anderen wurde auf dieser Veranstaltung bewusst, dass aus unserem Quartier Tausende verschwunden waren, mit denen man einst Tür an Tür gelebt hatte, bis die Nationalsozialisten dieses nachbarschaftlich-soziale Gefüge zerstörten.
Jahre später leuchtete mir, als ich aus dem Urlaub heimkam, ein glänzender Stolperstein entgegen, eine elf mal elf Zentimeter große Messingplatte, eingelassen in das Pflaster unseres Aufgangs zur Haustür, man konnte ihn gar nicht übersehen: »Hier wohnte Martha Cohen. JG. 1860. Deportiert 1942. Theresienstadt. Ermordet 12.9.1942«. Martha Cohens Namen kannte ich aus dem Katalog, aber der staubte seit einiger Zeit schon im Regal meiner Bibliothek ein.
Jeden Tag, den ich auf die Straße trat, tänzelte ich nun um Marthas Stein herum, der hier von irgendjemandem irgendwann verlegt worden war; darauf zu treten kam mir wie ein Sakrileg vor, aber die Frage, wer Martha Cohen gewesen war, stellte ich mir immer noch nicht nachdrücklich, und Stolpersteine gab es viele in unserer und den angrenzenden Straßen. Erst als ich bei Recherchen für ein Projekt zur deutsch-jüdischen Geschichte auf Louis Lewandowski stieß, den Komponisten wunderbarer Synagogenmusik und Marthas Vater, erfuhr ich mehr über seine Tochter, auch, dass sie eine ausgezeichnete Pianistin gewesen war.
Am 9. November jeden Jahres stellt jemand eine Grabkerze an Marthas Stolperstein auf. Und nicht nur dort, auch an Stellen, an denen es kein »Judenhaus« mehr gibt, flackern diese roten Lichter zum Gedenken an die Ermordeten. In der benachbarten Speyrer Straße zum Beispiel, wo die in Auschwitz umgebrachte Schriftstellerin Gertrud Kolmar mit ihrem Vater wohnte, stehen an der Stelle ihres einstigen Hauses nur noch vier von Büschen und Sträuchern umsäumte Parkbänke, auf denen sich morgens die Spatzen und abends Jugendliche zum Stelldichein treffen.
Wenn man in der Dämmerung der Novembertage in unsere Straße einbiegt, sieht man den ganzen Bürgersteig von solchen Grabkerzen erleuchtet. Das sieht eindrucksvoll aus, aber eigentlich mag ich die Kerzen nicht, sie kommen mir vor, als wolle man begraben wissen, was in diesen Straßen geschehen ist; sie lassen mich an den berüchtigten »Schlussstrich« denken, den die große Mehrheit der Deutschen nach dem Krieg ziehen wollte. Ihre Abwehr von Schuld und Erinnerungen haben sie in ihren Familienerzählungen anscheinend überzeugend weitergereicht und damit groteske Legenden begünstigt. Fast jeder Fünfte, so eine von der Universität Bielefeld 2018 publizierte Studie, glaubt, dass Mitglieder seiner Familie damals Verfolgten des NS-Regimes geholfen haben.
Martha Cohen hat niemand geholfen.
*
Meinem zweieinhalbjährigen Enkel Ilias, der jüngst bei uns zu Besuch war, habe ich das einzige leicht unscharfe Bild von Martha Cohen gezeigt, das ich von ihr kenne. Ich habe ihm erzählt, dass diese sehr ernst dreinschauende Frau im schwarzen Kleid lange vor uns in dieser Wohnung gelebt hat und ihr »Klavier« – es schien mir zu kompliziert, ihm zu erklären, was ein Flügel ist – hier im Wohnzimmer stand, vielleicht genau an der Stelle, an der unser Yamaha-Klavier vor sich hindümpelt. Und dass Martha ganz wunderbar darauf spielen konnte.
»Ach ja?«, quittierte Ilias meine Erzählung, ohne das konzentrierte Bauen an seinem Lego-Turm zu unterbrechen. Ach ja?, eine Wendung, die er gern benutzt, um zu signalisieren, dass er das Gehörte höflich-desinteressiert zur Kenntnis genommen hat, von dem er, vermutete ich, in diesem Fall kein Wort verstanden hatte.
Ein Irrtum. Zwei Stunden später legte er zwei Finger an sein linkes Ohr. »Écoute, Yaya, écoute!« Yaya bin ich (griechisch für Großmutter, eigentlich, transkribiert, »giagia« geschrieben), und »ècoute« ist seiner französischsprachigen Heimat geschuldet. Als ich die Ohren spitzte, hörte ich, was er hörte: Die Amerikanerin aus dem Nachbarhaus spielte Klavier. Er rechnete das sicherlich der Frau im schwarzen Kleid zu, von der ich erzählt hatte.
Das nächste Mal werde ich ihm Siegfried Kurt Jacob vorstellen. Ich möchte, dass die beiden sich kennenlernen. Bei Ilias beginnt gerade jene Entwicklungsphase, in der das große Nein vorherrscht – jener entscheidende Einspruch, mit dem Siegfried Kurt Jacob sich dem widersetzte, was die Nationalsozialisten für ihn vorgesehen hatten.
Die Gestapo wird nicht geklingelt haben, als sie Martha Cohen am 1. September 1942 zum »Abtransport« aus unserem Haus holte. Sie schlug mit dem Gewehrkolben gegen die Tür oder trat sie gleich ganz ein, wenn sie keine Antwort erhielt.
Unsere Wohnungstür musste nach unserem Einzug stabilisiert werden – es reichte ein leichter Fußtritt, um sie aufspringen zu lassen. Ob das noch Spätfolgen waren?
*
Martha Cohen war im Frühjahr 1939 Mieterin in der Berchtesgadener Straße 37 geworden, es könnte März oder April gewesen sein. Es ist die »Zeit der Falken«, deren erregte Rufe frühmorgens zu hören sind, wenn sie den Turm der gegenüberliegenden Kirche zum Heilsbronnen umkreisen und bald darauf in einer Mauernische brüten. Von meinem Schreibtisch aus kann ich die elegant dahinsegelnden Vögel beobachten, ich habe freien Blick auf den Himmel über dem Bayerischen Viertel. Den wird Martha, die die Wohnung im vierten Stock gemietet hatte, in der ich heute lebe, auch gehabt haben, wenn sie an den Nachträgen für ihr Testament arbeitete. Und oft wird sie sich in den letzten Jahren ihres Lebens gewünscht haben, so davonfliegen zu können wie die Falken.
Alle, denen sie und ihr verstorbener Mann Teile ihres Vermögens vermachen wollten, waren tot oder ausgewandert oder, sofern es sich um jüdische Stiftungen oder Bildungseinrichtungen handelte, verboten. Aber die Nazis sollten, was noch übrig war von ihrem Vermögen, nicht bekommen. Wie oft wird Martha in dieser Zeit ihre Augen zum Himmel gerichtet haben, zumindest über den hatte das mörderische Regime des »Dritten Reiches« doch keine Macht. Der aber blieb stumm. Selbst dann, als sie zur »Evakuierung in den Osten« abgeholt wurde.
Es gibt ein etwas unscharfes Foto von Martha, schätzungsweise zwanzig Jahre vorher aufgenommen, da ist sie um die sechzig, ihr Mann war zwei Jahre vorher verstorben. Sie steht in einem eleganten schwarzen Kleid an ihrem Flügel, der die begabte Pianistin auf allen Umzügen begleitete, die damals bereits hinter ihr lagen; an der Wand hängt in einem prächtigen Rahmen das Porträt von Hermann Cohen nach seiner Augenerkrankung, 1913 von Max Liebermann gemalt. Als ich nach dem Verbleib des Bildes forschte, erfuhr ich von der Provenienz-Forschungsstelle des Jüdischen Museums Berlin, das Porträt sei eine Dauerleihgabe aus Israel an das Jüdische Museum Berlin. Wie war es dazu gekommen?
Am 24. Januar 1933 war das damals gerade neu gegründete Museum eröffnet worden, sechs Tage vor der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler. Vielleicht hat Martha ihr Bild dem Museum übergeben, denn es legte großen Wert darauf, gerade auch die deutsche Moderne auszustellen, zu der Max Liebermann zählte.
Vielleicht kam das Bild aber auch erst 1936 in seine Bestände, als im Museum eine Liebermann-Gedächtnisausstellung zu Ehren des ein Jahr zuvor verstorbenen Malers stattfand. Das Museum war zur Bestückung der Ausstellung auf private Leihgaben angewiesen, da an eine Zusammenarbeit mit anderen Museen drei Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht mehr gedacht werden konnte.
In der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 wurde das Jüdische Museum zerstört, seine Bilder beschlagnahmte die Gestapo. Was danach mit ihnen geschah, konnte noch nicht genau rekonstruiert werden. Ein Teil der Gemälde wurde 1952 in einem Keller in der Schlüterstraße in Berlin-Charlottenburg gefunden und von der Jewish Restitution Successor Organization an das (heutige) Israel Museum in Jerusalem übergeben. Das Gemälde von Hermann Cohen könnte darunter gewesen sein, von dort aus wanderte es wieder nach Berlin, immer noch in demselben prächtigen Rahmen, der das Bild schon an der Wand in Marthas Wohnung geschmückt hatte.
Rechts von Martha ist auf dem Foto Hermann Cohens Büste zu sehen, von dem polnisch-amerikanischen Bildhauer Henryk Glicenstein modelliert, und davor ist ein weiteres Ölbild von Marthas Vater Lazarus (Louis) Lewandowski aufgestellt. Martha steht hier inmitten der Dinge, die ihr wichtig sind, weil sie so viele Erinnerungen beherbergen. Das Foto wurde vermutlich noch in der einst mit ihrem Mann geteilten Wohnung in der Luitpoldstraße 32 aufgenommen, kurz vor ihrem Auszug – es ist ein Arrangement, in dem die Koordinaten von Marthas Leben erkennbar werden.
Sie stammte aus einer Musikerfamilie, Martha spielte virtuos auf dem Klavier, ihr Bruder Alfred auf der Geige. Der Vater Louis Lewandowski war als Zwölfjähriger 1833 aus der damals preußischen Kleinstadt Wresnia nach Berlin gekommen, wurde später Königlich-Preußischer Musikdirektor und revolutionierte den synagogalen Gottesdienst durch Orgelmusik, Gemeindegesang und gemischte Chöre – für die jüdische Gemeinde etwas unerhört Neues. Die Orthodoxen lehnten Musik im Gottesdienst strikt ab.
Louis Lewandowskis Tochter Martha, am 20. Juni 1860 geboren, heiratete mit achtzehn Jahren den doppelt so alten Hochschullehrer Hermann Cohen, ein häufiger Gast im Hause Lewandowskis. Es war nicht zuletzt die Musik, die in dieser Familie ständig gespielt oder gesungen wurde, von der sich der doppelt so alte Hochschullehrer angezogen fühlte. Auch ein aufgeklärtes Judentum verband die beiden Eheleute. Hermann Cohen, Begründer der »Marburger Schule« des Neukantianismus, war der leidenschaftliche Verfechter einer deutsch-jüdischen Symbiose, einer philosophisch orientierten »Wissenschaft des Judentums«, in der der »Begriff der Religion« »durch die Religion der Vernunft zur Entdeckung gebracht werden« soll.
Mit dieser Position bezog Cohen entschieden Stellung gegen den preußischen Historiker Heinrich von Treitschke, der mit seinem von den Nazis oft wiederholten Satz »Die Juden sind unser Unglück!« in einem Aufsatz für die renommierten Preußischen Jahrbücher den Juden die Bereitschaft zur gesellschaftlichen Integration abgesprochen und entscheidend dazu beigetragen hatte, den Antisemitismus salonfähig zu machen. Als jüdischer Gelehrter wurde Cohen von vielen seiner Professorenkollegen an der Universität Marburg geschnitten, von anderen, wie beispielsweise dem russischen Schriftsteller Boris Pasternak, der ein Semester lang Cohens Vorlesungen besucht hatte, als »Ausnahmeerscheinung« verehrt. Wenige Jahre vor seinem Tod war Cohen am Vorabend des Ersten Weltkriegs auf Einladung der »Jüdischen Gesellschaft zur Wissensförderung« durch Russland getourt und hatte in mehreren Städten, in Moskau und Petersburg, in Wilna und Warschau (die damals noch zum Zarenreich gehörten) Vorträge gehalten. Dort wurde er für seine Synthese von messianischem Judentum, dessen Quelle er im Ostjudentum beheimatet sah, und kosmopolitischer Aufklärung fast wie ein Popstar von Tausenden Zuhörern gefeiert. Ein »wahrer Triumphzug« sei es gewesen, berichtete das Berliner Tageblatt 1914.
Nach seiner Emeritierung 1912 unterrichtete der Professor an der »Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums« in Berlin. Schulen wie diese, so plante er, wollte er überall in Osteuropa errichten. Doch der Erste Weltkrieg machte das Vorhaben zunichte. Und die zunehmende physische Einschränkung, der er sich gegenübersah.
Schon 1892 war er an einer Netzhautablösung erkrankt, damals begann die »gemeinsame Schreibarbeit« (Martha Cohen) des Ehepaares: Martha erledigte seine Korrespondenz, las ihm vor und erlernte den Umgang mit der Schreibmaschine, um seine ihr diktierten Gedanken zu Papier zu bringen. Damit gehörte sie zu den Pionierinnen, die die neue Technik zu nutzen verstanden. Während in den USA die Remington und die Underwood schon überall in den Büros eingesetzt wurden, gab es im Deutschen Reich nur wenige Schreibmaschinen, am bekanntesten war die Adler 7.
Nach dem Tod ihres Mannes verließ Martha Cohen 1918 Schöneberg und zog in das Haus der Familie Simion im Bezirk Tiergarten. Sie verfiel in eine »schwere Krankheit«, ein »Nervenleiden«, vermutlich eine Depression, von der schon ihr Vater, Louis Lewandowski, von Zeit zu Zeit heimgesucht worden war. Das Zusammenleben mit Hermann Cohen war sehr intensiv und glücklich gewesen, sie hatten gemeinsam an seinen Manuskripten gearbeitet, die Freude an der Musik geteilt – für sie muss, nachdem er gegangen war, eine große Leere entstanden sein.
1920 tauchte Martha wieder auf und teilte ihren Freunden mit, dass sie sich gesundheitlich jetzt wieder stark genug fühle, um sich ganz »dem Wirken« ihres Mannes widmen zu können. Sie hatte sich eine Aufgabe verordnet: 1922 reiste sie für Monate in die USA, um dort für die Übersetzung und Publikation von Hermann Cohens philosophischen Texten und Vorträgen zu werben.
Ich bin sicher, dass sie die Erika im Gepäck hatte, eine handliche Reiseschreibmaschine, die 1910 auf den Markt kam und zum Verkaufsschlager der Dresdner Firma Seidel & Naumann wurde. Marthas Finger werden des Schreibens mit Hand und Stift entwöhnt gewesen sein.
Mich faszinierte die Schreibmaschine, die im Arbeitszimmer der Mutter meiner Freundin Ingrid stand. Ihr Mann war Klempner, und seine Frau erledigte zu Hause in ihrem »Büro« die Buchhaltung und die fälligen Schreibarbeiten.
Ich liebte das Geklingel, mit dem der Wagenrücklauf den Zeilenwechsel herbeiführte, das klackernde Geräusch, wenn die Finger von Ingrids Mutter über die Tasten sausten. So eine Maschine wollte ich auch bedienen können. Und so nahm ich mir vor, tippen und Steno zu lernen, dann müsste ich in den Ferien nicht länger für fünfzig Pfennig pro Stunde in einer Gärtnerei Rosen zur Veredelung verbinden und mir abends die Dornen aus dem Daumen ziehen.
Ingrids Mutter brachte mir bei, mit zehn Fingern zu arbeiten: Papier einspannen, ein weißes Blatt über die Tastatur legen und gleichsam blind die entsprechenden Buchstaben anschlagen. Nur auf das Geschriebene schauen, mahnte sie mich, um zu erkennen, ob die Buchstaben korrekt getroffen wurden. Vor Steno kapitulierte ich, irgendwann kam mir das vor wie Vokabellernen, aber das Tippen übte ich fortan jeden Nachmittag. Jeden. Ich war entschlossen, mit Hilfe der Schreibmaschinenkünste den Gärtnerlohn hinter mir zu lassen.
Wenige Jahre später sicherten mir die zehn Finger den ersten lukrativen Job. Ich erledigte Schreibarbeiten für die Polizei eines Bundeslandes. Die Polizisten wussten nicht, dass eine Fünfzehnjährige ihre Auftragnehmerin war, ein Strohmann verschaffte mir diesen gut bezahlten Job. Von da an war ich auf Taschengeld nicht mehr angewiesen.
Ich verdiente gut und investierte den ersten nennenswerten Betrag in einen engen Schottenrock und einen roten Rollkragenpullover. Damit war auch das leidige Thema erledigt, stets die von meinen drei älteren Schwestern geerbten Klamotten auftragen zu müssen.
Die finanzielle Unabhängigkeit, die mir diese Arbeit verschaffte, erzeugte eine Art Freiheitsrausch, den ich nie mehr missen wollte, und ein Urvertrauen, mein materielles Dasein selbst sichern zu können. Ich schwor mir, diese Freiheit nie mehr aufzugeben.
Die Ehe von Martha und Hermann Cohen blieb kinderlos. 1915 setzten sie ein gemeinschaftliches Testament auf, der größte Teil ihres Vermögens sollte an jüdische Stiftungen gehen und für Stipendien verwendet werden. Großzügig wurde die Jüdische Gemeinde Berlins bedacht. Zum ersten Testamentsvollstrecker ernannte das Ehepaar Marthas Bruder, den Arzt Alfred Lewandowski, bei dem die beiden häufig in der Schöneberger Winterfeldstraße zu Gast gewesen waren. Die testamentarischen Verfügungen sollten allerdings erst nach Marthas Tod in Kraft treten.
1932 erstellte Martha ein eigenes Testament, das gemeinsam mit ihrem Ehemann verfasste Testament sei »durch die Inflation«, durch die das vorhandene Vermögen verlorengegangen sei, »gegenstandslos« geworden. Ich glaube, diese Begründung war vorgeschoben, die politischen Veränderungen durch den Aufstieg der Nationalsozialisten machten eine Testamentsänderung erforderlich: Martha war bestimmt nicht verborgen geblieben, dass die NSDAP schon bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 stärkste Partei geworden war. »Hitler ante portas«, schrieb der Literaturwissenschaftler und Romanist Victor Klemperer alarmiert.
Auch im persönlichen Bereich bekam Martha die politische Veränderung zu spüren: Eine zu Ehren von Hermann Cohen im Rathaus seiner Geburtsstadt Coswig (Sachsen-Anhalt) angebrachte Plakette wurde 1932 wieder entfernt, die Nationalsozialisten waren in Anhalt früh einflussreich.
In den folgenden Jahren ließ Martha fünf Nachträge zu ihrem Testament notariell bestätigen – das letzte Addendum stammte vom 7. Januar 1941, das sie auch nicht mehr, wie bei allen amtlichen Dokumenten vorgeschrieben, mit dem Namenszusatz »Sara« unterzeichnete. Die Nachträge sind Zeugnisse ihres trotzigen, aber vergeblichen Versuchs, ihr Erbe und Vermächtnis nicht den Nationalsozialisten in die Hände fallen zu lassen.
Zunächst hatte sie die bei der 1919 gegründeten »Akademie für die Wissenschaft des Judentums« angesiedelte Hermann Cohen-Stiftung zu ihrer Erbin erklärt. 1933/34 wurde die Akademie, und mit ihr die Stiftung, offensichtlich aufgelöst, denn in dem Nachtrag vom 26. August 1934 setzt Martha nun die »Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums e.V.« als Begünstigte ein. An deren Stelle wiederum tritt im Nachtrag vom 24. November 1938 die »Jüdische Gemeinde zu Berlin«. Das aber wird kaum noch möglich gewesen sein, denn seit einer Verordnung vom 31. Juli 1938 waren »testamentarische Zuwendungen an Juden (…) nichtig, wenn das gesunde Volksempfinden missachtet wird«.
Ihrer Schwägerin Ella hatte sie 1932 eine jährliche Rente aus den Zinsen ihres Vermögens zugesprochen, 1941 stellte sie fest, dass die potentielle Erbin inzwischen nach England geflüchtet war, daher sollte die Jüdische Gemeinde den »vollen Zinsgenuß« ihres Vermögens haben; die Hermann-Cohen-Büste von Glicenstein war eigentlich der Universität Marburg zugedacht, an der Cohen lange gelehrt hatte. Inzwischen aber schien es Martha unwahrscheinlich, dass die Universität mit ihren überwiegend ideologischen Parteigängern unter den Professoren die Büste überhaupt haben wollte; dann sollte sie ans Jüdische Museum gehen, das aber war unter den Nationalsozialisten geschlossen worden.
Sie wusste sich nicht anders zu helfen, als den von ihr neu bestimmten Testamentsvollstrecker Georg Lewandowski – ihr Bruder Alfred war 1931 verstorben – mit der Lösung dieser schwierigen Frage zu beauftragen. Der aber weilte seit 1938 »nicht mehr in Deutschland«, wie sie im nächsten Nachtrag feststellte. Als Nachfolger setzte sie Heinrich Riegner, ihren Neffen, ein, der emigrierte 1940. Nur ihre Wirtschafterin Marie Wiebach war noch da, deren »Barvermächtnis« hatte Martha aber schon 1938 erhöht.
Wie mag der Alltag in Marthas Leben in diesen Jahren des Naziregimes ausgesehen haben? Sich das vorzustellen, fällt mir schwer, denn inzwischen waren den Juden Zugänge zu allem versperrt, was ihnen ermöglicht hätte, zumindest für Augenblicke den »Einschnürungen« zu entfliehen. Konzerte durfte Martha seit dem 12.11.1938 nicht mehr besuchen, Bücher oder Zeitschriften nicht mehr erwerben. Nicht einmal in die Texte, die sie gemeinsam mit ihrem Mann über viele Jahre erstellt hatte, konnte sie sich noch vertiefen, sie waren indiziert, und Martha musste immer mit einer unangekündigten Razzia rechnen. Auch Ausflüge in die Natur, in den Grunewald oder an den Schlachtensee waren nicht möglich, da Juden keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen durften, und der Zutritt zum »deutschen Wald« war ihnen ebenfalls untersagt. Eine klaustrophobische Situation, aus der es kein Entkommen gab.
In ihrer Fünf-Zimmer-Wohnung war Martha nicht mehr allein. An ihre langjährige (nichtjüdische) Haushälterin Marie Wiebach war sie gewöhnt, bald nach ihrem Einzug aber kamen zwei »Untermieterinnen« hinzu, die Martha aufnehmen musste. »Mir gehört nichts mehr«, schrieb die Dichterin Gertrud Kolmar, die in der Speyerer Straße 10, der Berchtesgadener Straße gegenüber, mit ihrem Vater wohnte und zahlreiche aus ihren eigenen Wohnungen vertriebene »Untermieter« zugewiesen bekam. Bei Martha wurden Bertha Sternson – möglicherweise noch mit ihrem Mann Simon Siegmund, bis dieser flüchtete – und die Witwe Clara Marcus einquartiert. Beide Frauen hatten vorher in Berlin-Wilmersdorf gewohnt, in der Seesener Straße 71.
Wie empfanden die Frauen die ungewohnte Zwangswohngemeinschaft? Wie gingen sie miteinander um? Ob sie das Wenige, was sie hatten, miteinander teilten? Das Brot? Den Tee? Ihre Erinnerungen? Ob Clara von Heinz, ihrem Sohn, erzählte oder Bertha von glücklichen Tagen mit ihrer früh verstorbenen Tochter, die sie jetzt gar nicht mehr auf dem weit entfernten Friedhof Weißensee besuchen konnte? Auch Hermann Cohen und Louis Lewandowski waren, für Martha unerreichbar, dort begraben. Ob Bertha Sternson von der Ankunft ihres Mannes Simon Siegmunds in Shanghai gewusst hat? Manchmal gelang es noch, eine Nachricht über die internationalen jüdischen Hilfsorganisationen nach Deutschland zu bringen.
Die schönsten Stunden für die vier Frauen werden es gewesen sein, wenn Martha sich an ihren Flügel setzte, Mozart, Mendelssohn-Bartholdy oder die »Nocturnes« von Frédéric Chopin spielte. Vielleicht hat sie zuweilen auch »undeutsche«, »entartete« Musiker wie Gustav Mahler oder Arnold Schönberg erklingen lassen, deren Werke der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels verboten hatte. Zuzutrauen ist ihr das: Sie wollte sich von den Nationalsozialisten nicht zu einem völlig willenlosen Geschöpf machen lassen, das demonstrieren ihre Testamentsnachträge und ihre Weigerung, in amtlichen Dokumenten den zusätzlichen Vornamen Sara eintragen zu lassen. Martha wusste, dass niemand mehr auf sie wartete, nur der Tod. Was hatte sie schon zu verlieren, selbst wenn irgendjemand aus der Nachbarschaft die Musik von Gustav Mahler erkennen und sie denunzieren sollte?
Arnold Schönberg, der unter den Nationalsozialisten nicht mehr an der Berliner Akademie unterrichten durfte, gelang 1934 die Flucht über Paris nach Los Angeles. Sein trauriges Diktum, schon 1923 an den Maler Wassily Kandinsky geschrieben, hat Martha vielleicht sogar gekannt. Er habe lernen müssen, schrieb Schönberg, und »werde es nicht wieder vergessen. Dass ich nämlich kein Deutscher, kein Europäer, ja vielleicht kaum ein Mensch bin, sondern dass ich Jude bin.« Vielleicht hätte Martha einen solchen Satz nach so vielen leidvollen Erfahrungen, die inzwischen hinter ihr lagen, sogar unterschrieben, obwohl sie und ihr Mann so engagiert auf die deutsch-jüdische Symbiose, das Zusammenwirken von Religion und Vernunft, von Tora, Talmud und Kant gesetzt hatten.
Jetzt hatte Martha nur noch die Musik. Alle, die noch im Haus mit dem »Abtransport« rechnen mussten, dürften Marthas Spiel auf dem Flügel gelauscht haben, wenn sie die »Mondscheinsonate« von Ludwig van Beethoven erklingen ließ – eine solche Musik war der vollkommene Gegensatz zu dem ständigen Gebrüll, dem Lärm, den gebellten Befehlen der Gestapo, die man in unserer Straße der vielen »Judenhäuser« allzu oft gehört haben wird.