Leere Herzen - Juli Zeh - E-Book
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Leere Herzen E-Book

Juli Zeh

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Beschreibung

Sie sind desillusioniert und pragmatisch, und wohl gerade deshalb haben sie sich ‎erfolgreich in der Gesellschaft eingerichtet: Britta Söldner und ihr Geschäftspartner Babak Hamwi. Sie haben sich damit abgefunden, wie die Welt beschaffen ist, und wollen nicht länger verantwortlich sein für das, was schief läuft. Stattdessen haben sie gemeinsam eine kleine Firma aufgezogen, "Die Brücke", die sie beide reich gemacht hat. Was genau hinter der "Brücke" steckt, weiß glücklicherweise niemand so genau. Denn hinter der Fassade ihrer unscheinbaren Büroräume betreiben Britta und Babak ein lukratives Geschäft mit dem Tod.

Als die "Brücke " unliebsame Konkurrenz zu bekommen droht, setzt Britta alles daran, die unbekannten Trittbrettfahrer auszuschalten. Doch sie hat ihre Gegner unterschätzt. Bald sind nicht nur Brittas und Babaks Firma, sondern auch beider Leben in Gefahr...

"Leere Herzen" ist ein provokanter, packender und brandaktueller Politthriller aus einem Deutschland der nahen Zukunft. Es ist ein Lehrstück über die Grundlagen und die Gefährdungen der Demokratie. Und es ist zugleich ein verstörender‎ Psychothriller über eine Generation, die im Herzen leer und ohne Glauben und Überzeugungen ist.

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Buch

Sie sind desillusioniert und pragmatisch, und wohl gerade deshalb haben sie sich erfolgreich in der Gesellschaft eingerichtet: Britta Söldner und ihr Geschäftspartner Babak Hamwi. Sie haben sich damit abgefunden, wie die Welt beschaffen ist, und wollen nicht länger verantwortlich sein für das, was schief läuft. Stattdessen haben sie gemeinsam eine kleine Firma aufgezogen, »Die Brücke«, die sie beide reich gemacht hat. Was genau hinter der »Brücke« steckt, weiß glücklicherweise niemand so genau. Denn hinter der Fassade ihrer unscheinbaren Büroräume betreiben Britta und Babak ein lukratives Geschäft mit dem Tod.

Als die »Brücke« unliebsame Konkurrenz zu bekommen droht, setzt Britta alles daran, die unbekannten Trittbrettfahrer auszuschalten. Doch sie hat ihre Gegner unterschätzt. Bald sind nicht nur Brittas und Babaks Firma, sondern auch beider Leben in Gefahr …

»Leere Herzen« ist ein provokanter, packender und brandaktueller Politthriller aus einem Deutschland der nahen Zukunft. Es ist ein Lehrstück über die Grundlagen und die Gefährdungen der Demokratie. Und es ist zugleich ein verstörender Psychothriller über eine Generation, die im Herzen leer und ohne Glauben und Überzeugungen ist.

Autorin

Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, hat in Passau und Leipzig Jura studiert und in Europa- und Völkerrecht promoviert. Schon ihr Debütroman »Adler und Engel« (2001) wurde zu einem Welterfolg; inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Ihr Gesellschaftsroman »Unterleuten« (2016) stand über ein Jahr lang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Rausriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015). Mehr unter www.juli-zeh.de

Juli Zeh

Leere Herzen

Roman

Luchterhand

Da. So seid ihr.

Full Hands Empty HeartsIt’s a Suicide World Baby

Molly Richter, »Empty Hearts«,auf ihrem Debütalbum 2025

1

Knut und Janina kommen um fünf.

Das Wetter ist prächtig. Seit einigen Tagen besitzt die Sonne eine heftige Kraft, die man ihr nach einem typischen Braunschweiger Winter und den vernieselten Frühlingswochen kaum noch zugetraut hätte. Wie hellgelber Chiffon liegt das Licht auf den glatten Flächen der Möbel, bringt die Gläser auf dem Tisch zum Funkeln, dringt in die hintersten staubfreien Ecken. Dreimal in der Woche lässt Britta die Wohnung von Henry, einem jungen Mann aus Laos, auf Hochglanz bringen. Leider finden sich auf den Panoramafenstern stets ein paar Schlieren, die Henry übersieht.

Durch die Kinder haben sich die Tagesabläufe verschoben. Früher hätte man sich bei Einbruch der Dämmerung zum ersten Aperitif getroffen, nicht am helllichten Tag zum Abendessen. Aber das ist normal, es geht ihnen allen so, der ganzen Armee von Einzelkindereltern. Es gab Zeiten, als Britta bis Mitternacht arbeitete, bis mittags schlief und die erste feste Nahrung des Tages am frühen Nachmittag zu sich nahm, meistens ein Sandwich, das Babak, der ebenfalls kein Morgenmensch ist, in die Praxis mitbrachte. Aber dem hat Baby-Vera vor sieben Jahren ein Ende gesetzt. Nur manchmal spürt Britta noch einen leichten Schwindel, fast wie Erschrecken, Symptome eines existenziellen Jetlags.

»Der Mist klebt nicht«, ruft Richard aus der Küche, ohne jemand Bestimmten zu meinen.

Im Flur nimmt Britta eine Flasche Rotwein entgegen, die Knut mitgebracht hat, eine nette Geste, obwohl sie den ganzen Keller voll mit Edwards haben, einem chilenischen Cabernet von 2020, den sie mögen und an den sie sich gewöhnt haben. Den Rioja mit Schleife am Hals werden sie bei Gelegenheit weiterverschenken.

»Sticky Fingers.« Lachend reckt Richard seine klebrigen Hände in die Luft und bietet den Gästen zur Begrüßung den Ellbogen. »Ich mache alles genau wie im Rezept. Trotzdem sieht das Zeug aus wie Biomüll.«

Vor ihm liegen zerfetzter Seetang und Klumpen aus klebrigem Reis, die seinen Wickelversuchen zum Opfer gefallen sind. Richard hat sich in den Kopf gesetzt, das Sushi an diesem Abend selbst zu machen, und Britta mischt sich in solche Pläne nicht ein. Die Küche ist Richards Reich. Sie wird die Gäste bei Laune halten und dafür sorgen, dass die Kinder so oder so um sieben etwas zu essen bekommen, ganz egal, was.

»Alter, sieht spitze aus, wir essen das direkt mit flachen Löffeln von deiner Granit-Arbeitsplatte«, sagt Knut.

Es handelt sich um polierten Beton, aber Britta hält den Mund. Knut ist ein Weichei und wahrscheinlich nicht einmal besonders intelligent, aber Britta mag ihn für seine gute Laune und dafür, dass sich seine Tochter Cora so gut mit Vera versteht. Vor sieben Jahren haben sich Janina und Britta beim Babyschwimmen kennengelernt, jede mit einer Tüte Geschrei auf dem Arm, und sich seitdem immer wieder an langen, zähen Nachmittagen getroffen, erst, um sich gegenseitig ihr Leid zu klagen, später, um zwei Stunden Ruhe am Rand eines Spielplatzes zu genießen, während die Mädchen miteinander beschäftigt sind. Ihre Play-Date-Freundschaft übersteht sogar die Tatsache, dass sie sich für unterschiedliche Schulen entschieden haben. Während Knuts und Janinas Tochter auf ein musisches Kinder-Colleg mit Klavierzwang und Smartphoneverbot geht, durchläuft Vera ganz entspannt die übliche Silicon-Valley-Pädagogik. Cora übt auf dem Xylophon »Kleine Schnecke krieche schnell«, Vera hat gerade ihr erstes Programm geschrieben, das einen Fisch über den Monitor schwimmen und nach dem Köder schnappen lässt, wenn man die Angel ins Wasser senkt.

Die beiden Mädchen sind schon im Kinderzimmer verschwunden, während die Erwachsenen noch mit Herumstehen beschäftigt sind, jener Phase, die offensichtlich bei jedem Treffen durchlitten werden muss. Man lehnt im Türrahmen oder stützt sich mit beiden Händen auf die Rückenlehne eines Stuhls, lacht einander in die Gesichter, bis endlich alle entspannt genug sind, um sich hinzusetzen. Brittas Haus verfügt über einen großzügigen Wohn- und Essbereich mit verglaster Fensterfront; trotzdem zwängen sich immer alle in die Küche und bestehen darauf, am viel zu kleinen Frühstückstisch zu sitzen. Sie hat aufgegeben, etwas dagegen unternehmen zu wollen.

Mit einem Ohr lauscht sie über den Flur Richtung Kinderzimmer, bis sie die üblichen Mega-Melanie-Geräusche vernimmt. Die Mädchen sind völlig verliebt in Veras Mega-Mall, ein mehrstöckiges Plastikungetüm, das über WLAN, mehrere Displays und programmierbaren Soundtrack verfügt. Bei ihren Besuchen bringt Cora immer einige ihrer Glotzis mit, kuschelige kleine Aliens mit drei großen Augen, die zurzeit schwer in Mode sind. Sie bilden die treibende Kraft einer komplizierten Mars-Attacke auf die Mega-Mall, die von Mega-Melanie, Mega-Martin und ihren Mega-Freunden verhindert werden muss. Meistens schießt das Mega-SEK nach einigen Verwicklungen wild um sich, wobei nicht nur die Glotzis, sondern auch sämtliche Mega-Mall-Kunden getötet werden. Dann hört man dramatische Musik und zweistimmiges »Kollateralschaden!«-Gejuchze aus dem Kinderzimmer.

Während der Edwards im Dekantierer atmet, öffnet Britta die Kühlschranktür und genießt für einen Moment den Anblick der perfekt präsentierten Lebensmittel. Ein Stück Butter in einer gläsernen Butterdose. Vegetarische Würstchen, zwei Auberginen, drei Tomaten, eine Kanne Milch. Sie entnimmt zwei verschiedene Flaschen Bier und reicht Richard und Knut jeweils ihre Lieblingssorte. Für Janina und sich öffnet sie eine Flasche Prosecco.

»Wie war denn die Besichtigung?«

»Ein Traum.«

Janina stößt an, ohne zu trinken, setzt das Glas ab und schiebt ihre blonde Hochfrisur zurecht. Mit geblümtem Kleid und romantischer Frisur verkörpert sie so ziemlich das Gegenteil von Britta, die ihr helles Haar glatt und kinnlang geschnitten trägt und schlichte Hosen bevorzugt, grau oder mittelblau, dazu Oberteile, denen nur ein Kenner ansieht, was sie gekostet haben. Trotzdem macht es Freude, Janina anzusehen. Janina hat ihre Tochter schon mit Anfang zwanzig gekriegt, wie es in letzter Zeit wieder Mode wird, und manchmal scheint es Britta, als stamme die jüngere Freundin nicht nur aus einem anderen Jahrzehnt, sondern von einem fremden Planeten. Janina versteht, sich einzurichten, in ihren Kleidern und Frisuren, in ihrer winzigen Wohnung, in ihrer Familie und ihren Mädchenträumen. Seit ein paar Wochen sucht sie mit Knut ein Haus auf dem Land, was Britta einigermaßen absurd erscheint. Sie selbst hat schon vor fünfzehn Jahren begriffen, dass Großstadt out und Provinz kein Heilmittel für den abgerockten Metropolenwahn ist, da sich kein Übel mit dem Gegenteil kurieren lässt. Dem 21. Jahrhundert entsprechen Mittelstädte, mittelgroß, mittelwichtig und bis ins kleinste Detail dem Pragmatismus gehorchend. Es gibt alles, davon aber nicht zu viel, vom Wenigen genug und dazwischen erschwinglichen Wohnraum, breite Straßen und eine Architektur, die einen in Ruhe lässt.

Schon vor Jahren, während ihre Bekannten noch damit beschäftigt waren, alte Bauernhäuser in Brandenburg zu sanieren und Biotomaten anzubauen, kaufte Britta von den ersten Einkünften der Brücke ein Haus in Braunschweig. Einen Betonwürfel mit viel Glas in einem ruhigen Wohnviertel, praktisch, geräumig, leicht zu reinigen, genau wie Braunschweig selbst, gerade Linien, glatte Flächen, frei von Zweifeln. Dermaßen durchdacht, dass es für jedes Möbelstück nur einen einzigen möglichen Ort gibt. Dazu Keller, Kinder- und Gästezimmer, ausreichend Toiletten und Abstellraum, pflegeleichter Garten und eingebaute Haushaltselektronik, die die Raumtemperatur reguliert, zu festgesetzten Zeiten Kaffee kocht und Warnsignale von sich gibt, wenn der Kühlschrank offen steht. In gewissem Sinne liebt Britta ihr Haus. Wenn man keine Lust hat, sich selbst etwas vorzumachen, ist polierter Beton eben das, was man heutzutage noch lieben kann.

»Ganz ehrlich. Ich glaube, wir haben es gefunden.« Noch einmal hält Janina ihr Prosecco-Glas zum Anstoßen in die Luft, und dieses Mal trinkt sie auch. Britta ist fasziniert von Janinas Begeisterung. Die Freundin liebt abblätternde Farbe an alten Holztüren, mit bunten Blumen bepflanzte Schubkarren und Schaffell vor dem Kamin. Ein Anachronismus, der zum Himmel schreit. Komplette Ignoranz der Tatsache, dass sich die Dinge geändert haben.

»Die alten Leute, denen es gehört, sind gerade erst ausgezogen. Für sie ist es schrecklich, das Haus zu verlassen. Ein Leben lang war es ihre Heimat.«

»Warum wollen sie dann verkaufen?«

»Wollen nicht, müssen. Im Alter bist du da draußen nicht mehr gut aufgehoben.«

»Alte Leute? Aufgehoben?« Vor Richard liegen inzwischen drei mehr oder weniger fertige Maki-Rollen, leicht gekrümmt wie Hundekot. »Worum geht’s, Palliativ-Immobilien?«

Britta lacht. Sie liebt ihn für seine Schlagfertigkeit, und sie liebt es, über Janinas Hauskaufpläne zu lachen.

»Gebt es zu, das ist ein völlig heruntergekommener Kasten«, sagt sie. »Wahrscheinlich mit Holzöfen und Strohmatratzen, und wenn du warmes Wasser willst, stellst du einen Kessel aufs Feuer. Unmöglich zu reinigen, weil ständig Staub von der Decke rieselt. Und in allen Ecken sitzen dicke Spinnen.«

»So in etwa.« Knut lacht gutmütig.

»O-kaayyy.« Richard dehnt das Wort in einem Tonfall, der »Jeder-muss-selbst-wissen-was-er-will« bedeuten soll.

»Das Haus ist ein Traum«, wiederholt Janina. »Ihr müsst mal mit rauskommen und es ansehen. Cora ist ganz verzaubert. Sie könnte da draußen ein Pferd haben, stellt euch das vor.«

»Gibt’s Pferde bei Manufactum?«, fragt Richard.

»Im Ernst, es ist genau das, was wir wollen. Keine Elektronik, Holzböden, Lehmputz. Großer Garten mit alten Bäumen. Wir laden euch zum Lagerfeuer ein.«

»Im Ganzkörper-Schutzanzug wegen der Zecken«, sagt Britta. »Was soll es denn kosten?«

In leicht übertriebener Qual verzieht Janina das Gesicht.

»Zu viel«, sagt Knut. »Aber wir haben beschlossen, darüber nicht nachzudenken.«

»Spitzen Finanzstrategie«, witzelt Richard, der dazu übergegangen ist, den Reis für die Nigiris zu portionieren, und langsam Oberwasser bekommt. Alle Anwesenden wissen, dass sich Knut und Janina kein Haus leisten können, nicht einmal eine Gartenhütte und nicht einmal dann, wenn die Negativzinspolitik bis in alle Ewigkeit verlängert wird. Als Theaterautor wartet Knut noch immer auf den Durchbruch, und Janinas Start-up namens »Schreibmaschine«, das Sekretariatsleistungen für Schriftsteller, Maler und andere Freischaffende anbietet, leidet an der Tatsache, dass die Kunden nicht mehr Geld haben als Knut und Janina selbst. Für ein bescheidenes Leben zu dritt könnte es trotzdem reichen, vorausgesetzt, dass Knut eines Tages etwas dazuverdient, aber das Ganze muss sich entwickeln, es braucht Zeit. Dass Janina trotzdem nach einem Haus auf dem Land Ausschau hält, ist ebenso rührend wie mutig. Britta beschließt, ihren Widerwillen gegen selbst gebastelte Idyllen beiseitezuschieben und demnächst zu signalisieren, dass sie mit einer Anschubfinanzierung helfen kann, falls die Bank Schwierigkeiten macht. Janina ist nun einmal, bei Tageslicht betrachtet, ihre beste Freundin, und Britta weiß ohnehin nicht, wohin mit ihrem Geld. Das letzte Jahr der Brücke ist mit Frexit, Free Flandern und Katalonien First! gut gelaufen, sodass es höchste Zeit wird, sich mal wieder um die Finanzhygiene zu kümmern. Während sie die Prosecco-Gläser auffüllt und zwei weitere Bierflaschen öffnet, nimmt sie sich vor, am nächsten Tag mit Babak darüber zu reden.

Als sie aus ihren Gedanken auftaucht, hat Richard bereits sechzehn kleine Quader aus Reis geformt. Das Gespräch dreht sich nicht mehr um Häuser, sondern um irgendetwas mit Politik. Während Knut gebannt auf das Display seines Handys schaut, steht Britta auf und holt eine Schüssel Nudeln vom Vorabend sowie ein paar Veggie-Fleischwürste aus dem Kühlschrank. Sie kennt wenige Menschen, denen es nicht peinlich ist, ihr Smartphone aus der Tasche zu nehmen. Wer das tut, ist entweder fest angestellt oder Wähler der Besorgte-Bürger-Bewegung. Knut ist keins von beiden und liest trotzdem die Snaps von Regula Freyer und Co. Schon vor Jahren hat Babak einen Hack entwickelt, mit dem sich die vorinstallierten Kanäle vom Handy entfernen lassen. An Britta und Richard hat er das Tool weitergegeben, Knut wollte es nicht.

»Die BBB bringt das fünfte Effizienzpaket auf den Weg.« Knut schaut in die Runde, als müsste nun jeder der Anwesenden reihum Stellung nehmen. »Danach wird es auf Landesebene keine Enquete-Kommissionen, parlamentarischen Beiräte und Kontrollgremien mehr geben.«

Janina räuspert sich. Falls dieses Geräusch Knut zur Zurückhaltung bewegen soll, hat er es entweder nicht gehört oder nicht verstanden.

»Wollen die den Föderalismus jetzt endgültig abschaffen?«

»Möglich«, erwidert Richard abgeklärt. »Den Spinnern von der BBB ist alles zuzutrauen.«

Sanft schiebt Britta ihn und seine Sushi-Matten beiseite, stellt den Induktions-Wok auf den Herd, gibt etwas Öl und die Nudeln hinein und schneidet, während sich das Ganze erhitzt, die Veggie-Wurst in kleine Stücke.

»Die bauen das ganze Land um.«

»Dafür sind sie angetreten. Schlank und fit in die Zukunft.«

»Was sind denn das für Gremien?«, fragt Janina.

»Die Summe, die sie dadurch einsparen, ist allerdings gigantisch.« Knut blickt wieder aufs Handy. »Immerhin Steuergelder.«

Britta glaubt nicht, dass Knut jemals im Leben Steuern bezahlt hat.

»Im Grunde weiß ja auch niemand, wofür man den Föderalismus braucht«, sagt Janina.

»Keiner hier hat Besorgte Bürger gewählt«, sagt Richard. »Worüber reden wir überhaupt?«

»Über das fünfte Effizienzpaket«, beharrt Knut.

Langsam ist Britta genervt. Auch wenn sie aus beruflichen Gründen gezwungen ist, Politik in groben Linien zu verfolgen, findet sie nicht, dass man privat darüber reden muss. Ganz offensichtlich hat Knut nicht verstanden, dass Politik wie das Wetter ist: Sie findet statt, ganz egal, ob man zusieht oder nicht, und nur Idioten beschweren sich darüber. Dunkel erinnert sie sich, dass das einmal anders war. Sie sieht sich in einer Wahlkabine stehen und voller Überzeugung ihr Kreuz machen. Sie weiß, dass sie die Frage, wen man wählen soll, damals mit anderen diskutiert hat und dass ihr die Antwort wichtig erschien. Wann das gewesen ist, weiß sie nicht mehr so genau; definitiv vor Flüchtlingskrise, Brexit und Trump, lange vor der zweiten Finanzkrise und dem rasanten Aufstieg der Besorgte-Bürger-Bewegung. In einer anderen Zeit.

»Kollateralschaden!«, jubiliert es aus dem Kinderzimmer, untermalt von Mega-Musik, die laut über den Flur stampft.

»Macht nicht so wild! Gleich gibt’s Essen!«, ruft Janina.

Als Britta die Wurst in den Wok gibt, zischt es. Sie rührt gründlich und schaltet die Dunstabzugshaube ein.

»Das riecht verdammt lecker«, sagt Knut.

»Ich bin auch gleich fertig.« Richard öffnet Vakuumpackungen mit rohen Fischstücken, um damit seine Quader zu garnieren. Auf dem Tisch stehen eckige Teller bereit, dazu kleine Porzellanbänkchen, die Stäbchenpaare tragen, sowie Schüsseln mit Sojasauce, eingelegtem Ingwer und Wasabi-Paste.

»Das Krasse ist, dass man nicht weiß, was dabei rauskommt«, fängt Knut wieder an. »Ich meine, BBB geht gar nicht, das ist klar. Aber nur mal als Beispiel, wer hätte damals gedacht, dass Spinner wie Trump und Putin den Syrienkrieg beenden? Das ist doch postfaktisch wie sonst was.«

Britta hasst Wörter wie »postfaktisch«. Jahrelang überschwemmen sie Blogs und Medien, um leeren Köpfen das Gefühl von politischer Analyse zu vermitteln. Als ob es jemals »faktische« Politik gegeben hätte. Was war denn faktisch? Der Absolutismus? Der Imperialismus? Nationalsozialismus, Kalter Krieg, der Zerfall Jugoslawiens oder der elfte September? Britta hat große Lust auf die Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass seit Jahren niemand mehr weiß, was er denken soll.

Weil Knut noch immer engagiert auf seinem Smartphone scrollt, schaltet Britta Musik ein, um klarzustellen, dass das Gespräch beendet ist. Molly Richters weiche Stimme füllt den Raum. Die Sängerin ist der Shooting Star der Saison. Zwölf Jahre alt, Haare kurz geschoren, Körper und Klamotten eines Lausejungen und eine Stimme wie Josephine Baker.

Full Hands Empty Hearts / It’s a Suicide World Baby.

Britta öffnet eine Dose geschälter Tomaten und gibt den Inhalt in den Wok. Das Zischen wird zu Blubbern, angebratene Wurststücke und Nudeln verschwinden in der roten Flüssigkeit. Mit der Spitze des Kochlöffels zerdrückt sie Tomaten, bis das Gemenge eine matschige Konsistenz annimmt. Ein Becher Sahne verwandelt das Rot in bräunliches Rosa und den Matsch in Sauce. Die Kinder nennen es Wurstgulasch, sie lieben dieses Essen.

»Gut sieht das aus.« Knut steht neben ihr, taucht einen Löffel in den Wok und probiert. »Lecker.«

»Sushi ist in fünf Minuten fertig«, sagt Richard.

»Sushi ist fürs Auge, das hier für den Bauch.« Knut hält Britta einen viereckigen Teller hin. »Viel zu schade für die Kinder.«

Sie wechselt einen Blick mit Richard, der die Augen verdreht, aber lächelt, und teilt eine Portion Gulasch aus. Janina erscheint mit zwei weiteren Tellern, einen für sich selbst, einen für Britta, holt Löffel aus der Schublade und setzt sich an den Tisch.

»Vera-Cora«, ruft Richard. »Eure Eltern essen euch die Wurst weg!«

»Na, alle tot?«, fragt Janina und wuschelt den Mädchen durch die Haare, als sie in die Küche gelaufen kommen, mit Mega-Melanie, Mega-Martin und zwei Glotzis in Händen, die sie neben ihre Teller setzen, bevor sie sich über das Wurstgulasch hermachen. Richard verteilt Maki und Sashimi auf Holzplatten und trägt auf, es sieht besser aus als erwartet, alle klatschen und johlen und rufen »Arigato!«, und dann essen sie durcheinander, Wurst und Nudeln und rohen Fisch, Britta springt auf, weil sie den Wein vergessen hat, sie stoßen an, der Edward schmeckt fantastisch, obwohl er weder zu Sushi noch zum Gulasch passt. Die Laune ist bestens, ein richtig netter Abend.

Zum Nachtisch gibt es Erdbeeren, für jeden nur eine kleine Portion, dafür von Vera eigenhändig im Garten der Nachbarin gepflückt. Britta sieht, wie Janina auf Zucker und Schlagsahne verzichtet, und lächelt still vor sich hin. Wie gut, dass die Probleme wenigstens einigermaßen gerecht verteilt sind. Britta hält sich manchmal für eine schlechte Mutter, weil sie die Arbeit insgeheim mehr liebt als die Familie. Dafür kann sie essen, was sie will.

Um Viertel vor acht will Vera wie jeden Abend auf Netflix eine Folge ihrer Lieblingsserie sehen. Eine kleine Drohne namens »Featherweight«, die ihrem Besitzer entflogen ist, hilft einem Mädchen bei der Lösung von Alltagsproblemen.

Während die Mädchen gucken, fangen Knut und Janina schon mal an, sich zu bedanken und Ideen für eine Gegeneinladung in den Raum zu stellen. Britta und Richard versichern, dass sie keine Hilfe beim Aufräumen brauchen, dass es ein supernetter Abend war und dass sie gern bei Gelegenheit mit Vera zum Essen vorbeikommen, oder vielleicht trifft man sich lieber mal zum Grillen im Park, denn die Wohnung von Knut und Janina ist ziemlich klein und, wie Britta insgeheim denkt, auch nicht besonders sauber.

»Alter, wie krass!«, ruft Vera im Wohnzimmer.

»Kollateralschaden!«, juchzt Cora.

Das klingt zu heftig für »Featherweight«. Britta überquert den Flur, die anderen folgen.

Die Mädchen haben in den Fernsehmodus gewechselt, was zu den wenigen Dingen gehört, die Britta rigoros verbietet. Fernsehen geht gar nicht. Sie ist schon bereit für eine Schimpfkanonade, wird aber abgelenkt von dem, was sie auf dem Bildschirm sieht. Zwanzig-Uhr-Nachrichten.

»Was zum Teufel ist das?«, flüstert sie, oder besser, hört sie sich flüstern, denn die Lippen haben sich ohne ihr Zutun bewegt.

Die anderen sind in der Tür stehen geblieben und unterhalten sich weiter übers Grillen. Britta steht in der Mitte des Raums, zufällig genau im Zentrum des sternförmigen Teppichmusters, und blickt auf den Fernseher. Verwaschene Bilder, ein Fünfundvierzig-Sekunden-Beitrag, die Hälfte hat sie bereits verpasst. Trotzdem begreift sie das Setting sofort. Schwarze Uniformen, Einsatzleiter, die in Funkgeräte sprechen, kreisende Hubschrauber, Tränengas, Blendgranaten, das ganze Programm. Wenn sie nicht alles täuscht, trägt der zu Boden gegangene Täter einen Sprengstoffgürtel, aber die Bildqualität ist sehr schlecht, wie von einem Handy aus großer Entfernung gefilmt.

Brittas Knie werden weich, sie lässt sich in einen Sessel fallen. Die Mädchen balgen auf der Couch, Richard ruft: »Macht sofort den verdammten Fernseher aus!«, Janina: »Wir gehen jetzt!« Knut ist ebenfalls vor den Fernseher getreten, er schaut die Nachrichtensprecherin an, diesen ganzen Zwanzig-Uhr-Käse, inklusive bonbonfarbenen Kostüms und Fönfrisur, wie erstaunlich, dass das nicht aufhört, dass es einfach immer weitergeht, als hätte sich in den letzten zwanzig Jahren überhaupt nichts verändert. Terroranschlag, sagt die Sprecherin. Leipziger Flughafen, Cargo-Bereich, in letzter Sekunde verhindert. Ein Täter tot, der andere in Gewahrsam. Bislang keine Hinweise auf eine bestimmte Gruppe, laufende Ermittlungen, Informationssperre. Britta hat das Gefühl, in einem surrealen Film mitzuwirken. Gleich wird sich die Dame eine Maske abziehen und sich in »Featherweight« verwandeln, jedenfalls hofft Britta das.

»Was ist los mit dir?«, fragt Knut.

Die Nachrichten haben das Thema gewechselt, es geht jetzt um eine neue Gen-Pflanze, die patentiert werden soll, eine Mischung aus Mais und Kürbis, extrem groß und extrem nahrhaft, möglicherweise das Ende des Hungers in der Dritten Welt, wie die Sprecher von Regierung und Google auf einer gemeinsamen Pressekonferenz behaupten.

»Ach, nichts.«

»Die haben rumgeschossen, voll cool, die Schwarzen so mit Leuchtbranaten und Rauchbomben und riesigen Gewehren.«

»Mama, war das ein SEK? Oder der Heimdienst?«

»Granaten«, sagt Knut. »Und Geheimdienst. Und Rumschießen ist nicht cool.«

Verstohlen holt Britta das Smartphone aus der Tasche und weckt es auf; als sie bemerkt, dass Knut es gesehen hat, steckt sie das Gerät wieder weg.

»Was ist los, Schatz?«, ruft Richard vom Flur. »Einer von deinen Patienten?«

Richard und die anderen wissen, dass gelegentlich ein Klient der Brücke »Dummheiten macht«, wie Britta es nennt. Sie tut dann ein paar Tage so, als sei sie am Boden zerstört, während alle anderen versuchen, sie zu trösten, ihr versichern, dass sie keine Schuld trägt, und an ihre exzellente Heilungsquote erinnern, die bei mehr als 90 Prozent liegt. »Es sind halt Menschen«, pflegt Richard in solchen Fällen zu sagen. »Du kannst versuchen, ihnen zu helfen, aber nicht alles liegt in deiner Macht.«

»Ich dachte kurz«, sagt Britta. »Aber ich habe mich getäuscht.«

»Kinder, wir gehen jetzt«, sagt Knut. »Wo sind deine Glotzis, Cora? Zieh dir die Schuhe an.«

Über das, was sie tatsächlich gesehen hat, kann sie mit niemandem sprechen. Außer mit Babak. Am liebsten würde sie ihn jetzt anrufen. Nach Fakten fragen. Er wird die Hintergründe längst recherchiert haben. Außerdem braucht sie Zeit zum Nachdenken, dringend, ihr platzt fast der Kopf.

Stattdessen muss sie die Gäste verabschieden und Vera ins Bett bringen. Anschließend wird Richard noch ein Glas Wein trinken und das Treffen mit Knut und Janina durchsprechen wollen. Ihre Hauskaufpläne. Ihre desaströsen Jobs.

In Brittas Kopf fahren die Gedanken Achterbahn, aber sie reißt sich zusammen, steht auf, lächelt Knut an, nimmt die zappelnde Vera auf den Arm, die mit ihren sieben Jahren schon ein richtig schweres Stück Mensch ist, sie denkt »Cargo-Bereich, warum Cargo-Bereich«, und sagt Dinge wie »Schluss jetzt, kein Theater, du hast es versprochen«, während sie noch ein wenig im Flur herumstehen, bis sich Knut und Janina sortiert, zum dritten Mal bedankt und verabschiedet haben, bis Cora endlich angezogen und das sperrige Familienwesen aus der Haustür manövriert ist. Wer kommt auf die Idee, einen Anschlag auf Gepäckstücke zu verüben? Weil man da leichter reinkommt? Tschüs, tschüs, das Auto springt an, es müsste dringend mal wieder in die Waschanlage, sie winken, bis ihre Besucher hinter der nächsten Ecke verschwunden sind.

Richard geht in die Küche zum Aufräumen, Britta mit Vera ins Bad. Wenn Besuch da war, wird sie stets vom Bedürfnis geplagt, sofort die ganze Wohnung zu putzen. Morgen kommt Henry, beruhigt sie sich selbst, es ist alles organisiert, für alles gesorgt. Als sie ihr eigenes Gesicht im Spiegel sieht, wird ihr übel.

Nicht jetzt, denkt sie, bitte, und die Übelkeit verfliegt.

Wieso waren die Behörden gleich mit großem Besteck vor Ort? Wer hat gefilmt und das Material an die Presse gegeben? Warum hat ein Täter überlebt?

Sie verhandelt mit Vera über die Anzahl von Minuten beim Zähneputzen, als ihr Handy klingelt. Unterdrückte Rufnummer. Sie nimmt den Anruf entgegen und ermahnt sich, leise zu sprechen. Bad und Küche liegen Wand an Wand, Richard hört mit.

»Guten Abend«, sagt sie.

»Wer ist das?«, ruft Richard von nebenan.

»Babak!«, ruft sie zurück.

»Schöne Grüße!«, ruft Richard.

»Bleib ganz ruhig«, sagt Babak.

»Hast du was rausgefunden?«

»Was denn rausgefunden?«, fragt Vera, den Mund voller Zahnpastaschaum.

»Lass mich kurz mit Babak reden«, sagt Britta. »Geschäftlich.«

»Wir reden jetzt gar nicht«, sagt Babak. »Ich rufe an, um dir zu sagen, dass du die Nerven behalten sollst. Wahrscheinlich hat das mit uns nicht das Geringste zu tun.«

»Hast du nicht gesehen, dass …«

»Doch, möglicherweise habe ich einen Gürtel gesehen, sicher bin ich nicht. Die Nachrichtenlage ist unübersichtlich. Bleib ruhig, mach deinen Abend mit der Familie, geh nicht ins Internet. Alles wie immer. Okay? Wir reden morgen.«

»Okay.«

»Bis morgen.«

»Jetzt hab ich aber genug geputzt.« Vera spuckt Schaum aus, rennt in die Küche, »Nacht, Papa! Küsschen!«, und flitzt über den Flur ins Kinderzimmer. Britta folgt langsamer, atmet tief durch, spürt, wie die Professionalität in ihren Körper zurückkehrt, angenehm wie die Wirkung einer leichten Droge. In der Küche hat Richard noch einmal Musik aufgedreht, sie hört Mollys Stimme durch die Wand. Full Hands Empty Hearts / It’s a Suicide World Baby.

2

Auch der nächste Tag ist strahlend, ein blank geputzter Himmel, auf dem frisch gewaschene Wölkchen stecken. Dazu leichter Wind, der schon am Morgen ungewöhnlich warm ist. Da Richard heute Vera zur Schule bringt, fährt Britta mit dem Fahrrad zur Arbeit. Sie tritt so wenig wie möglich in die Pedale, wählt einen Zick-Zack-Kurs durchs Viertel, schaut über Zäune und Hecken in die Gärten, grüßt gelegentlich einen Nachbarn, der sich entschlossen hat, das bedingungslose Grundeinkommen zum Rasenmähen und Bäumeschneiden zu verwenden. Lehndorf ist eine ruhige Gegend, Ein- und Zweifamilienhäuser, einst von den Nazis erbaut, perfekt für Kinder, ebenso hässlich und praktisch wie der Rest der Stadt. Gerade weil Britta wenig geschlafen und die ganze Nacht darauf gewartet hat, endlich mit Babak sprechen zu können, zwingt sie sich zu einem langsamen Tempo. Mentale Kontrolle, Chefin im eigenen Haus.

Als sie die Autobahn unterquert, wird sie ein wenig schneller, genießt das Fahren entlang der breiten Schneisen, schön gerade und mit großzügigen Bürgersteigen versehen, wie für Panzerparaden erbaut. In der Innenstadt sind die Straßen noch nass von den Wasserwerfern der Reinigungstrupps. An manchen Tagen liebt Britta Braunschweig, als hätte sie es selbst erfunden. Den klobigen Prunk totalitärer Prachtbauten, die aussehen wie Schlösser und in Wahrheit nur Einkaufszentren sind. Das »Deutsche Haus«, in dem sie gelegentlich Klienten unterbringt und auf dessen Fluren es irgendwie nach Sozialismus riecht. Die nicht vorhandene Aura der Stadt, eine Folge von verkehrsgerechter Entsorgung jeglicher Ästhetik. All das stellt eine Erleichterung dar im Vergleich zur klaustrophobischen Pluralität der Metropolen. Schon nach ihrem Abitur in den Nullerjahren, als es noch relativ schick war, nach Berlin zu ziehen, verspürte Britta wenig Lust auf die Hauptstadt. Es gab Werbespots, die allein darauf basierten, dass irgendjemand jung und unrasiert war und eine Wohnung im Prenzlauer Berg gemietet hatte. Damals zog Britta zum Studieren nach Leipzig, später zum Arbeiten nach Braunschweig, und inzwischen gibt der Trend ihr recht. In Scharen verlassen die Freiberufler Prenzlauer Berg, um in kriegszerstörte Mittelstädte zu ziehen, die im Geist des Rationalismus wiederaufgebaut wurden – Funktion, Konstruktion und Form.

Während Britta an einer Fahrradampel wartet, liest sie die Schlagzeilen auf den Displays, die an den Masten des Verkehrsleitsystems hängen.

Schönes Wetter hält an – Fünftes Effizienzpaket auf dem Weg in den Reichstag – Dinkel-Sesam-Stück wird Brot des Jahres – Regula Freyer auf Besuch in China.

Braunschweig passt so gut zu Britta, weil man hier irgendwie unter dem Radar fliegt. Gut durchdachte Mittelmäßigkeit, unauffälliges Durchwurschteln. Britta will eine friedliche Existenz für sich und ihre Familie, sie will ihre Arbeit machen, Verantwortung tragen, aber nur für Dinge, die sie anfassen kann. Warum sollte sie sich für den Rest zuständig fühlen? Heutzutage weiß doch niemand mehr, wofür oder wogegen er sein soll. Natürlich bauen die Besorgten Bürger eine demokratische Errungenschaft nach der anderen ab. Aber trotzdem geht es den Menschen gut, vielleicht sogar besser als früher. Bei Trumps Amtsantritt sprach man vom Untergang des Abendlands, und dann hat er nach seiner Verbrüderung mit Putin ganz nebenbei den Syrienkrieg beendet. Der amerikanische Isolationismus hat die israelische Siedlungspolitik gestoppt und damit quasi versehentlich Zwei-Staaten-Lösung und Friedensvertrag zwischen Israel und Palästina herbeigeführt. Der Wirtschaftskrieg zwischen Europa und den USA hat den Nahen Osten in einen lukrativen Absatzmarkt für amerikanische Produkte verwandelt, was die ganze Region aufblühen lässt. Auf einmal ist der islamistische Terror kein globales Problem mehr und Daesh vom Schreckgespenst der westlichen Welt auf eine Handvoll dekadenter Warlords geschrumpft.

Einstweilen haben die Leute das politische Spekulieren aufgegeben. Sie leben ihr Leben und stecken die Köpfe in den Sand, weil sie in einer Welt, in der man jemanden wie Trump nicht einfach scheiße finden kann, nichts Besseres damit anzufangen wissen.

Britta macht sich nichts vor. Sie glaubt nicht, die Entwicklungen zu verstehen, und versucht nicht, etwas besser zu wissen. Sie wohnt in einem sauberen Haus in einer sauberen Stadt und führt ein sauberes Unternehmen. Das ist ihr Beitrag. Vor langer Zeit, noch vor Gründung der Brücke, hat sie einmal einen Satz gelesen, der sich ihr eingeprägt hat: Moral ist Pflicht für die Schwachen, die Starken beherrschen die Kür.

Als sie sich dem Hauptbahnhof nähert, beginnt ihr Herz, wieder schneller zu schlagen. Seit gestern Abend unterdrückt sie den Wunsch, ihr Smartphone herauszuholen und nach weiteren Informationen zu suchen. Stattdessen hat sie sich beim Frühstück die Braunschweiger Zeitung gegriffen, die in kleiner Auflage noch immer für nostalgische Ironiker wie Richard gedruckt wird, und auf Seite drei eine knappe Meldung über die Vorgänge in Leipzig gefunden, kurz vor Redaktionsschluss ins Blatt geklemmt. Das Foto kannte sie bereits aus den Nachrichten: schwarze Uniformen in einer Halle, ein länglicher Schatten am Boden. Der Text erzählte genauso wenig wie das Bild. Zwei mutmaßliche Terroristen waren am vergangenen Abend ins Frachtterminal des Leipziger Flughafens eingedrungen, wobei sie eine Substanz mit sich führten, bei der es sich vermutlich um Sprengstoff handelte. Aufgrund eines anonymen Hinweises konnten die Sicherheitsbehörde zugreifen und das Schlimmste verhindern. Ein Täter wurde erschossen, der andere befindet sich in Untersuchungshaft. Innenministerin Wagenknecht sagte dazu, Deutschland befinde sich nach wie vor im Visier der Terroristen, es gebe Anlass zu erhöhter Wachsamkeit, aber nicht zur Panik. Man tue weiterhin alles, um die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Ein Beispiel dafür seien die erweiterten Kompetenzen für Polizei und Geheimdienste, die neben der Föderalismusreform im fünften Effizienzpaket enthalten seien.

Während Britta die Kurt-Schumacher-Straße hinunterbraust, hebt sie das Gesicht und genießt es, wie ihr der Fahrtwind die Haare nach hinten streicht. Sie ist ihrer Mutter dankbar für die Vererbung dieser Haare, dick, glatt, weizenblond, perfekt geeignet für Kurzhaarfrisuren, die man nur durchwuscheln muss, um gut auszusehen. Haare, die man nicht bürsten, Hemden, die man nicht bügeln, Staubsauger, die man nicht schieben muss – das sind Dinge, die Britta gefallen. Genau wie ein Mitarbeiter, der die ganze Nacht aufbleibt, um die aktuelle Nachrichtenlage für sie zusammenzustellen. Funktionieren ist für Britta das oberste Gesetz.

Die Kurt-Schumacher-Blöcke an der Nordwestseite des Hauptbahnhofs sind ein seltsames Viertel, sauber, aber gesichtslos. Die Wohnungen hoch gestapelt, Wäsche auf den Balkonen, in den Erdgeschossen Gewerbeeinheiten, vor allem Ärzte arabischer Herkunft, lauter Nabils, Sahids und Djawads, die röntgen, massieren, in Mund, Nase, Ohren gucken, Zähne bohren und Leberflecke ausschneiden. Ein Stück Trostlosigkeit in bester Zentrallage. Ein Beispiel für die Ghettoisierung, von der die BBB standhaft behauptet, es gäbe sie nicht.

Zwischen den Blöcken liegt eine Passage, eine Ansammlung flacher Gebäude, grau und unscheinbar, wie geschaffen für schlecht laufende Gewerbe aller Art. Britta schiebt ihr Fahrrad in einen Ständer und öffnet eine Tür, auf der ihr eigener Name klebt: »Die Brücke, Britta Söldner und Babak Hamwi«. Darunter in kleinerer Schrift: »Heilpraxis für Psychotherapie und angewandte Tiefenpsychologie, Self-Managing, Life-Coaching, Ego-Polishing« und ein paar weitere Begriffe, die mit dem, was sie wirklich machen, nicht das Geringste zu tun haben. Im Dentallabor gegenüber sitzt ein blondes Pferdeschwanzmädchen am Empfang, grüßt nicht, regt sich nicht, starrt auf seinen Bildschirm. Britta fragt sich jeden Morgen, ob die Kleine echt ist.

Drinnen riecht es nach Kaffee; von Babak keine Spur.

Wegen der umstehenden Hochhäuser ist es düster in der Praxis, wie immer brennt die Deckenbeleuchtung, trübes Neonlicht aus quadratischen Kästen, das Tages- und Jahreszeit auf grell-depressive Weise überstrahlt. Für eine Heilpraxis sind die Räume der Brücke denkbar ungeeignet, die Schaufenster zu groß, die Atmosphäre zu trüb, ein Tattoo-Studio hätte besser hierher gepasst, ein Hunde-Salon oder der nächste Humana-Second-Hand. Auf dem Boden liegt bräunlicher Teppich, die Empfangstheke haben sie von den Vorbesitzern übernommen, obwohl sie dafür keine Verwendung haben. Darüber hinaus gibt es eine Sitzgruppe, in der Britta Erstgespräche mit neuen Kandidaten führt, sowie einen großen Arbeitstisch, den nur Babak benutzt. Alles ist abgewetzt, aber klinisch rein; immerhin ist es Britta, die hier eigenhändig für Sauberkeit sorgt. Die wenig einladende Atmosphäre ist Absicht; kein Laufkunde soll dazu verleitet werden, die Räume zu betreten.

Britta beugt sich über den Arbeitstisch, auf den mit Spezialklammern ein zwei Quadratmeter großer Papierbogen befestigt ist, eine Sonderanfertigung, die Babak direkt vom Hersteller bezieht. In einer Ecke scheint das Papier beschmutzt, geht man jedoch näher heran, erkennt man, dass es von unzähligen Pünktchen in verschiedenen Farben bedeckt ist, so dicht, dass kaum Zwischenräume zu sehen sind. Bei der Brücke gibt es lange Flauten, kein Anlass zur Sorge, sondern Teil des normalen Arbeitsrhythmus. Während Britta in solchen Phasen Papierkram macht, Vera früh aus dem Hort abholt, im Garten arbeitet und an heißen Tagen das Planschbecken aufbläst, hält Babak in der Praxis die Stellung und vertreibt sich die Zeit mit Pünktchenbildern. Gemächlich zieht er die Kappe von einem Filzstift, malt ein paar Punkte, steckt die Kappe zurück und öffnet den nächsten Stift. Das Klicken der Stiftkappen hat etwas Meditatives. Es dauert Monate, bis so ein Bild fertig ist. Britta muss zugeben, dass ihr die Ergebnisse gefallen. Sie zeigen unklare Farbverläufe, ein Oszillieren von Rot über Lila nach Blau und zurück, wobei die Farben Wellen schlagen, wie Regenschleier oder Sandwirbel, die das Auge schwer fassen kann.

Im Untergeschoss rumort es. Wie alle Gewerbeeinheiten in der Kurt-Schumacher-Passage verfügt die Praxis über eine tiefer gelegene Ebene, fensterlose Räume, auf Höhe der unten vorbeibrausenden Schnellstraße gelegen. Dort gibt es Kaffeeküche, Toiletten, einen gekachelten Mehrzweckbereich sowie den gut gesicherten Serverraum, in dem Babak den größten Teil seiner Arbeitszeit verbringt.

Jetzt kommt er mit großen Schritten die Wendeltreppe herauf, einen Stapel Unterlagen in Händen, die er auf den Couchtisch fallen lässt. Während er nachdenklich darauf blickt, wischt er sich mit dem Unterarm über die Stirn. Sie kennen einander so gut, dass sie das »Hallo« vergessen. Auch wenn sie sich ein paar Stunden nicht sehen, haben sie niemals den Eindruck, getrennt zu sein. Als sie sich vor zwölf Jahren kennenlernten, war Babak fett, schwul, nerdig und aus dem Irak. Heute ist er nicht mehr fett, und für die anderen Dinge schämt er sich nicht mehr. Seiner Meinung nach hat Britta ihm das Leben gerettet, weshalb er sie vergöttert wie eine große Schwester. Wenn er aufgeregt ist, so wie heute, dann nicht, weil ihn die Ereignisse verwirren, sondern weil er sich Sorgen um Brittas Gemütszustand macht.

»Was hast du da?«

»Dossiers. Alle Informationen zum Fall.«

»In vierfacher Ausfertigung?«

»Eine für dich, eine für mich, eine für die Akten und eine für den Notfall.«

Britta muss lachen. Babak hat die ganze Nacht vor den Rechnern verbracht, sie erkennt es an den bläulichen Schatten unter seinen Augen, auch wenn er am frühen Morgen in der Praxis geduscht und ein frisches Hemd angezogen hat. Seit er sich von 125 auf 75 Kilo runtergehungert hat, behandelt er seinen Körper wie einen Wertgegenstand. Wenn er zum Essen kommt, kann er sich mit Richard stundenlang über skandinavische Herrenausstatter unterhalten, die hartnäckige Hipster-Mode verdammen und über die Form einer perfekten Schuhkappe philosophieren. Bei solchen Gelegenheiten hört Britta schweigend zu und erinnert sich daran, wie man Frauen einst dafür verspottete, kein anderes Thema als Mode zu kennen.

»Setz dich. Hier ist Kaffee.«

Babak bringt ein Tablett mit kleinen Tassen und einem Kupferkännchen, in dem er den Kaffee auf türkische Art zubereitet. Als er einschenkt, sieht Britta seine Hände zittern.

»Lass hören. Was hast du?«

»Markus Blattner und Andreas Muradow, zweiundzwanzig und fünfundzwanzig Jahre, Autoschlosser und Chemiestudent.«

»Tschetschene?«

»Deutscher. Der Name Muradow ist nicht selten.«

»Welcher ist tot?«

»Andreas.«

»Und welcher ist der Konvertit?«

»Wahrscheinlich keiner.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Wie sich die Lage darstellt, können wir nicht von einem islamistischen Hintergrund ausgehen.«

»Hat sich Daesh nicht zu dem Anschlag bekannt?«

»Die bekennen sich doch zu jeder umgefallenen Gießkanne.«

Britta seufzt.

»Die Fakten, bitte.«

»Gestern Abend drangen die beiden Männer ins Frachtterminal des Flughafens Leipzig ein, Sortierzentrum, gegen neunzehn Uhr.«

»Schichtwechsel?«

»Das Frachtkreuz operiert auch tagsüber, aber nachts beginnt das Gewusel. Markus und Andreas trugen DHL-Uniformen und hatten gefälschte Dienstausweise bei sich.«

»Also doch professionell geführt.«

Babak zuckt die Schultern. »Oder euphorische Amateure.«

»Ich dachte, ich hätte im Fernsehen einen Gürtel gesehen.«

»Du hast dich nicht getäuscht. Beide trugen Gürtel.«

»Scheiße.«

Sie schweigen. Britta trinkt ihren Kaffee aus, Babak füllt nach, gibt noch etwas mehr Zucker hinzu, rührt für sie um. Natürlich hat sie die ganze Zeit gewusst, dass es sich bei der katastrophalen Aktion um ein Selbstmordattentat handelte. Ihr Bauchgefühl war eindeutig. Keine schweren Waffen, keine Gegenwehr. Aber sie waren zu zweit, Seite an Seite, das hatte ihr ein wenig Hoffnung gegeben. Die meisten Selbstmordattentäter gehen allein.

»Wir wussten, dass das eines Tages passieren würde, nicht wahr?«, sagt Babak, und Britta nickt.

»Es war nur eine Frage der Zeit. Wirklich schlimm ist es nicht.«

Britta nickt wieder. Dann wallt die Wut in ihr auf.

»Wer war das, verdammt?« Sie schlägt beide Fäuste auf den Tisch, sodass die frisch gefüllte Kaffeetasse umfällt und den Inhalt der hübschen Zuckerdose in eine braune Masse verwandelt. Als sie bemerkt, dass Babak nicht die Treppe hinunterrennen muss, um die Sauerei zu beseitigen, sondern Lappen und Schwamm bereits unter dem Tablett bereitliegen hat, lässt sie sich im Sessel zurücksinken.

»Du bist unglaublich, Babak.«

»Was denn?« Er setzt eine treuherzige Miene auf. »Immerhin arbeiten wir mit Prognosen.«

Sie grinsen sich an.

»Mach dir keine Sorgen«, sagt Babak. »Wir kriegen das in den Griff.«

Während er wischt, hebt sie das Tablett an. Obwohl die Dossiers keine Spritzer abbekommen haben, fährt Babak mit dem Küchentuch über die Schutzumschläge. Britta zieht ihr Exemplar zu sich heran. Biographien und seitenweise Metadaten, die sie mit bloßem Auge nicht lesen kann.

»Du warst gründlich.«

Ein kurzes Lächeln erscheint auf Babaks Gesicht und verschwindet gleich wieder, er will nicht zeigen, wie sehr er sich über ein Lob von ihr freut.

»Leider wenig Brauchbares dabei«, sagt er. »Kein Traffic bei den Gruppen, keine Videos, nichts in Vorbereitung. Andreas war seit ein paar Wochen auf Facebook aktiv, tatsächlich auch mit arabischen Kontakten, ein bisschen In schah Allah und al Hamdu lillah, dazu Berge von Emoticons. Der übliche Mist von Leuten, die die Sprache nicht können. Er hat auch Videos gepostet von ein paar Predigern, auch Djihad-Kram.«

»Also doch Islam.«

»Weiß nicht. Ziemlich oberflächlich, das Ganze.«

»Tod den Kuffar?«

»Klar.«

»Und von wem kam der Tipp?«

Babak zuckt die Achseln, Britta sieht ihn nachdenklich an.

»Dir gefällt die Sache nicht.«

Abwehrend hebt Babak die Hände.

»Ich trage nur Infos zusammen.«

»Was sagt dein Gefühl?«

»Dass es nichts mit Islam zu tun hat. Vielleicht soll es so aussehen. Aber mehr auch nicht.«

Britta nickt.

»Gab es schon eine PK?«

»Soll im Lauf des Tages stattfinden. Aber die wissen sowieso nichts. Können wir vernachlässigen.«

Als sie eine Weile nichts sagen, drängt sich ein Geräusch in den Vordergrund, das Britta bislang nur unbewusst wahrgenommen hat. Ein elektrisches Brummen, begleitet vom Surren eines großen Ventilators. Es steigt aus der Öffnung der Wendeltreppe, es scheint Fußboden und Möbel zum Schwingen zu bringen, es erfüllt den gesamten Raum, vertraut und beruhigend, es ist das Betriebsgeräusch ihrer gemeinsamen Existenz.

»Lassie läuft«, sagt Britta.

»Schon die ganze Nacht.«

»Wann gibt’s Ergebnisse?«

»Jeden Moment.«

Britta blättert in ihrem Dossier. Sie hat auf mehr Fotos gehofft. Die zwei vorhandenen sind stark vergrößert, ein bisschen verwaschen, wenig aussagekräftig. Trotzdem kommt Britta einer der beiden Männer bekannt vor.

Babak zeigt die Handflächen. »Bessere Bilder konnte ich nicht finden. Man sieht die Gürtel, kann aber nicht erkennen, wie sie gepackt sind.«

»TATP?«

Wieder zuckt Babak die Achseln.

»Was sagen die Einkaufszettel?«, fragt Britta.

»Scheibletten und Zahnseide. Keiner der beiden hat etwas Relevantes gekauft.«

»Aceton und Wasserstoffperoxid gibt es in jeder Drogerie.«

»Meistens entstehen im Vorfeld trotzdem Suchbewegungen.«

»Der Tote war doch Chemiker.«

»Gürtelbau ist nicht Teil der Fachausbildung. Mit Elektrotechnik sollte man sich auch ein bisschen auskennen.«

»Könnten sie das System aus dem Ausland mitgebracht haben?«

»Sie waren nicht im Ausland. Außerdem ist TATP viel zu explosiv, um es über weite Strecken zu transportieren.«

»Oder sie haben selbst irgendeinen Mist zusammengemischt. Schließlich ist nichts hochgegangen.«

»Ich denke, der Zugriff erfolgte, bevor sie am Zielort waren. Die sind gar nicht dazu gekommen, ernst zu machen.«

»Babak, du nervst.«

»Tut mir leid, Britta, ich weiß, was du hören willst.«

»Aber du willst es nicht sagen.«

»Wir sind hier nur am Spekulieren.«

»Du glaubst nicht, dass es Einzeltäter waren. Du glaubst, sie hatten Hilfe. Sie wurden geschickt.«

Bevor Babak antworten kann, beginnt der Printer im Untergeschoss zu surren.

»Lassie liefert.«

Britta zwingt sich, sitzen zu bleiben, während Babak die Treppe hinunterläuft, um den Ausdruck zu holen. Als er wiederkommt, erhebt sie sich doch, sodass sie voreinander stehen wie bei einer Zufallsbegegnung, er mit einer einzelnen Seite in der Hand, sie mit einem Fragezeichen im Gesicht. Babak hebt das Blatt.

»Markus: 2,5. Andreas: 2,8.«

»Sag das noch mal.«

»2,5 und 2,8.«

Britta spürt, wie sie blass wird. Babaks Blick wirkt starr, als hätte sich das Gehirn dahinter abgeschaltet. Der Moment geht vorbei, sie schauen sich an. Es ist Babak, der schließlich die Sprache wiederfindet.

»Lassie meint, die wollten sich gar nicht umbringen.«

3

Eigentlich mag Britta keine Spielplätze. Es macht sie traurig zu sehen, was aus Menschen wird, die sich ausschließlich für ihre Kinder interessieren. Väter, die sich beim stundenlangen Anschubsen der Schaukel den Arm ausleiern. Mütter, die auf allen vieren durch Plastikröhren kriechen und dabei wie Schweine grunzen. Ehepaare, die voller Eifer gemeinsam eine Sandburg bauen, während die Dreijährige gelangweilt ins Leere starrt. Britta mag keine Baby-Trinkflaschen und keine Reis-Cracker. Sie findet es furchtbar zu hören, wie Frauen den halben Nachmittag darüber reden, für welche Art Hochbegabung die Launen ihrer Sprösslinge ein Zeichen sein könnten. Auch Britta liebt ihre Tochter. Aber im Gegensatz zu anderen Eltern versucht sie nicht, mit Veras Hilfe zu ersetzen, was ihnen allen verloren gegangen ist: Politik, Religion, Gemeinschaftsgefühl und der Glaube an eine bessere Welt.

Trotzdem findet sie sich alle paar Tage am Rand des Abenteuerspielplatzes im Bürgerpark wieder, mit Janina an ihrer Seite und einem Grüntee-to-go-Becher in der Hand. Richard bleibt zurzeit oft bis spät abends in der Firma, und Britta langweilt sich allein zu Hause mit Vera. Sie ist nicht gut darin, in Bilderbüchern zu blättern, Puppen zu wickeln oder im Kaufmannsladen Miniaturbrot einzukaufen. Am allerwenigsten will sie mit Mega-Melanie und Mega-Martin auf Stofftiere schießen. Da sitzt sie lieber mit Janina im Bürgerpark, sieht den beiden Mädels beim Toben und den anderen Eltern beim Eltern-Sein zu.

Janina trägt ihr langes Haar offen und liegt mit ihrem Kaffee in der Wiese, hingegossen wie eine Figur von Klimt. Britta sitzt daneben und hält sich aufrecht, um möglichst wenig von ihrem Körper mit dem Gras in Berührung zu bringen. Hinter ihr macht eine Sport-ist-öffentlich-Gruppe Yoga. Wenn sie die Arme heben und sich alle gleichzeitig nach vorn beugen, sieht es aus, als beteten sie Britta und Janina an.

»Wie geht’s Richard?«

»Er hat viel zu tun.«

»Läuft’s besser bei Swappie?«

»Nicht wirklich. Emil und Jonas benehmen sich immer noch wie Kleinkinder.«

Während Britta entspannt zur Arbeit fährt, sich auf Babak freut, mit dem sie Kaffee trinkt und den neuesten Silicon-Valley-Klatsch bespricht, muss sich Richard Tag für Tag mit eitlen Risikokapitalgebern und dem eheähnlichen Kleinkrieg seiner Kompagnons herumschlagen und macht nicht einmal Kohle dabei. An Richards Stelle wäre sie neidisch, und zwar nicht zu knapp. Die Tatsache, dass er es nicht ist, rechnet sie ihm hoch an. Er freut sich über ihren Erfolg, auch wenn er in Wahrheit keine Ahnung hat, was sie macht. Es stört ihn nicht einmal, dass sie Geld verdient und er nicht; er ist genauso liebevoll und lustig wie am ersten Tag.

»In den kommenden Tagen habe ich ein paar Auswärtstermine. Kann Vera nach der Schule zu euch?«

»Klar«, sagt Janina ohne Zögern.

Vera und Cora haben das Herumrennen inzwischen eingestellt und sind dazu übergegangen, eine groß angelegte Sandburg zu bauen, wofür sie den Sand sorgfältig nässen, um dann mithilfe von Plastikeimern Blöcke zu backen, aus denen sie das Fundament errichten. Nachdem Janina eine Weile zugesehen hat, lässt sie sich auf den Rücken sinken und schaut in den Himmel.

»Und bei dir?«, fragt Janina.

»Was bei mir?«

»Wie läuft es in der Praxis?«

»Großartig.« Was nicht gelogen ist. Schon im zweiten Quartal ist absehbar, dass sich der Umsatz gegenüber dem Vorjahr fast verdoppeln wird.

»Eigentlich komisch, oder?« Janinas Stimme klingt träge. »Je schlechter es den Leuten geht, desto besser geht es euch.«