Unterleuten - Juli Zeh - E-Book

Unterleuten E-Book

Juli Zeh

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Beschreibung

Der große Gesellschaftsroman von Juli Zeh

Manchmal kann die Idylle auch die Hölle sein. Wie das Dorf "Unterleuten" irgendwo in Brandenburg. Wer nur einen flüchtigen Blick auf das Dorf wirft, ist bezaubert von den altertümlichen Namen der Nachbargemeinden, von den schrulligen Originalen, die den Ort nach der Wende prägen, von der unberührten Natur mit den seltenen Vogelarten, von den kleinen Häusern, die sich Stadtflüchtlinge aus Berlin gerne kaufen, um sich den Traum von einem unschuldigen und unverdorbenen Leben außerhalb der Hauptstadthektik zu erfüllen. Doch als eine Investmentfirma einen Windpark in unmittelbarer Nähe der Ortschaft errichten will, brechen Streitigkeiten wieder auf, die lange Zeit unterdrückt wurden. Denn da ist nicht nur der Gegensatz zwischen den neu zugezogenen Berliner Aussteigern, die mit großstädtischer Selbstgerechtigkeit und Arroganz und wenig Sensibilität in sämtliche Fettnäpfchen der Provinz treten. Da ist auch der nach wie vor untergründig schwelende Konflikt zwischen Wendegewinnern und Wendeverlierern. Kein Wunder, dass im Dorf schon bald die Hölle los ist …

Mit „Unterleuten“ hat Juli Zeh einen großen Gesellschaftsroman über die wichtigen Fragen unserer Zeit geschrieben, der sich hochspannend wie ein Thriller liest. Gibt es im 21. Jahrhundert noch eine Moral jenseits des Eigeninteresses? Woran glauben wir? Und wie kommt es, dass immer alle nur das Beste wollen, und am Ende trotzdem Schreckliches passiert?

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Zum Buch

Manchmal kann die Idylle auch die Hölle sein. Wie das Dorf »Unterleuten« irgendwo in Brandenburg. Wer nur einen flüchtigen Blick auf das Dorf wirft, ist bezaubert von den altertümlichen Namen der Nachbargemeinden, von den schrulligen Originalen, die den Ort nach der Wende prägen, von der unberührten Natur mit den seltenen Vogelarten, von den kleinen Häusern, die sich Stadtflüchtlinge aus Berlin gerne kaufen, um sich den Traum von einem unschuldigen und unverdorbenen Leben außerhalb der Hauptstadthektik zu erfüllen. Doch als eine Investmentfirma einen Windpark in unmittelbarer Nähe der Ortschaft errichten will, brechen Streitigkeiten wieder auf, die lange Zeit unterdrückt wurden. Denn da ist nicht nur der Gegensatz zwischen den neu zugezogenen Berliner Aussteigern, die mit großstädtischer Selbstgerechtigkeit und Arroganz und wenig Sensibilität in sämtliche Fettnäpfchen der Provinz treten. Da ist auch der nach wie vor untergründig schwelende Konflikt zwischen Wendegewinnern und Wendeverlierern. Kein Wunder, dass im Dorf schon bald die Hölle los ist …

Mit »Unterleuten« hat Juli Zeh einen großen Gesellschaftsroman über die wichtigen Fragen unserer Zeit geschrieben, der sich hochspannend wie ein Thriller liest. Gibt es im 21. Jahrhundert noch eine Moral jenseits des Eigeninteresses? Woran glauben wir? Und wie kommt es, dass immer alle nur das Beste wollen und am Ende trotzdem Schreckliches passiert? Mehr zum Roman auf www.unterleuten.de.

Zur Autorin

Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Studium des Europa- und Völkerrechts, Promotion. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman »Adler und Engel« (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis, (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015). Mehr über die Autorin auf www.julizeh.de.

JULI ZEH

UNTER

LEUTEN

Roman

Luchterhand

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Die Handlung und alle handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

© 2016 Luchterhand Literaturverlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung- und motiv: Buxdesign

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-16729-5 V008

www.luchterhand-literaturverlag.de

Für Ada

»Alles ist Wille.«

Manfred Gortz

Teil I Geliebte Babys

Unterleuten ist ein Gefängnis. Kathrin Kron-Hübschke

1 Fließ

»Das Tier hat uns in der Hand. Das ist noch schlimmer als Hitze und Gestank.« Jule schaute auf. »Ich halte das nicht mehr aus.«

»Es bringt nichts, sich aufzuregen, Liebes.« Gerhard bemühte sich, seiner Stimme einen sicheren Klang zu geben. Je hysterischer Jule wurde, desto fester klammerte er sich an die Vernunft. »Wenn man jemanden hasst, stört einen alles, was diese Person tut.«

»Du meinst, ich soll versuchen, das Tier zu lieben? Und dann wäre es in Ordnung, dass es unser Leben zerstört?«

»Ich meine, dass du dich nicht reinsteigern sollst. Durch die Aufregung schadest du nur dir selbst, und …«

Er kämpfte auf verlorenem Posten. Jule war in sich zusammengesunken und hatte zu weinen begonnen, so dass ihm nichts übrig blieb, als sich neben sie zu setzen und ihr einen Arm um die Schultern zu legen. Auf dem Schoß hielt sie die kleine Sophie, die sich in ihren Armen wand und unentwegt quengelte. Das Baby fand keine Ruhe und wachte auch nachts ständig auf, was bei der Hitze im Haus kein Wunder war. Dass Jule die Kleine ständig an die Brust presste, machte die Sache nicht besser. Seit die Feuer brannten, raubten sie sich gegenseitig den letzten Nerv.

Mit einem Hemdzipfel trocknete sich Gerhard das Gesicht. Die Haut spannte über den Knochen. In letzter Zeit vermied er den Blick in den Spiegel. Jule sah erschöpft aus, aber sein eigener Anblick war verheerend. Das lag an den zwei Jahrzehnten, die er ihr voraushatte, und an der Hagerkeit, die ihm jede Anstrengung scharf ins Gesicht schnitt.

Als Jule vor fünf Jahren zum ersten Mal in einem seiner Seminare an der Humboldt-Universität aufgetaucht war, hatte er bei ihrem Anblick spontan »Willkommen!« gesagt und nicht nur die Lehrveranstaltung, sondern gleich sein ganzes Leben gemeint. Ruhig hatte Jule zwischen den anderen Studenten gesessen, rothaarig, hellhäutig und wie von Licht umgeben, was außer ihm niemand zu bemerken schien. Ihre offenen Haare und das fließende Kleid schienen von Woodstock zu erzählen und weckten in Gerhard die Sehnsucht nach einer Epoche, die er verpasst hatte. Statt mit Blumen im Haar auf Sommerwiesen zu liegen, hatte er als junger Mensch in kommunistischen Arbeitskreisen gesessen und sich Sorgen um den Zustand der Welt gemacht. Die Frauen in seiner Umgebung waren nicht halb nackt und auf LSD, sondern steckten in dunklen Rollkragenpullovern, trugen Brillen und rauchten Kette, während sie über den Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Endphase diskutierten. Vor der Kulisse dieser Erinnerung erschien Jule als Abgesandte aus einer anderen Welt.

Jetzt blickte er auf ihren gebeugten Nacken und die bebenden Schultern und wünschte, er könnte Hitze und Gestank einfach in sich einsaugen, alle Last auf sich nehmen, um Jule und Sophie zu befreien. Es war Hochsommer, 32 Grad im Schatten, und sie saßen seit vier Tagen eingesperrt im Haus, ohne Möglichkeit, in den Garten zu gehen oder auch nur ein Fenster zu öffnen. Nicht einmal bei Nacht konnten sie lüften, weil Schaller, den Jule nur noch »das Tier« nannte, die Feuer auch nach Sonnenuntergang nicht ausgehen ließ. Wenn Gerhard sich ausmalte, wie das Tier nachts alle zwei Stunden aus dem Bett kroch, um die Feuer in Gang zu halten, begannen seine Hände vor Hass zu zittern.

»Bald kommt die Mauer, Liebes.«

Seit das Tier auf dem Nachbargrundstück eine »Autowerkstatt« betrieb – ein Begriff, der sich angesichts von Schallers Müllhalde nur in Anführungszeichen denken ließ –, hörte sich Gerhard immer häufiger mit der Stimme eines Nahost-Diplomaten reden. Jule hob das verweinte Gesicht.

»Wann?«

»Sobald das Genehmigungsverfahren abgeschlossen ist.«

»Du meinst, wenn die Scheißämter zur Vernunft gekommen sind.« Jule wurde lauter. »Wenn sie einsehen, dass sie nicht dem Tier einen Schrottplatz erlauben und uns den Sichtschutz verbieten können!«

Gerhard schüttelte den Kopf. Es brachte nichts, auf diese Weise darüber zu reden. Tatsache war, dass von der geplanten Mauer seit Monaten nicht mehr als ein metertiefer Schacht entlang der Grenze zu Schallers Grundstück existierte. In Anflügen von schwarzem Humor nannten Gerhard und Jule die brachliegende Baustelle ihren Schützengraben. Auf dem Wall entlang des Grabens wuchsen bereits Gras und Robiniensprösslinge. Die Mauer hätte ihnen den Anblick von Schallers zugemülltem Hof ersparen und die Privatheit des Gartens wiederherstellen sollen. Um effektiven Sichtschutz zu bieten, musste sie 2,40 Meter hoch sein. Das Bauamt war der Meinung, dass zwei Meter genügten. Obwohl Gerhard durch seinen neuen Job beim Vogelschutzbund über gute Beziehungen zu den Behörden verfügte, war es ihm nicht gelungen, das Verfahren zu beschleunigen.

»Gegen den Gestank würde die Mauer sowieso nicht helfen«, sagte er leise.

In den vergangenen vier Tagen hatte sich der Rauch im gesamten Garten verteilt. Die Schwaden zogen über den Schützengraben, hingen in den Himbeersträuchern, fuhren in kleinen Wirbeln durch die drei jungen Tannen, die mit der Zeit zu einem Nadelwald anwachsen würden, weil Jule jedes Jahr einen Weihnachtsbaum im Topf kaufte und ihn im Frühling in die Ecke hinter dem Geräteschuppen pflanzte. Der Rauch stieg sogar bis in die Kronen der Robinien, die das Dach um mehrere Meter überragten. Ihr kleines Paradies hatte sich mit giftigen Dämpfen vollgesogen. Trotz geschlossener Fenster und Türen war der Gestank auch in die Räume gedrungen. Es gab Momente, in denen Gerhard zu wünschen begann, sie hätten dieses Haus nicht gekauft und sich stattdessen eine einsame Jagdhütte im Wald gesucht, auf einer Lichtung, kühl, gut belüftet, ohne Nachbarn. Menschen brauchten Abstand voneinander. Gerhard hatte lange genug in Berlin gelebt, um das zu wissen. Nicht gewusst hatte er, dass selbst ein Dorf mit zweihundert Einwohnern zu eng sein konnte.

»Du weißt doch, wie die Leute hier sind. In der DDR gab es eben keine Umweltbewegung. Jeder verbrennt seinen Müll, wie es ihm passt.«

»Was der da drüben macht, ist keine Müllverbrennung«, unterbrach ihn Jule.

»Jeder bohrt Brunnen hinterm Haus, zapft das Grundwasser an, baut Schuppen im Außenbereich.« Gerhard versuchte die Flucht ins Allgemeine. »Niemand will einsehen, dass er die Unterleutner Heide nicht als Galoppstrecke für Pferde oder als Motocrossbahn benutzen kann. Dass dort Kampfläufer brüten, interessiert die Leute überhaupt nicht. Deshalb ist es so wichtig, dass der Naturschutz …«

»Es geht hier ausnahmsweise nicht um deine Kampfläufer!«, rief Jule. »Es geht darum, dass das Tier meine Tochter vergiftet!«

Weil Jule die Stimme hob, ging Sophies Quengeln erneut in Geschrei über, woraufhin Jule aufsprang und im Zimmer hin und her zu wandern begann. Gerhard konnte es nicht leiden, wenn sie »meine Tochter« sagte. Sophie war genauso seine Tochter, auch wenn er noch immer nicht begriff, wie es ihm gelungen war, etwas so Reizendes hervorzubringen. Obwohl die Kleine in vielerlei Hinsicht sein Gegenteil verkörperte, schaffte sie es trotzdem, ihm ähnlich zu sehen. Sie war eine winzige weibliche Variante seiner selbst.

»Soll ich sie mal nehmen?«

Statt zu antworten, drückte Jule das Baby noch fester an die Brust, als könnte Gerhard versuchen, es zu entführen. Auch ohne Schallers Giftfeuer war Jule in letzter Zeit schwierig gewesen. Seit Sophies Geburt vor knapp sechs Monaten litt sie unter einer Art nervöser Geistesabwesenheit. Wenn Gerhard danach fragte, antwortete sie stets, es gehe ihr gut. Dabei stand sie offensichtlich neben sich, hörte manchmal nicht, wenn er sie ansprach, schaute erst auf, wenn er lauter wurde, und blickte ihn an wie einen Fremden. Nicht, dass er ihr das übel genommen hätte. Das Stillen brachte es mit sich, dass Jule unter massivem Schlafentzug litt. In Lagern der CIA wurden Häftlinge gefoltert, indem man sie in unregelmäßigen Abständen weckte. Außerdem hatte Gerhard im Internet gelesen, dass Väter nicht selten nach der Geburt eines Babys von den Müttern zurückgewiesen würden und dass sich dieses Syndrom nach einiger Zeit von alleine gebe. An dieser These hielt er sich fest. Eines Tages würde Jule mit Stillen aufhören und wieder wie früher werden. Sie würde mit unbekümmertem Lachen abstreiten, überhaupt irgendwie »komisch« gewesen zu sein. Auf diesen Augenblick freute er sich. Gerhard liebte Sophie abgöttisch, aber er war nicht bereit, seine Frau an das Baby zu verlieren.

»Lass uns einen Ausflug machen«, sagte Gerhard. »Wir packen Sophie ein und fahren zum See. Einfach raus hier, an die frische Luft.«

»Am See sind zu viele Mücken.«

»Dann eben woandershin.«

»Und wohin?«

»Ist doch egal! In den Wald! Spazieren!«

»Auf den unbefestigten Wegen kann man den Kinderwagen nicht schieben.«

»Herrgott, Jule!«

Sie kam zurück zur Couch, setzte sich und hob das T-Shirt, um Sophie die Brust zu geben. Mit einem Schlag kehrte Ruhe ein, eine Stille, die in den Ohren brauste. Gerhard betrachtete Sophies winziges Gesicht, die zornige Miene beim Milchtrinken, die an den Wangen geballten Fäuste, mit der ganzen Kraft eines kleinen Körpers ans Leben geklammert. Einige Strähnen von Jules langen Haaren hatten sich aus dem Zopf gelöst und fielen über die nackten Beine des Babys. Jule weinte immer noch lautlos. Gelegentlich landete eine Träne auf Sophies Rücken. Der Anblick schnitt Gerhard ins Herz.

»Jule«, sagte er sanft. »Ich lasse euch ein paar Minuten allein, verschwinde in der Küche und mache uns ein schönes Ginger Ale. Einverstanden?«

Jule nickte, ohne den Kopf zu heben. Gerhard küsste sie auf den Scheitel und stand auf. Wenn sich eine Dreißigjährige entschied, ihr Leben mit einem Fünfzigjährigen zu teilen, sollte sich der Fünfzigjährige wenigstens Mühe geben.

Auf dem Weg in die Küche nahm er sich ein paar Sekunden, um das Federn der Dielen unter seinen Füßen zu genießen. Das alte Kiefernholz gab ein sattes Knarzen von sich, als hätte es hundert Jahre lang die Geräusche sämtlicher Schritte in sich bewahrt. Die Erinnerung an seinen ersten Besuch in diesem Haus stand Gerhard deutlich vor Augen. Er hatte den Flur betreten, Jule und den Makler hinter sich, und wollte gerade die Tür zum Wohnzimmer öffnen, als er plötzlich stehen blieb.

»Was ist«, hatte der Makler gefragt, »geht die Tür nicht auf?«

Gerhard hatte die Türklinke angestarrt, ein schönes Stück aus Messing, geschwungen und mit einer schneckenförmigen Verzierung am Ende. Die Klinke musste weit über hundert Jahre alt sein, und diese Erkenntnis lähmte ihn wie ein Schock. Als die Klinke an der Tür befestigt wurde, hatten die Leute, die das bezahlten, noch nichts von zwei bevorstehenden Weltkriegen gewusst. Sie hatten sich gefreut, ein frisch gebautes Haus mit allem Komfort zu beziehen. Der Türklinke hatten sie vermutlich keine besondere Beachtung geschenkt. Niemand hatte darüber nachgedacht, dass die Klinke ihre Besitzer spielend überleben würde. Für sämtliche Bewohner des Hauses war der Augenblick gekommen, in dem sie diese Klinke zum allerletzten Mal berührten. Plötzlich wollte Gerhard, dass es ihm genauso erginge. Auch er wollte eine Phase im Leben der Klinke sein, die sich nach seinem Tod immer noch an ihrem Platz befinden würde. Er wusste jetzt, dass er dieses Haus erwerben musste. Einen Neubau, in dem alles jünger war als er selbst, hätte er nicht ertragen. Er wollte kein Haus, in dem jede Scheuerleiste seinem persönlichen Gestaltungswillen folgte. Wo die Gegenstände seine Herrschaft anerkennen mussten, weil er für ihre Existenz verantwortlich war. Er wollte der Welt nichts Neues hinzufügen, sondern das Vorgefundene erhalten. Denn darin bestand die heilige Aufgabe dieser hektischen Epoche: das Bestehende gegen die psychotischen Kräfte eines überdrehten Fortschritts zu verteidigen. Als der Makler an ihm vorbeigriff, um die Wohnzimmertür zu öffnen, war Gerhards Entscheidung bereits gefallen.

Er betrat die Küche, nahm die Kanne mit Ingwer-Sud aus dem Kühlschrank und stellte sie auf die Anrichte. Die Aussicht vom Küchenfenster ging Richtung Westen. Weil ihr Anwesen das letzte im Dorf war, traf der Blick kein weiteres Haus, keinen Zaun, auch keinen Strommast oder Hochstand, überhaupt kein Anzeichen menschlicher Zivilisation, abgesehen von der Straße, die eine leichte Anhöhe hinauflief, bevor sie, schon einen guten Kilometer entfernt, im Wald verschwand. Man konnte minutenlang aus dem Fenster schauen, ohne dass der Wald ein Auto ausspuckte und auf das Dorf zurollen ließ. Am meisten liebte Gerhard die langen Reihen von Birnbäumen zu beiden Seiten der Fahrbahn. Wie man es in der Gegend häufig sah, wuchsen die Stämme nicht senkrecht, sondern nach links und rechts den Feldern zugeneigt. »Aufgeklappte Alleen« hatte Jule das Phänomen auf ihrer ersten Fahrt nach Unterleuten genannt. Bis heute hatte ihnen niemand die Frage beantworten können, ob die Bäume von der sich aufwölbenden Asphaltdecke nach außen gedrückt wurden oder ob man sie absichtlich so gepflanzt hatte, damit weniger Früchte auf die Fahrbahn fielen.

Auf der anderen Seite des Waldstücks ging die Birnenallee weiter, vernetzte sich mit anderen Straßen, Apfelalleen, Pflaumenalleen, Kirschalleen, Mirabellenalleen, und so reiften im ganzen Landkreis abertausend Tonnen Obst heran, wurden prächtig und schwer, bis sie im Herbst herunterfielen und an den Straßenrändern verrotteten, weil es der Natur gleichgültig war, ob der Mensch ihre Produkte brauchte oder nicht. Noch waren die Birnen klein und grün, aber es war abzusehen, dass die Bäume in zwei Monaten unter der Last ihrer Früchte schier zusammenbrechen würden. Im April und Mai hatte es viel geregnet; nun herrschte seit Wochen Trockenheit, die Hitze lag wie ein unsichtbarer Deckel auf der Landschaft. Der Weizen stand hoch und wurde vom leichten Wind in Wellen bewegt wie die Oberfläche eines Sees. In Unterleuten ging fast immer ein leichter Wind. Er stand im Osten, also dort, wo sich Schallers Grundstück befand. Wo die Feuer brannten.

Gerhard füllte zwei Gläser zur Hälfte mit Ingwer-Sud. Er nahm Eiswürfel aus dem Gefrierschrank und schnitt eine Orange in Scheiben.

Mit Jule war er sich schnell einig gewesen. Auch ihr hatte der einstöckige Ziegelbau mit grünen Fensterläden und großem Dach sofort gefallen. Dazu die Randlage, fünftausend Quadratmeter Gartenland, eine alte Linde, die den Eingang überschattete. Der günstige Preis hatte sie überrascht. Berlin lag nur eine Stunde entfernt und war doch weiter weg als der Mond. Die Angst, das urbane Leben zu vermissen, geriet bald in Vergessenheit, ebenso wie Jules Pläne, dreimal pro Woche in die Stadt zu pendeln, um eine Promotion über die destruktiven Auswirkungen des kapitalistischen Glücksversprechens zu schreiben. Stattdessen stürzte sich Jule in die Aufgabe, die bröckelnde Idylle in eine blühende Landschaft zu verwandeln. Während sich Gerhard in seine neue Rolle als Vogelschützer einfand und die Kollegen vom Naturschutz langsam überzeugte, dass ein habilitierter Soziologe vielleicht überqualifiziert, aber nicht komplett unfähig war, rodete Jule in abgeschnittenen Jeans und verschwitztem T-Shirt den Garten mit einer Sense.

Ihr gemeinsamer Plan, die Stadt zu verlassen, war relativ spontan entstanden und hatte sich doch schon vor Jahren abgezeichnet. Für Gerhard hatte der Umzug aufs Land eine Kündigungserklärung dargestellt. Er kündigte nicht nur seinen Job, sondern auch die Mitgliedschaft in einer Gesellschaft, in der es nur noch darum ging, beim großen Ausverkauf der Werte die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen.

Als früher Anhänger der Umweltbewegung hatte Gerhard politisches Engagement immer als natürlichen Zustand empfunden. In Gorleben hatte er zu den Aktivisten der ersten Stunde gehört. Er hatte volle 33 Tage in der neu ausgerufenen »Republik Freies Wendland« verbracht und sich von Helmut Schmidts Polizisten vom besetzten Gelände tragen lassen. Er fuhr zur Gründung der Grünen nach Karlsruhe, zog nach der Wende sofort nach Berlin und verpasste keinen Castor-Transport. Er hatte eine Feministin geheiratet, die keine Kinder wollte und sich bald wieder von ihm scheiden ließ. Er hatte über die »Topographie des Aufstands« habilitiert, auf den Ruf in irgendeine kleine Universitätsstadt verzichtet und lieber zwanzig Jahre lang als unterbezahlter Dozent am Berliner Institut für Sozialwissenschaften gearbeitet, wo er junge Leute auf ihrem Weg zum kritischen Bewusstsein unterstützen wollte.

An seinem 45. Geburtstag schien es Gerhard, als stünde er allein auf einem Schlachtfeld, das alle anderen verlassen hatten, um für den nächsten Stadtmarathon zu trainieren. Umweltschutz war eine Angelegenheit für Unternehmensberater geworden, und die restliche Politik wurde zwischen Sachzwangverwaltung und Spektakeljournalismus zerrieben. Mit zunehmender Fassungslosigkeit blickte er in die Gesichter seiner Studenten, in denen sich Angst und Erwartung zu seltsamer Leere paarten. Der Bologna-Prozess hatte aus der Universität ein Trainingscamp für Menschen gemacht, die sich bereits seit dem Kindergarten um das Design ihrer Lebensläufe sorgten. Gerhards Kollegen waren freundlich, sportlich und stets mit allem einverstanden. Sie hatten Familien, aßen mittags Salat und tranken auf Abendveranstaltungen höchstens ein Glas Bier, bevor sie um halb elf nach Hause gingen.

Wenn Gerhard bei solchen Gelegenheiten versuchte, ein politisches Gespräch in Gang zu bringen, wurde er misstrauisch beäugt wie ein verwirrter Greis. Am liebsten sprach er davon, dass das Drama der modernen Politik im fanatischen Streben der Menschen nach Veränderung liege. Die Menschen von heute konnten nichts lassen, wie es war, auch das Gute nicht. Wenn etwas funktionierte, machten sie es mit ihrer Änderungswut kaputt, bis es wieder Probleme gab, mit deren Lösung sie sich profilieren konnten. Sein berühmtes Mephisto-Zitat, pflegte Gerhard zu rufen, habe Goethe schlichtweg falsch herum formuliert. Das Teuflische des Menschen liege zweifellos in jener Kraft, die stets das Gute will und dann das Böse schafft.

Während seinen Zuhörern das Unbehagen in die Gesichter geschrieben stand, redete sich Gerhard in Rage. Ein Universitätssystem, auf das die ganze Welt neidisch gewesen war? Abgeschafft für ein paar Credits und Exzellenzinitiativen! Das große Projekt der europäischen Versöhnung? Eingetauscht gegen eine Zentralmacht mit Demokratiedefizit, die den kleinen Bauern das Saatgut verbot und den Finanzmärkten das Spekulieren erlaubte. Flughäfen mussten zusammengelegt, Bahnhöfe saniert, Städte untertunnelt und freie Flächen in Einkaufscenter verwandelt werden. Alles sollte immerzu wachsen und streben, auch wenn niemand mehr wusste, in welche Richtung es eigentlich ging. Das dritte Glas Rotwein in der Hand, verkündete Gerhard, man brauche heutzutage keine Helden des Umsturzes, sondern Helden der Bewahrung, die sinnlose Veränderungen bekämpften.

Spätestens an dieser Stelle begann die Gruppe, die ihm zuhörte, zu erodieren. Wenn Gerhard fragte, ob man nicht hier und jetzt eine Aktionsgruppe gegen die Studienreform gründen wolle, trug der letzte Zuhörer sein Mineralwasser in einen anderen Raum.

Außer Gerhard schien niemand mehr zu glauben, dass Glück im gemeinsamen Kampf für eine gute Sache liege. Stattdessen suchten alle ihr Heil im Training von Körper und Geist. Gerhard fühlte sich umgeben von Athleten. Bildungsathleten, Berufsathleten, Liebesathleten, Lebensathleten. Im Kampf hatte man sich stets als Teil einer Gruppe gefühlt; das Training machte einsam. Immerzu gingen die Menschen nach Hause, zur Familie, zum Sport, zu ihrem Facebook-Profil. Gerhard fühlte sich zurückgelassen, mit hängenden Armen zuschauend, wie alle anderen in verschiedene Richtungen auseinanderliefen.

An seine letzten Uni-Jahre erinnerte er sich mit Schaudern. Während er jetzt in seiner Küche stand und Orangen und Eiswürfel zu einer knirschenden Masse zerstampfte, dachte er daran, wie er damals an der eigenen Fakultät, in der eigenen Stadt, im eigenen Land zum Fremden geworden war. Die Anstrengungen anderer Menschen waren ihm erst übertrieben, dann lächerlich und schließlich gefährlich erschienen. Er hatte aufgehört, sich anzustrengen. Auf der Arbeit hatte er nicht mehr versucht, erfolgreich zu sein, in der Kneipe nicht, sich zu amüsieren, und im Theater nicht, das gezeigte Stück zu mögen. Kollegen und Freunde fanden ihn seltsam. Gerhard wusste, dass ihm nur die Wahl zwischen Verbitterung und Neuanfang blieb. Mit Verbitterung begann er sich auszukennen. Wie ein Neuanfang funktionieren sollte, war ihm schleierhaft. Dann kam Jule.

Einen Augenblick lauschte Gerhard ins Wohnzimmer hinüber und registrierte erleichtert, dass noch immer kein Laut zu hören war. Das war ein gutes Zeichen, denn es bedeutete, dass Sophie trank. Wenn das Baby die Brust verweigerte, geriet Jule endgültig außer sich. Gerhard verteilte Orangen und Eis auf die Gläser und füllte den verbleibenden Platz mit Selters. Als die fertigen Getränke vor ihm standen, verspürte er plötzlich solchen Durst, dass er beide hinunterstürzte und mit der Zubereitung noch einmal von vorn begann.

In der dritten Semesterwoche war Jule nach dem Gesellschaftsdiagnosen-Seminar auch noch in Gerhards Transparenz-Workshop aufgetaucht, hatte sich für die verspätete Einschreibung entschuldigt und gefragt, ob sie noch teilnehmen könne. Sie kam in seine Sprechstunde, um ein Referatsthema abzustimmen. Sie ging in die gleiche Cafeteria wie er, saß am Nebentisch und grüßte mit einem Nicken.

Bei einem öffentlichen Vortrag des ewigen Münkler entdeckte er sie im Publikum und traf sie anschließend in einer Gruppe wieder, die noch auf einen Absacker gehen wollte. In der Kneipe saß Jule neben ihm und erklärte, dass Münkler nicht nur hoffnungslos überschätzt, sondern ein veritabler Vollidiot sei. Spätestens in diesem Augenblick wusste Gerhard, dass sie die Frau seines Lebens war. Als Jule den Tisch verließ und auf die winzige Tanzfläche ging, verzichtete er darauf, sie zu begleiten und zwischen lauter Studenten gegen seine fünfzig Jahre anzuzappeln. Einer Frau wie Jule musste er nichts beweisen. Er konnte in Frieden sitzen bleiben und zusehen, wie sie sich bewegte, mit geschlossenen Augen und dezenten Gesten, die nicht dazu gedacht waren, einem Publikum zu gefallen.

Sie hatten sich nie als »Professor und Studentin« gefühlt, obwohl sie natürlich genau das waren. Innerhalb des kleinen Universums der Universität bildeten sie einen wandelnden Skandal – der scharfzüngige, etwas kantige, aber immer noch gutaussehende Dozent und die junge, weiche, rothaarige Schöne. Aber darum ging es nicht. Sie hatten im wörtlichen Sinn etwas füreinander übrig. Für Jule war Gerhards Furor ein Mittel gegen die drohende Informationsnarkose des frühen 21. Jahrhunderts. Für Gerhard war Jule der lebende Beweis, dass Begreifen keine Voraussetzung für Lieben darstellte. Gemeinsam konnten sie tun, wovon andere nur träumten: die Dinge hinter sich lassen, statt an ihnen zu verzweifeln. Und eine große Summe von Dingen – das war die Stadt.

Als Gerhard durch einen ehemaligen Kollegen und Hobby-Ornithologen, der regelmäßig zum Beobachten der Kampfläufer in die Unterleutner Heide fuhr, von einer offenen Stelle beim Vogelschutz hörte, hatte er gleich gewusst, dass dies sein letzter Weckruf war. Der Umzug aufs Land stellte kein Problem, sondern die Lösung dar. Auch der Name des Orts, in dem sich die Vogelschutzstation befand, war Programm: Seelenheil. Von Unterleuten fuhr man kaum zehn Minuten mit dem Auto.

Zwei Jahre später hatten die neuen Himbeersträucher im Garten bereits reichlich getragen. An allen vier Hausecken blühten Glyzinien, und Gerhard hatte ein Gemüsebeet angelegt, in dem ein paar Reihen Bohnen, Zwiebeln und Möhren gegen die gärtnerische Ahnungslosigkeit ihrer Besitzer kämpften. Als der Garten begann, einer Ecke des Paradieses zu gleichen, wurde Jule schwanger. Wenn sie abends vor dem Haus saßen, sprachen sie manchmal über die Idee, auch noch das angrenzende Grundstück zu erwerben. Es wurde nur durch einen wackeligen Drahtzaun von ihrem eigenen Garten getrennt und beherbergte einen kleinen, seit langer Zeit leer stehenden Hof, ein würfelförmiges Wohnhaus mit halb verfallenen Nebengebäuden. Das Grundstück besaß wenig Charme, aber Jule mochte den Gedanken, die Gebäude abzureißen und auf diese Weise den Garten zu erweitern. Ein Mensch konnte niemals genug Land besitzen – so viel hatte sie ihre neue Existenz im provinziellen Paralleluniversum bereits gelehrt. Gerhard hatte nichts dagegen. Erst das Baby, dann expandieren, sagte er, und sie lachten.

Jules Bauch wölbte sich schon, als Gerhard eines Abends während der Gartenarbeit sah, wie drüben ein Mann im Hof umherging, Zigaretten rauchte und die Kippen auf den Boden warf. Der Mann war fett, aber nicht schwammig, jede Bewegung verriet, dass sein voluminöser Körper Kraft besaß. Gerhards vorsichtigen Gruß erwiderte er erst nach sekundenlangem dumpfem Starren, als müsste er überlegen, was eine erhobene Hand zu bedeuten hatte. Arme und Rücken waren stark behaart. Zwei Wochen später fuhr ein schäbiger Transporter mit Anhänger vor und kehrte immer wieder zurück, mehrmals täglich, viele Tage hintereinander, auch am Wochenende. Der dicke Kerl lud Unmengen von Schrott aus, den er nach einem unergründlichen System im Hof verteilte. Mehr als knappes Nicken und widerwilliges Knurren war ihm nicht zu entlocken. Gerhard und Jule fragten sich, ob er vielleicht nicht recht bei Sinnen sei. Wenn er nicht gerade seinen Schrott sortierte, saß er auf einer Planke, die quer über zwei Ölfässern lag, trank Bier aus der Dose und sah vor sich hin.

Schon nach wenigen Tagen verlor Jule die Lust, in den Garten zu gehen.

»Der hockt da drüben und starrt mich an«, pflegte sie zu sagen. Auch wenn Gerhard immer wieder versicherte, dass der neue Nachbar keinerlei Interesse an Jule oder Gerhard zeige, dass er gewiss nur ins Leere blicke, vielleicht sogar extrem kurzsichtig sei, hörte Jule nicht auf, sich beobachtet zu fühlen. Umgekehrt war der Anblick des Nachbargrundstücks kaum zu ertragen, er folterte die Sinne wie ein anhaltender schriller Schrei. Ein bizarres Durcheinander aus Wrackteilen, rostigen Ölfässern, Plastikplanen, Schläuchen, Werkzeugen, Kanistern und leeren Bierflaschen. Am Boden in den Schlamm getretenes Gras. Dazwischen erinnerten undefinierbare Kleidungsstücke, vom Regen aufgeweicht und von der Sonne zu Häufchen getrocknet, an totgefahrene Tiere. Draußen entlang der Straße parkte eine Reihe von wechselnden Autos, das eine ohne Kotflügel, das andere ohne Räder, die meisten mit polnischen Kennzeichen. Gelegentlich war auch ein fabrikneuer Audi ohne Zulassung dabei.

Schaller war eine Katastrophe. Er war Gerhards und Jules persönliches Armageddon. Trotzdem glaubte Gerhard, dass es das Beste war, sich möglichst wenig aufzuregen. In den fünfzig Jahren seines Lebens hatte er gelernt, dass Kampf niemals zum Frieden führte. Schaller war ein Schicksal, das man akzeptieren musste, bevor man beginnen konnte, es vorsichtig zu domestizieren.

So weit die Theorie. Die Praxis war schwer zu ertragen.

Im Wohnzimmer begann Sophie wieder zu jammern. Gerhard blieb im Flur stehen, ein Glas Ginger Ale in jeder Hand, schloss die Augen und unterdrückte den Impuls, die Getränke zurück in die Küche zu bringen und das Haus durch die Hintertür zu verlassen. Obwohl er sich für den Rest der Woche frei genommen hatte, um Jule beizustehen, verspürte er unbändige Lust, zur Arbeit zu gehen. Es gab immer etwas zu tun; er konnte die Beobachtungstürme kontrollieren, einen Fachaufsatz über das Brutverhalten der Kampfläufer überarbeiten, Ordnung in die Datenbanken mit den Bestandsinformationen bringen oder überprüfen, ob der Brief mit der Abmahnung an die Pferdezüchter schon zugestellt worden war. Sehnsüchtig dachte er an die Stille seines Büros, an die geöffneten Fenster, an das Klappern der Störche, die den Turm der leer stehenden Kirche anflogen, um drei Jungvögel mit Nahrung zu versorgen. Der Job in Seelenheil, Naturschutzbehörde Plausitz, Unterabteilung Vogelschutz, Außenstelle Unterleutner Heide, hatte sich in jeder Hinsicht als Glücksfall erwiesen. Im Wesentlichen hatte Gerhard 33 Kampfläufer zu betreuen, paläarktische Schnepfenvögel, die in Deutschland bis auf den hiesigen Bestand praktisch ausgestorben waren. Zwar hatte er anfangs keine Ahnung vom Vogelschutz gehabt; dafür war er in zwei Jahrzehnten an einem geisteswissenschaftlichen Lehrstuhl zum Experten im Beantragen von Fördermitteln geworden. Als die neuen Kollegen erkannten, mit welcher Leichtigkeit er EU-Dokumente ausfüllte und Antragsbegründungen formulierte, hatten sie schnell begonnen, ihn zu lieben. Außerdem hatte er unter www.vogelschutzbund-unterleuten.de eine Website ins Leben gerufen und pflegte sie regelmäßig. Vor allem aber traf sich die Berufspraxis auf wundersame Weise mit Gerhards politischen Neigungen. Bauvorhaben in der Region besaßen grundsätzlich naturschutzrechtliche Relevanz. Jede Errichtung einer Biogasanlage, jeder Ausbau einer Straße, die Abholzung von Waldstücken, Planung von Tankstellen, Sportflughäfen oder Schweineställen – alles ging über die Schreibtische der Naturschutzbehörde. Wurde ein Vorhaben nicht offiziell gemeldet, bekam Gerhard auf andere Weise Wind davon und konnte sich einschalten, um das Schlimmste zu verhindern. Im Auftrag der Kampfläufer und der gewaltigen Populationen von ziehenden Gänsen und Kranichen, die zweimal im Jahr in der Unterleutner Heide Station machten, setzte Gerhard der fatalen Fortschritts- und Wachstumsideologie etwas entgegen. Er war stolz darauf, in den ersten drei Jahren als Vogelschützer siebzehn Bauvorhaben verhindert und elf weitere mit einschränkenden Auflagen versehen zu haben. Schallers »Autowerkstatt« hätte er auch dann zur Anzeige gebracht, wenn sie sich nicht auf dem Nachbargrundstück befunden hätte. Leider konnten auch gute Beziehungen zu den Ämtern nichts daran ändern, dass es sich bei Unterleuten um sogenanntes Mischgebiet handelte, das den Betrieb von Kleingewerben erlaubte. Das Naturschutzgebiet begann erst hinter dem Ortsschild. Erst als Schaller begonnen hatte, das Dach seiner Scheune abzudecken, hatte Gerhard ihn drangekriegt.

Sophies Weinen im Wohnzimmer steigerte sich von Unzufriedenheit über Wut bis zur schieren Verzweiflung. Gerhard seufzte, gab sich einen Ruck und ging, ein Glas Ginger Ale in jeder Hand, den Flur hinunter. Die angelehnte Tür stieß er mit der Schulter auf. Jule war von der Couch aufgestanden, ging mit Sophie vor dem Fenster auf und ab und machte »sch-sch«, während sie das Baby rhythmisch in den Armen hüpfen ließ, was die Kleine offensichtlich nicht im Geringsten beruhigte. Gerhard zwang sich, mit ruhigen Schritten durch den Raum zu gehen und die Gläser auf dem Couchtisch abzustellen. Dann trat er auf Jule zu.

»Wir sollten sie ins Bettchen legen«, sagte er. »Sie ist total übermüdet.«

»Sie schreit, weil ihre Schleimhäute gereizt sind von den giftigen Dämpfen. Sie reibt sich die Augen! Ihre Nase läuft! Sie ist ganz rot!«

»Das kommt vom Weinen«, sagte er. »Die Luft hier drin ist nicht so schlimm.«

Gerhard trat Jule in den Weg und streckte die Arme aus.

»Gib sie mir mal.«

»Lass.«

»Komm. Ich trage sie ein bisschen.«

»Das mach ich doch schon. Siehst du das nicht? Ich trage sie. Hin und her. Nicht nur jetzt, sondern auch, während du weg bist. Glaubst du, dass du sie besser tragen kannst?«

»Natürlich nicht, Jule.«

»Du gehst in dein Büro, öffnest die Fenster und setzt dich an den Schreibtisch. Oder machst einen schönen Rundgang durchs Naturschutzgebiet. Ich bin den ganzen Tag hier. Mit Sophie. In dieser Sauna. Ich trage sie. Tag und Nacht. Verstehst du?«

»Du lässt dir ja nicht helfen!«

»Ach so! Sophie ist meine Zuständigkeit, und du hilfst von Zeit zu Zeit ein bisschen?«

»Ich formuliere neu: Du lässt mich nichts tun.«

»Du kannst gern etwas tun.«

»Und was?«

»Ruf die Polizei.«

Gerhard schüttelte den Kopf.

»Das haben wir doch schon hinter uns.«

Am zweiten Tag der Befeuerung, als langsam klar wurde, dass es sich nicht um vorübergehende Müllverbrennung, sondern um eine gezielte Aktion handelte, hatte Gerhard seinen Vorgesetzten bei der Naturschutzbehörde in Plausitz angerufen. Der hatte ihn ans Ordnungsamt verwiesen, wo man erklärte, dass man unterbesetzt sei und nicht jederzeit einen Beamten in die Außengebiete schicken könne. Als Nächstes versuchte Gerhard es bei der Polizei, die ihn zurück ans Ordnungsamt verwies. Er wurde wütend, verlangte sofortiges Eingreifen und drohte mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde.

Gegen acht am Abend hatte es plötzlich an der Tür geklingelt. Vor dem Haus parkte ein Streifenwagen, zwei picklige Jungen in Uniform standen auf der Fußmatte. Gerhard blickte zur Grundstücksgrenze. Dort brannte kein Feuer. Nicht der kleinste Funken war zu sehen. Das Problem habe sich wohl bereits gelöst, sagten die Jungen und tippten sich an die Mützen. Gerhard stammelte einen Dank und sah dem abfahrenden Streifenwagen hinterher. Das Fahrzeug war noch nicht außer Sichtweite, als Schaller nebenan mehrere Autoreifen zur Grundstücksgrenze trug. Kurz darauf hantierte er mit einem Benzinkanister.

»Erinnerst du dich an unseren kleinen Katalog mit Unterleutner Verhaltensregeln?«, fragte Gerhard. »Eins: Wenn du auf eine Party mit fünfzig Gästen kommst, gib jedem einzelnen die Hand. Zwei: Wenn dich jemand beleidigt, ist das nett gemeint. Drei: Probleme löst man nicht mit der Polizei.«

»Dann verklag das Tier!«

»Bis wir eine Unterlassungsverfügung kriegen, sind wir halb erstickt. Die Verfügung wird zugestellt, Schaller schmeißt sie weg. Sie verhängen ein Ordnungsgeld, Schaller zahlt nicht. Der Gerichtsvollzieher kommt. Es gibt nichts zu pfänden. Schaller wird …«

»Stopp!«

Jule schrie so laut, dass Sophie vor Schreck verstummte. Mit einem Ausdruck tiefer Verwunderung blickte sie ihre Mutter an und schob drei Finger in den Mund, um daran zu lutschen. Trotz allem musste Gerhard lächeln. Er fasste Jule am Ellenbogen und führte sie zur Couch. Als sie saß, drückte er ihr ein Glas Ginger Ale in die Hand und wartete, bis sie widerwillig mit ihm anstieß. Obwohl die Flüssigkeit eiskalt war, wärmte der Ingwer Mund und Rachen. Gerhard mochte den Effekt.

Eine Weile schwiegen sie, Zeit, die Jule brauchte, um einzusehen, dass er recht hatte. Dörfer wie Unterleuten hatten die DDR überlebt und wussten, wie man sich den Staat vom Leibe hielt. Die Unterleutner lösten Probleme auf ihre Weise. Sie lösten sie unter sich.

Ein leises Schnarchgeräusch unterstrich die Tatsache, dass seit mindestens zwei Minuten kein Kindergeschrei zu hören war. Sophie hing rücklings über Jules Arm, die kleinen Fäuste neben den Wangen geballt, das Gesicht rot und verschwitzt vom Weinen. Eingeschlafen im Zustand äußerster Erschöpfung. Auch Jule war tiefer in die Kissen gerutscht, sie lag mehr auf dem Sofa, als dass sie saß. Gerhard beugte sich über sie, hob ihre Füße auf die Couch, löste das Zopfgummi, so dass sich das rötliche Haar auf den Polstern ausbreiten konnte, und bettete ihren Kopf auf die Armlehne. Aus glasigen Augen sah sie zu ihm herauf.

»Es kann nicht sein, dass wir nichts tun können«, murmelte sie.

Gerhard nickte und strich ihr beruhigend über die Stirn.

»Keine Sorge, Liebes. Wir werden etwas tun.«

Dass die Polizei nicht in Frage kam und Schaller für Gespräche nicht zur Verfügung stand, hieß noch lange nicht, dass es keine Möglichkeit gab, sich zu wehren. Als Soziologe hatte sich Gerhard von Anfang an für die dörflichen Beziehungen interessiert, und drei Jahre waren lang genug, um etwas darüber zu lernen. Obwohl Unterleuten keine hundert Kilometer von Berlin entfernt lag, hätte es sich in sozialanthropologischer Hinsicht genauso gut auf der anderen Seite des Planeten befinden können. Unbemerkt von Politik, Presse und Wissenschaft existierte hier eine halb-anarchische, fast komplett auf sich gestellte Lebensform, eine Art vorstaatlicher Tauschgesellschaft, unfreiwillig subversiv, fernab vom Zugriff des Staates, vergessen, missachtet und deshalb auf seltsame Weise frei. Ein gesellschaftstheoretisches, nein, gesellschaftspraktisches Paralleluniversum. Geld spielte eine geringere Rolle als die Frage, wer wem einen Gefallen schuldete. Um in diesem System etwas zu bewegen, musste man Teil des Systems werden. Gerhard brauchte Verbündete. Mit anderen Worten: Schuldner. Heute Abend war Dorfversammlung. Ungewöhnlicherweise hatte Bürgermeister Arne auf dem Einladungsschreiben den Gegenstand des Treffens mit keinem Wort erwähnt. 18 Uhr, Märkischer Landmann, das war alles. Das Treffen war sogar auf www.maerkischer-landmann-unterleuten.de angekündigt, allerdings auch ohne nähere Informationen. Gleichgültig, worum es ging – Gerhard würde nach einer Gelegenheit Ausschau halten, sein Problem zur Sprache zu bringen.

»Weißt du, was?«

Jule schlief schon halb, sie hatte die Augen geschlossen, ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden. Gerhard beugte sich über sie, um zu verstehen, was sie sagte.

»Was, mein Schatz?«

»Am besten, du bringst das Tier einfach um.«

2 Franzen

Früh um sieben fiel das Sonnenlicht bereits mit voller Kraft in die Küche. Der Garten stand reglos, als wäre der Wind noch nicht erfunden. Hoch über den Kronen der alten Bäume flitzte eine Armee von Schwalben am blauen Himmel. Es regnete so selten in Unterleuten, dass Linda sich manchmal fragte, ob ihr das gute Wetter irgendwann auf die Nerven gehen würde. Die Tage waren trocken, die Nächte sternenklar. Selbst im Juli, wenn die Nächte einen hellen Rand besaßen, war es völlig normal, die Milchstraße zu sehen.

Linda stand an der wackligen Spüle und löffelte Kaffeepulver in eine große Tasse. Auf einem Hocker summte der Wasserkocher. Die Kücheneinrichtung hatten Frederik und sie in Kategorie C eingestuft. A bedeutete »dringend anschaffen«. B hieß »möglichst in diesem, spätestens im nächsten Jahr«. C-Sachen gehörten in eine Zukunft, die in abstrakter Ferne lag. Momentan gab es eine Mikrowelle, zwei Camping-Kochplatten und einen funktionierenden Kühlschrank mit Gefrierfach. Weder Linda noch Frederik waren jemals begabte Köche gewesen. Ihr Überleben verdankten sie Bofrost.

Lindas Unterarm zitterte, als sie den Wasserkocher anhob, um den Kaffee in der Tasse aufzugießen. Wie jeden Morgen steckte ihr Körper in einem Korsett aus Muskelkater, das die kleinste Bewegung zu einer Herausforderung machte. Als hätten Putzabschlagen und Fensterschleifen sämtliche Sehnen im Leib verkürzt. Der Schmerz machte ihr nichts aus, im Gegenteil begrüßte sie ihn als Beweis dafür, dass sie das Richtige tat, und zwar mit vollem Einsatz. Außerdem war er ein Ansporn, denn er verschwand, sobald sie sich wieder an die Arbeit machte.

Die erste halbe Stunde des Tages verbrachte sie damit, ihren Kaffee zu trinken und auf den Postboten zu warten. Weil Unterleuten die erste Station auf seiner Rundreise über die Dörfer darstellte, erschien er regelmäßig um halb acht an der Tür. Meistens hatte er ein Paket für Linda dabei, für das er eine Unterschrift brauchte. Amazon schickte große Pappkartons voller Handtücher, Farbdosen, Blumentöpfe oder Schleifpapier, einen in Popcorn verpackten Staubsauger oder eine elend schwere Lieferung Schrauben und Nägel in verschiedenen Größen. Das nächste Einkaufszentrum mit Drogerie und Baumarkt lag vierzig Autominuten entfernt.

Der Postbote war nicht älter als dreißig und trug eine Irokesenfrisur. Während Linda im Türrahmen lehnte und darauf wartete, dass er ihren Namen in den kleinen Computer tippte, warf er verstohlene Blicke auf ihre nackten Beine und das karierte Hemd, das sie mit über der Brust verschränkten Armen zusammenhielt.

»Ausgeschlafen?«, fragte er jedes Mal, wenn er ihr das Display entgegenhielt, und Linda sagte »ja«, weil sie es grundsätzlich mochte, Fragen mit Ja zu beantworten.

»Heute spür ich wieder die Bandscheiben«, sagte er zum Abschied und fügte, schon im Gehen, hinzu: »Aber irgendwas ist ja immer.«

Weil Frederik es hasste, um diese Uhrzeit geweckt zu werden, hatte Linda sich angewöhnt, das Knirschen der Reifen auf dem Schotter der Einfahrt abzuwarten und an der Tür zu sein, bevor der Postbote klingeln konnte.

Sie goss etwas Milch in den Kaffee, blies auf die Oberfläche, damit sich die Schwebeteilchen schneller senkten, und trug die Tasse ins Wohnzimmer, in dem sich außer einer Couch aus grünem Samt und einem alten Schaukelpferd keine Möbel befanden. Schräg fiel die Morgensonne durch vier hohe Fenster. Die alten Dielen glänzten wie vollgesogen mit Licht. Unter der Dachtraufe nisteten Spatzen. Um aus ihren Nestern zu kommen, ließen sie sich wie Steine vor den Fenstern herabfallen, bevor sie die Flügel ausbreiteten und sich in die Luft schwangen. In der halben Stunde, bevor der Postbote kam, saß Linda einfach nur da und dachte nach, bevor sich der Tag in einen Rausch aus Aktivitäten verwandelte. Auch Manfred Gortz, dessen Schriften sie ihr geistiges Fitnessprogramm entnahm, empfahl gezielte Ruhepausen. Wer sich zwischendurch auf die wichtigen Dinge besann, konnte den Rest des Tags frei von Zweifeln verbringen.

Drei Jahre war es nun her, dass Frederiks Bruder Timo den Sitz seiner Firma nach Berlin verlegt hatte. Frederik hatte nicht darauf gebrannt, das beschauliche Oldenburg zu verlassen, aber der Job bei Timo ließ ihm keine Wahl. Diese Entwicklung hatte Linda in ein Dilemma gestürzt. Dass eine Distanzbeziehung an ihrem ungeduldigen Pragmatismus scheitern würde, war ihr sofort klar gewesen. Fehlte ihr etwas, suchte sie Ersatz. Und sie wollte Frederik nicht ersetzen, ausgerechnet in dem Moment, da sie Spaß daran fand, mit ihm zusammenzuleben. Ihm nach Berlin zu folgen bedeutete aber, ihren wichtigsten Besitz in Oldenburg zurückzulassen. Der Schatz hieß Bergamotte, war ein vierjähriger Hengst und für Linda gewissermaßen der Sinn des Lebens. Gleich zu Beginn ihrer Ausbildung zur Pferdewirtin hatte sie miterlebt, wie das Hengstfohlen zum Ärger seines Züchters mit krummen Vorderbeinen zur Welt kam und eingeschläfert werden sollte. Sie bettelte um Bergamottes Leben, bis der Züchter ihr das Eigentum an dem Fohlen überließ; die Kosten für Futter und Unterbringung zog man ihr vom mageren Lehrlingsgehalt ab. Tagsüber schuftete Linda auf dem Gestüt, die Nächte verbrachte sie im Stutenstall. Alle drei Stunden hob sie Bergamotte, der nicht aufstehen konnte, aus dem Stroh und hielt ihn zum Trinken unter das Euter seiner Mutter. Acht Wochen und unzählige Streckverbände später stand er zum ersten Mal zitternd auf seinen stark gespreizten Beinen. Mit einem Jahr gewann er eine Prämierung auf der Oldenburger Fohlenschau. Wenn Frederik scherzhaft davon sprach, dass er wohl lernen müsse, im Schatten eines Pferds zu leben, widersprach Linda nicht.

Die Reitställe in Berliner Stadtnähe stellten für einen künftigen Zuchthengst keine angemessene Umgebung dar. Unter einer Bedingung hatte sich Linda bereit erklärt, in die Hauptstadt zu ziehen und Bergamotte auf dem Oldenburger Gestüt zurückzulassen: Sie würden so bald wie möglich eine Gelegenheit finden, das Pferd nachzuholen, und Frederik würde sie dabei unterstützen.

Da Linda in Berlin nicht auf Anhieb einen Job als Bereiterin fand, bekämpfte sie Langeweile und die Sehnsucht nach Bergamotte mit einer Geschäftsidee. Wie sich herausstellte, gab es im Berliner Raum massenhaft Problempferde, besser gesagt, Problempferdebesitzer, die keine Ahnung hatten, wie sie mit ihren vor Verwirrung schon halb gestörten Vierbeinern umgehen sollten. Kurzerhand druckte Linda Visitenkarten, auf denen sie sich »Equidentrainerin« nannte, ließ eine Homepage erstellen, fuhr die Reitställe der Umgebung ab und heftete Flyer an Schwarze Bretter. Den Rest erledigte die Mund-zu-Mund-Propaganda. Der Kundenstamm wuchs rasant, und binnen kürzester Zeit war aus der Idee eine Vollzeitbeschäftigung und aus Linda eine Pferdeflüsterin geworden.

Wenn sie abends allein in der Berliner Wohnung saß, weil sie in der Stadt keine Freunde hatte und Frederik noch nicht von der Arbeit nach Hause gekommen war, surfte sie auf Immobilienseiten, wo sie nach alten Häusern und verlassenen Höfen Ausschau hielt. Manchmal schickte sie Frederik eine besonders interessante Anzeige, und dann sendete er einen Smiley zurück, der heftig nickte und grinste.

An einem Wochenende überraschte er sie mit Ausflugsplänen, hatte den Picknickkorb gepackt und verriet nicht, wohin sie fahren würden. Unterwegs sahen sie Hasen, Füchse und Rehe auf den Feldern. Das Haus erkannte Linda sofort. Das war Nummer 108, eins ihrer Lieblingsobjekte auf ImmobilienScout24. Hölzerner Wintergarten, Stuck über den Fenstern, dazu ein seltsam geformtes Dach. Verwilderter Garten, alte Bäume. Ein Haus wie aus dem Märchen, verwunschen und fast ein bisschen bedrohlich.

Nachdem sie das Gebäude umrundet hatten, verlangte Linda, auf Frederiks Schultern gehoben zu werden, um durch die hoch gelegenen Fenster zu sehen. Sie hielt sich an der Hauswand fest, während er sich mühsam aufrichtete. Frederik war groß, aber das Gegenteil eines Sportlers. Gemeinsam mit Timo hatte er Kindheit und Jugend vor dem Computer verbracht.

Sie hatte beide Hände gegen die schmutzige Fensterscheibe gelegt und in jenen Raum geblickt, in dem sie jetzt mit ihrer Kaffeetasse saß. Während sie daran dachte, erwartete sie beinahe, ihr eigenes Gesicht am Fenster auftauchen zu sehen, wie es zwischen gewölbten Händen hereinspähte. Komischerweise war das keine unangenehme Vorstellung.

Damals hatte der Raum wie ein Gemälde gewirkt. Einsam hatte die grüne Couch auf der weiten Dielenfläche gestanden, als wartete sie seit Jahren auf die Rückkehr ihrer Besitzer. Das Schaukelpferd hatte Linda erst auf den zweiten Blick entdeckt. Es befand sich mehrere Meter entfernt in der anderen Zimmerecke. Der weiße Stoff, der seinen Körper überzog, war fadenscheinig und vergilbt, der rote Sattel zerschlissen. Aber die bernsteinfarbenen Glasaugen leuchteten wie bei einem lebendigen Tier.

Über die Entdeckung des Schaukelpferds war Linda schier außer sich geraten. Sie sprang von Frederiks Schultern und wies ihn an, einen Klimmzug am Sims zu machen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Ein Pferd, verstehst du! Das ist ein Zeichen.

Mit einem Mal stand alles fest, und Linda begriff, dass das Leben wichtige Entscheidungen ohne Rücksprache traf. Man wurde nicht gefragt. Die Freiheit des Menschen bestand in der Möglichkeit, sich zu widersetzen, um auf diese Weise wenigstens für das eigene Unglück verantwortlich zu sein. Aber Linda zog es vor, dem Schicksal zu gehorchen und glücklich zu werden. Was sie soeben durchs Fenster gesehen hatte, war ihr Schaukelpferd in ihrem Wohnzimmer in ihrem Haus. Sie musste nur noch Frederik überzeugen, ein mittelgroßes Vermögen für die Sanierung auszugeben.

Nach dem Blick durchs Fenster hatten sie noch einen Spaziergang über das Grundstück unternommen. Es gab einige Nebengebäude, die sie ausgiebig besichtigten. Getreidespeicher, Hühner- und Schweinestall, Geräteschuppen. Sie freuten sich über verrostete Eggen, Futterkrippen, Teile eines ausgeschlachteten DDR-Traktors. Linda redete ununterbrochen. Den Getreidespeicher konnte man ausbauen, hier die Box von Bergamotte, da die Sattelkammer, dort der Laufstall für die Fohlen. Dahinten der Stutentrakt. Hinter der Gartengrenze einfach nur Land, Land, Land bis zum Horizont. Vielleicht gehörte ein Teil schon dazu, wenn nicht, konnte man es kaufen oder pachten. Frederik behauptete, die majestätischen Bäume zu mögen, die respektvoll Abstand zueinander hielten. Eiche, Buche, Birke, Robinie, Ahorn. Linda stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn, weil sie wusste, dass er sich nicht im Entferntesten für Bäume interessierte. Frederik hasste die Natur, solange sie sich nicht in sanften Farben auf dem Bildschirmhintergrund seines Computers befand.

In den folgenden Wochen telefonierte Linda mit ihren Eltern, Großeltern sowie verschiedenen Tanten und Onkeln und holte sich eine Abfuhr nach der anderen für ihr angeblich völlig versponnenes Projekt. Nach weiteren Anrufen bei sieben verschiedenen Banken stand der Finanzierungsplan auch ohne Eigenkapital. Trotz Finanzkrise und historisch niedrigem Zinsniveau langte die Bank bei den Zinsen ordentlich zu. An ihrem Abenteuer würden Frederik und Linda dreißig Jahre zu tragen haben.

Natürlich hätte Frederik seinen kleinen Bruder fragen können. Timo hätte sie in seine atemberaubend große, atemberaubend unordentliche Wohnung gebeten, ein paar Flaschen Club-Mate serviert und beim Zuhören die Stirn gerunzelt, nicht aus Ärger, sondern weil das bei ihm einen Ausdruck höchster Konzentration darstellte. Hin und wieder hätte er genickt und »Das ist ja schön« oder »Kann ich gut verstehen« gesagt. Am Ende hätte er, anders als Lindas Familie, nicht gefragt, ob sie verrückt geworden sei. Er hätte es nicht als größte Schnapsidee des Jahrhunderts bezeichnet, eine Bruchbude im Niemandsland zu erwerben. Stattdessen hätte er gesagt, wie sehr er sich freue, dass sie einen Ort gefunden hatten, der ihnen gefiel. Dann hätte er wissen wollen, was die Sache kosten sollte.

Linda wusste, dass er ihnen das Geld gegeben hätte. Anstandslos und aufgerundet. Damit sie sich besser fühlten, hätte er von seinen Anwälten einen Kreditvertrag aufsetzen lassen, in dem ein symbolischer Zinssatz notiert war. Ob er die Summe wiederbekam oder nicht, wäre ihm völlig gleichgültig gewesen. Es wäre niemals zu Verstimmungen gekommen; niemals hätte er ihnen Vorhaltungen gemacht, Ansprüche erhoben oder die Leihgabe auch nur erwähnt. Die meisten Menschen besaßen komplizierte Persönlichkeiten; Timo war einfach nur nett. Außerdem verfügte er über haufenweise Geld, das ihm peinlich war. Er liebte Frederik, und Frederik liebte ihn. Ihr Leben lang hatten sie sich kaum gestritten. Trotzdem hätte es Frederiks Selbstwertgefühl endgültig in Schutt und Asche gelegt, seinen jüngeren Bruder um Hilfe zu bitten.

Frederik war neunzehn gewesen und hatte sich fürstlich in seinem Informatikstudium an der Uni Oldenburg gelangweilt, als Timo und sein bester Freund Ronny, beide gerade siebzehn geworden, eines Tages zu ihm kamen. Sie hatten die Idee zu einem Browserspiel entwickelt und wollten eine Firma gründen, um das Spiel selbst zu vertreiben. Frederik hörte lange zu, sah sich die selbstgebastelte Demo-Version an, äußerte ein paar spontane Vorschläge zur Ausgestaltung. Die Idee fand er nicht schlecht. In all den Jahren der autodidaktischen Streifzüge durch die Welt des Programmierens war ihm Timo stets dicht auf den Fersen geblieben, und Frederik musste zugeben, dass sein jüngerer Bruder im Begriff stand, ihn zu überholen. Seine Gratulation war ernst gemeint.

»Und bist du dabei?«, fragte Timo.

»Wobei?«, fragte Frederik.

»Bei unserer Firma. Als dritter Gesellschafter.«

Da erklärte Frederik von der Höhe seiner neunzehn Jahre herab, warum es sich bei der anvisierten Firma nur um ein Luftschloss handeln könne. Die großen Konzerne hätten den Markt längst unter sich aufgeteilt. Es sei undenkbar, dass sich ein paar Jugendliche mit ihren Plänen ernsthaft durchsetzen sollten, ganz egal, wie enthusiastisch sie waren. Er schloss seine Ausführungen mit dem verhängnisvollen Satz:

»Am Ende seid ihr halt nur ein paar Kinder, die gerne daddeln.«

Enttäuscht zogen Timo und Ronny davon, holten sich Vollmachten bei ihren Eltern und gründeten eine GmbH, die sie Weirdo nannten, Frederik zu Ehren, denn das war immer sein Spielername gewesen.

Zwei Jahre später landete Weirdo mit »Traktoria« einen weltweiten Erfolg. Als eins der ersten populären Browsergames gewann das Spiel binnen eines Jahres über 13 Millionen Spieler und sprengte sämtliche Statistiken. Kurzzeitig katapultierte Traktoria die Firma unter die erfolgreichsten Browserspiel-Hersteller der Welt, der Umsatz stieg auf 20 Millionen Euro im Jahr. Frederik verließ die Uni ohne Abschluss und nahm eine Stelle als Entwickler bei Weirdo an. Das Gehalt war in Ordnung. Es entsprach exakt dem, was die anderen Entwickler verdienten. Frederik hätte sich lieber ein Bein abgeschnitten, als Almosen von seinem jüngeren Bruder zu akzeptieren. Keine Gehaltserhöhung, keine Firmenanteile und schon gar keinen Kredit, den man in Wahrheit nicht zurückzahlen musste.

Linda respektierte das. Sie hatte ihm nicht einmal vorgeschlagen, mit Timo zu reden. Inzwischen war sie sogar stolz darauf, dass sie es alleine schaffen würden, aus eigener Kraft, ohne Timos Hilfe. Noch vor wenigen Monaten hatte sie nicht gewusst, was eine Dampfsperre ist. Heute war sie in der Lage, ein ganzes Dach zu dämmen.

Wenn sie doch einmal schwächelte, wenn sie verzweifelt meinte, dass der Berg von Arbeit immer größer statt kleiner werde, musste sie nur die Augen schließen und an Bergamotte denken, wie er in vorschriftsmäßiger Haltung stand, den Hals aufgewölbt, die Ohren gespitzt, das rechte Hinterbein einen halben Schritt zurückgestellt. Das cremefarbene Fell glänzte wie Lack. Der Gedanke an Bergamotte heilte Muskelkater und Frustration. Linda hatte einen Auftrag, der darin bestand, ein Stück Welt abzuzäunen. Bergamotte brauchte nicht nur einen Platz zum Leben, sondern auch die Möglichkeit, seine Schönheit an möglichst viele Nachkommen weiterzugeben. Überhaupt ging es um das Herstellen von Schönheit, im Haus, im Garten, auf den Weiden. Pferde unter Obstbäumen, Pferde im hohen Gras, Pferde im Licht der untergehenden Sonne. Dieser Traum war Lindas Zukunft, und nur weil er einer Postkartensammlung glich, hieß das noch lange nicht, dass er sich nicht realisieren ließ. Manfred Gortz sagte, das Wichtigste im Leben sei Freiheit, und Freiheit bedeute zu entscheiden, wer man sein wolle. Linda war eine Pferdezüchterin in spe.

Im oberen Stock rauschte die Klospülung, als flösse ein Wasserfall durch die Innereien des Hauses. Frederik war aufgestanden; für seine Verhältnisse ziemlich früh. Das konnte bedeuten, dass die nächtliche Arbeit schlecht gelaufen war oder dass der Hahn der Nachbarn ihn geweckt hatte. Bis er die Treppe herunterkommen würde, blieb genug Zeit, noch einmal Kaffeewasser aufzusetzen und sich im Bad vor dem Spiegel das Haar zum Pferdeschwanz zu binden.

Linda saß schon wieder auf der Couch und hielt eine zweite Tasse Kaffee bereit, als Frederiks schlaksige Gestalt im Türrahmen erschien, gekleidet in Boxershorts und ein ausgeleiertes T-Shirt. Das schulterlange Haar hing ihm ins Gesicht, von der Nase in zwei Hälften geteilt. Er ließ sich auf die Couch fallen und nahm den Kaffee entgegen.

»Wann kommt der Spekulant?«

»Nicht vor Mittag.«

»Dann können wir ja vorher noch das Dach neu decken, ein zweites Bad einbauen und im Garten nach Öl bohren.«

»Fährst du heute nicht in die Firma?«

»Das Meeting wurde gecancelt. Timos Sekretariat hat gerade angerufen.«

»Deshalb bist du schon wach.«

»Und du? Keine Problempferde heute?«

»Alles auf morgen verschoben. Der Spekulant geht vor.«

Linda konnte sehen, wenn Frederik an Sex dachte. Irgendetwas passierte mit seinem Blick. Als schaute er plötzlich direkt in sie hinein.

»Dann gehen wir doch einfach wieder ins Bett«, schlug er vor.

»Du gehst auf den Dachboden und machst weiter mit Entrümpeln, ich kümmere mich um die Fenster.«

Er verdrehte die Augen.

»Oui.«

»Oui quoi?«

»Oui, mon Général.«

Linda musste lachen. Manchmal konnte sie es kaum fassen, dass sie tatsächlich hier mit ihm saß, mit dem Mann, von dem sie immer behauptet hatte, sie würde sich nicht einmal für ihn interessieren, wenn er der letzte Mensch im Universum wäre. Frederiks Bruder Timo war in Lindas Klasse gegangen, ein netter, aber sterbenslangweiliger Nerd, der mit seinem Computer verheiratet war und mit seinem Nerd-Freund Ronny bei jeder Gelegenheit Technikgespräche führte. Frederik ging in eine höhere Klasse, war genauso computerverrückt und genauso langweilig wie sein jüngerer Bruder, gehörte aber zur Clique eines Jungen namens Marc, dem Linda zu dieser Zeit restlos verfallen war. Sie folgte Marc wie ein Hund, über den Schulhof, zum Sport und auf jede Party. Während Marc im Wohnzimmer irgendeines sturmfreien Einfamilienhauses mit anderen Mädchen tanzte, saß Linda mit Frederik draußen auf der Eingangstreppe, betrachtete den Mond, der wie ein Teller Milchsuppe am Himmel stand, und machte »hm-hm« und »na klar«, wenn Frederik etwas sagte. Trotz seines Computerfimmels sah er vorzeigbar aus. Dies und die Tatsache, dass er älter war, machten es möglich, seine Anwesenheit zu ertragen, obwohl sein Marktwert erheblich unter ihrem lag.

Frederik selbst schien sich über Marktfragen keine Gedanken zu machen. Linda wusste nicht einmal, was er von ihr wollte. Nie unternahm er den Versuch, sie zu küssen. Anscheinend reichte es ihm, gelegentlich auf dem Schulhof mit ihr zu plaudern und ihr zu helfen, wann immer sie Probleme mit ihrem Computer hatte. Er war ein Mensch, der Dinge tat, ohne sie in Frage zu stellen. Auf Partys gehen, auf Treppen sitzen, Linda nach Hause fahren, während sie aus dem Fenster seines Polos kotzte. Computerviren unschädlich machen, braune Socken tragen, Fünfen schreiben und trotzdem das Abitur bestehen.

Als zwei Jahre später auch Linda mit der Schule fertig war, hörte sie von Timo, dass Frederik einen Mitbewohner für seine Studentenwohnung suchte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Marc einer seiner vielen Freundinnen ein Kind gemacht und war ohne Abschluss von der Schule gegangen. Linda zog bei Frederik ein, und weil es sich anbot, schliefen sie gelegentlich miteinander.

Während Frederik die Uni schwänzte, schuftete Linda auf ihrer Lehrstelle als Bereiterin, kam abends völlig erschlagen nach Hause und erfüllte die Wohnung mit Pferdegestank. Manchmal war er noch wach, wenn sie morgens aufstand, und sie tranken einen Kaffee zusammen. Sie hatte Affären mit einem Hufschmied, einem Tierarzt und einem Reitlehrer. Er traf eine Graphikdesignerin, eine Unternehmensberaterin und eine Friseuse. Es dauerte eine Weile, bis Linda begriff, dass Frederik zu den seltenen Menschen gehörte, die ihr nicht auf die Nerven gingen. Sie lachten viel und stritten nie. Linda begann, neue Merksätze zu formulieren, wenn sie über ihr Verhältnis zu Frederik nachdachte. Verliebtheit verfliegt, Freundschaft bleibt. Wer seine Träume selbst verwirklicht, braucht keinen Prinzen. Überhaupt gab es laut Manfred Gortz nur zwei Kategorien von Dingen auf der Welt – solche, die funktionierten, und den großen Rest. Frederik funktionierte. Eines Tages erfuhr sie, dass auch er einen Merksatz über sie hatte. Er lautete: Ich habe diese Frau vom ersten Augenblick an geliebt. Dass sie ihn dafür auslachte, störte ihn nicht.

»Und wie läuft das nachher ab mit dem Spekulanten?«

»Der Spekulant«, sagte Linda, »trifft auf zwei sympathische junge Menschen an der Schwelle zu einer glücklichen Zukunft. Das erweicht sein Spekulantenherz.«

»Welches Kleid ziehst du an?«

»Arschloch.«

Er gähnte und legte die langen Beine über Lindas Schoß, damit sie ihm die Füße massieren konnte.

»Was ist das eigentlich für einer?«

»Geschäftsmann in Standardausführung. Ich hab ihm von Bergamotte erzählt, und er wollte wissen, wie viel man mit Pferdezucht verdient.«

»Vielleicht steht er nicht auf Pferdemädchen.«

»Dann machst du die Hilf-mir-Kumpel-du-weißt-doch-wie-die-Frauen-sind-Nummer.«

»Oui.«

»Oui quoi?«

»Oui, mon Général.«

Linda lockerte seine Fußgelenke durch rotierende Bewegungen, danach drückte sie jede seiner Zehen sanft zwischen Daumen und Zeigefinger. Vor dem Fenster stritten zwei Spatzen in der Luft, wobei einer mehrfach mit den Flügeln gegen die Scheibe stieß. Linda dachte, dass die Temperaturen heute die Dreißig-Grad-Marke übersteigen würden.

»Nervös?«

Sie zuckte die Achseln.

»Hey.« Frederik setzte sich auf und stupste ihr einen Finger auf die Nase. »Wir kriegen das Land. Versprochen. Schon allein, damit Bergamotte nicht eines Tages zwischen uns im Bett liegt.«

Sie nickte, gab seinen Füßen einen Klaps und erhob sich. Bevor der Spekulant auftauchte, wollte sie unbedingt noch eins der Fenster schaffen, die sie im Obergeschoss ausgebaut und zum Abschleifen in den ehemaligen Schweinestall getragen hatte. Frederik nutzte den frei gewordenen Platz auf der Couch, um sich ganz auszustrecken, und sah träge zu ihr hoch.

»Mir tut der Rücken weh. Ich glaube, ich mache heute mal gar nichts.«

Linda nickte und ermahnte sich, keinen Ärger aufkommen zu lassen. Als sie sich entschieden hatten, das Haus zu kaufen, hatte Frederik unmissverständlich klargestellt, dass er nicht zum Heimwerker mutieren würde. Dafür zahlte er den Löwenanteil der Kreditraten. Sein Job war in der Stadt, seine Freunde im Internet, seine Heimat ein weiß möbliertes Büro mit Hochleistungsrechner, das bislang den einzigen voll eingerichteten Raum des Hauses darstellte. Wenn er Lust verspürte, einen Dachboden zu entrümpeln, konnte er das tun. Wenn nicht, war es sein gutes Recht, den ganzen Tag auf der Couch zu liegen.

Die Reifen des Postautos erzeugten ein harsches Geräusch im Schotter vor dem Haus. Linda verließ das Wohnzimmer und ging über den Flur. Der frisch gereinigte Fliesenboden war kühl unter den Füßen, jeder Schritt ein kleiner Triumph. Stunde um Stunde hatte sie auf den Knien liegend in diesem Flur verbracht und mit einem Spachtel Klebstoffreste von den Fliesen geschabt. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Restaurierung von Objekt 108 bestand darin, die untergegangene DDR von Wänden und Böden zu kratzen. Als Linda und Frederik das Linoleum im Flur herausgerissen hatten, war der alte Kachelboden zum Vorschein gekommen, mit filigranen Rankenmustern verziert, auf die Linda jetzt ihre nackten Füße setzte.

Sie betrat den Wintergarten und sah von dort aus zu, wie der Postbote einen Brief in den Kasten neben dem linken Torpfosten warf. Als er sie entdeckte, schüttelte er den Kopf zum Zeichen, dass heute kein Päckchen gekommen war, stieg wieder ins Auto und fuhr davon.

Der Holzboden des Wintergartens fühlte sich warm an unter den Füßen, wie der Rücken eines Tiers; die Steinstufen der Treppe waren wieder kalt. Linda genoss die kleinen Explosionen unter der Schädeldecke, während sie auf nackten Sohlen über den Schotter der Einfahrt zum Briefkasten ging. Ein einzelner Brief lag darin. Der Umschlag aus Umweltpapier, längliches Format mit Sichtfenster. Nur Behördenangestellte waren in der Lage, ein Blatt Papier so zu falten, dass es in diese Sorte Umschlag passte.

Lindas Laune sank, ein innerer Temperatursturz. Behördenpost verhieß niemals etwas Gutes. Der Staat verschickte keine Briefe, in denen er sich bei seinen Bürgern für gesetzestreues Verhalten, braves Steuerzahlen oder die Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen bedankte. Der Staat war wie ein falscher Freund, der sich nur meldete, wenn er etwas wollte. Geld eintreiben, Maßregeln verhängen, Verbote erlassen. Der Anblick des Briefs erzeugte ein flaues Gefühl im Magen, aber Linda war nicht der Typ, der einem Gegner ausweicht. Barfuß auf dem Schotter zerfetzte sie den Umschlag in der Luft und ließ die Teile zu Boden fallen.

In Händen hielt sie ein einzelnes Blatt. Oben prangte ein dilettantisch erstelltes Logo, ein Paar Vogelschwingen, in deren Mitte die Buchstaben »VoSchuWa« zu lesen waren. Darunter eine Webadresse: www.vogelschutzbund-unterleuten.de. Der Rest des Briefkopfs informierte Linda darüber, dass die Vogelschutzwarte Unterleutner Heide eine Außenstelle der Naturschutzbehörde Plausitz darstellte und in einem Ort namens Seelenheil ansässig war.

Sie begann zu lesen. Sie kannte keinen Gerhard Fließ. Sie hatte nichts gegen Vögel, im Gegenteil. Sie fand es toll, dass man die letzten Kampfläufer schützte. Sie wollte nur ein paar Pferdeboxen und eine Weide.

Die Wut stieg vom Magen her die Wirbelsäule hoch, verteilte sich wie heiße Flüssigkeit im ganzen Körper, ließ die Kehle eng und den Mund trocken werden. Der Brief war nicht lang, er bestand im Wesentlichen aus zwei nummerierten Absätzen und einer Unterschrift. Als Linda zu Ende gelesen hatte, spürte sie, wie ihr die Tränen kamen.

Sehr geehrte Frau Franzen,