Leistungsheterogenität in der Grundschule - Katrin Liebers - E-Book

Leistungsheterogenität in der Grundschule E-Book

Katrin Liebers

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Beschreibung

Heterogenität stellt kein neues schulisches Phänomen dar. Dennoch sind Schulklassen in Hinblick auf die Leistungen der Kinder deutlich heterogener geworden. In einer sich rasant verändernden Gesellschaft steht die Grundschule heute erheblichen Herausforderungen gegenüber, grundlegende Bildung und Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen. Unterschiede etwa in Bezug auf Geschlecht, Ethnizität, Milieu oder Behinderung und Begabung sind vielschichtig mit lern- und leistungsbezogenen Differenzen und dem Unterricht selbst verflochten. Im Mittelpunkt des Bandes stehen das Leistungsverständnis und die Leistungsheterogenität. Die Autorin stellt Konzepte für einen reflexiven Umgang damit in Unterricht, Schule und Gesellschaft vor. So können die komplexen Verschränkungen von Unterricht und verschiedenen Dimensionen von Heterogenität und Schulleistung verstanden und berücksichtigt werden.

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Grundschule heute

Herausgegeben von Sanna Pohlmann-Rother und Sarah Désirée Lange

 

Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen thematisiert die Reihe »Grundschule heute« drängende Zukunftsfragen in ihrer Bedeutung für die Disziplin der Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik. Ziel der Reihe ist es, die institutionellen Bedingungen der Grundschule und die Fragen nach zeitgemäßen Bildungsinhalten neu zu bestimmen. Dabei stehen die kindlichen Lebenswelten und die aktuellen und veränderten Aufwachsensbedingungen der Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt.

 

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

 

    https://shop.kohlhammer.de/grundschuleheute

Die Autorin

Prof. Dr. Katrin Liebers lehrt und forscht am Institut für Pädagogik und Didaktik im Elementar- und Primarbereich an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Gestaltung eines lernförderlichen Unterrichts in einer Schuleingangsstufe für alle Kinder, in der pädagogischen Diagnostik am Übergang und in der Grundschulzeit sowie in der historischen Bildungsforschung.

Katrin Liebers

Leistungshetero- genität in der Grundschule

Umgang mit Vielfalt im Unterricht

Verlag W. Kohlhammer

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Die Grafiken für die Abbildungen 4 und 6 bis 9 wurden von Miriam Beier in Zusammenarbeit mit der Autorin erstellt.

 

 

 

 

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-037587-1

 

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-037588-8

epub:        ISBN 978-3-17-037589-5

Vorwort der Herausgeberinnen

Die aktuellen gesellschaftlichen und häufig globalisierungsbedingten Veränderungen beeinflussen Grundschulen auf mannigfaltige Arten. Angesichts dessen thematisiert die neue Reihe »Grundschule heute« – herausgegeben von Dr. Sanna Pohlmann-Rother (Inhaberin des Lehrstuhls für Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Würzburg) und Dr. Sarah Désirée Lange (Akademische Rätin am Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und -didaktik der Universität Würzburg) – drängende Zukunftsfragen in ihrer Bedeutung für die Disziplin der Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik. Die gesellschaftlichen und bildungspolitischen Entwicklungen der Gegenwart betreffen Bereiche wie Digitalisierung, Inklusion, Globalisierung, Migration und Flucht und bringen weitreichende neue Herausforderungen für Lehrkräfte, Schulleitungen und für Eltern und ihre Kinder mit sich.

So stellt beispielsweise der mit den gesellschaftlichen Digitalisierungsprozessen verbundene Anspruch, Schülerinnen und Schüler zu einem selbstbestimmten und reflektierten Umgang mit digitalen Medien zu befähigen, alle Beteiligten vor neue Herausforderungen. Auch Mehrsprachigkeit und Fluchtmigration sind Phänomene gesellschaftlicher Entwicklungen, die gegenwärtig in hohem Maße zur Komplexität professionellen Handelns von Lehrkräften beitragen.

Mit der vorliegenden Reihe soll der grundschulpädagogische Diskurs hinsichtlich der gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungen der Gesellschaft weiterentwickelt werden. Dazu werden in jedem Band neben einer forschungs- und theoriebasierten Auseinandersetzung auch jeweils praktisch umsetzbare Ansätze für die Gestaltung von Unterricht und von grundschulbezogenen Bildungsprozessen herausgearbeitet.

In diesem Zusammenhang werden auch die aktuellen Strukturen und Inhalte der Ausbildung von Grundschullehrkräften hinterfragt. So werden in der Reihe »Grundschule heute« relevante Professionalisierungsfelder identifiziert, mögliche Implikationen für die Rahmenbedingungen der Lehrkräftebildung aufgezeigt und Anforderungen an eine qualitativ hochwertige und zeitgemäße Qualifizierung von Grundschullehrkräften diskutiert.

Zusammenfassend geht es darum, hinsichtlich gegenwärtiger und künftiger Herausforderungen die institutionellen Bedingungen der Grundschule mit dem Anspruch an grundlegende Bildung und die Frage nach zeitgemäßen Bildungsinhalten neu in den Blick zu nehmen. Damit verbunden ist die genaue Betrachtung kindlicher Lebenswelten und die Berücksichtigung aktueller Aufwachsensbedingungen der Schülerinnen und Schüler. Auf Schul- und Unterrichtsebene stellen sich dabei pädagogisch-didaktische Fragen zu denen auch rahmende Raum-, Zeit- und Organisationsstrukturen gehören. Auf Seiten der Lehrkräfte umfasst dies anspruchsvolle und zum Teil spannungsreiche Aufgaben, die sich beispielsweise in einem reflektierten Umgang mit sprachlicher Vielfalt und Mehrsprachigkeit im Zuge von Migration und Flucht manifestieren oder mit der Forderung nach einem inklusiven Schulsystem verbunden sind.

Würzburg, im Februar 2023

Sanna Pohlmann-Rother und Sarah Désirée Lange

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Herausgeberinnen

Einleitung

1            Leistungsheterogenität im Unterricht der Grundschule – (k)ein neues Phänomen?

1.1         Frühe Neuzeit und beginnende Moderne

1.2         Frühes 20. Jahrhundert

1.3         Spätes 20. Jahrhundert

1.4         Kontinuitäten und Diskontinuitäten

2            Heterogenität im Spiegel interdisziplinärer Diskurse

2.1         Naturwissenschaftliche Diskurse – Variabilität

2.2         Sozialwissenschaftliche Zugänge – Differenz – Vielfalt/Diversität – Intersektionalität

2.3         Heterogenität als Ansatz der Schulpädagogik

2.4         Reflexive Nutzung des Begriffs Heterogenität

3            Pädagogisches Leistungsverständnis in einer Grundschule für alle Kinder

3.1         Leistung als vielschichtiger Begriff

3.2         Beurteilung von Leistung als funktionales gesellschaftliches Systemelement von Schule

3.3         Pädagogischer Leistungsbegriff in der Grundschule

3.4         Leistungsbegriff in Lehrplänen und Bildungsstandards

3.5         Heterogenitätssensitiver schulischer Leistungsbegriff

4            Leistungsheterogenität als Zusammenspiel einer Vielzahl an Faktoren

4.1         Modelle zur Erklärung von schulischen Lernleistungen

4.2         Leistungsrelevante individuelle Merkmale von Kindern

4.3         Leistungsrelevante familiäre Herkunftsmerkmale

4.4         Einfluss von Lehrpersonen, Unterricht und Schule auf schulische Leistungen

4.5         Primär, sekundär und institutionell bedingte Bildungsdisparitäten

4.6         Bildungsungleichheit entgegenwirken

5            Handlungsansätze für den Umgang mit Leistungsheterogenität in der Grundschule

5.1         Mehrebenenmodell für Handlungsebenen

5.2         Handlungsansätze für einen heterogenitätsbezogenen Unterricht von Lehrpersonen

5.3         Heterogenitätsbezogene Handlungsansätze auf der Ebene der Einzelschule

5.4         Heterogenitätsbezogene Handlungsansätze auf der Ebene der Kommunen

5.5         Heterogenitätsbezogene Handlungsansätze auf der Ebene der Bildungspolitik

5.6         Leistungsheterogenität als gesellschaftliche Herausforderung

Exkursverzeichnis – Zusatzmaterial zum Download

Literaturverzeichnis

Einleitung

Grundschule ist ebenso wie unsere spätmoderne Gesellschaft infolge des gesellschaftlichen Strukturwandels von einer Kultur der Singularitäten und einer Zunahme sozialer Ungleichheiten gekennzeichnet (Reckwitz, 2019, S. 17). Dieser Wandel erfordert grundschulpädagogische Antworten auf die Frage nach der Gestaltung eines chancengerechten und Vielfalt anerkennenden Umgangs mit Heterogenität (Mecheril & Vorrink, 2017). Dass dieser dem Schulsystem in Deutschland bislang nicht zufriedenstellend gelingt, wird u. a. in den internationalen Leistungsuntersuchungen offenkundig, die alarmierende Erkenntnisse über eine beunruhigende Zunahme von Leistungsunterschieden in der Grundschule zu Tage fördern (Hußmann et al. 2017, Jude, 2021; Stanat et al., 2022). Zugespitzt formuliert Miller, dass die internationalen Schulleistungsstudien dem deutschen Schulsystem regelmäßig bescheinigen »Weltmeister in der sozialen Auslese und Spitzenreiter in der Produktion von Schulscheitern zu sein« (Miller, 2019, S. 110). Gespeist wird diese Annahme daraus, dass nur in wenigen vergleichbaren Industrienationen eine ähnliche Zunahme der Leistungsspreizung im gleichen Zeitraum festzustellen war.

Vor diesem Hintergrund richtet sich der Fokus dieses Themenbandes auf die Leistungsheterogenität, weil die schulische Leistung eines der zentralen Ordnungskriterien der Schule und des Schulsystems bildet und bildungsbiografisch für den Bildungsaufstieg des einzelnen Kindes und die soziale Mobilität innerhalb der Gesellschaft entscheidend ist. Gleichwohl die schulische Leistung zu den hoch ambivalenten Konzepten in der Grundschule zählt (Feindt & Arndt, 2021), wird diese traditionell beim Übergang von der Grundschule in weiterführende Schulen als ein meritokratisch legitimiertes und weithin akzeptiertes Kriterium gesellschaftlicher Vergabepraktiken angesehen. Die vermeintliche Gerechtigkeit des Kriteriums schulischer Leistungen lässt sich jedoch angesichts vielfältiger Befunde aus der Bildungsforschung hinterfragen. Leistungsheterogenität ist deshalb nicht eine Heterogenitätsdimension unter anderen, sondern tangiert die Grundfesten unserer Gesellschaft: Seit ihrer Gründung im Jahr 1919 ist die Grundschule mit der demokratischen Idee einer chancengleichen Förderung aller Kinder verbunden (Götz, 2019).

Dieser Themenband wendet sich speziell an Lehramtsstudierende, Lehrpersonen in Schule und der Lehramtsausbildung mit dem Ziel, ein vertieftes Verständnis von Leistungsheterogenität zu gewinnen, sich mit dieser im Grundschulunterricht reflexiv auseinanderzusetzen, sie in ihren Ambivalenzen zu verstehen und eigene Unterrichtskonzeptionen zu erweitern. Der Band folgt keiner einzelnen wissenschaftlichen Perspektive, sondern versucht, das Thema Leistungsheterogenität multiperspektivisch zu erschließen, indem »facettenreiche, einander ergänzende Perspektivenkonstellationen« (Prengel, 2017, S. 146) zueinander in Beziehung gesetzt werden. In diesem Sinne fließen verschiedene Forschungszugänge, Sichtweisen und Befunde in diese Überblicksdarstellung ein.

Im ersten Kapitel werden ausgewählte historische Fallbeispiele für den schulischen Umgang mit Leitungsheterogenität seit der frühen Neuzeit vorgestellt. Der Blick in die Bildungsgeschichte offenbart, dass es in der »langandauernden, hochkomplexen und nicht linearen Vorgeschichte des Ringens um Bildungsbeteiligung« (Lindemann, Link, Prengel & Schmitt, 2020, S. 4) schon immer Lehrpersonen sowie bildungspolitische Akteurinnen und Akteure gab, die danach fragen, wie mit der Unterschiedlichkeit der Kinder pädagogisch und didaktisch umzugehen ist. Einige ihrer Positionen kehren in modernisierter Weiterentwicklung in aktuellen bildungsadministrativen Dokumenten wieder (Kap. 1).

Im zweiten Kapitel wird der Begriff der Heterogenität genauer konturiert. Es erfolgt eine Einordnung und Abgrenzung von ähnlichen Begriffen wie Variabilität, Differenz, Diversität und Intersektionalität, die über interdisziplinäre Diskurse Eingang in die Erziehungswissenschaft fanden. Auf diesem Wege sollen unterschiedliche Dimensionen des Konstrukts Leistungsheterogenität sowie deren Interdependenzen und vielfältigen Wirkungen auf Lernen sichtbar werden. Dabei sind auch jene Folgen in den Blick zu nehmen, die von der Institution Grundschule und ihren professionellen Akteurinnen und Akteuren bewusst oder unbewusst mitverursacht werden (Kap. 2).

Da der Fokus dieses Buches auf der Leistungsheterogenität liegt, ist das pädagogische Leistungsverständnis der Grundschule – auch in Abgrenzung von anderen Leistungsbegriffen – zu definieren. Infolge der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention in Deutschland im Jahr 2009 ist dabei zu klären, wie Grundschule dazu beitragen kann, Kinder beim Erreichen ihrer individuell bestmöglichen Leistung zu unterstützen und mit ihren unterschiedlichen Leistungen anzuerkennen (Kap. 3).

Für ein vertieftes Verständnis von Leistungsheterogenität erfolgt im vierten Kapitel eine Auseinandersetzung mit Modellen und Faktoren, die zur Erklärung von Leistungsunterschieden herangezogen werden. Die dazu vorliegenden Forschungsbefunde stellen einen Ansatzpunkt dar, Antworten auf die Fragen nach einem pädagogisch angemessenen Umgang mit Leistungsheterogenität und mit Bildungsungleichheit zu finden (Kap. 4).

Leistungsheterogenität wird sowohl als Bereicherung als auch als pädagogische Herausforderung, Belastung oder Überforderung betrachtet. Diesen Herausforderungen ist auf den verschiedenen Ebenen des Schulsystems zu begegnen. Ein Fokus des Kapitels liegt auf dem Unterricht als dem zentralen Ort, an dem Leistungsheterogenität pädagogische und didaktische Antworten einfordert (Kap. 5).

Die Kapitel sind aufeinander aufbauend geschrieben, können aber unabhängig voneinander gelesen werden. Querverweise und Beispielkästen sollen das Verständnis unterstützen. Ausgewählte weiterführende Aspekte sind in Exkursen (online abrufbar, durch eine Weltkugel am Seitenrand gekennzeichnet) skizziert. Am Ende jedes Kapitels helfen Fragen zur Reflexion, die Inhalte zu rekapitulieren.

Danken möchte ich an dieser Stelle den vielen Kolleginnen und Kollegen, die mich bei der Arbeit an dem Buch unterstützt haben. Mein besonderer Dank gilt Annedore Prengel und Margarete Götz, die mir zahlreiche Anregungen zu ausgewählten Kapiteln zurückmeldeten, Sanna Pohlmann-Rother und Sarah Désirée Lange für ihr anregendes Feedback als Herausgeberinnen, Kerstin Weissenberger als inspirierende Redakteurin, meiner Mitarbeiterin Miriam Beier für die Grafiken, meinem Mitarbeiter Eric Kanold für seine kritischen Hinweise, der studentischen Hilfskraft Julia Ulrich sowie meinem Vater Klaus Liebers für die aufmerksame Prüfung der Druckvorlage.

1

Leistungsheterogenität im Unterricht der Grundschule – (k)ein neues Phänomen?

Die Frage danach, wie mit unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen und -potenzialen im Unterricht umgegangen werden kann, wird in der Pädagogik seit Jahrhunderten gestellt. Im diachronen Verlauf wurden verschiedene Antworten gegeben, die vor dem Hintergrund zeithistorischer Kontexte, gesellschaftlicher Konstellationen sowie der Sinnhorizonte ihrer Protagonistinnen und Protagonisten zu erschließen und zu verstehen sind. Nachfolgend werden ausgewählte ideen- und institutionengeschichtliche Ansätze für den pädagogischen Umgang mit Leistungsheterogenität aufgezeigt. Mit den ausgewählten Fallbeispielen soll für die aktuelle grundschulpädagogische Heterogenitätsdebatte eine historische Vergewisserung geleistet werden, die bislang weitgehend vernachlässigt oder gar gänzlich ignoriert wurde.1 Der Rückblick setzt mit der frühen Neuzeit ein (Kap. 1.1), beleuchtet die Epoche des frühen 20. Jahrhunderts (Kap. 1.2) und die des späten 20. Jahrhunderts (Kap. 1.3). Den Abschluss des Kapitels bilden ein Fazit zu den (Dis-)Kontinuitäten und die aktuellen Positionen der KMK (Kap. 1.4).

1.1           Frühe Neuzeit und beginnende Moderne

Im Zuge der Reformation werden in den deutschen Fürstentümern erste Schulordnungen erlassen, mit denen die Einrichtung von Elementarschulen für Kinder in Städten und Dörfern gefordert wird.2 Viele dieser frühen Bestrebungen wurden durch den Dreißigjährigen Krieg zunichte gemacht. Nach dessen Ende verbreiteten sich erneut Forderungen nach einem Schulbesuch für »alle Kinder, Knaben und Mägdelein, so wol in Dörffern, als in Städten […]« (Gothaer Schulmethodus von Herzog Ernst den Frommen, zit. nach Baltzer, 1904, S. 106). Im Zuge dieser Entwicklungen wurde beispielsweise im 17. Jahrhundert von Comenius dargelegt, wie den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen von Kindern, auch solchen mit Behinderungen, mittels differenzierter Lernangebote in einer gemeinsamen Schule didaktisch Rechnung getragen werden kann (Kap. 1.1.1), mit welchen Organisationsformen den unterschiedlichen Lernbedürfnissen den Kindern aller Stände in einer ländlichen Musterschule im 18. Jahrhundert pädagogisch und strukturell entsprochen werden kann (Kap. 1.1.2) oder welche Formen differenzierten Unterrichts in den zunehmend überfüllten einklassigen Volksschulen im 19. Jahrhundert erprobt wurden (Kap. 1.1.3).

1.1.1         Eine Schule für alle – Adelige und Bürgerliche, Reiche und Arme, Knaben und Mädchen

Nach den verheerenden Jahren des Dreißigjährigen Krieges, als ein Schulbesuch für die meisten Kinder mangels rechtlicher Grundlagen und eines für alle zugänglichen Bildungswesens gar nicht möglich war,3 forderte der Philosoph, Pädagoge und Theologe Johann Amos Comenius (1592–1670) Bildung für alle Menschen. In Bildung sah er den Weg zur Verbesserung einer ins Chaos gestürzten Welt, weil mit weisen Menschen »die Welt […] voll Ordnung, Licht und Frieden« sei (Comenius, 1657/1964, S. 8). Bildung setzte er in seiner Schrift didacta magna gleich mit dem Weg zur menschlichen und gottesebenbildlichen Vollkommenheit: »Alle, die als Menschen geboren sind, sind zu demselben Hauptzwecke geboren, daß sie Menschen sein sollen, d. h. vernünftige Geschöpfe […] und ein Ebenbild ihres Schöpfers« (Comenius, 1658/1912, S. 54). Comenius betonte ein Recht auf Bildung unabhängig von regionaler und sozialer Herkunft oder Geschlecht:

»Nicht nur die Kinder der Reichen oder der Vornehmen, sondern alle in gleicher Weise, Adelige und Bürgerliche, Reiche und Arme, Knaben und Mädchen, in großen und kleinen Städten, in Flecken und Dörfern, sind zur Schule heranzuziehen« (a. a. O.).

Dieses Recht erweiterte Comenius in seiner Pampaedia (1657/1964) auf die Kinder aller Völker. In einer Zeit, in der nur die wenigsten Kinder, zumeist die der oberen Stände, eine Schule besuchten oder Hausunterricht erhielten, war eine solche Utopie nahezu revolutionär und mutet aus heutiger Sicht sensationell an (Lindemann, Link, Prengel & Schmitt, 2020, S. 5). Mögliche Einwände gedanklich vorwegnehmend führt Comenius aus, dass Kinder sich in ihren körperlichen und geistigen Kräften unterscheiden und verschiedene Schwächen haben können (»Blindheit, Taubheit, Lahmheit, Kraftlosigkeit«, »Gehirnschwäche«, Comenius, 1658/1912, S. 72), welche selten angeboren, sondern eher durch menschliches Zutun zugezogen seien. Er verweist auf die Verschiedenheit der natürlichen Anlagen, von denen »die einen scharf, die anderen stumpf, die einen weich und nachgiebig, die anderen hart und unbeugsam sind, die einen begierig nach Wissenschaft, die anderen mehr für mechanische Fertigkeiten eingenommen« (a. a. O., S. 74.). Zudem betont er die möglichen »sechsfachen Mischungen« dieser natürlichen Anlagen in einer Person, die von ihm dann weiter beschrieben werden (a. a. O., S. 74 f.). Aus seinen Grundannahmen leitet er eine Unterrichtslehre ab, mit der »die gesamte Jugend, welche doch von so ungleicher Beschaffenheit ist, nach ein und derselben Methode unterwiesen und gebildet werden könne« (a. a. O., S. 76). Dies begründet er damit, dass »alle Menschen, wie sie auch immer in ihren Anlagen auseinandergehen, […] doch eine und dieselbe, mit den nämlichen Organen ausgerüstete Menschennatur« besäßen und diese »Verschiedenheit der Anlagen […] nichts anderes (ist) als ein Übermaß oder ein Mangel bezüglich der natürlichen Harmonie […]« (a. a. O.).

Seine Universalmethode untersetzte Comenius (1657/1964) mit sieben Schulen zur stufenweisen Vollendung des Menschen, denen er alterstypische Lernaufgaben zuordnete. Zugleich legte er einen Vorschlag vor, wie den unterschiedlichen Fähigkeiten von Anfängern, Fortgeschritten und Fertigen innerhalb der gleichen Klasse mit nach Schwierigkeit gestuften Aufgaben in den Schulbüchern entsprochen werden kann (siehe Beispielkasten). Nicht zuletzt sprach er sich für individuell angemessene Lerninhalte aus:

»Wie nämlich die Natur der Kräuter, der Bäume, der Tiere verschieden ist, wie das eine so, das andere anders behandelt sein will und nicht alles gleichmäßig dieselbe Verwendung zulässt: so ist es auch mit den Köpfen der Menschen. Es fehlt zwar nicht an glücklichen Köpfen, welche überall eindringen, aber es fehlt auch an solchen nicht, welche bei gewissen Gegenständen erstaunlich im finstern tappen« (Comenius, 1658/1912, S. 155).

Comenius’ Vorschlag für gestufte Schulbuchtexte

»Die Schulbüchlein sollen nämlich so gedruckt werden, daß derselbe Text den Anfängern, den Fortgeschrittenen und den Fertigen dienen kann; für die einzelnen Stufen sollen also keine besonderen Ausgaben hergestellt werden […]. Das kann erreicht werden, wenn durch verschiedene Drucktypen im Text selbst die Aufgaben verteilt werden. Was die Anfänger lesen und auswendig lernen sollen, wird mit Großbuchstaben gedruckt, was für die Fortgeschrittenen bestimmt ist, in Antiqua, was den Fertigen zugemessen ist, kursiv. Z. B.

GOTT, dieser Anfang ohne Anfang, die Quelle alles dessen, was ist, wollte die Erhabenheit seiner unendlichen Macht, Weisheit und Güte offenbaren und SCHUF daher aus dem Nichts diese sichtbare WELT und schmückte sie mit den schönsten Geschöpfen in unendlicher Mannigfaltigkeit als ein wunderschönes Schauspiel seiner ewigen Schönheit, seines Reichtums und seiner Freundlichkeit.

Laß die Anfänger nur das mit Großbuchstaben Gedruckte lesen; sie haben dann in einem aus drei Worten bestehenden Satz den Kern des Spruches vor sich: ›GOTT SCHUF DIE WELT‹. Der Fortgeschrittene soll dasselbe lesen und das in Antiqua Gedruckte hinzunehmen, er bekommt dann einen erweiterten Satz: ›GOTT wollte die Erhabenheit seiner unendlichen Macht, Weisheit und Güte offenbaren und SCHUF daher aus dem Nichts diese sichtbare WELT.‹ Wenn das Ganze der Reihe nach gelesen wird, ergibt sich schließlich ein reiches Satzgefüge« (Comenius 1657/1964, S. 40 f.).

1.1.2         Gleiche Bildsamkeit von Kindern niederer und höherer Stände

Im 18. Jahrhundert wurde infolge zunehmender Schulpflichtregelungen4 in den deutschen Fürstentümern und Königreichen eine wachsende Anzahl zumeist einklassiger öffentlicher Elementarschulen eingerichtet. In diesen erwarben die Kinder der unteren Stände unter teilweise armseligsten Bedingungen und nur selten mit ausgebildeten Lehrkräften Gottesfürchtigkeit, Obrigkeitshörigkeit und elementare Kenntnisse im Lesen und Schreiben, zuweilen auch im Rechnen. In den einklassigen Schulen waren zumeist vier bis acht Jahrgänge in einer Klasse und in einem Raum zusammengefasst. Weit verbreitet war ein kollektiver Einzelunterricht, bei dem Kinder einzeln zur Lehrperson vortraten und ihren Lernstoff vortrugen (individuelles Überhören), während die anderen in Stillarbeit arbeiteten (Liebers, 2008).

Zunehmend mehr aufgeklärte Lehrer und Schulmänner sahen sich mit den Unzulänglichkeiten einer solchen Schule und ihrer pädagogischen Ziele und Methoden auch mit Blick auf die Unterschiedlichkeit von Kindern konfrontiert. Ernst Christian Trapp (1745–1818), der als ein führender Philanthrop5 auf dem ersten Pädagogiklehrstuhl Deutschlands in Halle an der Saale lehrte, schrieb in seinem »Versuch einer Pädagogik«:

»Immer wird der Erzieher das Problem aufzulösen haben: […] Wie machst du aus einem jeden Kopf und Herzen, was daraus werden kann? […] Und besonders wie hast du dies alles anzufangen bey einem Haufen Kinder, deren Anlagen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Neigungen, Bestimmungen verschieden sind, die aber doch in einer und eben derselben Stunde von dir erzogen werden sollen?« (Trapp, 1780, S. 15).

Die Lösungen, die für dieses Problem an der ersten philanthropischen Musterschule in Reckahn (Mark Brandenburg) gefunden wurden, waren für ihre Zeit einmalig und fanden europaweite Beachtung (Schmitt & Tosch, 2001). Der Patronatsherr Friedrich Eberhard von Rochow (1734–1805) und seine Frau Christiane Louise bekannten sich, entgegen vorherrschender Denkmuster der ständischen Gesellschaft, zu den Ideen der Aufklärung und der Gleichheit aller Menschen:

»Menschen nicht tolerieren, weil sie verschieden sind an Hautfarbe, Kleidung, Sitten und über ihre Art, sich das Verhältnis der Menschen mit Gott vorzustellen […], das ist mir ein unbegreifliches Rätsel« (Rochow, 1792, zit. nach Lindemann, Link, Prengel & Schmitt, 2020, S. 5).

Schon 1772 äußerte Rochow in seinem Versuch eines Schulbuchs für Kinder der Landleute oder zum Gebrauch in Dorfschulen den für seine Zeit revolutionären Gedanken der Bildsamkeit aller Menschen unabhängig von deren ständischer Herkunft, mit dem er die gegebene gesellschaftliche Ordnung infrage stellte: »Ich denke doch nicht, […] daß man den Verstand eines Bauernkindes und seine Seele für Dinge einer andern Gattung hält als den Verstand und die Seelen der Kinder höherer Stände« (Rochow, 1772, zit. nach Sandfuchs, 2001, S. 168).

Als Konsequenz richtete das Paar 1773 eine schulgeldfreie Schule für alle Kinder des Dorfes ein, in der Mädchen und Jungen, unabhängig von Stand, Konfession und Geschlecht gemeinsam in zwei nach Alter und Fähigkeiten differenzierten Klassen unterrichtet wurden. Das Aufrücken in die nächsthöhere Klasse erfolgte in Abhängigkeit vom individuellen Lernfortschritt (siehe Beispielkasten).

Leistungsdifferenziertes Anfangslernen in der zweiklassigen Dorfschule Reckahn (ab 1773)

Der angehende Lehrer Carl F. Riemann beschreibt in seinen Hospitationsberichten aus dem Unterricht in der Dorfschule Reckahn (1781) ein System differenzierten Lernens und flexiblen Verweilens in den zwei Klassen der Dorfschule. In der Anfangsklasse lernten Kinder bis zum fertigen Lesen. Diese Klasse wurde in zwei Abteilungen aufgeteilt, wobei die größeren den kleineren Kindern helfen sollten, aber auch eigene Lernaufträge erhielten. »Der Unterricht der Allerkleinsten […] dauert nicht mehr als eine Stunde« (Riemann, 1798, S. 30). Je nach Lernfortschritt der Kinder konnten diese dann in die höhere Klasse aufrücken, wenn sie »alle Vorerkenntnisse haben, die sie zur höheren Classe tüchtig machen […]. Auch müssen die Versetzungsfähigen schon ein halbes Jahr zuvor […] zeitweise am Unterricht der höhern Klasse teilnehmen« (a. a. O., S. 33). Ebenso ließ man die »unfähigen oder nachlässigeren, wenn sie auch älter seyn und ebenso lange in der unteren Classe gesessen haben sollten, als andere, die versetzungsfähig befunden wurden, lieber noch ein Jahr, auch wol länger zurück« (Riemann, 1798, S. 116).

1.1.3         Differenzierte Formen des Volksschulunterrichts

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts lernten Kinder in überwiegend einklassigen Volksschulen, in denen nicht selten bis zu 120 Kinder und Jugendliche unterschiedlichen Alters in einer Klasse waren.6 Um unter diesen Bedingungen Lernen überhaupt zu ermöglichen, wurden verschiedene Formen von Abteilungsunterricht entwickelt. So fand die wechselseitige Unterrichtung mit einer frühen Form von Tutoren, die kleinere Gruppen anleiteten, in Deutschland einige Verbreitung. Diese wurde von Christian G. Zerrenner nach englischem Vorbild übernommen (Liebers, 2008). Die Formen des heutigen Klassenunterrichts mit überwiegend gleichaltrigen Kindern setzten sich in Deutschland erst im Zuge der zweiten Industrialisierung zunächst in den großen Städten und sehr viel später auch auf dem Lande durch. Die neue Lehrorganisation, bei der alle Kinder – ausgehend von einem gedachten mittleren Niveau – im gleichen Tempo mit gleichen Methoden an gleichen Inhalten lernten, wurde als erfolgversprechender Weg von allen Beteiligten angesehen (Tenorth, 1988). Viele Kinder konnten jedoch im gleichschrittigen Jahrgangsklassenunterricht nicht erfolgreich lernen. Deshalb wurden Formen äußerer Differenzierung innerhalb der Volksschule entwickelt, wie z. B. das Mannheimer Schulsystem. In diesem wurden ab 1907 Kinder am Schulanfang nach Leistungen in A-, B- oder C-Züge eingeteilt und dementsprechend auf drei verschiedenen Lernniveaus unterrichtet. Dahinter stand Joseph Anton Sickingers (1858–1930) Idee,

»dass der Besuch der gleichen, nämlich der einen öffentlichen Schule nicht mechanisch gleiche Schulung für alle, sondern vielmehr, damit allen Kindern das von der Schule verheißene gleiche Recht tatsächlich zuteil werden kann, gleiche Möglichkeit für jedes Kind bedeutet, einen gleich guten, d. h. einem seinem individuellen Kräftemaß und Entwicklungstempo entsprechenden und deshalb geistiges Wachstum verbürgenden Unterricht zur erhalten« (o. J., zit. nach Saupe 1929, S. 249).

  

Klassenwiederholungen sollten ermöglichen, das Klassenziel ein Jahr später zu erreichen. Ab dem späten 19. Jahrhundert bildeten sich Förder- und Hilfsklassen sowie später die Hilfsschulen heraus (siehe Exkurs 1 – Herausbildung verschiedener Sonderschulen). In diese wurden Kinder überwiesen, die an den Leistungsanforderungen der Volksschule scheiterten. Hilfsschulen wurden einerseits als individuelle Hilfe und Schonraum gesehen, andererseits lag ihre Funktion darin, die Volksschulen von lernschwachen Kindern zu entlasten. Bereits in der Gründungszeit der Hilfsschulen waren es vor allem Kinder der unteren sozialen Schichten, die pathologisiert und stigmatisiert wurden (Liebers, 2008):

»Für die Volksschule bedeutet die Hilfsschule Befreiung von schwachbegabten Schülern, die den Unterrichtsfortschritt hemmen und die Stimmung herabdrücken. […] Es werden dann z. B. blutarme ›Schlafmützen‹, skrofulöse und tuberkulöse ›Faulpelze‹, choreatische ›Ruhestörer‹ und epileptische ›Bettnässer‹ nicht mehr unverdienterweise getadelt, bestraft und verachtet, sondern als Kranke behandelt« (Die deutsche Hilfsschule, 1908, S. 4).

  

Die Volksschule sollte mit den homogenisierenden Maßnahmen stabilisiert und effizienter werden; nur diejenigen Kinder verblieben in den Klassen, die den Anforderungen weitgehend reibungslos genügten, häufig mittels körperlicher Züchtigung. Neben Befürwortern gab es aber auch Kritiker, die ein auf Drill, Auswendiglernen und Aussonderung beruhendes Schulsystem ablehnten. Sie versuchten, Kinder in ihrer Individualität besser zu verstehen, und entwickelten Ideen eines kindgerechteren, Hand, Herz und Kopf fordernden Lernens in unterschiedlich begründeten reformpädagogischen Ansätzen (siehe Exkurs 2 – Reformpädagogik). Bis 1918 gab es nur einzelne Volksschulen, die solche Programme in den unteren Klassen tatsächlich auch praktisch umsetzten. Zu den Vorreitern zählten die Versuchsklassen im Roten Königreich Sachsen: Der Leipziger Lehrerverein erprobte in den Jahren 1911 bis 1913 in 24 Klassen mit insgesamt 1.400 Kindern kindgerechte und arbeitsschulorientierte Gesamtunterrichtsmodelle für den Anfangsunterricht (LLV, 1925; Abb. 1), ebenso wie die sieben Chemnitzer Versuchs- und Elementarklassen oder die 16 Dresdner Versuchsschulklassen (jeweils 1912–1914) (Liebers & Urban, 2021; Pehnke, 1998, Schmitt, 1993).

Abb. 1:    Kinder in der 54. Volksschule Leipzig-Connewitz (Foto: Kammer, 1925)

1.2           Frühes 20. Jahrhundert

Nach der Novemberrevolution 1918 wurde das nach Ständen gegliederte Bildungswesen in der Weimarer Reichsverfassung formal außer Kraft gesetzt. In der Weimarer Republik sollte die individuelle Schulleistung in einer für alle Kinder gemeinsamen Grundschule zum zentralen Kriterium für den weiteren Bildungs- und Lebensweg werden (Kap. 1.2.1). Im nachfolgenden Nationalsozialismus wurde die Idee einer gemeinsamen Volksschule – allerdings nur für gesunde arische Kinder – propagiert und durch Auslese und Euthanasie konterkariert (Kap. 1.2.2).

1.2.1         »Freie Bahn jedem Tüchtigen« – eine Grundschule für alle Kinder

  

Mit einer obligatorischen Grundschule für alle Kinder sollte in der Weimarer Republik das Fundament für ein darauf aufbauendes mittleres und höheres Schulwesen gelegt und das demokratische Gleichheitsversprechen der ersten deutschen Demokratie für die schulische Bildung eingelöst werden (WRV, 1919, Absatz 143–146). Gleichwohl schränkte 1920 der Weimarer Schulkompromiss die ursprüngliche Idee einer achtjährigen Einheitsschule für Kinder aller sozialen Klassen und Konfessionen von Anfang an deutlich zugunsten einer vierjährigen Grundschule ein (Götz, 2019; Sandfuchs & Dühlmeier, 2019). Der Zugang zu Bildung sowie beruflichen und gesellschaftlichen Positionen sollte nicht mehr länger von der Herkunft abhängen: »Freie Bahn jedem Tüchtigen« lautete das Motto des Deutschen Lehrervereins (Tews, 1919, zit. nach Miller, 2019, S. 107). Das bislang vorherrschende Ständeprinzip sollte durch das meritokratische Prinzip ersetzt werden (siehe Exkurs 3 – Meritokratisches Prinzip), nach welchem die individuelle Leistung als alleiniges Kriterium für den Bildungsweg gilt (Prengel, 1993/2019, Götz, 2019).

Die angestrebte fähigkeitsorientierte Förderung aller Kinder in der Grundschule führte zugleich zur Entwicklung und Verbreitung von Maßnahmen einer fähigkeitsorientierten Platzierung: Schulreifeuntersuchungen sollten dazu beitragen, dass Kinder erst dann in die Grundschule aufgenommen werden, wenn sie die für erforderlich gehaltenen Voraussetzungen mitbringen. Mittels Schülerbeobachtungsbogen sollten lernschwache Kinder bis zum Ende des zweiten Schuljahres erkannt werden. Für den Besuch der Höheren Schulen wurden gutachterliche Empfehlungen der Grundschullehrpersonen und zum Teil auch Testaufgaben eingeführt (Liebers, 2015). Leistungsspannen von bis zu drei Lernjahren in den Anfangsklassen wurden von zahlreichen Lehrpersonen beobachtet. Diesen Leistungsunterschieden wurde mithilfe leistungsdifferenzierter Klassen Rechnung getragen. In ca. 150 Städten wurden das Mannheimer Schulsystem der A-, B- und C-Züge eingeführt (Kap. 1.1.3; Saupe, 1929). Hinzu kamen weitere regionale Varianten von leistungsdifferenzierten Normal- und Förderklassen. Bis auf wenige Ausnahmen wurde kein Zweifel daran gelassen, »dass die ›anormalen‹ Kinder schon im ersten Schuljahr aus der Gemeinschaft herauszunehmen und in die Hilfsschulen zu überführen seien« (Hamburger Lehrerrat, 1919, zit. nach Liebers, 2008, S. 57).