Lempi, das heißt Liebe - Minna Rytisalo - E-Book
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Lempi, das heißt Liebe E-Book

Minna Rytisalo

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Beschreibung

Der junge Bauernsohn Viljami hat sich in Lempi, die Tochter des Ladenbesitzers aus der kleinen Stadt Rovaniemi, verliebt. Hals über Kopf heiraten sie, und Lempi, der das Landleben fremd ist, zieht zu Viljami auf den Hof. Um sie zu entlasten, stellt ihr Mann die Magd Elli ein, die insgeheim selbst gern an seiner Seite wäre. Nach einem einzigen glücklichen Sommer wird Viljami 1943 zum Kriegsdienst eingezogen. Als er zurückkehrt, ist die Stadt zerstört und Lempi verschwunden. Dass sie wie ihre Zwillingsschwester mit einem Offizier nach Deutschland gegangen sei, kann er sich nicht vorstellen. Vielschichtig, emotional und mitreißend erzählt Minna Rytisalo in ihrem Debütroman von der Liebe.

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Der junge Bauernsohn Viljami hat sich in Lempi, die Tochter des Ladenbesitzers aus der kleinen Stadt Rovaniemi, verliebt. Hals über Kopf heiraten sie, und Lempi, der das Landleben fremd ist, zieht zu Viljami auf den Hof. Um sie zu entlasten und über die Trennung von ihrer Zwillingsschwester hinwegzutrösten, stellt ihr Mann die Magd Elli ein, die insgeheim glühend eifersüchtig ist und selbst gern an seiner Seite wäre. Nach einem einzigen glücklichen Sommer wird Viljami zum Kriegsdienst eingezogen. Als er zurückkehrt, ist die Stadt zerstört und Lempi verschwunden. Dass sie wie ihre Schwester Sisko mit einem Wehrmachtsoffizier nach Deutschland gegangen sein soll, kann er sich nicht vorstellen. Viljami, die Magd Elli und Sisko erinnern sich an Lempi – aus ihrer jeweils eigenen, sehr individuellen Perspektive. Vielschichtig, emotional, eindrucksvoll: die Geschichte einer tragischen Liebe vor dem Hintergrund des Lapplandkrieges.

Hanser E-Book

Minna Rytisalo

LEMPI das heißt Liebe

Roman

Aus dem Finnischen und mit einem Nachwort von Elina Kritzokat

Carl Hanser Verlag

Für Iku und Otso, seseneija, immer.

Für Marjatta, der ich es versprochen habe.

Prolog

In der Wegbiegung sieht man sie schon gut, da kommt sie, näher, schärfer umrissen, noch näher, bis hierher, trägt einen großen Koffer, bleibt stehen und stellt ihn ab, schwer ist er nicht, man sieht es am Wackeln. Sie streift sich übers Ohr, verlagert das Gewicht. Ihre Hüfte rutscht zur Seite, unter der Kleidung zeichnet sich die Unterhose ab, ihr Pony ist zu hübschen Seitenwellen frisiert, und sie fragt, ob das hier Pursuoja sei. In ihrem Gesicht erkennt man Aarres Züge, und sie kommt her, weil sie anders nicht kann, das muss man wissen und verstehen. Sie trägt Puder, Lippenstift und Lederstiefel, dazu das süße Lächeln der Verwöhnten, und während man sie so beobachtet, plumpst prompt die Kanne auf den Boden, die Milch fließt in breiten Strömen zwischen die Steine, und kurz darauf ist es, als hätte es nie Milch gegeben.

In den Schritten, die jetzt zur Treppe hasten, steckt Hoffnung, und in den Augen ein Glühen, das die mit der Milchkanne nie hat wecken können.

Die Frau tut einen Schritt, streift einen Handschuh von der Hand, einer glatten mit langen Fingern und schönen Nägeln, streckt sie aus, schaut beide an, erst die Frau mit der Kanne, dann den Mann, in seinem Gesicht zeigt sich ein nie gesehener Ausdruck, hinterm Eis seiner Augen neues Licht, in seiner Mimik spielen lange vergessene Muskeln; er ist es, auf dem ihr Blick ruht, als sie nachfragt, bin ich hier richtig?, und sogar ihre Stimme klingt gleich.

Der Mann auf der Treppe ist wie erstarrt, die ganze Welt bleibt stehen, die Vögel schweigen, die Tanne in der Hofmitte horcht, nichts wächst, keine Welle schlägt ans Ufer in diesem Moment, da die Welt darauf wartet, in eine neue Position zu rücken, und dies ist das Ende aller Dinge, und es ist der Anfang aller Dinge.

Rovaniemi, 14. Sept. 1944

Lieber Viljami.

Ich schreibe Ihnen, damit Sie es nicht von anderen hören. Wir haben Befehl zu gehen, also gehen wir. Ihre Frau ist nicht dabei. (Wurde beim Einsteigen ins Auto eines Deutschen gesehen.) Glückwunsch zu Ihrem Sohn, es geht ihm gut. Er bekommt Milch. Auch Antero geht es gut. Die Kühe sind schon weg. Ich schreibe von unterwegs mehr.

Mit frdl. Gruß, Elli

Haaparanta, 30. Sept. 1944

Lieber Viljami.

Ich habe mich erkundigt. Niemand weiß etwas über Ihre Frau. Am besten ist es, sie zu vergessen. Versuchen Sie darüber hinwegzukommen. Den Jungen geht es gut. Den Kleinen nenne ich Aarre.

Mit frdl. Gruß, Elli

Auf schwedischer Seite, 15. Okt. 1944

Lieber Viljami.

Mein Beileid. Sie ist gestorben, sagen die Leute. Schlimm, dass es so ausgegangen ist. Den Jungen geht es gut. Ich sorge gut für sie.

Mit frdl. Gruß, Elli

VILJAMI

Ich denke an die Eintagsfliegen, daran, wie sie auf- und abstiegen und jede im Licht der Abendsonne deutlich zu sehen war, jede einzeln auf ihrer Bahn, einen Meter hoch und wieder einen Meter runter. Hoch und runter, das Licht fiel in den Streifen zwischen Ufer und Stall, in der Sauna knisterte das Feuer, die Finger rochen nach Rauch, und durchs Gras führte ein Ameisenpfad, der Höhepunkt des Sommers, auch des Lebens, aber das wusste ich da noch nicht. Seid dankbar für das, was ihr kriegt, sagt man, aber das kann ich nicht, denn ich kann nie mehr in die abendliche Stunde zurück, in der du neben mir auf der Treppe vor dem Haus saßt, ich deine leichten Atemzüge hörte und schon selbstsicher genug war, um dich anzusehen. Nie wieder werde ich deine Beine und deine gebräunten Zehen neben meinen fühlen, deinen nackten Arm dicht an meinem, dich ansehen und ein Lächeln zur Antwort kriegen, das sagt: So ist es gut. Die Erinnerung lässt mich sehen, was immerhin noch da ist: die Eintagsfliegen, die Schwalben, den Rauch über dem Saunaschornstein. Ohne das geht der Mensch kaputt.

Hier liege ich, unterm Kopf der Rucksack und unterm Rücken Fichtenzweige, über mir ein Gitter aus Ästen, an denen graue und grüne Bartflechten wachsen, dahinter das Blau des späten Sommers. Mühelos würde ich von hier über die Kämme und Moore ans Ufer finden, das früher mein Zuhause war, unser Zuhause, natürlich würde ich das, an einem einzigen Tag könnte ich hingehen, aber ich tue es nicht. Gestern bin ich vom Westrand des Trockenmoors hergewandert, letzte Woche überhaupt die ersten Kilometer. Jeder Meter ist hart, jeder Schritt. Ständig werde ich langsamer und überlege: Soll ich hierbleiben? Und nicht gehen?

Nichts war langsam und nichts schwierig, als es begann. Ich brauchte Salz und weiße Farbe für die Fensterrahmen und konnte im Auto bis in den Ort mitfahren, schon das ein schöner Zufall. Wir sahen uns die Gebäude der Deutschen an, Johannes Heikkilä und ich, und irgendetwas, vielleicht das Licht an diesem Vormittag oder der Geruch von frisch gesägtem Holz oder die überraschend warme Luft – ich wollte am liebsten die Handschuhe ausziehen und die Jacke aufmachen, dazu die Vögel und die blubbernden Regenrinnen – , irgendein Gefühl von Neuanfang ließ mich fragen: Wie heißt denn die Tochter des Ladenbesitzers? Ich wusste es nicht, da wird man ja wohl fragen dürfen, und schon deshalb musste ich lächeln. Du senktest den Kopf, gucktest durch deine Wimpern und sagtest leise, mit Grübchen in den Wangen: Lempi.

Lempi, das heißt ja Liebe, dachte ich, und hörte genau das in deiner Stimme. Willst du deine Fenster streichen?, fragtest du und hobst den Kopf, blicktest mich geradeaus an. Nee, das Holz, antwortete ich, und du strahltest übers ganze Gesicht – dass es so ein Lächeln überhaupt geben kann – , und fast schon mit einem richtigen Lachen sagtest du: Ah, den ganzen Wald willst du streichen, wie groß ist der denn?, und dann flüstertest du deiner Schwester etwas ins Ohr, und die prustete los und flüsterte zurück: Ich hab’s ja gesagt, sowas in der Art, als hättet ihr eben noch über mich geredet. Du kommst doch wieder?, fragtest du, als du mir das Paket mit dem Einkauf gabst, deine Finger berührten meine, draußen tropfte das Wasser von den Eiszapfen. Wenn ich darum gebeten werde, sagte ich, irgendwie konnte ich bei dem flotten Geplänkel mitmachen, und du legtest gleich nach: Na, dann muss ich wohl bitten! – Aber recht freundlich. – Ach, auch noch freundlich?, und schon waren sie da, deine Lippen auf meiner Wange. So ging das.

Es begann ganz plötzlich über den Tresen hinweg, du hast dich auf die Hände gestützt und zu mir vorgebeugt, deine Hacken lösten sich dabei bestimmt vom Boden, sonst wärst du nicht hoch genug gekommen, und draußen sangen die ersten Vögel. Ich wurde rot und sah dich an, deine Füße kehrten auf den Boden zurück, deine Hände lösten sich vom Tresen, aber unsere Augen sich nicht voneinander, und da war niemand mehr außer dir und mir, uns.

Dass es so gehen kann, ich hätte das nie geglaubt. Natürlich kannte ich euch Schwestern, alle kannten euch, manche hatten sogar ein bisschen Angst vor euch und witzelten über die eigensinnigen Abiturientinnen, ich habe das alles gut im Ohr, und bis zu dem Tag hätte ich es nie gewagt, dich anzuschauen. Ich erinnere mich bis heute an die Einkaufstouren, bei denen ich draußen auf Vater wartete und du mit den Händen in den Hüften die rumlungernden alten Männer vertrieben hast, an deine bösen Blicke, wenn einer dir ungefragt Honig ums Maul schmieren wollte, und erst heute wird mir klar, wie jung du da noch warst, erst zehn oder elf, und doch schon ernst zu nehmen. Als Mutter frisch unter der Erde lag, waren Vater und ich im Laden Bücher abholen, wir mussten, Mutter hatte sie noch bestellt, ich wartete draußen und sah dich die Treppe fegen, so zackig, dass dein langer Zopf wütend hin und her flog, und die alte Bäuerin von Nuolioja, die mit ins Dorf gekommen war, weil sie zum Arzt musste, brummte: Das Mädel hat ein Temperament, so hitzig, das kriegt keiner gezähmt.

Das stimmte. Und das war auch nicht nötig. Du hast mich gewählt, wobei ich nicht sicher bin, ob du mich schon länger beobachtet hattest, das habe ich vergessen zu fragen. Ich hätte mich das nie getraut, dich anzusprechen, ich war zu scheu, das wäre unmöglich gewesen. Nicht mal im Traum wär’s mir eingefallen, aber dann ging die Ladenklingel, ich hörte sie deutlich irgendwo hinter mir, in der linken Hand hielt ich die Handschuhe, draußen schmolz der Schnee, und nur wenige Augenblicke später fühlte ich deine Lippen auf der Wange, ganz weich, schnell wie ein Blitz und trotzdem ewig, und als ich dich anguckte, standst du einfach vor mir, und ich konnte den Blick nicht mehr lösen, meine Augen waren in deinen festgehakt. Der Laden roch nach Mädchen, was für ein Geruch das auch immer ist, woher soll ich das wissen. Süßlich, sauber, anders als bei Männern, kommt vielleicht von den Haaren und der Haut, den Atemzügen. Ihr wart zu zweit, doch ich sah nur eine. Damit fing es an. Du wandtest den Blick nicht mehr ab, und ich auch nicht. Es ging schnell. Zwei Briefe, schon wolltest du die Frau an meiner Seite werden.

Ich legte deinen Brief so auf den Nachttisch, dass ich ihn immer sofort sah. Der Umschlag war unschön aufgerissen, so eilig hatte ich es gehabt beim Aufmachen, wegen der fremden Frauenhandschrift, mein Name vollkommen richtig geschrieben, wie gemalt in nach rechts geneigten, runden Buchstaben, und ich wusste schon am Briefkasten: Das bist du. Das dünne Papier fühlte sich weich an, auf dem Umschlag prangte neben der Briefmarke ein kleiner Fleck, auch den guckte ich genau an und stellte mir deinen Mund vor. Jedes Wort lernte ich auswendig. Das wichtigste war kurz, hatte nur drei Buchstaben. Vielleicht sehen wir einander wieder? Ich weiß genau, wie ich am Tisch saß, immer noch unsicher, und aus dem W, dem I und dem R die Bedeutung herauszulesen versuchte, die die Buchstaben dann bald bekamen, als sie zu diesem Wir wurden.

Zum Glück wusste ich, was für ein Mädchen ich mir ins Haus holte. Du warst mutig und flink, das war mir bekannt, aber auch an elektrisches Licht gewöhnt, hattest jahrelang die Schule besucht und trugst die weiße Abiturientenmütze. Ich konnte dir mein Bauernhaus und das Seeufer bieten, ich weiß noch, wie ich da stand, alles betrachtete und mir vorstellte, wie du mit mir unterm gleichen Dach wohnst, der Wollteppich an der Wand, im Regal die wenigen Bücher, ein paar Kühe, der Hofhund und die Katze Miisu. In deinem Zuhause gab es eine Haushälterin, die euch bekochte und für euch wirtschaftete, damit ihr Mädchen zur Schule gehen konntet, und ganz bestimmt hatte dein Vater sich was anderes für dich vorgestellt als meinen bescheidenen Hof.

Geld hatte ich noch von meinen Eltern, und ich überlegte, dass ich gegen einen kleinen Lohn eine Magd ins Haus holen könnte, zu deiner Unterstützung. Alles regelte sich schnell und mühelos. Sollte der alte Heikkilä doch lachen, dass dem Viljami eine Braut allein nicht reicht – in mir pochten Mut und Selbstvertrauen, und ich wusste, so und nicht anders.

Man kann sehr ruhig sein, wenn Gewaltiges passiert. Das habe ich später an der Front gemerkt, und schon damals war es so. Ich klopfte die Teppiche, schrubbte die Fußböden und im Stall die Wände, fuhr ins Kirchdorf und bestellte beim Fotografen ein Hochzeitsfoto und im Gasthaus den Kaffeetisch und vereinbarte den Lohn für die Magd. Abends schlief ich erschöpft ein, morgens wachte ich mit einer langen Liste im Kopf wieder auf, und beim Aufstehen sah ich sofort deinen Brief an der Teekanne. Das war vielleicht eine Zeit. Und ich sicher und unsicher, ruhig und unruhig zugleich.

Einen Strauß trugst du nicht, dafür die Brosche deiner Mutter. Der Pastor gab uns an der Kirchentür die Hand, ein alter Mann, ich kannte ihn nicht. Die Aussegnung meiner Eltern hatte Joutsijärvi gemacht, der mir bei Vaters Beerdigung die Hand auf die Schulter gelegt und versichert hatte, dass der Herr auf seine Schafe aufpasse und ich als Waise nun bei Gott ein Zuhause hätte. Darauf wusste ich nichts zu sagen und nickte nur; ich war noch ein Junge, fast ein Kind. Als ich mit dir an derselben Tür stand und wir vor den Altar traten, war ich ein Anderer, ein Neuer.

Deine Haare waren im Nacken zusammengerollt, kein langer Zopf mehr über deinem Rücken, der Unterschied fiel mir sofort auf, und deine gebogenen Augenbrauen hoben sich, als du ja sagtest. Die Kirche war kalt, aber deine Hand warm, und die einzigen Zeugen waren deine Schwester Sisko und dein Vater, als du dich vor Gott mit mir vermähltest. Was zitterten mir die Glieder, wie einem Küken, einem Rentierkalb. Bis du mich zum Mann gemacht hast.

Und dann.

Dann kam alles anders, und damit soll ich mich nun abfinden, weil man sowieso nichts ändern kann, man kann ja das Schicksal nicht ändern. Bloß, wie soll ich sowas annehmen, mich dreinfinden? Und jetzt liege ich hier auf einem Bett aus Fichtenzweigen, Torf und Erde, die Luft riecht herb und klar, so wie ich’s kenne, nach Sumpf und Harz und der aufziehenden Kälte. Ich bin schon so nahe, dass ich die Himmelsrichtung genau kenne und den Winkel der Sonne um diese Zeit des Tages und des Jahres. Ich weiß, wie du dir in diesen Minuten die Stallschürze umgebunden hättest, es wäre an der Zeit gewesen, die Kühe von der Wiese zum Melken in den Stall zu rufen, Ptrui-Ptrui, mit dem Lockruf, und schon sehe ich vor mir, wie wir vor dem Spiegel geübt haben und ich dir gezeigt habe, wie man ruft, wie schnell und wie hoch, damit die Kühe gehorchen. Hätte ich wenigstens einen besseren Spiegel gehabt.

Dicht nebeneinander saßen wir, und von Eile wussten wir noch nichts, hatten alle Zeit der Welt. Komm, wir üben, sagte ich und legte meinen Arm um dich, da traute ich mich schon. Ich machte es dir vor, du schautest aufmerksam in den Spiegel. Irgendwo knarrte eine Tür, wohl die Magd. Deine weißen Zähne beim Lachen, das krieg ich nie und nimmer hin, einen solchen Ton. Ich zog dich fester an mich, hob die freie Hand und strich dir übers Gesicht. Im Spiegel sah ich zu, wie mein Finger über deine Wange wanderte und über den Rand deiner Lippen, wie dein Blick ernst wurde und deine Augen glühten. So war das damals in diesem Sommer und Herbst, ich bekam dieses Glück geschenkt, an das ich heute nicht mehr zurückdenken mag. Die Erinnerung an diese Zeit reibt mich auf und reißt mich in Stücke. Jetzt zittern mir die Hände. In meiner Faust steckt grünes Moos, aber in meiner Seele nur Leere, die nie verschwinden wird und schmerzt und hallt.

Ich habe die Hände eines erwachsenen Mannes. Die meines Vaters. Groß, mit hervortretenden Adern und quadratischen Nägeln, zur Faust geballt richtig hart, mit ledriger Haut. Diese Hände haben geladen und geschossen, Hunderte Male, und sie haben nicht mal gezittert, als diese Nachricht kam, die über dich, Lempi. Meine Hände erinnern sich viel besser an deine weiche Haut als an Schlamm und Dreck. Aber was soll ich mit diesen Händen noch tun? Abends haben sie deine Haare gestreichelt, so oft und trotzdem zu selten. Im Vergleich zu anderen haben wir dennoch eine lange Zeit bekommen, einen ganzen Sommer und fast das restliche Jahr, bis –.

Dann kam der Brief. In deinen Augen schwarze Angst, als du ihn mir hinhieltst und ich ihn nahm. Deine Hand zitterte, fiel schlaff herunter, suchte unter der Schürze nach der anderen Hand. Deine Schultern waren steif, deine Atemzüge schnell. Draußen waren die Tage kurz und schummrig, dabei ist der tiefste Winter nicht so dunkel, wie man denkt, wenn man auf dem überfrorenen Steg in den Himmel blickt, mit Wassereimern in den Händen, die wärmer werdende Sauna riecht, Schritte hört und merkt, dass die Atemzüge anders klingen. Ist das jetzt alles? Was passt noch in den Rucksack? Oder wäre es besser, nicht davon zu sprechen? Vielleicht ja. Das hätte ich dir niemals zumuten wollen, habe ich gesagt, und dass es zu Nachbar Heikkilä nicht weit sei und ich ganz bestimmt zurückkehre, davor brauchst du keine Angst zu haben. Abends endete es in Tränen und Krämpfen, einer Hitze und Wut, die mich überrumpelten, dabei hatte ich eigentlich schon gelernt, wie stark die Kräfte einer Frau sind. Ich versprach dir tausend Mal, dass ich zurückkehre, und hier bin ich, ich kehre zurück. Doch du hättest mir das auch versprechen müssen, und zwar mit Worten, wieso habe ich dich nicht dazu gebracht? Ich dachte, dass du mir mit jedem lauten Seufzer und jedem wilden Schrei versprochen hast, am Leben zu sein.

Wenn an der Front Post verteilt wurde, erklang mein Name oft. Es gab einen regelrechten Wettbewerb um Briefe, auch darum, zwischen manchen Soldaten jedenfalls. Du hast mir vorgeworfen, nicht oft genug zurückzuschreiben, gefragt, ob meine Briefe unterwegs verlorengingen, denn deine Briefe kamen an. Und gleich nach dem Lesen verbrannte ich sie. Ich las sie allein, in einem Versteck, ging rein in die Stube und verbrannte sie. Ich habe ein gutes Gedächtnis, und es wäre nicht richtig gewesen, hätten die anderen in meinem Rucksack wühlen und deine Briefe lesen können, falls mir etwas zugestoßen wäre. Sie hätten ja nicht nur in meinen Sachen, sondern auch in dir gewühlt, unsere vertrautesten Momente hätten sie herausposaunt. Ich glaube nicht, dass andere solche Briefe bekamen. Du hattest Worte, die mich mitten im Krieg und im Tod ganz lebendig machten, sodass es wehtat. Meine Kameraden wunderten sich über die verbrannten Briefe, spotteten sogar, doch ich sagte, die Briefe seien nun mal so heiß, dass sie mir die Finger versengten. Aber es standen auch andere Dinge drin, gerade zum Ende hin. Ich verstand auch deine versteckten Botschaften. Du warst niedergeschlagen und erschöpft, hattest Angst, hast mich und deine Schwester, deinen Vater und auch das Leben im Dorf vermisst, obwohl du das nie direkt geschrieben hast. Du hast lieber die Erinnerungen an unseren ersten Sommer hervorgeholt, ihn immer und immer wieder mit deinen Worten ausgemalt. Dabei wusste ich auch so genau, wie er gewesen war, Lempi.

Ich las alles und konnte fühlen, wie tapfer du warst, doch mir war zugleich klar, dass das Wesen in deinem Bauch und überhaupt das Leben deine Kraft aufbrauchte, du hast ja nicht dagesessen und Däumchen gedreht. Und dann gab es noch den kleinen Antero, und selbst wenn die Magd tüchtig mithalf – ich fehlte. Mich hättest du gebraucht, einen Mann, der auf dich achtgibt und auf das Kleine. Immer wieder nur der Sommer, und in einem der Briefe ein schwach aufkeimender Gedanke, den ich sehr wohl spürte: Was, wenn du bei deinem Vater geblieben und nie nach Pursuoja gezogen wärst. Ich versuchte, den Ton rauszuhören in diesen Zeilen über deine Schwester und ihren deutschen Bräutigam, doch es blieben Buchstaben auf Papier, und mir fiel nur ein, dass ich dich mehrmals gefragt hatte, ob du es bereust, und du jedes Mal nein sagtest. Doch nun warst du elend allein, sicher bereutest du es inzwischen. Bloß – wir hätten sonst nicht erlebt, was wir bekamen.

Wie konnte es nur so ausgehen?

Die Frage ist so groß und unfassbar, dass ich sie bloß wie ein fernes Flüstern höre. Nie hätte es so laufen dürfen. Leider weiß ich nur, was erzählt wird, ich war ja nicht da. Ich rätsele und vervollständige die Geschichte, jedes Mal anders, Einzelheiten kenne ich nicht. Wie fühlte sich deine Haut an, als du noch geatmet hast? Was hast du in deinen letzten Tagen gegessen? Mit wem hast du gesprochen? In welcher Sprache? Wo bist du jetzt? Wie schnell kann man vergessen, wer man ist, und alles hinter sich lassen? Dass du das getan hast, was die Magd in ihrem Brief behauptet, kann nicht sein, das weiß ich. Aber irgendwo in mir fühle ich die Gewissheit, dass du nicht mehr am Leben bist, ich fühle es an einer Stelle, für die es keinen Namen gibt. Etwas ist für immer verschwunden.

Doch dein Kind hättest du nie verlassen, und auch mich nicht. So bist du nicht, so kannst du nicht sein. Nicht wahr, Lempi?

Noch nie ist mir der Rucksack so schwer vorgekommen wie auf diesem Heimweg, dabei ist gar nicht viel drin. Zerfetzte Träume, Wärme, die schon abkühlt, Erinnerungen an ein Lächeln, das es nicht mehr gibt. Hätte ich wenigstens einen der Briefe aufgehoben, einen schönen aus der Anfangszeit. Ich weiß deine Worte natürlich auswendig, aber das reicht nicht, nichts reicht, und es ist grausam, dass ich zurückmuss. Im vollgestopften Zug sitzen, aus der Stadt bis ganz in den Norden nach Rovaniemi, mit viel zu vielen Leuten. Wieso kehrt der Soldat so spät zurück? Was soll ich darauf schon sagen. Die Leute reden wie eh und je, über alles, unbegreiflich, wo in meiner Welt jetzt alles anders ist, in meinem Universum ist der Mittelpunkt verschwunden. Von Rovaniemi bin ich mit einem Laster weitergekommen, hinten auf der Ladefläche, und schließlich zu Fuß, immer die Straße entlang, die ich so gut kenne wie sonst nichts. Jeder andere wäre losgerannt, ich nicht. Und ich hätte die Straße nicht verlassen dürfen.

Aber ich habe es getan, mit einem großen Schritt über den Graben. Mir aus Gewohnheit ein paar Preiselbeeren in den Mund gestopft. Den Sumpf habe ich über die festeren Erdstellen überquert, ein toter Ast ist mit lautem Knacken zerbrochen. Mücken gibt es kaum noch, der Herbst ist zu weit fortgeschritten, die Laubbäume und der Boden sind rot und gelb. Ich bin hinterm Tümpel langgegangen und hab mich in den Schutz unterhalb des Hügels zurückgezogen. Hierher. Weit weg von allem. Mein Atem ist fast stehengeblieben und eine Schmerzwelle ist durch meine Brust gewandert, so stark, dass sie mich fast niedergedrückt hat. Ich hätte beinahe sterben können, und seitdem habe ich mich von diesem Ort nicht mehr wegbewegt. Ich liege auf der Erde, auf der Seite, zusammengekrümmt, die Knie umklammert, und wie von weither habe ich einen Laut gehört, irgendwas zwischen Weinen und Schreien, aber mehr ein Schreien.

Von hier ins Dorf Siurunmaa sind es rund sechs Kilometer, Vogelfluglinie immer nach Norden, aber diesen Weg würde niemand nehmen. Überall lauern Minen, haben sie im Kirchdorf gesagt, aber ich trete nicht rein, für mich ist ein anderes Schicksal vorgesehen. Andauernder Schmerz, eine schwelende, quälende Brandwunde. Aber nach außen sieht man das nicht. Wie einfach es wäre, man würde es sehen: ein fehlender Arm, ein verbundener Kopf, ein humpelndes Bein. Doch ich wirke unversehrt, gehe mit langen Schritten durch den Wald, habe in den Armen dieselbe Kraft, die mit vierzehn, fünfzehn in meine Muskeln schoss. Ich erinnere mich noch an jene Rudertour, es war Vaters letzter Sommer, und ich fühlte im Rücken, in den Armen und Schultern, überall im ganzen Körper diese Kraft, die ich vom Vorjahr nicht kannte. Die Ruder glitten geschmeidig durchs Wasser, die quietschenden Dollen gehorchten, das Boot folgte meinem Willen, als wäre es nur ein Holzspan.

Doch jetzt gab es diesen Schwelbrand, das bittere Glühen und Qualmen. Selbst wenn man im Frühling denkt, die nassen, toten Halme brennen nicht – sie brennen doch, eignen sich sogar zur Brandrodung. Das habe ich von meinem Vater gelernt. Sie brannten, als wir am Ufer standen, das zeigte er mir mit allen seinen Bewegungen, dem Stochern der Eisenegge, dem Ausweichen vor dem schwarzen, feuchten Qualm, er bewegte sich bedächtig, sein Blick ging schon in eine Ferne, die ich nicht kannte. Feuer arbeitet sich langsam voran und glüht auch dort, wo man es nicht sieht, da harrt es aus und zerstört leise, aber unausweichlich alles, was da ist. Gleich unter der obersten Erdschicht liegt Torf, und selbst diese Schwärze kann schwelen.

All das habe ich gelernt, obwohl ich es nicht lernen wollte; ich habe es geerbt, dasselbe Schicksal.

Du hattest gewaltig viele Sachen dabei, als du als Braut in mein Haus kamst. Johannes Heikkiläs Vater bot sich als Fahrer an und lud die Ladefläche seines Wagens voll, während wir in der Kirche waren. Auf der Fahrt saßen wir vorn im Fahrerhaus, du in der Mitte. Ich wusste nichts zu sagen und blickte geradeaus oder rechts zum Fenster raus, dich wagte ich nicht anzusehen. Ich versuchte so zu sitzen, dass mein Bein dich nicht aus Versehen berührte. Die Umgebung wurde vertrauter, ich versuchte sie mit deinen Augen zu sehen, wie zum ersten Mal. Ob das da draußen sehr einsam und heruntergekommen wirkte? Ländlich, das auf jeden Fall.

Heikkilä schwieg und konzentrierte sich aufs Fahren. Beim Birkenwäldchen war der Weg fest, doch in den ungeschützten Weiten am Trockensumpf hatte die Sonne den Schnee angeschmolzen. In einer Kurve schwanktest du zur Seite, oder war es das Auto, jedenfalls berührte deine Hüfte meine, und du rücktest nicht weg. So locker bewegen sich Frauen also, sitzen einfach da, dachte ich, doch dann verstand ich. Diese Kurve ist gar nicht weit von hier entfernt. Jedenfalls blieb mein Gesicht zwar weiter zur Scheibe gerichtet, doch aus dem Augenwinkel sah ich dich an und fasste Mut, ließ meine Hand von meinem Bein auf deine Hand wandern, die lag wiederum auf deinem Bein. Da blieb sie, meine Hand.

So, Herr Bräutigam, sagte der alte Heikkilä, als wir in Pursuoja ankamen. Damit war die Fahrt vorbei. Noch war die Schmelze nicht zu stark gewesen. Er reichte mir die Hand wie einem Mann, kniff ein Auge zusammen und nuschelte sowas wie: Dann mal schön abladen, oder will das junge Paar etwa sofort ins Haus? Er selbst wollte Asche auf die Felder bringen und den Wagen erst am nächsten Morgen holen, wenn der Schnee auf den Wegen fester wäre.

Die Ladefläche war voll mit deinen Dingen. Koffer, Truhen und drei große Wandteppiche, die bei Schneeregen nass werden würden, es war klüger, gleich alles reinzubringen. Dutzende Bücher, spitzenverzierte Bettwäsche, Fotos für den Ehrenplatz auf der Kommode, allerhand Frauenzeug, sogar eine Hutschachtel, aber dieses Wort musstest du mir erst beibringen. So viele Dinge waren es, bestimmt hast du einiges nach dem Einzug nicht mehr angerührt.

Die Magd war schon vor uns ins Haus gegangen, von den Küchenschränken her tönte lautes Poltern. Du standst an der Haustür, in feinen, zierlichen Schuhen, die nur Innenräume kannten und beim Weg über den Hof sicher nass geworden waren. Bereust du es?, fragte ich leise, stellte einen Koffer neben dir ab, nahm allen Mut zusammen und sah dich an. Du lächeltest leicht, vielleicht musstest du erst überlegen, und sagtest, nein. Vor dem Haus hatten sich im Matsch große Pfützen gebildet, die über Nacht gefroren waren. Ich Dummkopf, wieso hatte ich nicht daran gedacht, auch den Hof in Ordnung zu bringen. Jetzt musstest du mit nassen Schuhen anfangen, aber du lachtest nur und sagtest: Holst du Wasser? Dann können wir Kaffee aufsetzen, oder ich, ich bin doch die Ehefrau, ich koch ihn dir. So warst du, damals am ersten Tag auf meinem Hof, und uns glückte alles, sofort.

So gut lief unser Anfang, nie hätte ich kommen sehen, dass ich alles verlieren würde. Jetzt bin ich wieder hier. Ich lehne an dem Stamm der hohen Fichte und verberge mich in ihren Zweigen, will das schöne Herbstlicht nicht, es ist wie Hohn. Aber die Augen zuzumachen ist fast noch schlimmer, als sie aufzuhalten. Wenn ich wenigstens schlafen könnte, richtig tief schlafen und fliehen. Die Fichte hat unter ihren Zweigen ein trockenes Nadelbett, und der Rucksack ist mein Kissen. Vielleicht wird das mein neues Krankenbett, bin ich doch derselbe hoffnungslose Fall wie im Lazarett, schlafen kann ich noch immer nicht. Irgendwann haben sie dann eingesehen, dass Elektroschocks die Not nicht lindern. Der Zwangsschlaf nützte nichts, sobald ich aufwachte, stieg das Grauen wieder hoch. Die Schwestern redeten im Flüsterton, hoben mein Kinn hoch, flößten mir Zuckertrunk ein, und sobald ich richtig wach war, kam anderes stärkendes Zeug hinterher. Aber ich wurde nicht stärker, und in mir haust derselbe Schmerz wie bei der Einlieferung. An die kann ich mich kaum erinnern, ich weiß nur, dass dieser Brief in meiner Hand plötzlich zitterte und Johannes etwas zu mir sagte, wie von weither, aber seine Worte verstand ich nicht mehr, es gab nur die hallende Leere und das entsetzliche Wissen, dass alles zu Ende ist. Dann wurde ich abgeholt.