Leon - Carole Enz - E-Book

Leon E-Book

Carole Enz

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Beschreibung

Leon ist einer der Helden in der Rabenherz-Reihe von Sistabooks. Weil er erst ab Band 4 in Erscheinung tritt, weiss man kaum etwas über seine Jugend. Dieses Buch schliesst die Lücke. Diesen Roman hat die Autorin ganz speziell für ihre Rabenherz-Mitautorin Michèle Combaz Thyssen geschrieben. Leon Inderbitzin ist kein Kind wie jedes andere, denn er wächst in Zelten, Wohnmobilen und Forschungscamps auf. Seine Eltern sind Wildbiologen und stets auf Achse. Nach Tigern in Asien, Löwen in Afrika, Pumas in Nordamerika erforschen sie Luchse in Graubünden. Zufällig macht der vierzehnjährige Leon eine grausige Entdeckung: eine illegale Giftmülldeponie. Der Junge ermittelt auf eigene Faust. Das kostet ihn fast das Leben. Kann er die Umweltsünder der Polizei übergeben?

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Seitenzahl: 140

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

1 Unter Tigern, Löwen und Pumas

2 Nur noch Augen für Lilly

3 Ein Fass ohne Boden

4 Eine folgenschwere Entscheidung

5 Der Weg ist versperrt

6 Riskante Recherchen

7 Eine heisse Spur

8 Ein falscher Engel

9 Im Wald der tausend Stimmen

10 Der verlorene Sohn

11 Der Profi-Killer

12 Die Todesbrücke

13 Eine Wand voller Böcke

14 Sag niemals nie!

Epilog

Anhang

für Sista Michèlezum Dank für 22 Jahre Verlag, 33 Jahre Freundschaft sowie das geniale Abenteuer, mit dir zusammen Rabenherz zu schreiben! Mögen wir noch viele Fortsetzungen dieser coolen Buchreihe kreieren!

Prolog

«Was für leuchtend grüne Augen!», ist Patrick Inderbitzin überrascht, als er seinen neugeborenen Sohn ergriffen mustert, «Dabei liegt die Wahrscheinlichkeit, dass Eltern mit blauen Augen ein Kind mit grünen Augen bekommen, bei gerade mal einem Prozent.» – Obwohl seine Frau, die noch im Gebärsaal liegt, von der mühsamen Geburt komplett erschöpft und durchgeschwitzt ist, lächelt sie ihrem Gatten zu, als wäre sie überhaupt nicht überrascht. «Die Gene für grüne Augen manifestieren sich in deiner und meiner Verwandtschaft doch immer wieder… mein Opa, deine Tante. Ganze sechzehn Gene sind für die Augenfarbe verantwortlich. Bei mir wie auch bei dir fehlen wohl einfach ein paar Gene, die es für grüne Augen braucht – darum sind unsere blau. Doch mit jener Spermienzelle, die meine Eizelle befruchtet hat, um dieses kleine Wunder zu erschaffen, hast du mir genau jene Gene für grüne Augen zugeschanzt, die mir fehlen.» Patrick nickt verlegen, denn er müsste ja wissen, wie die Augenfarbe zustandekommt. – Die noch anwesende Hebamme hingegen verdreht die Augen und murmelt: «So tönt es, wenn ein Biologen-Paar ein Kind bekommt. Normale Eltern würden <Ach ist er süüüss!> ausrufen.»

Patrick hatte seiner Frau Andrea mehrere Stunden die Hand gehalten, bis der Wonneproppen von satten vier Kilogramm endlich das Licht der Welt erblickt und alle Anwesenden mit seiner Anmut verzaubert hatte. Jetzt, wo er in Andreas Armen liegt und in die für ihn fremde Welt glotzt, scheint die Zeit stehen zu bleiben. Nur die Hebamme ist etwas ungeduldig, denn im Nebenraum wartet schon ihr nächster Einsatz: eine bevorstehende Zwillingsgeburt. Sie schreibt schnell das Geburtsdatum in ein Formular rein: 9. August 2002. Sie hat das Feld für den Tag noch leer gelassen, denn es ist schon fast Mitternacht – es hätte gut auch bis in die frühen Morgenstunden des nächsten Tages dauern können.

Jetzt fehlt ihr nur noch ein einziger Eintrag. Deshalb fragt sie, aus Zeitgründen etwas drängend: «Und der Name des kleinen Löwen lautet wie nochmals? Das muss ich eintragen und dem Zivilstandsamt weiterleiten.» – «Kleiner Löwe… Ach ja, sein Sternzeichen ist Löwe… na dann: Leon!», antwortet Andrea verzaubert, nur Patrick starrt sie perplex an und stottert: «A… aber er… er sollte doch Urs heissen!» – «Urs… so heisst doch heute niemand mehr.» – «Eben darum», kontert der Vater, «ein einzigartiger Name. Und er bedeutet Bär! Bären magst du doch, Rea.» – «Ja», säuselt Andrea, «du bist mein Bärli, Päde. Unser Sohn ist jetzt halt ein Löwe. Schau dir doch seine dunkelblonde Mähne an. Welches Neugeborene hat schon so viele Haare auf dem Kopf. Das schreit nach einem passenden Namen. Und Leon passt!» – Der Vater seufzt und blickt zu seinem Sohn, der seinen Vater mit einem einzigen Blick entwaffnet. Patrick gibt seinen Widerstand auf: «Ok, dann eben Leon! Willkommen auf diesem Planeten, Löwenherz!»

1

Unter Tigern, Löwen und Pumas

Leons Kindheit ist ein einziges grosses Abenteuer. Seine Eltern reisen mit ihm rund um die Welt, um in Forschungsprojekten zum Schutz von Grossraubkatzen mitzuwirken oder selber welche zu leiten. Patrick und Andrea Inderbitzin sind beide Naturforschende wie aus dem Bilderbuch: Sie lieben die Wildnis, leben gerne in Zelten, Wohnwagen oder improvisierten Forschungscamps – meist weit weg von Dörfern und Städten. Eine Satellitenverbindung ist bis zu Leons zwölftem Geburtstag grösstenteils ihr einziges Tor zur Zivilisation. Sie müssen jeden Tag schauen, wie sie über die Runden kommen, mit Wasser und Nahrung haushalten, allen Gefahren und Pannen trotzen. Und sie müssen Leon unterrichten – abwechselnd. Das ist keine leichte Aufgabe, denn an Ablenkung mangelt es nicht. Der kleine Draufgänger erkundet lieber die Wildnis statt mit den Eltern Schulstoff zu büffeln.

Die ersten vier Jahre lebt die Familie in Asien. Leons Eltern arbeiten in diversen Forschungscamps an einem Tigerprojekt, unter anderem in Indien. Leon hat nur wenige Erinnerungen an diese Zeit. Nur etwas sticht hervor: die Begegnung mit einem ausgewachsenen Tigermännchen – Auge in Auge. Der Kuder hätte ihn locker verspeisen können, doch Leon stand nur da, komplett angstfrei – alles geht gut aus, nur die Eltern hätten fast einen Herzinfarkt bekommen.

Dann folgt Afrika – passend zu seinem Namen geht es dort um Löwen. Patrick und Andrea leiten das Projekt. Zum ersten Mal sind sie ihre eigenen Chefs, aber gleichzeitig auch die einzigen Mitarbeitenden. Meistens hausen sie in einem Zelt. Nachts schleichen Wildtiere aussen um die verletzliche Behausung herum. Und wenn ein männlicher Löwen seinen imposanten Schatten ins Zelt wirft und sein Gebrüll den Inderbitzins beinahe das Trommelfell platzen lässt, da fürchtet sich Leon kein bisschen.

Bevor sie zum nächsten Projekt weiterreisen, machen sie zum ersten Mal in ihrem Leben Ferien – in Kenyas Hauptstadt Nairobi. Das ist für Leon ein totaler Kulturschock. Das achtjährige Naturkind ist komplett überfordert von dieser lauten, überfüllten Welt. Doch etwas Gutes hat die zweimonatige Auszeit, bevor es weitergeht nach Nordamerika zu einem Pumaprojekt: Leon trifft einen Gleichaltrigen, mit dem er sich sofort gut versteht. Arthur McIntosh ist der Sohn eines britischen Botschafters und einer kanadischen Hilfswerks-Mitarbeiterin. Die Jungs sind nach wenigen Tagen unzertrennlich, stellen viele Dummheiten an und landen oft auf dem Polizeiposten. Arthurs Vater holt sie jeweils nach ein paar Stunden mit der Konsulatslimousine wieder ab. Die Polizisten erwarten den hohen Besuch stets mit einem breiten Grinsen, denn die Jungs sind mittlerweile stadtbekannt.

In Nordamerika wird der mittlerweile neunjährige Leon in eine deutsche Schule nach Kalifornien geschickt. Er verbringt die Zeit unter der Woche im Internat. Das passt ihm gar nicht, denn er fühlt sich wie in einem Gefängnis. Er will frei sein, draussen Abenteuer erleben, die Natur erkunden! Die ersten Monate sind für ihn eine fürchterliche Tortur. Zudem sieht er seine Eltern nur an den Wochenenden. Meistens tätigt ein Elternteil Freitag-Abend einen Inlandflug, um Leon abzuholen. Die Wochenenden verbringt er dann im Forschungscamp beim Yellowstone National Park, was zwar eine mühsame Herumfliegerei, aber definitiv mehr nach seinem Geschmack ist als das Internat. Montag-Morgen geht es jeweils zurück; das ist mit der Schule so arrangiert.

Glücklicherweise besitzt Leon dann schon einen Laptop. Damit kann er mit Arthur kommunizieren. Deren Summ-Sessions finden meistens um die Mittagszeit oder um Mitternacht statt – wegen der grossen Zeitverschiebung von fast einem halben Tag. Jeweils einer der beiden bekommt zu wenig Schlaf. Weil es sich ausgleicht, geht es einigermassen. In der Schule selber findet sich Leon kaum zurecht. Er prügelt sich oft mit den Mitschülern, die er für aufgeblasene Wichtigtuer hält. Und die Mitschülerinnen, die er alle in die Kategorie <doofe Tussi> einteilt, muss er sich vom Leib halten, denn alle sind total in ihn verknallt. Und die Situation verschlimmert sich von Jahr zu Jahr. Als Zwölfjähriger sieht er schon umwerfend aus. Während die anderen Jungs noch wie Kinder wirken, ist Leon schon ein strammer Bursche in Kleinformat, mit dunkelblonden Locken, leuchtend grünen Augen, einem Engelsgesicht und einem muskulösen, aufrechten Körperbau.

***

Endlich! Ein richtiges Zuhause! Die dreiköpfige Familie zieht in eine kleine Wohnung nach Felsberg bei Chur in den Schweizer Alpen. Der mittlerweile dreizehnjährige Leon hat zum ersten Mal in seinem Leben ein eigenes Zimmer. Im Internat in San Francisco hatte er sich einen Raum mit einem Jungen teilen müssen, den er für fürchterlich dumm hielt. Das war eine Zweckgemeinschaft gewesen, man war sich aus dem Weg gegangen, hatte kaum miteinander gesprochen. Jetzt besucht er die Kantonsschule in Chur und kann mit dem Velo jederzeit nach Hause, wenn er es nicht mehr aushält, zu viele Leute um sich zu haben, und sich nach Wildnis sehnt.

«Leon, nächsten Sommer mieten wir uns einen Kleinbus und fahren den Luchsen nach, die wir per GPS-Halsband orten. Was sagst du dazu?», eröffnet ihm sein Vater die Neuigkeit. Ein breites Grinsen formt sich auf Leons Gesicht. «Hab ich dir doch gesagt, dass er sich freuen wird, Bärli», fühlt sich die Mutter darin bestätigt, die Reaktion ihres Sohnes korrekt vorausgesehen zu haben. Patrick grinst, weil seine Frau ihn seit Leons Geburt <Bärli> nennt, und schielt zu Andrea: «Hätte ja sein können, dass er die Schulfreunde vermissen wird – Hasi!» – Andrea lächelt verliebt, als sie ihrerseits mit Kosenamen angesprochen wird, und greift nach Patricks Hand. Beide rücken auf der Küchenbank näher zusammen und küssen sich leidenschaftlich. Leon läuft knallrot an und schaut verlegen zu Boden. Irgendwie grusig, dieses Geküsse, findet der Teenager – ausgerechnet er, der in der Wildnis jegliches Getier anfasst, ohne angewidert zu sein, nicht mal vor Spinnen und Schlangen macht er halt. Aber Küssen wirkt auf ihn eklig. Doch das sollte sich bald legen – aber sowas von!

2

Nur noch Augen für Lilly

9. August 2016. Leon lauscht in die Dunkelheit. Er liegt mitten im Kleinbus am Boden auf seiner einrollbaren Matte. Der Lieferwagen ist zum Camper umgebaut worden. Das Wohnmobil Marke Eigenbau steht in einem abgelegenen Bündner Tal. Seine Eltern schlafen ganz hinten im Camper – das Elternbett ist erhöht montiert, ein Vorhang verhilft den Eheleuten zu etwas Privatsphäre. Darunter befinden sich die Batterie und der Wassertank. Neben Leon ist nur wenig Platz vorhanden, um zwischen seinem improvisierten Liegeplatz und dem Kleiderschrank sowie der Winzig-Küche vorbeizukommen. An Leons Kopfende ist ein enger Bretterverschlag vorhanden, der als Toilette dient – ein chemisches WC steht dort drin. Vis-à-vis der Toilette befindet sich die seitliche Schiebetüre, die ins Freie führt. Vom Wohnbereich aus gelangt man direkt in die Fahrerkabine hinein. Weil dort nur zwei Sitze vorhanden sind, hat Leons Vater einen dritten Sitz mit Sicherheitsgurte an die fest eingebaute Küchenkombination montiert und im Boden verankert. Dort hockt Leon, wenn der Kleinbus unterwegs ist. Patrick hatte sich einen langen Schlagabtausch mit den Beamten des Strassenverkehrsamts geliefert, bis das Gefährt endlich die Strassenzulassung bekam. Einen richtigen Camper konnten sie nämlich nicht nehmen, der wäre nicht dorthin gelangt, wo Patrick und Andrea ihre Luchse vermuten. Sie sind auf ein leistungsstarkes Vehikel angewiesen, das die Naturstrassen der Jäger und Förster meistert.

Leon greift zu seinem Smartiefon. Es ist fünf Uhr morgens. Der Vierzehnjährige gähnt und reibt sich den Schlaf aus den Augen. Viel zu früh! Doch irgendwie mag er nicht mehr liegen. Heute ist ein besonderer Tag, heute ist sein vierzehnter Geburtstag. Was für eine Überraschung haben wohl seine Eltern dieses Mal ausgeheckt? Letztes Jahr hatte er ein cooles Mountainbike geschenkt bekommen. Damit kann er nicht nur zur Schule radeln, sondern auch die Wälder und Felder unsicher machen. Es ist in einer Aufhängevorrichtung aussen am Wagenheck festgemacht, zusammen mit den beiden etwas weniger coolen Fahrrädern seiner Eltern.

Eine Eule ruft: «Buhuu!» Dann sechs Sekunden Pause. Schliesslich erneut ein durchdringendes <Buhuu!>. Nach weiteren acht Sekunden ein dritter Ruf. «Ein Uhu», flüstert Leon ehrfürchtig, «die grösste Eule der Welt. Fast zwei Meter Flügelspannweite! Die will ich sehen! Die muss oben in der Felswand hocken, so laut wie das tönt!» Leon kriecht aus der wärmenden Decke hervor, lediglich mit Boxershorts bekleidet, und schleicht sich zur Tür – doch nicht zur Schiebetür, denn die würde zu viel Lärm verursachen. Er klettert geschickt über den Beifahrersitz und öffnet jene Tür. Diese geht mit einem Klicken auf. Um weiteren Lärm zu unterbinden, lässt er die Beifahrertür offen. Hier gibt es keine Diebe, höchstens freche Eichhörnchen.

Leon pirscht sich auf nackten Sohlen zum Fuss der Felswand heran. Dann blickt er hoch. Im fahlen Licht der aufgehenden Sonne schimmert weit oben der Felsen. Der noch in Dunkelheit gehüllte Eingang zu einer Felsnische hebt sich dadurch gut sichtbar ab. «Dort hockt der Kerl!», überlegt Leon und mustert das Gestein zwischen ihm und dem Felsenhorst, «Da komm ich hoch!» Sofort suchen seine Finger Halt in Felsritzen. Sobald er sich sicher fühlt, macht er einen Klimmzug und tastet mit den Zehen nach Absätzen im Fels, wo seine Füsse Halt haben. Er findet, was er sucht, und richtet sich dann auf. Nun lässt er seine linke Hand dem Gestein entlang gleiten. Die Fingerkuppen suchen einen neuen Haltepunkt. Nach und nach findet er weitere Griffe und Tritte, an denen er sich sicher festhalten beziehungsweise auf die er drauftreten kann. An einer günstigen Stelle, wo seine Füsse besonders guten Halt haben, legt er eine kleine Pause ein. Er ist schon einige Meter die Wand hochgekommen, doch zum Uhu-Horst sind es sicher noch zehn oder fünfzehn Meter.

«Leee-ooon! Verdammt! Komm da sofort runter!», brüllt eine Stimme unter ihm. Leon blickt unter seiner linken Achsel durch und seufzt: «Kann der nicht einfach pennen…» Der Junge schliesst die Augen und setzt die Stirn an die Felswand. «Mist», murmelt er und klettert bedächtig hinunter. Unten angelangt holt sein Vater zu einer Ohrfeige aus, doch Leon funkelt ihn nur wütend an und brüllt mit einer männlichen Stimme, da er den Stimmbruch schon hinter sich hat: «Schlag mich doch! Ist mir egal. Ich habe Geburtstag und wollte den Uhu sehen! Was ist dabei falsch?» – Dann wandelt sich Leons Gesichtsausdruck innert Sekunden vom trotzigen Bengel zum Unschuldslamm, und er schaut mit einem treuherzigen Blick zu seinem Vater hoch. Patrick verdreht die Augen, atmet schwer aus und senkt die Schlaghand, ohne seinem Sohn auch nur ein Haar zu krümmen. Aber er zielt sogleich mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Leons Nase und schimpft: «Junge, das ist eine verdammte Felswand. Wenn du da runterfällst, bist du platt wie eine Flunder! Und sowas von tot! Kapiert?» Dann packt er Leon mit beiden Händen und drückt ihn an sich. «Umpf», macht der Junge und grinst schelmisch – hat er doch eine Ohrfeige in eine Umarmung verwandelt, yesss! Nun ja, dieser Umstand ist wohl weniger Leons Überzeugungskraft geschuldet als seinem Aussehen. Wohin er auch geht, alle sind von Leons Erscheinung fasziniert. Wie kann sich bei einem solchen Schmuckstück von Sohn ein stolzer Vater, sei er noch so erbost, zu einer Körperstrafe hinreissen lassen? Natürlich tanzt Leon seinen Eltern und den meisten Menschen in seiner Umgebung gehörig auf der Nase herum. Wenn er etwas will, setzt er einfach sein unschuldigstes Gesicht auf, und schon schmelzen alle dahin, selbst wenn sie sich vorher noch so fest vorgenommen haben, ihm diesmal die Hölle heiss zu machen.

Patrick packt Leon an der Schulter und befördert ihn mit sanftem Druck in Richtung Kleinbus zurück. «Mama hat was für dich, aber dusche zuerst mal», macht Patrick eine Ansage. Leon salutiert gespielt und geht zur improvisierten Dusche – einem Schlauch, der vom Autodach auf Kopfhöhe herunterhängt. Leon entledigt sich seiner Boxershorts und betätigt den Hahnen, der am Ende des Schlauchs montiert ist. «Argh!», stöhnt er und zuckt zusammen, weil das Wasser eisig kalt ist. Als er sich etwas akklimatisiert hat, greift er zur Seife, die in einer Schale am Boden liegt. Nach weniger Sekunden ist seine Dusche vorbei. In freier Wildbahn ist Wasser schliesslich ein kostbares Gut, da will man nicht zu viel davon verschwenden. Splitterfasernackt geht er um den Bus herum, öffnet die Schiebetür und klettert hinein. Es stört ihn nicht, dass seine Mutter ihn so sieht. Im Schrank sucht er sich frische Boxershorts raus und zieht sie an.

Andrea lächelt, wendet sich zum Fahrersitz und hebt etwas hoch – eine kleine Nusstorte, obendrauf steckt eine bleistiftdünne Kerze, deren Flamme lustig lodert. «Happy Birthday, kleiner Löwe!», gratuliert ihm die Mutter. Und von draussen ertönt eine Bassstimme, die singt: «Happy Birthday, happy Birthday, happy Birthday to You!» Mittendrin stimmt Andrea in Patricks Gesang mit ein, und mit einer Engelsstimme singt sie den Refrain zeitversetzt. Leon wird knallrot.

Als sie das Lied fertig gesungen haben, seufzt Patrick: «Im Angesicht eines Tigers in Indien, in Gewahrsam der kenyanischen Polizei, ein Meter neben einem brüllenden Löwen oder beim Freiklettern an der Uhu-Todeswand – unser Sohn kennt keine Angst, keine Scham, keine Reue, aber wenn man ihn bauchpinselt oder sich wie normale Eltern küsst, möchte er im Boden versinken!» Und der Vater streicht ihm mit einer geballten Faust freundschaftlich über die Wange. Auf Leons Gesicht entsteht ein schiefes Grinsen, und er ist zwischen zwei Gefühlen gefangen: Soll er sich den Eltern um den Hals werfen oder einen dummen Spruch zum Besten geben?

Gerade als er sich für Letzteres entschieden hat, umarmt ihn seine Mutter. Da wird er erneut knallrot, und sein Vater bricht in ein schallendes Gelächter aus. «Bärli, dein Sohn ist vierzehn, in dem Alter wissen die Kids noch nicht so recht, was sie mit ihren Gefühlen anstellen sollen!» – Bärli