Rabenherz - vom Ritter zum Cyborg - Carole Enz - E-Book

Rabenherz - vom Ritter zum Cyborg E-Book

Carole Enz

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Beschreibung

Die Rabenherz-Teenies Margarethe, Rudy, Seraina und Leon werden unerwartet getrennt: Zwei von ihnen landen in der Zukunft, die anderen beiden in der Vergangenheit. Nach ihren Abenteuern als Gladiatoren im alten Rom, als Jäger einer verschollenen Tulpensorte in Amsterdam und als Agenten wider Willen zu DDR-Zeiten, wollen sich die zwei Pärchen Margarethe und Leon sowie Seraina und Rudy in Berlin erholen. Doch die Ruhe wärt nicht lange, denn ein weiterer Zeitsprung katapultiert sie in neue Abenteuer. An einem Ritterturnier im Mittelalter wird Leon lebensgefährlich verletzt, und Rudy droht in einer post-apokalyptischen Zukunft festzusitzen. Alles liegt nun in den Händen der zwei Mädchen, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Zudem erhält Zeitreise-Rabe Plonk Konkurrenz von einer Zeitmaschine. Die Historikerin Michèle Combaz Thyssen und die Biologin Carole Enz beziehen in Band 6 von Rabenherz Themen wie den Dritten Weltkrieg, Artensterben und Klimawandel mit ein.

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Seitenzahl: 295

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

1 Versöhnung mit der Vergangenheit

2 Tiefergelegte Giraffen und stumpfe Krummsäbel

3 Willkommen in Pelinn

4 Rüstungen, Ritter und Rai

5 Eine echte Zukunft und zwei falsche Ritter

6 Der Falkenflüsterer

7 Zeitkapsel oder Rabe mit Schwert?

8 Vierzig Stockhiebe

9 Die Grotte von Pelinn

10 Wo ist Plonk?

11 Der Plan

12 Der Cyborg

13 Die Retourkutsche

14 Eine schwere Entscheidung

15 Entsorgen oder behalten?

16 Ein Besucher aus der Zukunft

Epilog

Anhang

Historische Fakten

Dank

Literaturverzeichnis

Autorinnen-Portrait

von der Sista für die Sista – gegenseitig, zum Dank für deftige Cliffhanger, witzige Dialoge, coole Action und eine perfekte Schreib-Symbiose

Prolog

«Kennen Sie sich mit Vögeln aus?» – Margarethe und Rudy laufen knallrot an. Aus dem Isolationszimmer, in welchem sie festgehalten werden, blicken sie direkt in die Augen jenes Mannes, der die beiden Siebzehnjährigen aufgegriffen hat. Die Teenager schweigen, während der unbekannte Wissenschaftler die Daten auf der Scheibe begutachtet, die ihn und die beiden Freunde trennt und wie eine Art Bildschirm funktioniert. «Sie haben Glück, die Dekontamination ist erfolgreich gewesen, mein Spektroskop empfängt keine gefährlichen Schwingungen mehr von Ihren Körpern. Wissen Sie, im 22. Jahrhundert sind wir viel vorsichtiger als noch vor 150 Jahren», erklärt der Forscher und fährt fort: «Dank der Entdeckung der Zelloszillation, die für jedes Lebewesen charakteristisch ist, können wir in wenigen Sekunden einen ganzen Menschen scannen. Körperzellen schwingen anders als Bakterien oder Viren. Umgekehrt können wir sogar Stammzellen dank einer Behandlung mit den richtigen Schwingungen dazu bringen, sich auf einem Nährmedium zu einem ganz bestimmten Nahrungsmittel zu entwickeln. Weil sogar das Erbgut in den Zellen eine bestimmte Schwingung aufweist, nehme ich Ihnen Ihre fantastische Reise hierher sogar ab; denn die Schwingung, die Ihr Erbgut aussendet, stammt tatsächlich aus den Anfängen des 21. Jahrhunderts – 2022 glaube ich Ihnen, auch wenn es mir schwerfällt. Und ich bin total überrascht, dass Sie den Zeitsprung mit Rabe und Schwert vollzogen haben wollen. Zeitreisetechnisch ist das ja finsteres Mittelalter! Wir sind selber nah dran an Zeitreisen. Wir haben eine Zeitkapsel entwickelt, die bei den letzten Tests ganz gut abgeschnitten hat. Der einzige Wermutstropfen: Niemand ist bisher zurückgekehrt. Würden Sie es schaffen, vom Jahr 2172 zurück nach 2022 zu gelangen?» – Margarethe atmet tief durch und antwortet: «Klar, retour ging bisher immer! Aber dazu geben Sie mir bitte einen Raben und ein Schwert.» – Der Wissenschaftler stutzt: «Wir haben weder das eine, noch das andere, junge Dame. Ausserdem würde uns ein einzelner Rabe nichts bringen. Wir benötigen im Minimum ein Pärchen. Alle Vöglein sind schon seit über fünfzig Jahren nicht mehr da – alle ausgestorben. Deshalb haben sich Insekten derart vermehrt, dass wir einen ständigen Kampf gegen sie führen. Vögel wären uns sehr willkommen. Darum meine Frage, die ich Ihnen zuvor gestellt habe: Kennen Sie sich mit Vögeln aus? Könnten Sie uns die besten Insektenfresser aus der Vergangenheit herbringen? Wenn Sie zustimmen, lasse ich jemanden von Ihnen gehen.» – «Das tun wir gerne, aber nur unter der Bedingung, dass wir gemeinsam aufbrechen dürfen!», entgegnet Rudy entschlossen. Man sieht es ihm geradewegs an, dass er den Vorschlag des Forschers für inakzeptabel hält. – «Unmöglich! Wer garantiert mir dann, dass Sie wirklich zurückkehren?», schaltet der Wissenschaftler auf stur. – «Das ist Erpressung!», grunzt Rudy, und Margarethe fügt energisch hinzu: «Beide oder niemand von uns! Wir geben Ihnen unser Ehrenwort, dass wir Ihre Welt mit Vögeln bereichern werden! Versprochen!» – Der Forscher kratzt sich am Kopf, dann lächelt er: «Sie sind beide nicht in der Lage, mir irgendwelche Bedingungen zu diktieren. Sie Frau, äh, Frau Gygax, Sie werden die Zeitreise in einer unserer Kapseln machen, Sie scheinen ja stark verbunden zu sein mit Ihrem Zeitreise-Raben. Und Sie, Herr von Arx, werden unser Gast bleiben – entweder lebenslänglich, oder dann bis zu jenem Tag, an dem Frau Gygax mit Vögeln hierher zurückfindet.»

1 Versöhnung mit der Vergangenheit

Die vier Freunde – Margarethe, Seraina, Rudy und Leon – hatten ein paar Monate nach ihrer Geheimdienst-Mission im Kalten Krieg ein verlängertes Wochenende in Berlin gebucht, um ihre traumatischen Erlebnisse aus dem Kalten Krieg zu verarbeiten. Denn wen lässt es schon kalt, vor einem amerikanischen Erschiessungskommando zu stehen oder im Folterkeller der Sowjets zu landen? Im weltberühmten Schlosspark von Sanssouci bei Potsdam nahe Berlin haben sie bei warmem Frühlingswetter den Gitterpavillon betreten, in welchem Rudy im Kalten Krieg dem Major Smirnov Uniform, Geldbeutel und Autoschlüssel geklaut hat. Und zum Erstaunen aller hat Rudy das Eis gebrochen und einen versöhnlichen Sinn in all den vergangenen Leiden gefunden, der Balsam für ihre verwundeten Seelen ist: All diese Abenteuer haben die vier Freunde noch stärker zusammengeschweisst. Nun wissen sie, dass sie sich felsenfest aufeinander verlassen und gemeinsam alles durchstehen können, was auch immer geschieht.

Noch ganz ergriffen von der eben gewonnenen Erkenntnis, verlassen sie den luftigen Gitterpavillon und stehen nun vor einer Grabplatte, die etwas abseits liegt. «Das ist jetzt das Grab von Friedrich II., auch als Friedrich der Grosse bekannt», doziert Margarethe, die ihren Reiseführer fast schon auswendig kennt, «der Alte Fritz, wie das Volk ihn liebevoll genannt hat. Er hat Ende des 18. Jahrhunderts gelebt und bezeichnete sich als den ersten Diener des Staates.» – «Wow, solche Staatsoberhäupter bräuchte die Welt auch heute – solche, die ihr Ego zurückstecken zugunsten des Wohles ihrer Bürger!», fügt Leon anerkennend hinzu. – «Na ja, ganz über alles erhaben war er nicht», räuspert sich Seraina, die gerade ihre Geschichts-App auf dem Smartiefon konsultiert, «denn er hat den Siebenjährigen Krieg angezettelt.» – «Du bist ja langsam fast so schlimm wie Rudy mit deinem Cybertool, Rai!», grinst Margarethe mit einem Seitenblick auf Rudy, der es gar nicht mitbekommt, weil er ebenfalls auf seinem Handy Informationen sucht – und findet. Rudy blickt von seinem Smartiefon auf und fügt mit ernster Miene hinzu: «Und er hat die Folter abgeschafft. Stellt euch das mal vor! Der war für die damalige Zeit ein unglaublich modern denkender Herrscher. Der Typ ist mir richtig sympathisch.» Die andern drei stimmen Rudy zu, und alle wünschten sich, dass alle Länder dieser Welt solche Praktiken abschaffen würden.

Die vier Freunde lassen ihre Blicke gedankenverloren über die Blumenrabatten schweifen, da schlägt Margarethe vor: «Kommt, lasst uns die Haupttreppe in der Mitte der Anlage nehmen und runtergehen zum Springbrunnen. Da können wir uns setzen und etwas essen. Wäre doch gemütlich!» Dieser Vorschlag wirkt etwas profan angesichts der Diskussionen, die sie gerade eben geführt haben, doch er findet bei allen Anklang. Die Pärchen geben sich die Hand und schreiten die Stufen hinab.

Nach einer kurzen Pause mit Verpflegung geht es weiter mit der Besichtigung. Der Schlosspark von Sanssouci ist ein verzauberter Ort; zumindest empfinden die vier Freunde das so, als sie einen türkisblauen Pavillon mit goldenen Ornamenten durch das löchrige Grün der Vegetation durchscheinen sehen. Er sieht aus wie aus dem Bilderbuch. «Märchenhaft!», findet Margarethe und zeigt auf das glamuröse Gebäude. «Das ist, glaube ich, der Chinesische Teepavillon!» – «Ob wir da eine Tasse trinken können?», wundert sich Seraina, und beide Mädchen nähern sich dem Pavillon; die Jungs folgen ihnen auf etwas Distanz, da beide das Gebilde ziemlich unmöglich finden. «Mann, ist das ein Kitsch-Teil, was, Leo!», spottet Rudy, und dieser nickt seufzend: «Aber leider genau nach dem Geschmack unserer Herzensdamen!» Diese sind begeistert. «Kuck dort oben, da sitzt einer mit Schirm auf dem Dach, wie witzig!», lacht Seraina und deutet auf die Spitze des hutförmigen Daches. «Schau mal, Rai! Da wimmelt es von Vögeln!», bemerkt Margarethe und deutet nach oben: Tatsächlich tummeln sich über ihnen Paradiesvögel – gemalt auf die überhängende Decke des Vordaches. – «Achtung, stolpert mir nicht über die Kette!», ruft Rudy warnend, und die Mädchen überwinden das Hindernis und treten im Gleichschritt auf die unterste Stufe der Treppe zum erhöhten Eingang, der von vergoldeten Säulen umrahmt wird, zu deren Füssen goldfarbene Figuren mit spitzen Hüten kauern. «Biiiiiep!», geht plötzlich ein Alarm los, und eine Stimme aus einem Lautsprecher warnt die Touristen davor, zu nahe ans Gebäude heranzutreten. Die beiden Mädchen zucken zusammen und vollführen einen Luftsprung, als hätte sie der Blitz getroffen. Schnell überwinden sie erneut die Kette, um aus der mutmasslich alarmgesicherten Zone hinaus zu gelangen. Doch hat wirklich das Überwinden der Kette einen Alarm ausgelöst? Ihre irritierten Blicke treffen Rudy und Leon. Diese reissen beide überrascht die Augen auf: «Wie? Was?», rufen sie im Chor – «Ru, hast du den Alarm ausgelöst?», fragt Margarethe vorwurfsvoll. – «Oder war es Leo mit seinem depperten Alarmschaf?», vermutet Seraina. Beide Jungs wehren mit Mimik und Gestik die Vorwürfe ab. «Von wegen, ich hab nix gemacht!», verteidigt sich Rudy, und Leon schüttelt seinen Kopf. «Aber da steht so ein Statuentyp mit einer Tröte im Mund; vielleicht war der das?» Misstrauisch nähern sich die Mädchen erneut dem Teehäuschen, das von goldenen Statuen flankiert wird. Ein Schritt über die Kette, und wieder geht eine Sirene los. «Waaah!», schreit Seraina. «Ich vertrage Alarmsirenen nicht, das löst bei mir immer traumatische Gefühle aus!» Margarethe nickt: «Seit unserem letzten Abenteuer bin ich auch empfindlich, obwohl wir keinen Bombenalarm oder Dauerwelle oder irgendwas in der Art erlebt haben. Aber irgendwie sitzt einem das in den Knochen…» Rudy erfasst die Situation am schnellsten: «Das ist nur ein Alarm, der losgeht, wenn man dem Ding da zu nahe kommt!»

Lebensgrosse Figuren, die asiatische Kleidung und Gesichtszüge tragen, umgeben das ganze Gebäude. Sie muten an wie Wächter und sind den Mädchen plötzlich unheimlich. Margarethe versucht, ihre Gefühle mit Humor zu untermalen: «Was, wenn die Typen plötzlich zum Leben erwachen?» Leon, der zu ihnen aufgeschlossen hat, legt beiden Mädchen beschützend einen Arm um die Schulter: «Die sollen es bloss wagen, euch anzugreifen; dann kriegen sie es mit mir zu tun!» – «Du Held!», haucht Seraina, und Leon schickt ihr einen tiefen Blick: «Liebste Rai, für dich würde ich doch alles tun – fast alles!» Margarethe räuspert sich vernehmlich und zwickt ihren Freund in den Allerwertesten, worauf er quiekend zusammenzuckt. Rudy, der sich bereits einmischen wollte, lacht laut los: «Löwe, was quiekst du wie ein Schwein?» Die Mädchen kichern. Lachend macht der Provokateur einen Bogen um die Gruppe und baut sich vor Leon auf, und man sieht, dass er um einiges gewachsen ist in der letzten Zeit. «Die Damen brauchen einen richtigen Mann als Beschützer, keinen kleinen Quieker!» Jetzt lachen alle vier, denn Leon nimmt den Spott sportlich: «Ru, Kleiner – nein, das kann ich bald nicht mehr sagen, Mann, ey! Am Ende wächst er mir noch über den Kopf!» – «Also, überlegen ist er dir sowieso!», flachst Seraina. «Beim Wagenrennen hat er dich überflügelt, und den Stunt mit der Russenlimo musst du ihm erst mal nachmachen!» Auf diese Bemerkung reagiert Leon sichtbar verstimmt, und Margarethe spürt das sofort und zieht ihn beiseite: «Leon, Liebster, du hast das toll gemacht, echt! Das war Glückssache, dass Rudy abgesahnt hat!» – «Von wegen Glück!», interveniert Rudy, «Das war kalte Berechnung und Taktik; ich habe mir viel dabei überlegt. Und beim Rennen musste ja einer die Kastanien aus dem Feuer holen, nachdem du einen Kopfsprung in den Staub gemacht hast, Leo!» Margarethe sieht, dass sie die Sache mit ihrem Eingreifen noch verschlimmert hat, und versucht, zu schlichten: «Könnt ihr nicht damit leben, dass es ein tolles Teamwork war? Es hat sich nun mal einfach so ergeben, und ihr beide habt euer Bestes gegeben!» Leon knurrt: «Aber wegen seinem depperten Autodiebstahl haben sie mich in den verdammten Käfig gesperrt!» – «Und mich mit Elektroschocks gefoltert!», gibt Rudy ungnädig zurück. – «Da kann doch ich nix dafür!», brummt der Löwe, und beide stehen sich gegenüber in Drohhaltung. Margarethe drängt sich zwischen sie und seufzt laut: «Quatsch, ICH war schuld, das haben wir doch vorhin schon durchgekaut! Wegen meiner Schnapsidee mit den Spionen; ich schaue zu viele bescheuerte Filme!» Sie sieht ziemlich verzweifelt aus und fühlt sich mies. – «Hey, Leute, hört auf!» greift Seraina schlichtend mit ganz ruhiger Stimme ein. «Jetzt hatten wir doch einen so schönen Moment vor einer halben Stunde, da sollten wir uns nicht in die Haare geraten wegen eines doofen Alarms, der die Touristen von dem Pavillon fernhalten soll!»

Tatsächlich geht der Alarm inklusive Lautsprecheransage erneut los, als sich eine wohlbeleibte Dame mit einer überdimensionierten grünen Blümchenbluse und Sumoringerbeinen über die Kette auf die erste Stufe gewagt hat. Und auch sie zuckt zurück und sieht aus, als würde sie gleich kippen und davonkugeln. Besorgt springt ihr ein dünner Mann mit Strohhut und Karohemd zu Hilfe, dessen dürren Beine aus zu weiten Shorthosen ragen. Die Kugeldame droht ihn zu überrollen, und die Teenager grinsen angesichts dieser absurden Szene. In Leon erwacht wieder sein Sinn für Humor, und er möchte sich mit Margarethe zwischen den Goldmenschen fotografieren lassen. «Hey, und der Alarm, wie willst du den austricksen?», zischt Margarethe und will ihn am Ärmel packen und zurückhalten. «Wenn schon, denn schon!», grinst er, setzt über die Ketten und die Stufen. Im gleichen Moment ertönt ein schriller Ton, der alle zusammenzucken lässt, und die Stimme aus den Lautsprechern verwarnt den Eindringling erneut. Leon springt unbeeindruckt zu einer älteren Goldperson mit chinesischen Gesichtszügen und Hut hinauf.

«Drück ab, Mäg!» Doch weil jetzt zwei Uniformierte um die Ecke kommen, ist Leon im Nu wieder bei den andern dreien, und schuldbewusst rennen alle vier davon wie Schulkinder, die gerade mit einem Fussball des Nachbarn Kellerfenster zerschlagen haben. «Mann, Leo, du bist einfach peinlich!», schilt ihn Rudy entnervt.

«Als Touristenschreck ist die Sirene wirklich brauchbar, aber sie nervt tierisch!» Seraina pflichtet ihm bei: «Die macht die ganze Stimmung kaputt! Lasst uns gehen!» Die Naturfreunde Margarethe und Leon bedauern es zwar, dass sie den schönen Park bereits wieder verlassen müssen, aber sie sehen ein, dass die Idylle trügt und die Fassade sehr dünn ist. «Kitschschlösser und künstliche Ruinen, da hat der Alte Fritz ja komische Ideen von Romantik gehabt!», flachst Leon kopfschüttelnd. – «Wusstest du übrigens, dass der Badepavillon im Hernerpark Horgen von Sanssouci inspiriert ist?», fragt Margarethe rhetorisch. Weil sie seit kurzem in Horgen wohnt, hat sie sich natürlich über ihre neue Heimat gründlich informiert, und da sie gerne im See schwimmt, hat sie auch über den auffällig ins Wasser gebauten Pavillon recherchiert, der als Bootshaus und Zugang zum See für badefreudige Parkbewohner dient.

«Mir reichts mit diesem Kitsch, lasst uns nach Berlin reinfahren», schlägt Seraina vor. «Ich will auf den Ku’damm!» Rudy lacht: «Raina will rain, äh, rein nach Berlin, aber was für Kühe willst du melken?» – «Ich glaub, deine Braut ist noch nicht ganz auf dem Damm nach dem Sirenenschock», führt Leon das Wortspiel weiter. – «Ihr Ignoranten, kennt ihr den Ku’damm etwa nicht?» – «Heisst der nicht Kurfürstendamm?», korrigiert Margarethe, die bereits wieder ihren Reiseführer gezückt hat. Rudy frotzelt: «Steck das Ding weg, Mäggy, sonst fällst du noch kopfüber in einen Teich!» Die gute Laune ist zurück, je weiter sich die vier von dem alarmgeplagten Teepavillon entfernen. Sie versinken in Schweigen und sind zuerst in Paaren Arm in Arm unterwegs, hintereinander, dann schliesst Margarethe mit Leon zu den anderen beiden auf und legt ihrer Freundin den Arm um die Schulter, und Arm in Arm verflochten gehen die vier in einer Reihe, wieder in Harmonie, und alle erinnern sich an die berührende Szene vor der Sonnenlaube, Tatort des Stelldicheins, wo eine wichtige Etappe ihrer letzten Mission ihren Anfang genommen hatte.

* * *

Mit der S-Bahn gelangen sie zurück zum Bahnhof Zoo, wo sie aussteigen und zu Fuss zum Kurfürstendamm flanieren. «Möchte jemand noch zurück ins Hotel?», erkundigt sich Margarethe bei ihren Freunden. – «Nein danke, Frau Reiseführerin», antwortet Leon wie ein Schuljunge, und fügt lasziv lächelnd hinzu: «obwohl es durchaus verlockend wäre, wo wir doch im edlen Klumpinsky so ein schönes Himmelbett für uns allein haben!» – «Leon denkt immer nur an das Eine!», lacht Seraina. «Hast du noch nicht genug nach der letzten Nacht?» Schuldbewusst errötet der Angesprochene: «Habt Ihr uns etwa gehört?» Auch Margarethe wird knallrot, kontert aber wie aus der Pistole geschossen: «Löwen brüllen nun mal, das ist ganz normal, und wenn ihr mit dem Joystick hantiert, ist das auch nicht ganz geräuschlos!» Sie zwinkert schelmisch, und nun haben Seraina und Rudy rote Köpfe. Er fasst sich als Erster und spielt den Ball zurück: «Als versierter Spieler hab ich meinen Joystick immer im Griff!» Seine Freundin kichert nur und gibt ihm einen Kuss: «Fragt sich, wer den besser im Griff hat – du oder ich!» Kopfschüttelnd macht Leon ein paar rasche Schritte, um demonstrativ einen Abstand zwischen sich und die anderen drei zu legen: «Und IHR behauptet immer, ich mache dauernd zweideutige Sprüche! Ihr seid sowas von peinlich!» Wie auf Knopfdruck lachen alle vier los und können fast nicht mehr aufhören, bis sich die Passanten umdrehen auf dem Kurfürstendamm, auf dem sie mittlerweile angelangt sind.

Die einstige Prachtsstrasse, die sich ein Stück weit durch Berlin zieht bis zur Gedächtniskirche, ist gesäumt von Läden und Restaurants. Auffällig ist der schwarze, einsame Turm, der absichtlich belassen wurde als Mahnmal für die Kriegsgräuel. «Schrecklich, diese Ruine!», findet Seraina schaudernd. «Da krieg ich immer Gänsehaut!» Rudy versteht den Wink mit dem Zaunpfahl und legt seiner Freundin einen Arm um die Schulter, um sie fest an sich zu ziehen. Er erwidert nichts, weiss aber mittlerweile, dass sie wegen eines früheren Lebens eine besondere Verbindung zur Stadt Berlin hat, was sich ja bereits auf ihrer letzten Mission gezeigt hat. Dort waren sie Ende Jahr im Berlin zur Zeit des Kalten Krieges, und das war ein ganz anderes Berlin als die wiedervereinigte, hippe Stadt, die mittlerweile als Mekka der Kunstschaffenden gilt.

Sie nähern sich dem Turm, der von der Kirche noch übrig ist. «Der einzig erhaltene Kirchturm ragt wie ein mahnender Zeigfinger in den Himmel», liest Margarethe aus ihrem Reiseführer vor, und Leon kann es nicht lassen, anzumerken: «Erinnert mich eher an einen Mittelfinger!» Mit ungnädigem Blick fährt seine Freundin fort: «Das ist die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, 1895 fertiggestellt zum Gedenken an Kaiser Wilhelm den Ersten.» Rudy knüpft an: «Sie wurde im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört und als Mahnmal belassen, und das moderne Ding daneben ist die Kirche, die in Gebrauch ist.» – «Da soll es wunderschöne blaue Fenster haben und eine ganz besondere Christusfigur», weiss die Geschichtsinteressierte. Skeptisch rümpft Seraina ihre Nase, aber erstaunlicherweise möchte Leon die beiden Kirchen besuchen. Sie schickt ihm einen fragenden Blick: «Was interessiert dich als Buddhist eine christliche Statue?» – «Ich habe mal Bilder davon gesehen, die ist wirklich etwas Besonderes», erklärt Leon, als sie bereits eintreten in die zum Museum unfunktionierte Ruine. Sie verstummen schlagartig, denn der Ort berührt alle vier. Immer noch lässt sich die damalige Schönheit des Gotteshauses erahnen, und unter der Mosaikdecke führen Treppen einfach ins Leere, ohne Anfang und ohne Ende. Von aussen betrachtet, raubt ihnen das Loch im Kirchenbauch den Atem: Die Fensterrosette fehlt, und durch die klaffende kreisrunde Öffnung erblicken sie den modernen Bau, der sich direkt hinter der Ruine erhebt.

«Die moderne Kirche sieht von aussen nichtssagend aus, so steril!», motzt Seraina, und Rudy wendet ein: «Aber der Kirchenraum wurde laut meiner Berlin-Reise-App zwischen 1958 bis 1961 gebaut in Form eines Achtecks aus blauen Glasbausteinen; das klingt interessant.» Zögernd treten die Mädchen nach ihren Partnern ein, dann werden sie ganz still. Unerwartet ist die Wirkung der blauen Fenster, und die im Raum schwebende Christusfigur fasziniert die vier Teenager. «Wie ein Rabe!», haucht Margarethe angesichts der Gestalt, die mit ausgebreiteten Armen mitten im blauerleuchteten Raum zu schweben scheint. Beruhigend und erhebend zugleich ist die tiefblaue, intensive Farbe, und die Figur scheint zu leuchten. «Wie ein Engel», staunt sogar Seraina, und Leon fügt hinzu: «Wenn wir jetzt abheben, würde ich mich nicht wundern!»

Sie verbringen lange Zeit in der neuen Gedächtniskirche, in Meditation versunken. Alle vier sind sich ohne Worte einig, das dies ein guter, friedvoller Ort ist – ein Ort zum Auftanken. Hier zu verweilen, unter den Schwingen der Lichtgestalt, tut gut.

* * *

«Was wollen wir jetzt noch anschauen?», fragt Margarethe, als sie wieder draussen im Grossstadtgewimmel rund um den Kurfürstendamm sind. Bis zu der modernen Skulptur waren sie wortlos geschlendert, wo sie sich jetzt gegenseitig fotografieren, mit dem Kirchturm im Hintergrund. «Skulptur Berlin heisst das Ding, das kann man sich merken!», weiss Rudy und bemerkt, dass Margarethe sich in ihrem Reiseführer mehrere Seiten mit Klebezetteln markiert hat. «Hast du den auswendig gelernt, oder was?», neckt er die selbsternannte Reiseführerin. – «Ich bin halt der haptische Typ, so finde ich die Sehenswürdigkeiten wieder, die ich mir herausgesucht habe!» – «Auf meinem Smartiefon habe ich auch Bookmarks, ätsch!», bemerkt Seraina und streckt ihrer Freundin die Zunge heraus. – «Ich kann besser mit Büchern umgehen als mit Cybertools», verpasst ihr Margarethe eine Retourkutsche und zeigt Seraina ihrerseits ihre Zunge. – «Ladies, was ist das für ein Benehmen!», reagiert Leon mit gespielter Entrüstung. «Was sagt Mr. Joystick dazu?» – Rudy, der nur die Hälfte mitbekommen hat, schlägt mit Blick auf sein Smartiefon vor: «Genau, da gibt’s ein Computerspiele-Museum, das wär’ doch was!» – «O nee, ohne mich!», winkt Margarethe ab, und auch Leon schaut nicht begeistert. – «Ich bin lieber selbst aktiv in einem Game», fügt Seraina achselzuckend hinzu. – «Ru ist überstimmt», flachst Leon, «aber Museum wär nicht übel, wir könnten ins Museum für Naturkunde.» Auf den Vorschlag reagieren Rudy und Seraina lauwarm, weshalb er fortfährt: «Oder gehen wir doch auf die Museumsinsel!» Strahlend reagiert Margarethe darauf: «Prima Idee, da gibt’s das Pergamonmuseum, das Historische Museum, die Nationalgalerie, das Alte Museum…» – «Und das Neue gibt’s auch?», witzelt Rudy. – «Natürlich gibt’s das Neue Museum, und das Alte ist über die Antike, …und den Dom sollten wir unbedingt auch ansehen!» Leon grinst: «Auch wenn der Papst den grösseren hat?»

2 Tiefergelegte Giraffen und stumpfe Krummsäbel

Die vier Freunde entscheiden sich, das Pergamonmuseum zu besuchen, weil schöne Plakate vom Ishtar-Tor am Eingang zur Museumsinsel aufgehängt sind. Weitere Plakate, welche die Tierabbildungen auf der Fassade jenes Tores in Nahaufnahme zeigen, stehen entlang des Wartebereichs vor der Kasse. «Da sind Löwen drauf!», freut sich Leon, «Und Stiere. Freue mich schon, vor dem Original zu stehen, sieht sicher noch toller aus als auf dem Plakat. Aber was ist das für ein komisches Tier da mit dem langem Hals und den kurzen Beinen?» – «Sieht aus wie eine tiefergelegte Giraffe», frotzelt Rudy, und Leon kontert: «Aber der Schwanz ist zu lang…» – «Pscht!», zischen Margarethe und Seraina wie aus einem Mund. «Haltet wenigstens in der Warteschlange eure Klappe. Wenn wir im Museum drin sind, können wir uns ein stilles Plätzchen suchen für zweideutige Kommentare, Jungs», weist Margarethe die beiden mit einem verschmitzten Lächeln zurecht. Leon zieht beide Augenbrauen hoch und grinst zurück.

Endlich sind sie im Pergamonmuseum drin und steuern direkt das Ishtar-Tor an. «Wow!», entfährt es Margarethe, «Das ist ja gigantisch! Ich dachte, das sei so ein normales Stadttor wie im alten Zürich!» – «Da passt ja ein ICE durch!», stellt Rudy fest, und Leon kontert, ihr pandemisches Abenteuer vor Augen: «Ausser du lässt ihn vorher entgleisen, wie auf der Modellbahnanlage in Knuffingen!» – «Hey, das ging unter Versuch und Irrtum, ich wollte uns doch nur den stabilsten Zug aussuchen für den Zeitsprung!», verteidigt sich Rudy. Leon klopft ihm auf die Schulter und meint beschwichtigend, da Margarethe ihn schon warnend anfunkelt: «Alles klar, Kumpel. Hast es dann ja auch brilliant hingekriegt!» Seraina ist dermassen fasziniert vom Tor, dass sie bisher keinen Ton herausgebracht hat. Jetzt erklärt sie ergriffen: «Also am meisten fasziniert mich die mystisch wirkende blaue Farbe. Einfach meditativ, dieses tiefe Blau der Kacheln.» – «Hm, zum Thema Blau hätte ich einen Vorschlag für heut Abend – diese Kneipe, als wir…», beginnt Leon, kommt aber nicht weiter, denn aus einem Nachbarraum hören die vier Freunde Schreie und mutmassen, dass ein Tumult losgebrochen ist. «Bloss nicht wieder Ärger!», seufzt Seraina, doch da ist Margarethe schon auf dem Weg Richtung Schauplatz. Als sie um die Ecke biegt, sieht sie, wie vier Männer – vermutlich Museumsangestellte – zwei eingedrungene Raben einzufangen versuchen. Die cleveren Vögel entwischen aber immer wieder den Netzen und lassen sich auch nicht durch Gebrüll in die gewünschte Richtung bewegen. «Lasst mich ran, ich habe zuhause einen zahmen Raben!», ruft Margarethe dem Museumsangestellten zu, der ihr am nächsten steht. Leon doppelt nach: «Ja, lasst Mäg ran, sie kennt sich mit…» Und er erntet prompt einen Knuff von Seraina, die ihn entrüstet und amüsiert zugleich ansieht. «Ich wollte natürlich sagen: … mit Raben aus. Was hast denn du wieder erwartet?», verteidigt sich Leon, grinst verschmitzt und läuft rot an. – «Ja ja, ganz bestimmt…», kontert Seraina mit triefender Ironie. Doch weitere Wortgefechte bleiben den beiden im Halse stecken, denn die beiden Raben flattern davon und verkriechen sich noch viel tiefer im Labyrinth des Museums. Margarethe rennt ihnen sofort nach, also müssen ihre drei Freunde schnell die Beine in die Hand nehmen, um ihr auf den Fersen zu bleiben.

Im Bereich der islamischen Kunstschätze setzen sich die gestressten Tiere auf eine Vitrine, in der zwei kunstvoll verzierte Krummsäbel ausgestellt sind. Margarethe ist schnell zur Stelle; nach ein paar Sekunden haben auch ihre Freunde zu ihr aufgeschlossen. Jetzt stehen alle vier vor der Vitrine, die zwei Raben von zwei Krummsäbeln trennt – Rudy und Margarethe zuvorderst, die beiden andern etwas versetzt hinter ihnen. «Bloss die Vitrine ganz lassen, bitte, ich will keinen Zeitsprung erleben, nicht schon wieder!», flüstert Seraina von schräg hinten ins Ohr von Margarethe, die allerdings auf die Tiere fokussiert ist. Die Angesprochene reagiert deshalb nicht, doch Leon hat es aufgeschnappt und flachst wie aus der Pistole geschossen: «Mit den krummen Dingern passiert bestimmt nichts!» – «Das Samurai-Schwert in Amsterdam war auch leicht gebogen und hat uns doch ’ne Zeitreise beschert», erwidert Seraina. «Pscht!», zischt Margarethe und fährt dann fort, beruhigend auf die Tiere einzureden, wie sie es mit Plonk gewohnt ist. Doch die Raben hier sind natürlich nicht an Menschen gewöhnt wie Plonk. Deshalb schauen sie Margarethe nur irritiert an. Nun versucht es Tierflüsterer Leon mit rabenähnlichem Krächzen. Das scheint auf mehr Gegenliebe zu stossen, denn die Tiere schreiten an den Rand der Vitrine und glotzen von dort fasziniert zu Leon. In diesem Moment erscheinen die Museumsangestellten mit den Netzen, die vorne an langen Metallstangen fixiert sind – sie sehen aus wie überdimensionierte Schmetterlingsfangnetze. Der kräftigste unter den vier Männern erkennt seine Chance und schmettert sein Fangnetz schwungvoll über die Raben. Die vier Teenager kreischen «Neiiiiin!», da zerbirst die Vitrine. Das Fangnetz streift auch die zwei Krummsäbel, die aus den Halterungen springen. Einer fällt so, dass der Griff an Margarethe abprallt und die stumpfe Klinge Rudy streift. Das andere Schwert fliegt über die Köpfe von Margarethe und Rudy und landet mit der Klinge auf Serainas rechten Fuss, wobei sich Leon geistesgegenwärtig den Griff schnappt, damit die Waffe nicht Serainas Fuss durchbohrt. In diesem Moment fallen die vier Freunde in Ohnmacht.

* * *

Rudy erwacht als Erster und erschrickt heftig, denn es krabbeln Tausende kleiner Insekten auf ihm herum. Er springt wie von der Tarantel gestochen auf und versucht krampfhaft, die Krabbler von sich abzuschütteln. Doch es sind viel zu viele. Er kann sich noch so abmühen, kaum hat er einige hundert Tiere verscheucht, kommen ähnlich viele neu angeflogen oder angekrabbelt. Er muss wohl einen spitzen Schrei ausgestossen haben, denn Margarethe wird wach und fragt mit erst halb geöffneten Augen: «Hat da jemand geschrien? Ich dachte…» Doch weiter kommt sie nicht, denn jetzt fühlt sie selbst die Armada von Insekten, die ihr über und in die Kleidung kriechen. Die Naturliebhaberin fürchtet sich zwar überhaupt nicht vor diesen Tierchen, doch die schiere Menge ist dennoch erschreckend. Zudem kitzeln sie die Tierchen, die sich in ihrer Kleidung verirrt haben, fürchterlich. Sie versucht krampfhaft, ihr T-Shirt auszuschütteln, ohne es ausziehen zu müssen, denn vor Rudy wäre ihr das peinlich. Doch es nützt nichts. Sie verzieht das Gesicht und beginnt im nächsten Moment unwillentlich und hysterisch zu kichern, während sie sich weiter gegen die Insekten zu wehren versucht. «Mäggy, los, weg hier, da vorne ist ein Teich!», schlägt Rudy vor, doch Margarethe windet sich am Boden und lacht gequält. Rudy packt sie und stemmt sie hoch, so dass ihr Kopf auf seine rechte Schulter zu liegen kommt. Obwohl er mittlerweile kräftig ist, hat er Mühe, sie zu halten, denn sie schüttelt sich vor Lachen. Einen kurzen Moment noch überlegt er, ob er den Krummsäbel, der einen Meter vor den beiden im Gras liegt, gleich jetzt mit Fusstritten zum Teich befördern oder ob er ihn später noch holen soll. «Rudy, mach, dass es aufhört, ich kann nicht mehr!», quiekt Margarethe, da rennt Rudy mit ihr in den Armen los zum Teich, ohne sich weitere Gedanken über den Säbel zu machen. Am Teich angelangt, wirft er sie gleich hinein und springt hinterher. Beide sind zum Glück gute Schwimmer. Als Margarethe auftaucht, keucht sie schwer, bemerkt aber erleichtert, dass das Kitzeln aufgehört hat. Rudy taucht noch ein paar Mal vollständig unter, um sicherzugehen, dass auch die letzten Krabbler aus seinen kurzen Haaren entfernt sind. «Danke Rudy!», röchelt Margarethe und taucht ebenfalls nochmals unter, denn in ihrem langen Haar könnten sich viel mehr Tierchen verkrochen haben.

«Zum Glück waren keine Viecher dabei, die uns gebissen haben!», bemerkt Rudy, als beide endlich wieder etwas zur Ruhe gekommen sind. Sie stehen immer noch bis zu den Schultern im Teich, doch zumindest droht ihnen dort kein Angriff vom Lande aus. Die Luft allerdings ist dermassen voll von winzigen Fruchtfliegen und fetten Schmeissfliegen, dass sie sich ständig mit Wasserspritzern gegen jene Insekten wehren müssen, die sich in der Anflugschneise zu ihren Köpfen befinden.

«Wo sind Leon und Rai?», fragt Margarethe, der jetzt, da nun beide vor den Insekten einigermassen in Sicherheit sind, aufgefallen ist, dass sie nur zu zweit sind. Rudy schaut sich um und zuckt mit den Achseln. Auch Margarethe scannt mit ihrem scharfen Blick die Gegend. Ausser riesigen Insektenschwärmen kann sie nichts erkennen. «Vielleicht haben sie ja gar keine Zeitreise gemacht. Wir beide standen ja zuvorderst, als die Vitrine zerbarst. Vielleicht haben die beiden gar kein Schwert abbekommen. Oder sie waren schlau genug, zur Seite zu springen. Vermutlich sind sie in Sicherheit im Pergamonmuseum», mutmasst Rudy, um sich und Margarethe zu beruhigen; denn die Vorstellung, dass ihre Liebsten hier irgendwo liegen und von Insekten aufgefressen werden, entsetzt beide zutiefst. «Sie werden sich sicher schreckliche Sorgen um uns machen», jammert Margarethe, und Rudy seufzt: «Das ist absolut logisch! Und sie haben allen Grund dazu, denn unsere Lage ist alles andere als gemütlich! Wir müssen hier weg! Und zwar ziemlich zackig!» – «Und wie sollen wir hier weg?», grübelt Margarethe, während Rudys Hirn schon mehrere Szenarien durchgespielt hat. Dennoch sind beide gleich schlau, denn es gibt keinen Weg hinaus, ohne erneut von Insekten überwältigt zu werden. «Wenigstens sind keine Spinnen dabei», konstatiert Rudy erleichtert, weil er eine Spinnenphobie hat. «Stimmt, warum eigentlich nicht? Bei so viel Beute müsste es ja von Spinnen wimmeln! Und wo sind die insektenfressenden Vögel? So ein Gelage lassen sich doch Meisen, Schwalben und Mauersegler nicht entgehen!», wendet Margarethe ein, und Rudy seufzt: «Ich glaube, das ist des Pudels, äh Insekten-Problems Kern: Die Tierchen haben keine natürlichen Feinde mehr. Sie vermehren sich ungehemmt. Aber in welcher Epoche sind wir da bloss gelandet? Sowas hat es meiner Meinung nach noch nie gegeben!» Gerade als er seinen Satz beendet hat, schwebt eine seltsame Kapsel heran. Sie sieht aus wie ein Gebilde aus zwei Sitzen, die auf einem massiven, wannenförmigen Unterboden stehen und von einer Glashaube überdacht sind – das ganze Gefährt ist komplett rund.

Die Kugel stoppt ihren Gleitflug direkt neben den Köpfen von Margarethe und Rudy, bleibt in der Schwebe stehen, und eine Stimme aus dem menschenleeren Inneren säuselt: «Willkommen, Fremde, mein insektenabwehrender elektromagnetischer Schild hilft euch, beim Einsteigen nicht belästigt zu werden.» – «Wer zum Teufel spricht hier?», grunzt Rudy leicht alarmiert, aber auch fasziniert, da kontert die fremde Stimme genervt: «Etwas mehr Respekt bitte! Ich heisse LUE-001 und bin der modernste Bordcomputer vom allerneusten Modell S 3000 von Ampere, der renommiertesten Autoherstellerin der Welt!» – «Entschuldigung, Eure Hochwohlgelötete!», frotzelt Rudy, doch Margarethe kneift ihn submarin in den linken Oberarm. «Autsch!», macht er und wäre fast ausgerutscht auf dem schlammigen Teichboden. – «Hochwohlgelötete? Etwas so Schönes hat noch nie jemand zu mir gesagt!», säuselt das Gefährt mit schmachtendem Unterton. Rudy errötet und fängt an zu stottern: «Äh… nass… hochkommen…?» – «Ist die Kapsel jetzt in dich verknallt, Rudy? Muss sich Rai ernsthafte Sorgen machen?», fragt Margarethe mit leicht zugekniffenen Augen, während Rudy mit offenem Mund das Gefährt anstarrt. «Hä, was? Hast du was gesagt, Mäggy?», erwidert Rudy verwirrt. Sie verzieht das Gesicht und meint: «Ob Rai gerade eine Nebenbuhlerin bekommen hat?» Rudy läuft knallrot an und und stottert: «Was?… Wie?… Nein. Also…» – «Komm! Komm hoch!», säuselt das Gefährt; die Glastüre auf der linken Seite geht auf, und eine kurze Leiter senkt sich ins Wasser. Margarethe räuspert sich auffällig, da wandert Rudys Blick gehetzt von der Kapsel zu Margarethe und wieder zurück. «Es wird kompliziert, wenn jetzt auch noch Autos flirten!», grummelt das Mädchen, während Rudy in die Kapsel hochsteigt. Margarethe folgt ihm widerwillig, doch es ist wohl die einzige Chance, einer erneuten Kitzelattacke der Biester zu entkommen.

«Ihr ruiniert mir mein edles Interieur, junge, durchnässte Fremde. Aber dir sei verziehen, Zierde der Menschheit namens Rudy!», fährt die Kapsel namens LUE-001 fort, während die kurze Leiter eingezogen wird und die Glastür sich schliesst. «Frag sie aus!», zischt Margarethe und knufft Rudy erneut. Verdattert stottert dieser: «Ich heisse… äh… Rudolf von Arx, und das ist… Mä… Mä… Margarethe Gygax, wir sind aus Zürich. Können… Sie… mir sagen, wo wir… wo wir uns hier befinden?» – «Nichts lieber als das, wenn der Fahrgast auch noch adliger Herkunft ist!», nimmt das Gefährt Bezug auf Rudys «von» im Namen, «Ihr befindet Euch in der Zivilisation Pelinn, anno 2172.» – Die beiden Teenager blicken sich mit offenem Mund an und schütteln ungläubig den Kopf. «Pe… was? 2172?… 2172!… Echt jetzt?», stottert Rudy und weiss nicht, ob er vor Freude jauchzen oder vor Panik schreien soll. «Pelinn, ja», fährt die Kapsel fort, «in Pelinn haben sich die europäischen Überlebenden des Dritten Weltkriegs zusammengefunden, um eine neue Zivilisation aufzubauen. Wir befinden uns auf den Trümmern der ehemaligen deutschen Stadt Berlin.» Margarethe und Rudy schlucken leer. «Ist… Europa… sonst…» – «…menschenleer. Ja, Herr von Arx. Wegen des Klimawandels ist der Golf-Strom versiegt, der Grossteil von Europa ächzt unter Wassermangel. Wo keine Dürre herrscht, haben andere Probleme die Menschen vertrieben. Italien, die Benelux-Staaten und ein Grossteil der Iberischen Halbinsel sind überflutet. Grossbritannien ist wegen der Atombombe, die dort niedergegangen ist, unbewohnbar. Einzig in Island leben noch Menschen. Die Erdwärme hat sie davor bewahrt, in Eis und Schnee zu versinken.» – «Und Amerika, Afrika, Australien und Asien?» – «Nordamerika ist unbewohnbar, weil der Supervulkan unter dem Yellowstone Park explodiert ist. In Südamerika leben noch vereinzelt Menschen, doch das Land ist durch die Abholzung der Regenwälder dermassen trocken, dass eine Missernte auf die nächste folgt. In Afrika und Australien bestehen dieselben Probleme. Asien ist grösstenteils unter Wasser oder unter Eis. In Russland hat ebenfalls ein Supervulkan die Bevölkerung in einem Umkreis von mehreren hundert Kilometern ausradiert, die übriggebliebenen Russen sind erfroren oder hierher ausgewandert. Lediglich in Indien hat sich eine ähnlich starke Zivilisation wie hier in Pelinn aufbauen können. Diese asiatische Zivilisation nennt sich Kalhutaa und steht eng mit uns in Kontakt.» Den beiden Teenagern läuft es eiskalt über den Rücken. Sie sind in einer postapokalyptischen Zukunft gelandet! Allerdings auch in einer Zukunft, die über unglaubliche Technologien verfügt. Wie passt das zusammen?