Rabenherz und die weissen Hirsche von Rapperswil - Carole Enz - E-Book

Rabenherz und die weissen Hirsche von Rapperswil E-Book

Carole Enz

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Beschreibung

Was haben weisse Hirsche und eine magische Münze mit dem Verschwinden von Menschen in der Stadt Rapperswil zu tun? Die Rabenherz-Freunde stehen vor einem Rätsel. Die Zeitreise-Expertin Margarethe zermartert sich den Kopf darüber, welche magischen Kräfte wohl in einer antiken Münze stecken können. Dem Teenager ist schnell klar, dass da nur eins hilft: sich selbst ins Getümmel stürzen. Mit Rabe Plonk und ihren Freunden Leon, Seraina und Rudy wagt sie das Experiment. Sie landen an einem paradiesischen Ort, der sich allerdings als Todesfalle entpuppt. Um ihrem Schicksal zu entrinnen, müssen sie drei Prüfungen in der Vergangenheit der Stadt Rapperswil bestehen. Zwischen den Prüfungen landen die Freunde in einer düsteren Parallel-Gegenwart. Höhepunkt des Abenteuers ist die Belagerung von Rapperswil durch die Zürcher. Die Historikerin Michèle Combaz Thyssen und die Biologin Carole Enz schicken in Teil 8 von Rabenherz ihre jetzt erwachsenen Helden in neue Abenteuer, in denen alle mal Federn lassen müssen.

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Seitenzahl: 342

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

1 Eingespannt und angespannt

2 Das Vermächtnis der weissen Hirschkuh

3 Ein Sprung in eine andere Gegenwart

4 Ein historischer Spiessrutenlauf

5 Makabre Methoden

6 Der Urahne und die Parallelwelt

7 Zurück in der Pandemie

8 Stäbchenfolter und andere Unannehmlichkeiten

9 Verloren in Historien

10 Haltet den Dieb!

11 Der doppelte Rudy

12 Vom Regen in die Traufe

13 Die Belagerung von Rapperswil

14 Der Spezialauftrag

15 Ein peinliches Verhör

16 Der weisse Hirsch von Rapperswil

17 Die Treibjagd

18 Das Geschenk des Königs

19 Ein Rabe ohne Federn

20 Ein Rabe zu viel

21 Gerry und die drei Fragezeichen

22 Wilde Jagd und Eskapaden

Epilog

Anhang (Historische Fakten)

Dank

Literaturverzeichnis

Autorinnen-Portrait

Für all jene, die wie wir und wie die Rapperswiler in diesem Buch von einer friedlichen und glücklichen Welt träumen.

Prolog

«Rapperswil? Wieso ausgerechnet Rappi?», wundert sich Seraina. «Wir sind doch alle aus Zürich!» – «Rapperswil ist ein hübsches Städtchen», bestätigt Margarethe. «Nicht nur, weil es einen tollen Zoo hat!» – «Ja, gell, Mäggy, du findest vor allem die Burg super!», bemerkt Rudy. – «Natürlich, da könnte ich echt neidisch werden: Die Zürcher Bürger hatten ja ihre Burg auf dem Lindenhof geschleift, als sie 1218 die Reichsfreiheit erhielten! Ewig schade drum... ich wünschte, meine Heimatstadt hätte eine solche imposante Festung!» – «Burgen sind cool!», bestätigt Margarethes Freundin, und ihr gemeinsamer Freund Rudy nickt: «Ich hatte ehrlich gesagt immer eine Schwäche für solche Gemäuer. Trutzburgen, Festungen, Zollstationen, egal, ob in römischer Zeit oder im Mittelalter...»

«Und es kam darauf an, wer den grössten hatte!», wirft Leon ein, der etwas abseits von den anderen seinen Rucksack abgestellt hat, um seine Trinkflasche und den Proviant herauszunehmen. – «Was meinst du jetzt wieder mit deinen zweideutigen Bemerkungen?», tadelt ihn Seraina. – «Na, wer den grössten Turm hatte, natürlich!», lacht Leon. «Darum ging es doch immer! Auch Kirchtürme sind dazu da, Eindruck zu schinden!» – «Aber auch, um das Volk zu ermahnen, gläubig und gottesfürchtig zu sein!», wendet Seraina ein mit erhobenem Zeigfinger. – «Beides diente dazu, Präsenz zu markieren», bestätigt Margarethe, die nur scheinbar geistesabwesend in einem dicken Buch blättert, das sie aus ihrem Rucksack geholt hat. «Mäggy, hast du wieder einen dicken Schinken dabei?», wundert sich Rudy, sein Smartiefon fest umklammert. «Wie altmodisch!» – «Darum hat Mäggy solche Muskeln, weil sie immer dicke Bücher rumschleppt!», grinst Seraina spöttisch. – «Mäg hat ihren Schinken; ich bevorzuge andere fleischliche Nahrung!», frotzelt Leon und packt etwas Längliches aus einer Folie. – «Jetzt wird er wieder pervers!», warnt Seraina mit theatralisch weit aufgerissenen Augen, aber Leon wickelt lediglich eine längliche, eckige Wurst aus und fixiert sie mit gierigem Blick. Rudy verzieht sein Gesicht: «Landjäger!» – «Wenn das das schlimmste Schimpfwort ist, das du kennst, dann habe ich ja nichts zu befürchten!», reagiert Leon lakonisch und beisst von seiner Wurst ab. – «Landjäger mag ich nicht!», brummt Rudy, und seine grau-blauen Augen scheinen Serainas Rucksack zu durchleuchten: «Raina, hast du was Feines eingepackt zum Picknick?» – «Natürlich, Rudolfino mio», entgegnet diese und küsst ihren Freund zerstreut auf den Mund.

Nachdenklich greift sie das Gesprächsthema wieder auf: «Aber eben, warum holt uns das Schicksal ausgerechnet nach Rapperswil? Wir vier sind alle aus Zürich... na ja, minus Vorfahren.» – «A propos, könnte es wohl damit zusammenhängen?», mutmasst Margarethe. «Erinnere dich an Rom und Amsterdam, Raina. Den seltsamen Auftrag, vor etwa einem Jahr...» Rudy schnaubt verächtlich: «Diese undurchsichtige Geschichte mit dem ausgewanderten Urahnen meint ihr, der uns so viele Scherereien beschert hat?» – «Unter anderem einen Einsatz als Gladiatoren im Kolosseum und den Stunt beim Wagenrennen im Circus Maximus», wirft Leon erklärend ein. – «Genau, wir haben ja erst dort festgestellt, dass Mäggy und ich verwandt sind», bestätigt Seraina.

Unbeirrt von dem Gespräch, das sich auf einem Mauerabsatz hoch über dem Zürichsee mit atemberaubender Aussicht auf fast das ganze Becken des Zürichsees und Teile des Obersees abspielt, beisst Margarethes muskulöser Freund wieder genüsslich von seiner Wurst ab und schmatzt, als er sie verzehrt. – «Iss anständig, du Wiederkäuer mit deiner Gammelwurst!», tadelt ihn Rudy indigniert. «Löwen haben einfach keine Manieren!» Mit vollem Mund entgegnet Leon provozierend: «Wieso, mjam. Ef ifft Mittagfpaufe, ich bin hungrig...» – er schluckt einen Bissen herunter – «...und es ist mein gutes Recht, meine Wurst zu essen, wann und wo ich will!» Mit einer hochgezogenenen Augenbraue fügt er hinzu: «Nifft moin Problem, wenn Cyborgino etwas gegen Landjäger hat!» Der Angesprochene verzieht angewidert das Gesicht und fährt dann, an die Mädchen gewandt, fort: «Eben, darum dreht es sich doch, und hier verweben sich all die roten Fäden!» – «Was für ein Gespinst meinst du jetzt?», erkundigt sich Seraina. «Ich meine, auf welche Fäden sprichst du an?» Ein Prusten macht sie und die anderen beiden auf Margarethe aufmerksam: «Raina hat masochistische Gelüste! Die steht auf Fesseln!», witzelt sie, und Leon doppelt nach: «Das ist ja nichts Neues!» Seraina starrt ihn empört an: «Was faselst du da, du Fresssack?» Und an Margarethe gewandt, fügt sie hinzu: «Mäggy, pass auf, dass dein Lover nicht Fett ansetzt, so, wie der frisst!» Ihre Freundin kichert: «Keine Sorge, im Moment überwiegen noch die Muskeln!» Sie errötet, und ihr Freund strahlt süffisant und spannt seinen rechten Oberarm an. – «Angeber!», bemerkt Rudy missbilligend, und Seraina schmiegt sich an ihren Freund: «Rudolfino mio, du musst dich neben dem Löwen nicht verstecken!» – «He, ich bin ein erwachsener Mann, im Gegensatz zu euch, ich brauche Kalorien!», protestiert Leon. Die anderen drei starren ihn überrascht an: «Stimmt, du bist ja schon zwanzig, du alter Sack!», flachst Seraina frech, und Leon richtet sich zu seiner vollen Grösse auf und nähert sich dem Mädchen, welches zwar nicht klein ist, aber doch deutlich kleiner und vor allem filigraner als der grosse junge Mann. «Du musst ja nicht meinen, dass dir deine Brille das Recht gibt, frech zu sein!» Mit gespieltem Entsetzen entgegnet Seraina: «Uiuiui, da kriege ich ja Angst!» – «Das solltest du auch!» – «Und warum?» – Leon grinst: «Weil ich dich mit deinen roten Fäden gleich an das Denkmal da vorne fessle!» – «Nur über meine Leiche!», ruft Rudy entrüstet und drängt sich beschützend vor seine Freundin, so dass er Leon fast auf die Füsse tritt. Margarethe seufzt: «So, Schluss jetzt mit dem Blödsinn!» – «Wieso, das macht doch unseren Charme aus, Lady Ravenheart!», entgegnet Leon charmant, und Rudy fügt hinzu: «Das Gefolge von Rabenherz zeichnet sich durch seine Schlagfertigkeit aus!» – «Ja, und zwar im doppelten Sinne!», bestätigt Seraina. «Wir können durchaus mal zuschlagen, sowohl mit Worten, als auch mit Schwert und Säbel – egal, ob du es krumm oder gerade bevorzugst!» Margarethe seufzt, und wie ein Echo erklingt ein «Kraa!» aus der Baumkrone der Kastanie, in deren Schatten die vier Freunde sitzen. «Plonk hat Recht!», quittiert Margarethe den Einwurf ihres Raben. «Seid nicht albern, ich habe doch diesen Auftrag vom Kantonsarchäologen und von der Stadt Rapperswil bekommen. Und ihr wollt mir dabei helfen, stattdessen schweift ihr aber dauernd ab und labert, und uns rennt langsam die Zeit davon! Das Schicksal von Rapperswil steht auf dem Spiel – und auch das von Zürich! Denkt doch an die Fakten: Alle, welche die alte Rapperswiler Münze, die ein Jäger aus dem weissen Hirsch geholt hat, gesehen haben, sind verschwunden. Wir sind die Einzigen, die es schaffen könnten, diese Leute zu retten!»

* * *

1

Eingespannt und angespannt

«Bist du noch zu retten! ICH, langweilig?» Uncharakteristisch für Leon, schreitet er schnell im Kreis herum und verwirft seine Arme. Dann rauft er sich seine dunkelblonde Mähne, und seine grünen Augen scheinen Funken zu sprühen. Margarethe befürchtet schon, dass der wertvolle Teppich, auf dem ihr Freund herumstampft wie ein Indianer auf Kriegspfad, Schaden nimmt. Das edle Stück hatte ihre Mutter mit ihr zusammen in einem teuren Geschäft ausgesucht, weil die Mama Wert auf Stil legt. Bei diesen Gedanken stutzt sie und wird sich dessen bewusst, dass das Bild als rassistisch eingestuft werden könnte. «Indianer? So weit sind wir also schon; man darf nicht mal mehr etwas denken und muss sich fragen, ob man noch politisch korrekt ist!», denkt sie kopfschüttelnd. Seit ihrer Reise ins Herzland der Native Americans im Sommer 2022 ist sie stärker sensibilisiert auf political correctness. Aus ihren Gedanken reisst sie ein Fauchen, das klingt als käme es von einem wilden Tier. Aug in Aug findet sie sich mit ihrem Liebsten, der sie jedoch zornig anfunkelt: «Was schüttelst DU jetzt den Kopf? Wo du doch mit derlei absurden Ideen kommst: Ich und langweilig!» Nun schüttelt Margarethe in voller Absicht ihren Kopf mit den dunkelblonden, langen Haaren und funkelt Leon aus braunen Augen an: «Ich verstehe nicht, was du dich so aufregst! Echt jetzt!» Leon besinnt sich, und seine Gesichtszüge werden wieder milder. «Meine Fresse, du machst mir richtig Angst, wenn du so wütend guckst!», bemerkt seine Freundin, welche keineswegs eingeschüchtert ist. Sie kennt ihren Löwen und weiss, dass er aufbrausend sein kann – wobei er normalerweise sehr geduldig ist, aber wenn er sich dann einmal aufregt, dann heftig und nachhaltig. «Leon, ich versteh ja, dass du Stress hast…», fängt sie versöhnlich an, er jedoch fällt ihr ins Wort: «Du hast ja KEINE Ahnung! In den nächsten ZWEI Wochen habe ich ganze VIER Prüfungen, und gaaaaanz nebenbei sollte ich noch meine Semesterarbeit fertigschreiben und für meinen Professor ein Referat über das Sexualverhalten von Weinbergschnecken unter besonderer Berücksichtigung der Länge des Liebespfeils vorbereiten. Ich bin echt gestresst! Und du wirfst mir vor, ich sei langweilig?» Margarethe starrt ihren Liebsten an und ist ernsthaft besorgt: So kennt sie ihren Leon gar nicht, welcher immer so entspannt war und sich durch nichts aus der Ruhe bringen liess. Aber seit er studiert und daneben noch als Assistent für seinen Zoologie-Professor arbeitet, ist er oft angespannt und erschöpft. – «UND HÖR AUF, DEN KOPF ZU SCHÜTTELN!!!» Entnervt steht Margarethe auf von ihrem Bett, auf welchem sie gesessen hatte, und greift zu ihrer Jacke. Jetzt hält Leon inne: «Was ist? Willst du etwa gehen?» Sie schweigt zuerst, dann blickt sie ihn finster an: «Ja! Mir reicht’s mit deiner miesen Laune!» Einen Augenblick starrt er sie fassungslos an, dann verändert sich sein Gesicht wie in Zeitlupe von zornig über verblüfft bis besorgt, und Margarethe liest in Leons Mimik wie in einem Buch. Unwillkürlich fängt sie an zu lachen. «Liebster, du kommst mir vor wie ein Comic-Strip; deine Mimik ist einfach zum Kugeln»! Leon, dessen Gesichtszüge sich endlich wieder entspannt haben, eilt auf seine Freundin zu und schliesst sie in seine Arme: «Sorry, ich bin einfach gestresst!»» – «Schon gut», erwidert sie besänftigend und küsst ihren Leon auf den Mund. Er schnurrt wie ein Kätzchen: «Und was hast du vorhin von Strip gesagt? Das klingt interessant….»

* * *

Am nächsten Wochenende treffen sich die zwei Freundinnen Margarethe und Seraina und gehen im Wald spazieren, weil ihre Freunde am Arbeiten sind – Rudy steckt mitten in der Testphase seiner neuentwickelten Smartiefon-App für sichere Finanztransaktionen, und Leon stopft Wissen in sich hinein, um die Prüfungen zu bestehen. «Ist Leo immer noch so gestresst?», erkundigt sich Seraina. Margarethe seufzt: «Seit wir zurück von der Route 66 sind, steckt er quasi im Dauerstress, mit Studium, Prüfungen und Job. Früher war er viel entspannter.» Seraina legt ihrer Freundin tröstend einen Arm um die Schulter: «Ich verstehe, was du meinst. Da hatten wir alle immer geflucht, wie anstrengend doch das Gymnasium ist, aber ich sehe auch bei Rudy, wie intensiv so ein Studium ist. Und dann sein Startup erst – ein Zeitfresser! Zudem lässt er sich mit dem fetten Lohn aus seiner Firma irgend so ein Solar-Boot bauen, eine Art Wohn-Floss. Er will darauf leben und arbeiten – wo ihn möglichst wenig Nachbarn mit dem Rasenmäher akustisch foltern können, wie er selber sagt. Er hat einfach viel zu viele Projekte am Laufen! Er hat fast keine Zeit mehr für mich.» – «Hält ihn sein Studium so auf Trab oder seine Arbeit?» Jetzt ist es an Seraina, zu seufzen: «Beides, aber er ist total begeistert von seinem Job; ist auch eine tolle Chance für ihn, zugegeben, als Chef-Programmierer bei einem börsenkotierten Tech-Startup einzusteigen – und das erst noch, bevor er 18 geworden ist! Er als Genie und Cyborg in Personalunion ist natürlich prädestiniert für den Posten. Dauernd erhält er weitere Stellenangebote. Er könnte sich klonen! Aber für mich bleibt nicht mehr viel übrig.» Nun umarmt Margarethe tröstend ihre beste Freundin: «Unsere Männer sind nicht mehr zu gebrauchen. Also echt jetzt!»

Seraina wischt mit einer Hand eine Strähne ihrer langen, schwarzen Haare aus dem Gesicht und schickt ihrer Freundin einen Blick aus ihren dunklen Augen: «Dann läuft bei euch also auch nicht allzu viel… ich meine…?» – «Tote Hose!», antwortet Margarethe knapp. «Liegt sicher auch daran, dass das Verhütungsthema ungelöst ist. Ihn gurkt das an mit den Gummis; er findet sie zu eng.» Seraina antwortet mit einem Seufzer: «Na ja, ich habe da jetzt eine Lösung.» – «Lass hören!» – «Wird dir nicht passen, ist sozusagen das Gegenstück zu Rudys Implantaten! Nur, dass es Hormone aussendet, statt Daten zu empfangen.» – «Alles klar!», reagiert Margarethe etwas überrascht. «Sehr natürlich ist das allerdings nicht.» Seraina zuckt mit ihren Schultern: «Man muss realistisch sein… und das ist minimalinvasiv.» Der Gesichtsausdruck ihrer Freundin ist nicht überzeugt, und Margarethe lenkt ab: «Was machen wir nur mit unseren Männern?» Seraina kichert unerwartet: «Diese Bäume bringen mich auf Ideen!» – «Was? Willst du sie aufknüpfen?», fragt Margarethe und zieht ihre Augenbrauen hoch. – «Na, ganz so drastisch muss es ja nicht sein», entgegnet ihre Freundin grinsend. «Aber wir könnten sie festbinden, an einen Baum fesseln, dann haben wir sie für uns allein!» Margarethe lacht: «Raina, du hast wieder Ideen! Ich hätte noch eine andere!» Neugierig tritt ihre Freundin näher zu ihr: «Bin ja mal gespannt, welche Gemeinheiten du dir ausgedacht hast!» – «Noch viiiiiel fieser als du: Ich würde unsere Jungs gern auf eine neue Zeitreise schleppen, dann haben wir sie wieder für uns allein!» – «Das ist aber riskant; hast du vergessen, wie viel Ärger wir immer hatten?», erinnert sie Seraina stirnrunzelnd. «Meist sind die Männer dann wieder absorbiert und wissen alles besser und streiten am Ende noch. Nein danke, einfach zum Spass zeitreisen geh ich nicht. Und seit wann bis du so masochistisch?»

Ein dreckiges Lachen dringt an die Ohren der Mädchen. Seraina schlägt sich mit der flachen Hand an die Stirne: «Ich fass es nicht – Gerry! Ist der eigentlich immer überall?» – «Das Böse ist immer und überall… das Zitat aus dem Lied passt», entgegnet Margarethe ziemlich laut, damit es Gerry hört. Dieser ist bereits zu ihnen herangetreten, und seine ständigen Begleiter, auch «Gerrys Gorillas» genannt, schliessen zu ihm auf und flankieren ihn von beiden Seiten. «Schon vom Weitem hört man eure unanständigen Gedanken!», bemerkt er süffisant. «Wie läuft denn euer Sado-Maso-Salon, dürfen wir auch mal reinschauen?» Schlagfertig reagiert Seraina: «Members only, sorry, Gerry!» Margarethe fügt hinzu: «Der Schweinestall ist von hier aus ein halber Kilometer Luftlinie, man riecht es schon. Versuch dein Glück doch dort.» Unbeirrt grinst Gerry: «Ihr seid immer so wahnsinnig gastfreundlich!» – «Und du bist wahnsinnig aufdringlich!», erwidert Seraina. «Wenn wir das unseren Männern erzählen, musst du dich in Acht nehmen vor ihrer Rache, wenn sie unsere Ehre verteidigen!» – «Wenn schon, würde ich mich lieber von euch verhauen lassen!», lacht Gerry, und sein Bodyguard zu seiner Linken grunzt: «Die werfen sicher mit Wattebäuschen!» – Seraina grinst: «Potztausend, dein Gorilla ist ja richtig schlagfertig!» – «In jeder Hinsicht!», bestätigt Gerry selbstzufrieden, und der Genannte lacht grunzend. Margarethe kann es nicht lassen, Seraina zuzuflüstern: «Wir könnten fürs Erste mal Gerry an einen Baum fesseln, was meinst du?» Seraina nickt: «Und dann… na, du weisst schon!» Gerry ist hellhörig geworden: «Das klingt ja vielversprechend! Ich bin ja mal gespannt!» – «Aber das geht natürlich nur, wenn du allein bist!», fährt Margarethe mit scheinheiliger Miene fort. Gerry lacht wieder dreckig: «Oder wir könnten es andersrum machen: Meine Gorillas fesseln EUCH beide an einen Baum, und ich züchtige euch dann!» – «Das könnte dir so passen!», reagiert Seraina unbeeindruckt, aber Margarethe schluckt leer und zieht ihre Freundin am Ärmel: «Hören wir besser auf, zu provozieren!» Sie kennt Gerry schon lange und war auch schon zusammen mit ihm in Bedrängnis, aber ihn im Angesicht seiner kräftigen Begleiter herauszufordern, erscheint ihr doch etwas leichtsinnig. «Wir können das ja ein andermal machen, mit der Baum-Therapie», erklärt sie betont locker. – «Was für ’ne Therapie?», prustet Gerry heraus, und Seraina fügt nahtlos hinzu: «Fesseln ist eine Therapieform, die der Entspannung dient, und damit nichts Anstössiges! Ein Schwein, wer anderes dabei denkt!» Die Mimik der drei kräftigen Burschen drückt Respekt und Enttäuschung aus, und sie schicken sich an, zu gehen. Gerry brummt: «Auf Psychokram habe ich null Bock; ihr Weiber seid doch alle schräg drauf mit eurem Therapiefimmel!»

Als die drei verschwunden sind, brechen die Mädchen in Gelächter aus und können sich fast nicht mehr erholen. «Hast du… hahaha…Gerrys verdutztes Gesicht gesehen? Buahaha!», lacht Seraina laut – «Und die depperten Glotzaugen seiner Gorillas!», prustet Margarethe. Die beiden schauen sich an mit Tränen in den Augen vor Lachen. «Von wegen Therapie!», grinst Seraina. «Und… willst du das mal probieren?» – «Nein danke, ich fand es bisher nie entspannend, gefesselt zu sein!», winkt Margarethe ab. «In brenzligen Situationen zu stecken, ist alles andere als chillig.» – «Therapiefesseln wäre eine Methode, Traumata zu lösen», sinniert die angehende Medizinstudentin Seraina. «Wäre zumindest einen Versuch wert.»

* * *

Plonk und seine Frau Corvina geniessen die Zeit zu zweit – keine quengelnden Küken, kein Futterbeschaffungsstress, keine Revierverteidigung und im Moment auch keine Zeitreisen. Der Herbst ist einfach chillig, würde Plonk sagen, wenn er sich Leons Wortschatz bedienen würde. Weil beide sehr geschickte Jäger sind, benötigen sie nicht sehr viel Zeit, um satt zu werden. Daher haben sie viel Freizeit. Corvina ist mehr die Architektin. Sie liebt es, am Horst herumzuwerkeln. Plonk steigert sich dann in eine regelrechte Sammelwut hinein, um seiner Frau möglichst viele unterschiedliche Baumaterialien herbeizuschaffen. Äste verschiedenster Länge und Dicke sind dabei nur das Grundmaterial. Das Rabenmännchen hat sich, anders als andere Kolkraben, auch auf «Verbindungselemente» wie etwa Lehm oder Spinnweben spezialisiert. Letztere sind allerdings eher schwierig heimzubringen, da ein Spinnennetz schnell zusammenfällt und verklebt. Plonks Trick ist, es so hinzubekommen, dass er eine möglichst lange, klebrige Schnur heimschafft. Die darin verstrickte Spinne verzehrt Corvina dann genüsslich wie eine Praline, bevor sie mit dem Gespinst ein paar Äste miteinander verklebt, und sich dann bei Plonk mit zärtlichem Kraulen bedankt. Dann hocken beide gerne einige Minuten innig beisammen und liebkosen sich.

Die «Inneneinrichtung» wird erst an die Hand – also eigentlich an den Schnabel – genommen, bevor es zur Eiablage geht. Dennoch braucht es auch hier eine Grundausstattung, denn das Paar selbst liebt es ebenfalls kuschelig. Etwas Gras muss im Herbst reichen. Für den Nachwuchs schafft Plonk dann jeweils auch Moos und Federn herbei. Doch das kann warten – jetzt bloss kein Stress. Plonk und Corvina sind im Moment einfach zufrieden mit sich und der Welt.

* * *

Als sich die Mädchen das nächste Mal treffen, ist Seraina ungewohnt nachdenklich. Margarethe spürt, dass ihre Freundin bedrückt ist. «Rai, was ist?» Die Angesprochene schweigt, dann schlägt sie ihre Augen nieder: «Ach, nichts… nichts Dramatisches.» Doch Margarethe lässt nicht locker: «Meine Liebe, du hast doch etwas auf dem Herzen!» Seraina druckst herum: «Ist wirklich nix Schlimmes.» – «Dann raus damit! Oder muss ich dich an einen Baum binden und das aus dir rauskitzeln?» – «Versuch’s doch!», provoziert sie Seraina frech. – «Na warte, dann hast du dir das aber selber zuzuschreiben!», grinst Margarethe. «Welcher Baum soll’s denn sein?»

Seraina seufzt: «Ich kann mir das einfach nicht vorstellen… wie das sein soll…» – «Was? Die Kitzelfolter? Oder der Umstand… dass Rudy bald seine erste Million gescheffelt hat?» – «Nein…», grinst Seraina, «weder noch. Wenn ich… eine Brille trage!» Mit grossen Augen schaut ihre Freundin sie an: «DU? Eine BRILLE?» Unwirsch reagiert Seraina: «Ja! Eben! Genau das meine ich! Ist doch total abwegig! Und…» – sie blickt betreten auf den Boden – «…ich seh sicher doof aus mit Brille!» Margarethe schmunzelt, weiss sie doch, dass ihre hübsche Freundin sehr eitel sein kann. «Also, mir würde eher zu schaffen machen, wenn ich eine Scheibe hätte – vor dem Gesicht!» Ihr Gegenüber nickt: «Ja, das auch! Ist doch total unpraktisch!» – «Verstehe ich! Könnte ich mir auch nicht vorstellen… Sonnenbrille, das ist okay, aber zum Lesen und überhaupt immer was im Gesicht haben…» – «Na ja, nicht immer… vorläufig zumindest. So schlimm ist meine Hornhautverkrümmung nicht; ich sehe ja nicht schlecht ohne Brille, aber wenn ich so viel lesen muss für die Prüfungen und später fürs Studium, brauche ich eine Sehhilfe», erklärt die angehende Medizinstudentin. – «Das verstehe ich. Zum Glück hatte ich bisher nie Probleme mit meinen Augen.» Margarethe grinst: «Färbt wohl Rudys Einfluss auf dich ab?» Auf diesen Einwurf erntet sie einen grimmigen Blick von ihrer Freundin aus deren grossen, ausdrucksvollen Augen: «Genau das werden die Leute denken – dass ich jetzt auch eine Brille brauche, weil mein Herr Oberschlaumeier eine trägt!» – «Aber es gibt doch so schöne Brillen… könnte mir vorstellen, dass dir so ein Nasenvelo steht. Und mit einer Brille siehst du intellektueller aus!», ermutigt sie ihre Freundin. «Und sonst gibt’s ja noch Kontaktlinsen.» Diese seufzt: «Ich weiss nicht… dauernd was im Auge zu tragen, fände ich noch schlimmer. Und immer rein und raus… ist ungewohnt… ich schiebe das schon lange vor mir her, aber ich musste zum Augenarzt, weil ich oft Kopfschmerzen hatte in letzter Zeit.» Margarethe schmollt: «Und mir, deiner besten Freundin, hast du nichts von deinen Sorgen erzählt! Wofür bin ich denn da?» – «Ja, sorry, wir hatten immer Stress mit Lernen, und Leon war ja auch schwierig… was soll ich dann mit so einer Banalität kommen?» Margarethe umarmt ihre Freundin herzlich: «Wenn dich etwas beschäftigt, darfst du IMMER zu mir kommen! Es muss ja nicht immer um die Rettung der Welt gehen!» – «Danke!» – «Ausserdem…», fängt Margarethe mit verschmitztem Blick an, «…Leon hat doch immer gesagt, du hättest einen Killerblick… stell dir das mal vor, mit Brille! Dann wirst du erst richtig gefährlich!»

* * *

Wieder ist eine Woche vergangen. Doch an diesem Weekend konnte Margarethe ihren Liebsten von der Arbeit weglocken. Die beiden unternehmen eine kleine Wanderung. Da das Wetter nicht mitspielt, haben sie ihre ursprünglichen Pläne ändern müssen und die Route abgekürzt, da eine Bergwanderung bei Regen gefährlich werden kann. Margarethe ist ein bisschen enttäuscht, da sie sich schon lange auf den Tag gefreut hatte. «Schade, können wir nicht den ganzen Tag wandern, das hätte dir sicher gut getan mit deinem Stress», bemerkt sie seufzend, während sie neben ihrem Freund her geht. Der Weg führt noch nicht besonders steil durch einen Wald, und mit jedem Schritt fühlt sich das naturverbundene Mädchen befreiter. Ihr scheint jedoch, ihr Liebster weile in Gedanken meilenweit fort. «Hm, was?», murmelt er geistesabwesend. «Ja, wandern tut gut.» Sie stöhnt: «Du bist ja total abwesend, kriegst du überhaupt was mit? Wenn ich gewusst hätte, dass das Studium dich so mitnimmt…» – «Was dann?», blafft er sie an. «Das gehört nun mal dazu! Und es ist trotzdem genau das richtige Studium für mich! Ich lerne so viel Neues, und es sind alles Themen, die mich schon lange beschäftigen.» Er redet sich richtig in Fahrt, und instinktiv zuckt Margarethe zurück angesichts des Wortschwalls ihres Löwen. Wenn Leon etwas tut, dann tut er es mit Leib und Seele. Das hat sie oft genug erlebt in verschiedenerlei Hinsicht. «Liebster, ich schätze deine Leidenschaft! Aber wenn du deine ganze Energie in dein Studium steckst, dann bleibt für uns zwei nicht viel übrig», erwidert sie versöhnlich. Er stutzt, besinnt sich und bleibt stehen. Dann atmet er tief ein und lässt seinen Blick durch die Landschaft schweifen, über die Berggipfel, die noch ein Stück über ihnen liegen. Als er seine Freundin betrachtet, wird sein Blick weicher, verträumter, und er sieht sie an, als sähe er sie zum ersten Mal – als wäre er aus einem Traum erwacht. «Mäg, Liebste, es tut mir leid. Ich war so absorbiert… so fern von dir», spricht er dann und fasst seine Mäg um die Taille. «Aber auch du bist oft nicht richtig da, bist auch sehr beschäftigt mit der Schule und der Lernerei.» – «Stimmt, aber ich stehe kurz vor der Matura, was soll ich denn anderes tun?», verteidigt sie sich. Leon schüttelt sanft seinen Kopf: «Wir sollten beide versuchen, abzuschalten und nicht dauernd an das zu denken, was uns Druck macht. Ruheoasen finden… uns Zeit dafür nehmen. Füreinander. Sonst driften wir auseinander.» – «Das würde ich nicht überleben!», schluchzt Margarethe auf, und Tränen treten in ihre Augen. Leon drückt sie fest an sich: «Das wird nicht passieren! Solange wir immer wieder innehalten. Du hast Recht, dass es gut war, trotzdem wandern zu gehen.»

Eine Weile verharrt das Liebespaar in seiner innigen Umarmung. Dann dringt plötzlich ein seltsamer Schrei an ihre Ohren, und sie lösen sich erschrocken voneinander. Im Gebüsch raschelt es, und ein grosses Tier steht wenige Meter entfernt von ihnen und blickt sie herausfordernd an. «Ein Hirsch!», flüstert Margarethe, und Leon nickt: «Eine Hirschkuh!» – «Aber sie ist weiss!» Die beiden Menschen staunen über das ungewöhnlich gefärbte, prachtvolle Tier. Auch wenn die Hirschkuh kein Geweih trägt, ist sie eine eindrückliche Erscheinung. Im nächsten Moment ist das Tier im Wald verschwunden, als hätte es sich einfach aufgelöst – elegant und beinahe lautlos hat sich die Hirschkuh den Blicken der zwei Menschen entzogen. «Erstaunlich! Hier ein Hirsch, im Wald zwischen Rapperswil-Jona und Dürnten! Und dann noch ein schneeweisses Tier! Rehe ja, aber ein Hirsch?», wundert sich Margarethe, und Leon erklärt umgehend: «Rehwild sehen wir einfach öfters, weil sich diese Art gut an den Menschen angepasst hat und häufig vorkommt. Rothirsche hingegen sind – obwohl deutlich grösser und kräftiger als Rehe – viel scheuer und deshalb seltener im Mittelland anzutreffen.» – «Aber warum war die Hirschkuh weiss?», grübelt Margarethe weiter, da meint Leon achselzuckend: «Eine Spielart der Natur. Ein Albino scheint sie nicht zu sein, ihre Augen waren dunkel, nicht rot, vermutlich fehlen ihr einfach nur die Pigmente im Fell…» – «Ich habe mal was gelesen, ich weiss nicht mehr genau, wo, …von der Gründungslegende, ich glaube, der Stadt Rapperswil. Da ging es auch um eine weisse Hirschkuh…» – Leon grinst: «Die kommt aber einige Jahrhunderte zu spät, Rapperswil existiert schon, zu gründen gibt’s da nicht mehr viel!» Margarethe verzieht das Gesicht und meint mit leicht zugekniffenen Augen: «Sag das nicht! Eine weisse Hirschkuh ist ein Zeichen! Eine weisse Hirschkuh erscheint aus einem ganz bestimmten Grund!» – «Quatsch! Reiner Zufall! Eine genetische Mutation, weiter nichts!», spielt Leon die Erscheinung herunter. Da stapft Margarethe leicht eingeschnappt weiter und grummelt, um das Thema zu wechseln: «Komm, sonst erreichen wir das Restaurant nicht rechtzeitig, damit du etwas Anständiges zu essen kriegst!» – «Etwas Unanständiges ginge auch, im Maisfeld da unten!», grinst Leon über beide Ohren, wird aber kein bisschen rot dabei. Margarethe seufzt. Leon beeilt sich, seine Mäg einzuholen und ihr den linken Arm um die Schultern zu legen. Beide bleiben stehen und schauen sich an. Das Mädchen flüstert: «Wann sind deine doofen Prüfungen endlich vorbei? Ich will wieder den gechillten Leon zurück, den ich kenne! Sonst gibt’s Baum-Therapie!» – «Morgen Montag habe ich die letzte Prüfung, das habe ich dir doch schon hundert Mal gesagt, bist du taub? Darum sollten wir direkt nach dem Essen wieder zurückfahren. Ich will mir nochmals alles durch den Kopf gehen lassen.» – «Aber hoffentlich nicht das Essen!», flachst Margarethe, die das «taub» geflissentlich überhört hat. Leon grinst und schüttelt den Kopf, dann blickt er seine Freundin verwundert an: «Ähm, hab ich mich verhört, oder sagtest du was von Baum-Therapie? Was ist das nun schon wieder?» – «Nix, nix», winkt die Angesprochene mit einem schelmischen Grinsen ab, «nur was für Hypernervöse. Aber ab morgen Abend sollte sich ja dieses Problem von allein gelöst haben. Ausser, dein Professor spannt dich dann noch mehr ein bei seinem Wisent Projekt, weil du ab Dienstag nicht mehr büffeln musst. Zur Schnecke hat er dich ja schon gemacht mit seinem Referat über Weinbergschnecken…» – Leon verzieht das Gesicht, setzt einen traurigen Blick auf und seufzt: «Ich brauch’ das Geld; meine Eltern können mein Studium nicht finanzieren, sie hatten ja nie eine feste Stelle, nur immer diese zeitlich begrenzten Projekte bei magerem Lohn – Biologie ist nun mal keine Wissenschaft, die einen reich macht. Da hat Rai mit ihrem Cyborg die bessere Partie gemacht als du mit mir… Wenn Rudys Startup durchstartet, scheffelt der Millionen!» – Margarethe schaut Leon tief in die Augen und flüstert: «Geld ist mir egal! Meine Mutter rennt schon ihr halbes Leben dem Geld hinterher. Eingeholt hat sie es bisher nie, ist aber selbst eingeholt worden – von Schlafstörungen, Sodbrennen und Kopfschmerzen! Geh du mir nicht in dieselbe Richtung, Leo! Bleib lieber arm wie eine Kirchenmaus, dafür aber glücklich an meiner Seite!» – Leons grüne Augen funkeln wie an ihrem ersten Zusammentreffen bei Plonks Baum. Margarethe bemerkt dies, und wäre sie nicht längst in ihn verknallt, jetzt würde sie sich rettungslos verlieben!

2

Das Vermächtnis der weissen Hirschkuh

Margarethe ist erleichtert, denn heute hat Leon seine letzte Prüfung absolviert, seine Semesterarbeit endlich abgegeben und auch das Referat für den Professor fertiggestellt. Sie freut sich schon auf einen entspannten Abend mit ihm. Sie wollen essen gehen, in ein Sushi-Restaurant in Horgen. Leider ist es kalt, und es regnet. Sie muss schweren Herzens ihre Sommerkleider an den Nagel hängen und die Herbstklamotten hervorkramen. Die dickeren Jeans sind gesetzt. Sie entscheidet sich zudem für einen grünen Pullover – erstens hat er die Farbe der Augen ihres Liebsten, zweitens wirkt das Grün beruhigend. Denn sie vermutet, dass Leon noch genügend Stresshormone im Kreislauf hat, die er irgendwie noch loswerden muss. Da beide am nächsten Tag erst um zehn Uhr Vorlesungen respektive Schulstunden haben, hat das Mädchen ihr Zimmer romantisch geschmückt, mit Kerzen auf der Kommode und Rosenblättern auf dem Bett. Ihre Mutter weilt aktuell in Brüssel an einem EU-Bankengipfel, daher hat sie sturmfrei. Sie hofft, an diesem Abend einen Käfigtiger in einen wilden Löwen zu verwandeln.

Leon ist spät dran. Zerknirscht setzt er sich zu Margarethe an den Restaurant-Tisch und entschuldigt sich: «Zu viel Verkehr…» – Margarethe, die tief einatmet, um ihren Ärger über die fast einstündige Wartezeit abzubauen, antwortet missmutig: «Du kommst zu mir und hattest schon viel Verkehr! Und ich dachte, es hat sich bei dir eher was angestaut!» – Leon, der sonst selber gerne und oft zweideutig spricht, ist kurz etwas überrascht, seufzt dann aber mit einem Grinsen: «Jetzt bin ich ja da, und bis wir bei dir zuhause sind, sind die Batterien ja wieder gefüllt!» – «Welche Batterien? Deine oder die von deinem Elektroauto?», witzelt Margarethe in Anspielung auf Leons kleinen Renault, den er sich geleast hat, weil er als Biologie-Assistent oft in schlecht erschlossene Gebiete fahren muss. Und da die Institutsautos meistens von den festangestellten Forschenden in Beschlag genommen werden, hat Leon dann meist das Nachsehen. Aus Rücksicht auf die Umwelt hat er sich für den kleinen Elektroflitzer entschieden. Margarethe fragt sich nur, was passiert, wenn dann Rudy seinen Führerschein hat und mit einem nigelnagelneuen Tesla aufkreuzt: 600 km Reichweite, in 3,9 Sekunden von 0 auf 100! So hat er ihr oft genug begeistert vorgeschwärmt. Der Renault dagegen kommt im besten Fall knapp 400 km weit, und man braucht 9,5 Sekunden, um ihn auf 100 hochzukriegen. Ob Leon sich das bieten lässt? Margarethe mustert ihren Freund, der sich in die Speisekarte vertieft hat. Ist er in solchen Fragen ein Macho, oder kann er locker drüberstehen? Manchmal ist er erstaunlich souverän und steht über den Dingen, zwischendurch kann es aber passieren, dass es ihn doch in seinem Stolz verletzt – etwa, dass Rudy das Wagenrennen im alten Rom gewonnen hat, konnte Leon nur mit grosser Mühe verdauen. Margarethes Aufmerksamkeit richtet sich auf ihr Smartiefon, das gerade piepst, weil eine Nachricht hereingekommen ist. Da sie schon lange weiss, welches Menü sie bestellen will, checkt sie rasch, wer ihr geschrieben hat: Es ist Seraina. Sie schreibt überglücklich, dass Rudy sie fürs nächste Wochenende ins edle Thermalbad in Vals eingeladen hat, um das Prüfungsende und den erfolgreichen Start seiner neuen App zu feiern. «Jetzt fängt es schon an», denkt Margarethe still für sich, «Rudy trumpft auf als erfolgreicher Geschäftsmann, macht teure Geschenke und erledigt nebenbei ein Physikstudium, an dem die meisten Normalsterblichen scheitern würden, selbst wenn sie rund um die Uhr lernen würden.» Sie schielt zu Leon, der von all dem nichts ahnt. Und dass dies möglichst lange so bleibt, dafür will Margarethe sorgen, denn sie fürchtet sich vor Leons Reaktion auf Rudys Erfolg. Margarethe sendet Seraina einen «Daumen hoch», dann schaltet sie das Smartiefon aus.

Als Leon endlich entschieden hat, was er essen möchte, ist der aufmerksame Kellner schon zur Stelle. Und die Wartezeit auf das Essen ist auch erstaunlich kurz. Das Paar verschlingt gierig Nigiris, Sashimis und all die anderen Leckereien. Sie reden kaum miteinander. Margarethe fühlt, dass sie Leon einfach einmal von seinem Stresspegel herunterkommen lassen muss. Zufrieden merkt sie, dass er mit jeder Minute entspannter wird. Als sie dabei sind, sich ein Dessert auszusuchen, schaut er sie an und flüstert ihr ins Ohr: «Eigentlich wünschte ich mir etwas viel Appetitanregenderes als Dessert – etwas, das man aber nur in den eigenen vier Wänden vernaschen kann…» Und er zieht beide Augenbrauen hoch. Margarethe wird warm uns Herz, denn jetzt hat sie ihren Löwen wieder!

Zuhause angekommen, huscht Margarethe schnell in ihr Zimmer, um die Kerzen anzuzünden, bevor Leon eintritt. Das klappt wunderbar, denn er muss kurz ins Bad verschwinden. Margarethe war vorsorglich schon im Restaurant für «kleine Mädchen», denn es gibt nichts Abtörnenderes, als dass genau dann jemand aufs Klo muss, wenn es romantisch wird. Schnell schält sie sich noch aus ihrem Pullover und überrascht Leon mit einem Dessous, das mit Schmetterlingsmotiven bestickt ist. Sie weiss, dass er auf alles, was mit Natur zu tun hat, sehr positiv reagiert. Als Leon wieder in ihrem Zimmer ist, scheint er sich nicht gross für das romantische Ambiente zu interessieren, denn stürmisch umarmt und küsst er Margarethe, hebt sie kurz hoch und legt sie sachte aufs Bett. Mit dem rechten Bein stösst er die Zimmertür zu, so dass dadurch ein kurzer Luftzug entsteht, der die Kerzen auf der Kommode ausbläst.

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Am nächsten Morgen ist das Paar so glücklich wie schon seit langem nicht mehr. Doch die entspannte Atmosphäre währt nur kurz, denn Margarethe liest in der Zeitung, dass die weisse Hirschkuh von Rapperswil gestern von einem Auto angefahren worden ist und von einem Jäger erlöst werden musste. Sie schaut entgeistert zu Leon, der zufrieden seine obligate Tasse Kaffee schlürft. Er bemerkt ihren Stimmungsumschwung sofort und fragt besorgt: «Alles ok?» – Margarethe erzählt ihm, was sie eben gelesen hat. Leon wirkt danach ebenfalls betroffen. «So ein schönes Tier!», seufzt Margarethe traurig, und ihr Blick bleibt am letzten Abschnitt des kurzen Artikels kleben: Als der Jäger das tote Tier waidgerecht ausgenommen hat, rollte aus dem Pansen eine alte Rapperswiler Münze heraus. Diese ist nun im Eingangsbereich des Rathauses zu bewundern. Die Verantwortlichen haben den Fund schnellstmöglich der Öffentlichkeit präsentieren wollen, da so eine Sensation nicht alle Tage vorkommt.

Dann aber liest Margarethe den letzten Abschnitt und stutzt: Kurz vor Redaktionsschluss erreichte uns die Nachricht, dass der Jäger ein paar Stunden nach dem Münzenfund spurlos verschwunden ist. Und auch nach einem Mitarbeiter des Rathauses und zwei Mitarbeiterinnen der Kantonsarchäologie, welche die Münze untersucht hatten, läuft eine Vermisstmeldung.

Welch seltsamer Zufall! Margarethe läuft ein kalter Schauder über den Rücken. Sie schaut zu Leon hinüber, als hätte sie einen Geist gesehen. Er erschrickt, als er seine Liebste totenblass sieht, und beeilt sich, um den Tisch herum zu ihr zu gelangen. Er schiebt einen Stuhl zu ihr hin, setzt sich drauf und umarmt sie fürsorglich. «Was ist mit dir, Liebste?» Die Angesprochene schweigt und schiebt die Zeitungsseite zu Leon, damit er selber lesen kann, was da passiert ist. Leon beschwichtigt: «Ach was, die tauchen schon wieder auf! In der Schweiz kann man doch nicht einfach so verschwinden!» – «Das ist äusserst verdächtig! Sus, wie es die Möchtegern-Coolen nennen. Denk daran, wenn wir Plonk dabei haben und ein Schwert finden, dann verschwinden wir jeweils auch einfach so mir nichts dir nichts – nur merkt es niemand!», entgegnet Margarethe, und dieses Argument leuchtet auch Leon ein. Er wird sehr nachdenklich und meint grübelnd: «Warten wir mal ab! Vielleicht ist das nur ein komischer Zufall, und alles löst sich noch in Wohlgefallen auf. Und wenn nicht, können wir immer noch aktiv werden und der Sache auf den Grund gehen.» – Margarethe nickt und seufzt: «Mein Bauchgefühl sagt, dass wir es hier mit einem weiteren magischen Artefakt zu tun haben…» Leon zieht beim Wort «Artefakt» eine Augenbraue hoch, verkneift sich aber einen zweideutigen Spruch, weil er weiss, dass Margarethe in diesem Zustand eher genervt darauf reagiert. Dennoch will er sie aufheitern und meint deshalb schelmisch: «Bauchgefühl? Du? Wo ist da ein Bauch bei diesem schlanken Wesen?» Und er kitzelt sie in der Magengegend, dass sie laut quiekt und lacht. «Stopp!», bittet sie atemlos, doch Leon meint mit einem teuflischen Grinsen: «Nee! Und überhaupt, du magst es doch!» – «Schon, …aber nur …wenn ich …entspannt bin!», kichert sie und windet sich aus seiner Umklammerung heraus. Fast wäre sie vom Stuhl gekippt. Leon fängt sie auf, umarmt sie und meint: «Schade ist es schon bald neun Uhr, du schuldest mir noch eine Baum-Therapie!» – «Du weisst ja gar nicht, was das ist!», wendet Margarethe mit einem breiten Grinsen ein, doch Leon schaut sie mit einem neugierigen und zugleich erwartungsvollen Blick an, zieht beide Augenbrauen mehrmals und in rascher Folge hoch und küsst dann seine Mäg leidenschaftlich: «Mmmh… mmmir genügt, dass ich weiss, dass ich mit Therapievögeln vertraut bin… und darin bist du absolute Meisterin!»

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Plonk ist ziemlich erstaunt, als Margarethe abends unter seinem Baum erscheint und ihm von den seltsamen Begebenheiten rund um die Münze von Rapperswil berichtet, als würde sie ahnen, dass sie bald wieder Plonks Zeitreisefähigkeiten in Anspruch nehmen muss. Der Rabe blickt sie an, und würde er seufzen können, täte er es, denn er ist gerade so zufrieden mit sich und seinem Leben. Jetzt wieder den Helden zu spielen, davon hat auch der beste Zeitreise-Rabe durchaus mal die Nase – also den Schnabel – voll!

«Plonk, ich wünschte, du könntest mir sagen, was ich davon halten soll! Wir haben schon so viele, sehr seltsame Abenteuer miteinander erlebt, aber dass Menschen von einer Münze regelrecht <verschluckt> werden…», führt Margarethe ihre Mutmassungen aus, da unterbricht Plonk sie, was sonst nicht seine Art ist: «Münz wi Schwe! Ohn Zytreiss!» – Margarethe stutzt: «Du meinst, das Geldstück ist magisch wie gewisse Schwerter, macht aber keine Zeitreisen? Aber wohin verschwinden denn die Leute?» – «Adeswelt», gurrt Plonk, und Margarethe kratzt sich am Kopf: «Anderswelt? Sie sterben?» – Plonk schüttelt den Kopf und nickt zugleich. – «Sie sind aber fort, oder?», fragt Margarethe nach und versteht nur Bahnhof. Plonk bejaht und verneint dann gleich wieder. – «Weder noch? Du machst mir Spass, Plonk, jetzt bin ich so schlau wie zuvor», seufzt Margarethe, verabschiedet sich von ihrem Ziehraben und wendet sich zum Heimgehen ab, da ruft ihr Plonk hinterher: «Grrrita, Geee-uld!» – Margarethe hebt eine Hand und fuchtelt kurz über ihrem Kopf herum, um theatralisch zu zeigen, dass ihr Hirn gerade raucht, dabei antwortet sie: «Geduld habe ich sowieso keine! Vergiss es, Plonkie!»

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Margarethe stürmt am nächsten Tag nach der Schule atemlos in Leons WG-Zimmer hinein. «Hast du die Nachrichten… auf der Zeitungs-App… gesehen? Es verschwinden immer… immer mehr Menschen… in Rappi. Sicher wegen der Dings… wegen der Münze! Wir müssen unbedingt nach Rapperswil!», drängt sie ihren Freund, der seufzt: «Jetzt komm zuerst mal runter, Mäg! Was hast du mir vor kurzem vorgeworfen? Dass ich total durch den Wind war wegen zu viel Arbeit? Und was soll ICH denn sagen: Du bist jetzt komplett von der Rolle wegen dieser doofen Münze! Ich dachte, du rennst dem Geld nicht hinterher!» – Die Angesprochene schaut ihn an wie ein waidwundes Reh. Diesem Blick kann Leon nicht standhalten, denn dann meldet sich sein Beschützerinstinkt. Er hebt beide Hände und meint: «Ok, ok, bin dabei, wir fahren heute Nachmittag nach Rapperswil! Eine Bedingung…» Margarethe schaut ihn neugierig an, dann grinst Leon: «Vorläufig lassen wir die R-Fraktion aus dem Spiel. Ich habe die Verkaufszahlen von Rudys App gesehen. Ich habe null Bock auf einen stolzen Gockel…» Margarethe weiss nicht so recht, was sie aus der Kombination von gelassenem Gesichtsausdruck und klaren Worten herauslesen soll – Desinteresse mit Neid gepaart? Oder bloss ein flapsiger Leon-Spruch und nichts dabei?

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Der Kantonsarchäologe, Armin Grabenweger, empfängt Margarethe und Leon in seinem Büro. Sie ist selbst überrascht, dass sie so rasch ein Treffen arrangieren konnte. Womöglich war es hilfreich gewesen, beim vorangegangenen Telefongespräch darauf hinzuweisen, dass sie als Elfjährige unter seltsamen Umständen ein wertvolles Schwert im Wald entdeckt hatte – so hat sie sich sozusagen als Expertin für mysteriöse Fundstücke ausgewiesen. Nun sitzen sie da und mustern einander. Der Kantonsarchäologe