Rabenherz - von der Engelsburg zum Teufelsberg - Carole Enz - E-Book

Rabenherz - von der Engelsburg zum Teufelsberg E-Book

Carole Enz

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Beschreibung

In Rom und Amsterdam erhalten die frischgebackenen Nobelpreisträgerinnen je einen mysteriösen Brief. Die Spur führt sie von der Engelsburg zum Teufelsberg, wo sie zu Geheimagenten wider Willen werden. Nach ihrem pandemischen Abenteuer in Venedig, London, Hamburg und Bingen am Rhein verbringt Margarethe mit ihrem Liebsten Leon und ihren besten Freunden Seraina und Rudy ein Wochenende in Rom - und für die zwei frischverliebten Paare muss sich noch zeigen, was die grössere Herausforderung ist: die erste Liebesnacht oder ein Wagenrennen im Circus Maximus! Weiter geht die irrwitzige Reise nach Amsterdam und Berlin. Die Hinweise verdichten sich, dass sie mitten im Kalten Krieg zu einer Information gelangen müssen, um ein Unglück in ihrer eigenen Zeit abzuwenden. Die vier Teenager werden mit Rabe und Schwert in einen Agententhriller hineingesogen.

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Seitenzahl: 267

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

1 Schlaflos in Stockholm

2 Nachhilfeunterricht in einem wichtigen Fach

3 Vier Teenager schweben über den Wolken

4 Es gibt kein Zurück!

5 Kolossale Erkenntnisse

6 Das Schwert des Erzengels

7 Brot und Spiele

8 Wohin des Berges?

9 Im Zeichen eines neuen Auftrags

10 Stadtrundfahrt mit allen Schikanen

11 Die Letzte ihrer Art

12 Die dunkle Seite des Berges

13 Reden Sie endlich!

14 In Handschellen zum Checkpoint Charlie

15 Westberlin anno 1966

16 Das Geheimnis im Moor

17 Erschüttert, nicht gerührt

18 Nichts wie weg!

Epilog

Anhang (Dank, Autorinnen-Portrait, Literaturverzeichnis)

für Christine, Petra und Richi, Rabenherz-Fans der ersten Stunde, und für Michèles mutiges Patenkind Florin, sowie für Caroles nicht so leicht zu schockierendes Patenkind Lisa

Prolog

Dunkelheit. Feuchte Wände, modriger Geruch. Von Ferne dröhnt ein Donnern, das von dicken Mauern gedämpft wird. Jemand seufzt, eine ältere Frau schluchzt ganz in der Nähe. «Che miseria!», weint eine andere, und ein Mann betet: «Deus, salva me!» – Was ist das für ein Ort? Wo ist sie nur gelandet, fragt sich die junge Frau, deren Augen versuchen, sich an die Düsternis zu gewöhnen. «Dovè troviamoci?», fragt sie in die Dunkelheit, und mehrere Stimmen antworten ihr jammernd mit einer Litanei von Klagen, aus der sie kein Wort versteht. «Wenn ich nur vernünftig Italienisch könnte!», denkt sie zerknirscht, aber diese Gedanken sind fruchtlos, denn die Schwierigkeiten, in denen sie steckt, haben nichts mit der Sprache zu tun. Plötzlich raunt eine vertraute Stimme in ihr Ohr: «Willst du wirklich wissen, wo wir gelandet sind, oder möchtest du versuchen, wieder hier wegzukommen, meine liebe Mäggy?» – «Raina!», jubelt das Mädchen und umarmt erleichtert ihre Freundin. «Wo sind wir?»

Plötzlich rasselt es, und etwas setzt sich in Bewegung. Es fühlt sich an, als würde der Boden in die Höhe gehoben samt der Menschen, die darauf kauern. Von oben scheinen sich Wände auf allen Seiten herabzusenken, wobei dies nur so wirkt, denn die Gruppe fährt wie in einem Lift nach oben. Auf allen Seiten sind für ein paar Sekunden nur Mauern zu sehen, was Margarethe in Platzangst versetzt. Die Mädchen kreischen. Doch als der Boden dort ankommt, wo er hingehört, nämlich ebenerdig zum Arena-Boden, der zuvor über ihren Köpfen war, da stehen sie frei in der Arena und werden vom Tageslicht geblendet – wobei «frei» relativ ist. Sie heben ihre Hände schützend vor ihre Gesichter, weil die Sonne so grell ist nach der Düsternis im Untergrund. Plötzlich begreifen sie, wo sie gelandet sind, und den jungen Frauen stockt fast der Atem: Unzählige Sitzreihen mit Tausenden von Zuschauern umgeben die Arena, auf welche die kleine Gruppe aus dem dunklen Untergrund gehoben wurde mittels eines unerklärlichen Mechanismus. «Wir sind auf einer Hebebühne!», stellt Seraina fest. «Erinnerst du dich an die Führung, die wir mitgemacht haben?» Ihre Freundin blickt sie bestürzt an: «Du meinst – im Kolosseum?» – «Ja, genau, da sind wir.» – «Und was ist das für eine Reality Show hier, hast du das auch für uns gebucht, Raina?» – «Von wegen! Wir werden jetzt gerade den wilden Tieren vorgeworfen!» Die Teenager sehen einander an und prusten los. «Raina, jetzt verulkst du mich aber!»

Beunruhigt lässt Margarethe ihren Blick durch die Arena schweifen. Die Zuschauer sind alle recht seltsam gekleidet, während sie selbst ihre normalen Jeans und T-Shirts tragen. «Ein Historienspektakel», denkt sie bei sich, aber alles fühlt sich so echt an. «Und wo sind die Jungs?», fragt sie ihre Freundin. – «Keine Ahnung… oder warte mal, siehst du, dort drüben?», antwortet diese und zeigt mit dem Finger in eine Richtung, aus der Quietschen und Kettenrasseln ertönt, bis aus der Tiefe eine weitere Hebebühne gezogen wird. Darauf steht eine kleine Gruppe Männer, alle recht ungewohnt gekleidet. Manche haben einen nackten Oberkörper und tragen nur um die Hüfte eine Art Rüstungsgurt, darunter nackte Beine und bis zur Kniekehle geschnürte Ledersandalen. Andere tragen eine Rüstung oder einen Brustpanzer aus Leder, der die Arme freilässt, auf dem Kopf einen Helm mit aufschwellendem Kamm, manche mit Visier. Die einen sind bewaffnet mit einem Speer oder einer anderen Hieb- oder Stichwaffe, wie einem Krummschwert oder Schlitzschwert mit langer Klinge, die anderen mit einem runden oder eckigen Schild. «Gladiatoren!», flüstern die Mädchen fasziniert. «Wahnsinn!» Die Dunkelhaarige raunt: «Und einer kommt mir so bekannt vor!» Tatsächlich: Der eine ist gross und kräftig, sodass er die anderen überragt, hat einen nackten Oberkörper, dafür einen Armschutz, trägt ein schweres rechteckiges Langschild und ein Kurzschwert in seinen muskulösen Armen und hat einen so wilden Haarschopf, dass die Haare unter dem Helm herausquellen. «Oh Mann, sieht der geil aus!», ruft Seraina und stösst ihre Freundin in die Seite. «Du Glückspilz!» – Margarethe keucht: «Leon! Und Rudy ist neben ihm, der mit dem Federbusch!» Der Junge neben Leon ist schlaksig, hat kurze, dunkle Haare, trägt einen Brustpanzer, Helm mit Federbusch und ein Netz und einen Dreizack in seiner Hand und sieht auch recht imposant aus, mit seinem Waffengurt, in dem ein Dolch steckt. Jetzt ist es an Seraina, zu erbleichen: «Stimmt! In dem Aufzug hätte ich meinen Liebsten fast nicht erkannt.» Die Mädchen schicken einander ratlose Blicke. Ist das ein Spiel? Oder ist es Ernst?

Doch es scheint, dass es blutiger Ernst wird, denn gerade öffnen sich massive Gitter am anderen Ende der Arena: Heraus spazieren Löwen, Bären und Wölfe, und diese stehen jetzt den spärlich bewaffneten Teenagern gegenüber…

1

Schlaflos in Stockholm

In einer Pizzeria in Stockholm kauen vier Jugendliche glücklich auf ihren Pizzen herum. Erleichtert nach einem verrückten Abenteuer, in welchem sie – so nebenbei – die Welt gerettet haben von einer Pandemie, sitzen sie im trauten Kreise vereint: Margarethe, Seraina, Rudy und Leon, vier Schweizerinnen und Schweizer aus Zürich. Auf ihrer Weltrettungsmission haben sich – so ganz nebenbei – Paare gebildet, und sowohl Margarethe als auch ihre Freundin Seraina sind glücklich verliebt. Erstere kann es immer noch kaum fassen, dass sie ihren Leon Löwenherz erobert hat, so unwirklich scheint es ihr, nach den unglaublichen Erlebnissen vor rund vier Monaten – Abenteuer, die sich nicht nur in verschiedenen Ländern, sondern sogar in unterschiedlichen Zeitaltern abgespielt haben. Mit ihrer Rückkehr in ihre eigene Lebenswelt hat sich einiges vom Ballast der Vergangenheit von ihren Schultern gelöst, aber Leon ist geblieben; ihn hat der Zeitstrudel nicht mehr verschluckt.

Als wäre das Liebesglück nicht Lohn genug für die Strapazen, haben sie als angenehmen Nebeneffekt soeben den Nobelpreis für Medizin erhalten: für ein uraltes Rezept, das als Heilmittel gegen multiresistente Bakterien hilft und so auch die MAE-CD-20-Pandemie gestoppt hat. Deshalb sind sie samt ihrer engsten Verwandten Anfang Oktober nach Stockholm gereist, um vom König von Schweden höchstpersönlich diese hohe Auszeichnung zu erhalten. Alle vier haben sich in Schale geworfen und sind nach der Ehrung aus dem Festsaal in die Stadt geflüchtet, fort von den Erwachsenen und dem ganzen Brimborium. Ihnen stand der Sinn nicht nach einem Festbankett, sondern nach etwas Normalität: Die kleine Pizzeria kam ihnen dabei gerade gelegen.

Aus dem Pizzaofen duftet es verlockend; es ist heiss in dem Lokal. Rudy schnappt nach Luft und fühlt sich überrumpelt von der ganzen Situation – und auch von Seraina, die sich magisch von ihm angezogen fühlt und ihn dauernd küssen möchte. Belustigt beobachtet Margarethe ihre ältesten Freunde, die sich – endlich – gefunden haben. «Tausend Mal berührt und so», denkt sie gerührt und mustert ihren Leon, den sie dank Plonk erobert hat. Wobei Plonk nichts Unanständiges ist, sondern ihr zahmer Rabe, den sie eigenhändig aufgezogen hat und der als «Matchmaker» gewirkt hat bei der ersten Begegnung der beiden Teenager. Es scheint ihr, als wäre es Jahre her. Leon ist ihr so vertraut, ein Seelenverwandter. Sie wendet ihm ihr Gesicht zu und küsst ihn zärtlich.

Seraina, die ihr gegenüber sitzt, würde ihren armen Rudy am liebsten von seinen ungewohnten und einengenden Kleidern befreien – rein aus Mitleid, versteht sich. «Du Armer, du schwitzt immer noch, zieh doch wenigstens die Jacke aus, bevor du mir noch einen Kollaps kriegst!», fordert das hübsche, dunkelhaarige Mädchen besorgt seinen Freund auf, dem sichtbar unwohl ist in seinem eleganten Aufzug. Seine Freundin dagegen findet ihn umwerfend: «Obwohl du ganz toll aussiehst in dieser Kluft!» – «Das fängt ja gut an; dein Mädchen findet dich so anziehend, dass sie dich gleich ausziehen will!», grinst Leon, der seinen Arm um Margarethe gelegt hat. Rudy errötet und keucht leise, was Seraina mit besorgtem Gesichtsausdruck quittiert. «Aber wenigstens die Krawatte lockern könntest du ja», rät ihm Leon, der seinerseits bereits seine so weit gelöst hat, dass das kürzere Ende fast aus dem Knoten rutscht. Er hat sich früher schon von seiner Jacke befreit und die obersten zwei Knöpfe seines Hemdes diskret geöffnet, und auch seine Freundin Margarethe hat ihre elegante Blazerjacke an die Lehne ihres Stuhles gehängt. Ihr gelbes Foulard hat sie anbehalten. Leon bemerkt das: «Hübsch, das Tuch, das deine bernsteinfarbenen Augen betont.» – «Bernstein?», wundert sie sich. «Ich habe doch braune Augen.» – «Je nach Farbe, die du trägst, leuchten sie olivgrün oder honiggelb… auf jeden Fall appetitlich!», säuselt Leon und spielt mit dem Tuch seiner Freundin, wickelt es langsam um seinen Zeigfinger und zieht sie damit näher zu sich heran, um sie zu küssen. Seraina, die etwas übermütig ist, kommentiert grinsend: «Mäggy trägt das Tuch nur, damit keiner merkt, dass sie wieder keinen BH anhat!» Ihre Freundin wird dunkelrot im Gesicht und faucht: «Verräterin!» Leon lacht verschmitzt: «Das würde ich zu gern nachprüfen!» Er zieht sie fester an sich.

Nun wird Rudy munterer, der sich aus seiner Erstarrung gelöst und endlich Jacke und Krawatte abgelegt hat. «Ihr zwei, und das in aller Öffentlichkeit!», tadelt er sie lachend. – «Im Hotel sind wir mit unseren Eltern!», erklärt Leon zu seiner Verteidigung.

Die vier Weltretter logieren nämlich im Hotel Kungstradgarden, was so viel heisst wie «The King’s Garden». Der Name passt zum Programm, schliesslich haben sie ja den König persönlich getroffen. Auch alle Angehörigen der vier Preisträger logieren hier mit ihrem jeweiligen Kind in vier luxuriösen Suiten, zwar mit mehreren Zimmern, aber ohne Verbindungstüren zueinander. «Leider ist die Geheimtüre zu Mäggys Schlafgemach verriegelt!», bemerkt ihr Freund bedauernd. «Eigentlich schade, wo die Betten so toll sind!» Jetzt ist es an seiner Freundin, zu erröten. Sie sind alle noch relativ frisch verliebt und klopfen zwar gerne lockere Sprüche, die auch mal unter die Gürtellinie zielen, sprechen aber nicht so gerne ernsthaft über indiskrete Themen miteinander. Die Mädchen tauschen sich zwar bilateral aus, aber selbst sie haben Hemmungen, allzu direkt über die Liebe zu sprechen. Und die Jungs verstehen sich zwar mittlerweile sehr gut, aber es würde ihnen nicht im Traum einfallen, den anderen zu fragen, wie der Stand der Dinge ist.

«Hatte ich euch eigentlich schon gesagt, dass ihr alle ganz toll ausseht?», fragt Margarethe ihre drei liebsten Freunde – Menschenfreunde, versteht sich, wo ihr allerbester Freund bis vor ein paar Jahren nur ihr Rabe war. Manchmal denkt sie selbst wie ein Rabe, und deshalb passt Leon auch so gut zu ihr, der eine besondere Gabe hat: Er ist ein Tierflüsterer, der mit Pferden, Hunden und Bibern kommunizieren kann – und natürlich mit Raben, was ihm sogar die Eifersucht seiner Freundin eingehandelt hat.

«Danke, aber du siehst auch super aus, Mäggy!», findet Seraina, die ein eng anliegendes, schwarzes Kleid trägt, das ihre schlanke Figur betont. Margarethe ihrerseits hatte sich für ein zurückhaltendes Outfit entschieden und zuckt verlegen mit ihren Schultern. – «Doch, das steht dir echt, so klassisch-sportlich!», bekräftigt ihre Freundin. – «Ich mag halt nicht so elegante Klamotten», verteidigt sich die Naturfreundin und schüttelt ihr offenes Haar, und Leon fügt hinzu: «Mäggy ist eben eher sportlich unterwegs, und das passt zu ihr.» – «Blazerjacke ist klassisch und zeitlos elegant», findet Rudy. «Passt zu allem.» – «Eben, das habe ich meiner Mama klarzumachen versucht, aber sie hat sich ja sowas von dagegen gesträubt, dass ich Bluejeans anziehen wollte!» – «Wieso? Sieht doch schick aus, mit dem weissen Top und dem Foulard», bestätigt Seraina. «Du kannst sowieso alles tragen: Ritterrüstung, Nonnenkluft, Fischschwanz…» – «Jetzt brauche ich aber mehr Details!», zeigt sich Leon interessiert. «Und ich würde dich gern mal in diesen Outfits sehen!» Die drei Insider lachen laut auf. «Ich fang jetzt nicht mit Rudys Geweih an», prustet Margarethe heraus, und Rudy reagiert gespielt wütend: «Na warte, dir zeig ich, wer hier der Platzhirsch ist!»

Übermütig albern die vier herum und können die Schrecken vorübergehend vergessen, die sie erlebt hatten. Ihre kürzlich überstandenen Abenteuer hatten es nämlich in sich: Sie reisten von Pandemie zu Pandemie, Rudy holte sich die Pest und wurde erst im letzten Moment geheilt dank eines Mittelalter-Antidots, und sie mussten einen machtgierigen Londoner Hexer daran hindern, den Zauber von Rabe und Schwert an sich zu reissen, um als Herr der Zeit noch mehr Schaden anzurichten. Sie sind weit weg von allem – von ihrer Heimat, von der Pandemie und von den Gefahren. Sie geniessen es.

Ein Wermutstropfen jedoch sind die seltsamen Nachrichten, welche Seraina und Margarethe vor einer halben Stunde zeitgleich erhalten hatten – als wären sie aufeinander abgestimmt. Nach einem kurzen Augenblick der Irritation, welche von den Jungs unbemerkt blieb, legten sie jedoch ihre Smartiefons beiseite, um den Moment nicht zu zerstören. Was auch immer passiert, es wird nicht heute Abend passieren!

Aber so oder so ist es ein wunderschönes Erlebnis, hier zu sein, zumal sie Ehrengäste sind. Und immerhin Nobelpreisträger! Sie können es immer noch kaum fassen. Seit zwei Tagen weilen sie in Stockholm und haben sich die Stadt kurz angesehen. Länger als bis Sonntag – also morgen Abend – können sie leider nicht bleiben, denn ihre Angehörigen müssen am Montag arbeiten. Und sowohl Leon als auch Rudy haben Mitte September zu studieren begonnen. Somit müssen sie auch wieder an ihre jeweiligen Hochschulen. Obwohl Rudy zwei Jahre jünger ist als Leon, hat das Superhirn seine Matur vorzeitig ablegen können und sich als Sechzehnjähriger für ein Physikstudium an der ETH Zürich entschieden – also genau genommen, feiert er in zwei Monaten seinen siebzehnten Geburtstag: Rudy ist ein Dezember-Kind. Leon, der im August neunzehn geworden ist, hat sich an der Universität Zürich für Biologie eingeschrieben – der Apfel fällt hier nicht weit vom Stamm. Seraina und Margarethe werden ihre Maturprüfung voraussichtlich in knapp zwei Jahren ablegen. Dass ihre beiden Freunde studieren, passt ihnen ganz gut ins Konzept, denn keine von beiden hat so das Gefühl, die andere hätte es besser, weil der Freund der einen noch die Schulbank drückt und der andere schon ein Student ist. Für die Mädchen aber ist es gerade etwas ruhiger, denn gerade haben die zweiwöchigen Herbstferien am Gymnasium Gutenberg begonnen.

Den Sommer konnten sie ganz unbeschwert geniessen, denn ihr pandemisches Abenteuer, dass sie durch mehrere Länder und Jahrhunderte wirbelte, hatte sich im Mai zugetragen. Einerseits hatte sich die angespannte Pandemiesituation dank ihres Antidots beruhigt; Tote gab es nur noch sehr vereinzelt. Andererseits hatten sie sich oft treffen können: für Ausflüge, zum Velofahren, zum Schwimmen im See. Sie waren auch viel mit Margarethes Raben Plonk zusammen, dessen Junge dann schon flügge waren und nur noch lose mit den Rabeneltern Kontakt hatten.

Ein Unterschied zur Situation vor ihrer letzten Zeitreise: Statt eines Dreierteams aus lauter Einzelkindern, die zwar dick befreundet, aber solo waren, sind sie nun zwei verliebte Paare. Margarethe hatte ihren Leon im Frühling unter Plonks Baum kennengelernt (oder eher auf dem Baum, wo er herumkletterte, bis sie ihn scheltend herunterholte) und sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Ihr erstes romantisches Date fand dann in der Bibliothek statt, wo er ihr bei Nachforschungen über frühere Pandemien half. Mit erbaulichen Themen wie Pest und Spanischer Grippe fachsimpelten sie und kamen sich näher. Fündig wurde schliesslich ein anderer: Rudy hatte auf geniale Weise ein Heilmittel gegen die heimtückische Kombi-Krankheit aus Bakterium und Virus ausfindig gemacht. Kurz darauf landeten Margarethe, Rudy und Seraina zuerst nur zu dritt im Venedig des 14. Jahrhunderts. Ein verrücktes Abenteuer begann, in welches wenig später – in London – auch Leon hineingezogen wurde.

* * *

Die letzte Nacht im Hotel ist schnell vorbei. Nun ist Sonntag, am Abend fliegen sie wieder heim. Doch die vier Freunde wollen nach einem Smörgåsbord, einem opulenten Schwedenfrühstück, unbedingt noch ins Vasa-Museum. «Stellen die dort Knäckebrot aus?», fragt Leon mit einer Unschuldsmiene. Margarethe prustet los, doch Rudy grummelt etwas ungeduldig: «Da ist das Kriegsschiff von 1628 ausgestellt, das noch auf seiner Jungfernfahrt direkt vor Stockholm sank.» – «Na, da hat die Vasa aber wenig Spass gehabt, so jungfräulich in die ewigen Jagdgründe abzutauchen…», flachst Leon und zieht – zu Margarethe gewandt – keck mehrmals beide Augenbrauen hoch. Die Angesprochene wird knallrot, was Seraina belustigt feststellt. Sie flüstert ihrer Freundin ins Ohr: «Also ging’s bei dir auch noch nicht zur Sache?» – «Pscht», zischt Margarethe, der es ziemlich peinlich ist. Schnell verlässt sie das Hotel, in der Angst, jemand von der Verwandtschaft könnte etwas von dem Wortwechsel mitbekommen haben. Die andern folgen ihr ins Freie.

Draussen ist es bitterkalt, es ist ja Anfang Oktober im hohen Norden. Im Museum angelangt, staunen sie über das ausserordentlich gut erhaltene Schiffswrack, das über mehrere Kanonendecks übereinander verfügt. «Kein Wunder ist das gesunken! Die Erbauer haben ja null Ahnung gehabt von Physik», frotzelt Rudy, und Seraina kommentiert seufzend: «Es können ja nicht alle so Wunderknaben wie du sein, Rudolfino mio!» – Margarethe, die pflichtbewusst ihren Reiseführer studiert hat, erklärt: «Die Vorgaben des damaligen Königs waren dermassen übertrieben, dass ein Scheitern fast schon vorprogrammiert war. Niemand habe es gewagt, dem König reinen Wein einzuschenken. So haben sie gebaut, was er wollte – und es ist abgesoffen.» – «Wiedermal ein typischer Fall von Grössenwahn – erinnert mich an die Story mit der Titanic. Nur dass hier wohl niemand zu Schaden kam – im eigenen Hafen ertrinken wäre ja dann wirklich ein Fall für den Darwin-Award», witzelt Leon und fasst sich an den Kopf. – «Na ja, wenn einer so vollbetankt ist wie du damals in London, dann braucht’s wenig», grinst Margarethe und sieht, wie Leon jetzt seinerseits rot wird. «Ich hatte alles unter Kontrolle», verteidigt er sich. – «Klar, wir sind auch nur im Kerker gelandet…». Nun wechselt Seraina abrupt das Thema:

«Hey Leute, Schluss für heute, wir müssen los, Koffer packen und den Flieger erwischen. Alle schauen auf die Uhr auf ihren Smartiefons – tatsächlich, die Zeit verging in Windeseile.

2

Nachhilfeunterricht in einem wichtigen Fach

Kaum zurückgekehrt von der Nobelpreisverleihung, freuen sich die Mädchen auf zwei Wochen Ferien, bevor der Ernst des Lebens wieder beginnt. Margarethe möchte viel Zeit mit ihrem Raben verbringen, der noch vor der Pandemie ein Revier im Horgenbergwald bezogen hat, unweit des neuen Wohnsitzes seiner Menschenfreundin. Langweilig wird es ihr nie in den Ferien! Doch die Jungs sind gar nicht erfreut, dass Schulferien und Semesterferien im Herbst nicht zusammenfallen. Das ist eine der vielen Änderungen, die ein Studium mit sich bringt. Ein Studium ist zudem viel anstrengender als der Schulbetrieb, wenn man die naturwissenschaftliche Richtung gewählt hat. Rudy hat 44 Vorlesungen, Leon immerhin 33 pro Woche. Dafür sind die Semesterferien üppig, in denen sie wohl Jobs annehmen werden und ausgiebig Zeit zum Reisen haben, sofern keine happigen Prüfungen anstehen. Die beiden Paare haben sich gut mit der Situation arrangiert, dass die Jungs schon studieren und die Mädchen nicht. Margarethe bringt es auf den Punkt: «So können wir einander nicht die ganze Zeit auf den Wecker gehen!»

Deshalb sehen sich entweder die Mädchen täglich in der Schule, oder die Paare treffen sich zu zweit oder zu viert, aber die Konstellation, dass Margarethe Rudy unter vier Augen trifft, ergibt sich nicht von selbst. So ist Erstere erstaunt, als ihr alter Freund schon zwei Tage nach ihrer Rückkehr aus Stockholm auf ihrem Gartensitzplatz steht und an ihr Zimmerfenster klopft. «Nanu, Rudy, was ist denn los?», fragt sie überrascht, als sie das Fenster öffnet. Er sieht etwas zerknirscht aus. «Möchtest du hereinkommen?» Kopfschütteln. «Können wir eine Runde spazieren gehen?» – «Na klar! Ich ziehe kurz Schuhe an und komme!» Seltsam! Margarethe schwant Übles. Haben ihre besten Freunde etwa gestritten?

Rudy möchte jedoch nichts sagen, solange sie in der Nähe von Margarethes Haus sind. Zu viele Bekannte könnten in der Nachbarschaft lauern. «Dass du extra zu mir nach Horgen gefahren bist!», fängt sie ermunternd an. «Warum hast du nicht angerufen? Oder getextet?» Er senkt den Blick. «Na ja, ich wusste, dass du zuhause bist, weil ich deinen Friendbook-Post gesehen habe. Und diese neonfarbenen Rosen kenne ich; die wachsen vor deinem Fenster. Da ergibt es wenig Sinn, dass du sie Stunden später von unterwegs veröffentlichst!» – «Gut kombiniert!», bemerkt sie anerkennend. «Aber was, wenn ich unterdessen aufs Velo gesprungen und zu Plonk oder zu Leon geradelt wäre?» – «Stimmt, du bist eine schnelle Radlerin!»

Sie gehen eine Weile schweigend nebeneinander in Richtung Wald, wo erfahrungsmässig weniger Leute unterwegs sind als im Dorf oder am See. Dann fragt Margarethe unverblümt: «Rudy, was hast du auf dem Herzen?» Er räuspert sich verlegen. «Das… äh… ich weiss auch nicht, wie ich das formulieren soll.» Sie lacht: «Stell einfach dein Hirn ab und lass dein Herz sprechen!» Er zögert. «Na ja… es ist wegen Raina.» – «Habt ihr gestritten?», fragt sie alarmiert. – «Nein, nicht direkt…», druckst er herum. «Noch nicht.» Margarethes Gesichtsausdruck zeigt Verwirrung. «Und?» – «Ich habe… Angst, ja, Angst, dass sie enttäuscht ist von mir.» Seine alte Freundin legt ihm eine Hand auf seine Schulter. «Aber lieber Rudy, alter Freund! Warum das denn? Sie liebt dich doch!» – «Ja… und ich sie auch.» Er seufzt verzweifelt. «Aber ich kann das nicht!» Entgeistert sieht sie ihn an. «WAS kannst du nicht? Sie lieben?» – «Ja, nein, ich meine…» Sie begreift, was er meint. «Also, küssen geht doch schon. Alles andere kommt dann von selbst», redet sie ihm ermutigend zu und klopft ihm auf die Schulter. Er schüttelt den Kopf. «Nein, eben nicht. Es ist elementar…» – «WAS ist elementar? Das Küssen?» Dann platzt er heraus: «Ich weiss nicht, wie ich es machen soll!» – «Was? Das mit dem Cybertool?», kann sie es nicht verklemmen, grinsend Bezug auf ihre frühere Sprücheklopferei zu nehmen. «Also ich meine natürlich ohne Hilfsmittel!» Er errötet. «Nein, soweit sind wir doch noch gar nicht. Ich meine ganz elementar… wie bei dir und Leon.» Jetzt ist es an ihr, zu erröten. «Ja, wir, äh…» – «Nein, du musst mir gar nichts Indiskretes sagen, ich meine, wenn ihr zusammen seid, dann ist alles so normal und unkompliziert. Er hält dich im Arm und so, und das scheint so einfach. Aber ich weiss ehrlich gesagt nicht, wie ich Seraina anfassen soll.» Verblüfft starrt Margarethe ihren ältesten Freund an. «Na, im Ernst jetzt, Rudy?» – «Lach mich aus, ich bin ein Nerd! Ein Kopfmensch halt! Vielleicht sogar ein Asperger. Ich habs nicht so mit Berührungen und all dem Körperlichen.» – «Hm… vielleicht willst du das ja gar nicht?», äussert sie eine Vermutung. Er winkt ab: «Doch, doch, ich will das schon, aber ich weiss nicht, wie anfangen. Wenn sie… nun ja… sich an mich schmiegt, dann geht es ja, dann lege ich ihr den Arm um die Schulter. Aber was dann?» – «Hmm, wie wär’s mit Küssen, und dann sehen, was passiert?» – «Dann passiert eben nix!» Rudys Gesicht ist knallrot; ihm ist das Gespräch unendlich peinlich. Margarethe lächelt fürsorglich: «Komm schon, Brüderchen, das kriegen wir schon hin!»

«Ich frage dich, weil du Rainas beste Freundin bist und eher weisst, was sie sich wünscht. Und weil du, na ja, schon irgendwie so was wie eine Schwester für mich bist!» Gerührt blickt sie ihm tief in seine bebrillten, graublauen Augen. Er hat so etwas Rührendes, Treuherziges, und seine Ehrlichkeit schmeichelt ihr sehr. «Rudy, du bist so süss!», platzt sie heraus und umarmt ihn spontan und spürt, wie ihr das Blut in den Kopf schiesst. Zaghaft berührt er ihre Schultern mit seinen Händen. Und dann begreift sie, was sie tun muss: «Fester!» – «Was bitte?», fragt er verdutzt und löst seine Hände schnell wieder. – «Halte mich fester! Du darfst richtig zupacken!» – «Also so wie Leon?» – «Nein, denn dann würdest du Seraina erdrücken!», lacht Margarethe. «Der packt ein bisschen fest an, mein allerliebster Klammeraffe. Aber wo Leon zu stürmisch ist, dürftest du ruhig ein bisschen handfester sein. Also, ich sage dir jetzt, wie fest du eine Frau halten darfst, okay? Das muss dir nicht peinlich sein bei mir, gell!» Lachend fügt sie hinzu: «Solange du mir nicht an die Wäsche gehst!»

Rudy steht ihr jetzt linkisch gegenüber, und Margarethe findet es ganz ungewöhnlich, dass sie ihm Instruktionen erteilt und nicht umgekehrt, wo er doch sonst meist alles besser weiss. «Also, und jetzt noch von hinten!» Er wirft ihr einen entsetzten Blick zu, und sie schmunzelt: «Du sollst mich von hinten umarmen. Das mögen Frauen meistens. Wenn man sie nicht grad zerquetscht dabei!» – «Also nicht so fest wie Leon, meinst du?» Ratlos stellt sich Rudy hinter Margarethe und getraut sich nicht, sie anzufassen. «Was jetzt?» – «Hände durchfädeln.» – «Wo?» Sie seufzt entnervt. «Na, dort, wo Platz ist! Um die Taille», instruiert sie ihn, und er zögert. «Auf der Höhe meiner Ellenbogen. Jaa, genau da… nicht kitzeln!» Sie zuckt zusammen, und er macht vor Schreck einen kleinen Sprung rückwärts. «Nochmals!» Diesmal packt sie seine Hände ums Handgelenk und zieht, platziert sie auf ihrem Bauch. Er reagiert verdattert: «Und… das… das darf ich?» – «Ja, warum nicht? Also bei mir nur ausnahmsweise, sonst wird Leon sauer!» Sie grinst, und er wundert sich: «Ist das nicht zu aufdringlich?» Das erntet ihm einen mitleidigen Blick über die Schulter: «Dann würde sie sich wehren. Im Klartext: Unanständig wäre es, wenn deine Hände dann rauf- oder runterwandern.» Sie spürt, wie er rot wird, und ist gerührt über seine Unschuld. «Du süsser Nerd!», denkt sie bei sich.

Rudy ist starr vor Schreck und hält immer noch Mäggys Taille umfasst. Und natürlich genau in diesem Augenblick tritt Gerhard Ulstein auf den Plan, genannt Gerry, ihr gemeinsamer Klassenkamerad seit der Primarschule. Zufällig ist auch er im Wald unterwegs und reisst die Augen auf vor ungläubigem Staunen. Rudy zuckt zurück, aber Margarethe packt seine Handgelenke und zieht ihn trotzig an sich. «Mäggy!», ruft Gerry und pfeift. «Und Rudy! Also das hätte ich nicht von euch erwartet!» Rudy fängt an zu stottern, aber Margarethe übernimmt die Führung: «Gell, das hättest du nicht gedacht! Und du kannst soo schön staunen, Gerry!» Sie ist selber überrascht, wie frech sie sein kann, aber sie spürt, dass ihre Stärke Rudy zugutekommt. Das Mädchen lehnt sich zurück, bis ihr Kopf den von Rudy berührt, schmiegt sich an ihn und hält gnadenlos seine Hände fest, damit er ihr nicht ausbüchst. Jedoch fühlt sie, dass der Arme wie erstarrt ist. Rudy ist sprachlos, Gerry ebenso, und seine frechen Sprüche sind ihm offensichtlich vergangen. «Tja, ähm, also, ich geh dann mal weiter, ihr Turteltäubchen!», grinst er verlegen und winkt zum Gruss, dann dreht er ihnen den Rücken und geht weiter, wobei er sich mehrmals verstohlen umdreht.

«Bleib einfach so», murmelt Margarethe aus dem Mundwinkel. «Ok-okay», stottert Rudy. Als ihr früherer Widersacher ausser Sichtweite ist, entspannt sich der Junge spürbar, und Margarethe lässt seine Handgelenke los. «Sorry, Rudy, aber das musste sein. Sonst hätte es blöde Sprüche gehagelt», erklärt sie. «Ich habe unterdessen gelernt, dass mir nie etwas peinlich sein muss. Denn dann lachen sie nur. Und ich wollte auf keinen Fall, dass er lacht – über dich!» Rudy atmet erleichtert auf: «Danke, Mäggy, du hast mir riesig geholfen.» Und fügt zum Abschied hinzu: «Schwesterchen!» Sie fühlt ein warmes Gefühl in ihrem Herzen: «Gern geschehen, Brüderchen!» Bevor er geht, flüstert er noch mit schiefem Grinsen: «Besser, Gerry hat uns in flagranti erwischt, als Seraina!»

* * *

Als Rudy wieder nach Hause gegangen ist, besucht Margarethe Plonk. Er sitzt allein auf seinem Baum, Corvina ist anscheinend auf Futtersuche gegangen. Und die Jungen haben sich einer Jungrabenschar angeschlossen. «Armer Strohwitwer!», ruft sie ihm in die Baumkrone zu. Plonk segelt herab und landet auf dem untersten Ast seines Baumes. «Grrita!», gurrt er, und sie streichelt ihm den Kopf. Er geniesst es sichtlich, wieder einmal allein mit seiner Adoptivmutter zusammen zu sein. «Na, ist dir langweilig?» – Plonk schüttelt den Kopf. Margarethe wundert sich schon nicht mehr, dass er praktisch alles versteht und sich sogar recht gut in der Menschensprache ausdrücken kann. Ihr Plonk ist ein hochintelligenter Vogel, ein Einstein unter den Gefiederten. Und irgendwie tut es ihr leid, dass er keinen eigenen Nobelpreis erhalten hat – schliesslich hat er genauso viel, wenn nicht sogar mehr zum Gelingen ihres Unterfangens beigetragen. Ohne Plonk hätten sie die Zeitsprünge gar nie geschafft. Und er hat sie aus einigen misslichen Lagen befreit. «Was sollen wir tun, Plonk? Sollen wir wirklich diese Briefe in Rom und Amsterdam abholen?» – Plonk nickt und blickt ihr tief in die Augen. Margarethe seufzt: «Ich habe null Bock auf weitere Gefahren. Ich bin müde, möchte nur die Zeit mit Leon geniessen und Zukunftspläne schmieden – nicht dauernd irgendwelchen Hinweisen hinterherrennen, die uns dann in die Vergangenheit katapultieren…» – Plonk gurrt verständnisvoll, doch er krächzt unmissverständlich: «Wi tig. Se wi tig.» – «Wichtig? Wirklich sehr wichtig? Na, wenn du es sagst, dann muss es wohl so sein. Bin ja gespannt, wie ich die andern rumkriegen kann. Die werden schreien!» Schliesslich verabschiedet sie sich von ihrem Raben und schlendert grübelnd nach Hause.

* * *

Zu viert verabreden sie sich bereits am folgenden Tag in Zürich am See, an einem sonnigen Herbsttag. Margarethe beobachtet von weitem das Paar, das winkt und auf sie wartet. Rudy stutzt einen Augenblick, dann besinnt er sich, tritt einen Schritt hinter Seraina und fädelt seine Arme durch den Abstand zwischen ihren Ellenbogen und ihrer Taille. Dann weiss er offenbar einen Augenblick nicht, was er tun soll, aber instinktiv ergreift sie seine Hände und hält sie über ihrem Bauch fest. Rudy atmet offensichtlich auf, und Seraina seufzt glücklich. Ist für einen Augenblick freudige Überraschung über ihr Gesicht gehuscht?

Überglücklich steuert Margarethe auf ihre Freunde zu. Dann spürt sie einen heftigen Ruck; kräftige Arme packen sie an den Hüften und schlingen sich dann um ihren Bauch, ziehen sie so fest nach hinten, dass sie beinahe abhebt. Dann spürt sie Leons Gesicht in ihren Haaren und atmet seinen Duft, seufzt vor Freude, ihn zu sehen und verrenkt sich fast den Hals, als er sie leidenschaftlich küsst. Dürfte er wohl eine Spur zärtlicher sein und weniger ruppig? Andererseits ist er heissblütig und spontan, da kann sie nichts anderes von ihm erwarten. Und immer noch besser, als dass er so zaghaft wäre wie Rudy, denkt sie bei sich und schmunzelt. Sie ist ja schliesslich nicht aus Porzellan!

«Hast du schon zurückgerufen, Raina?», fragt Margarethe, während sie die Liebkosungen von Leon geniesst. Seraina, die gerade Rudy küssen wollte, schreckt auf: «Wieso, hast du mich angerufen?» Dann dämmert es ihr: «Oh je! Erinnere mich nicht an Amsterdam, Mäggy! Nein, das liegt mir echt auf dem Magen. Hab keine Lust, da anzurufen und möglicherweise dort anzutraben. Was soll ich dort?» – «Wieso, Amsterdam ist sicher eine Reise wert», wirft Leon ein, «Ich wollte schon lange mal dorthin.» Rudy wirft ihm einen misstrauischen Blick zu: «Ins Mekka der Haschischraucher?» – «Das stinkt mir!», wehrt Seraina ab. «Mäggy darf nach Rom, das tönt viel interessanter; da würde ich auch gern hin.» – «Komm doch mit!», ermuntert sie Margarethe. «Wäre doch eine tolle Reise zusammen! Geld haben wir jetzt genug, dank des Nobelpreises.» Seraina strahlt: «Recht hast du! Aber irgendeinen Ärger oder gar ein weiteres Abenteuer, darauf hab ich null Bock. Der Flachland-Notar soll warten, bis Holland wegen des Klimawandels knietief im Wasser liegt.» – «Geht mir ähnlich», gesteht Margarethe, «Allerdings habe ich auch noch nicht nach Rom telefoniert. Also, ich würde gern Rom machen!»